Gottfried Kinkel
Rheinische Erzählungen
Gottfried Kinkel

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Die Heimatlosen.

Erzählung aus einer armen Hütte.

Il faut que Lazare quitte son fumier, afin que
le pauvre ne se réjouisse plus de la mort du
riche. Il faut que tous soient heureux, afin que
le bonheur de quelques-uns ne soit pas criminel
et maudit de Dieu.

Georges Sand, la mare au diable

Auf dem südlichen Abhang des Odenwaldes, da wo dieser ins Neckartal abfällt, liegen mehrere ansehnliche Dörfer, die nicht wie das übrige Gebirge zu Hessen, sondern zur ehemaligen ostrheinischen Pfalz gehörten und gegenwärtig dem badischen Lande einverleibt sind. Die Gegend ist gesund, fruchtbar und schön; von den Höhen dehnen sich weite Aussichten über die Rheinebene bis zu den scharfgezeichneten Bergformen des Hardtgebirges hin, und da alle Bodenerzeugnisse in den kleinern und größern Städten am Neckar und an der Bergstraße guten Absatz finden, so fehlt es den Bauern dort nicht an Wohlstand und sogar an Reichtum. Selbst der Arme gewinnt, wie in der ganzen auch in dieser Hinsicht gesegneten Pfalz, für redliche Arbeit meist noch sein ausreichendes Brot.

In einer der größten unter diesen Ortschaften, wenig über eine Meile von Heidelberg entfernt, hatte sich nach den letzten Franzosenkriegen eine auswärtige Familie angesiedelt, welche ursprünglich aus Böhmen stammte. Der Mann war Hornist bei einem österreichischen Regiment gewesen, das vor der Schlacht bei Austerlitz in der Gegend von Phillippsburg gestanden hatte; die Frau diente bei seiner Kompanie als Marketenderin. Joseph Jelinecz, so hieß der Hausvater, war, wie so viele Böhmen, ein wohlkundiger Musiker, der neben seinem Blasinstrument auch die Geige vortrefflich spielte; das Land gefiel ihm, und er sah, daß bei der Fröhlichkeit und Lebenslust des pfälzischen Volks ein Musikant, der bei den Kirmessen kräftig aufzuspielen verstünde, bessern Erwerb machen würde, als ein Hornist bei einem Linienregiment. Sobald also seine Dienstzeit abgelaufen war, machte er der Marketenderin, die ihm wegen ihres rüstigen Wesens gefiel, einen Heiratsantrag. Beide warfen ihre Kriegsersparnisse in eine gemeinsame Kasse zusammen und hatten genug daran, um sich ein großes Familienbett und einen genügenden Hausrat anzuschaffen. Sie wohnten erst über der Grenze im Hessischen, dann aber pachteten sie in dem erwähnten pfälzischen Dorfe, das rings um sich einen Kranz der berühmtesten Jahrmärkte und Kirmessen hatte, ein kleines Häuschen mit einem Gemüsegarten und einem Fleckchen Kartoffelfeld. Auf diesem Grundstück zog die Frau, der die Besorgung desselben zufiel, einen guten Teil der täglichen Nahrung, während der Mann wenigstens den Sommer über fast immer aus dem Hause fort war und als wandernder Musikant seinem Unterhalt nachging. So lebten die Leute glücklich und hatten ihr Auskommen.

Nacheinander hatten sie schon im Hessischen drei Töchter bekommen, die sie mit in die Pfalz brachten; ein Knabe blieb ihnen versagt. Das erste Spielzeug, das der Vater den Kindern schenkte, war bei der ältesten Tochter eine Kindergeige, wie man sie für wenige Kreuzer auf Jahrmärkten kauft, bei der zweiten eine Schellentrommel. Als sie diese nach Kinderart zerstört hatten und nach neuen Instrumenten fragten, lehrte er sie auf seiner eigenen Geige und auf einem guten Tamburin spielen, das er eigens hierfür anschaffte. Außerdem sang er ihnen in den langen Wintertagen Volkslieder, Opernarien und Tiroler Schnaderhüpferl so lange vor, bis sie dieselben mit den glockenhellen Kinderstimmchen ganz genau, richtig und taktfest nachsangen. Das mit wunderbarem Auffassungstalent für Musik begabte tschechische Blut half dem Unterrichte nach, und ehe die drei Mädchen lesen und schreiben konnten, sangen und spielten sie bereits als kleine Virtuosinnen. Sobald ihr junges Alter die Anstrengungen des Wanderns ertrug, mußten die beiden Ältesten den Vater begleiten und die Jahrmärkte mit ihm besuchen: durch diese ländlichen Wunderkinder steigerte sein Erwerb sich ansehnlich.

Aber ein Stein, der rollt, setzt kein Moos an. Das Leben des fahrenden Musikanten ist aufregend und nutzt sich rasch ab. Große, Tag und Nacht ohn Unterbrechung fortdauernde Anstrengung wechselt mit Müßiggang. Um auf der heißen, staubigen und dunstvollen Tanzbühne bis zum lichten Morgen aushalten zu können, muß er durch geistige Getränke sich aufregen, und in müßigen Tagen trinkt er aus Langeweile. Dieses Laster, das den Mann so leise und so unwiderstehlich beschleicht, führte auch unsern Böhmen in Gestalt des herrlichen und wohlfeilen Pfalzweines nur zu oft in Versuchung. Außerdem war Jelinecz ein überaus gutherziger Vater, der den Kindern auf der Wanderschaft zu essen gab so oft sie verlangten, und ihnen lieber ein neues Kleidchen anschaffte als der arbeitsamen Mutter den Gulden dafür mit nach Hause brachte. Dies alles wurde Ursach, daß die Familie trotz reichem Verdienst doch auf keinen grünen Zweig kam, und als der Hausvater an einem Stickflusse schon mit fünfundvierzig Jahren starb, hinterließ er den Seinigen weniger Eigentum, als er beim Eintritt in den Ehestand besessen hatte.

Schon fürchtete die Gemeinde, daß die drei Waisenkinder und bald auch die Mutter ihr zur Last fallen würden; allein die Witwe Jelinecz ließ es dazu nicht kommen. Es war eine sonderbare Frau, über welche im Dorfe die wunderlichsten Reden liefen. Schon der Name war auffallend; sie hieß Wlaska, ihre Patronin war also jenes furchtbare Weib, auf welches die Sage den Ursprung des in Böhmen märchenhaft berühmten Mägdekriegs zurückführt. Die Odenwälder vermochten den Namen nicht zu erlernen und nannten sie daher nie anders als die böhmische Mutter. Man wußte, daß sie ganz tief in Ungarn, nahe bei der türkischen Grenze, ihre Heimat habe; aber ihr körperliches Aussehen ließ ihren Stammbaum noch tiefer im Orient wurzeln. Eine dunkelgelbe Haut, olivenfarbiger als die Ernteglut unsere Bäuerinnen brennt, verbunden mit einer hagern, knochenstarken Gestalt und den brennendsten Augen, hätte vielleicht auf eine Jüdin schließen lassen; allein ihr Haar, dessen Schwärze so tief war, daß sie ins Blaue spielte, trug sie stets ohne Stirnband, was den jüdischen Frauen Sitte und Gesetz verbietet. Kein Alter schien über ihre ehernen, tiefgefurchten Züge Macht zu haben; noch lange nachher, als die Töchter erwachsene Mädchen waren, glänzte ihr Auge in unwandelbarem Feuer, und in ihre Zöpfe flocht sich kein weißes Härchen. Ein dunkelrotes Kopftuch, das sie fast wie einen Turban umband und nie ablegte, vollendete den morgenländischen Ausdruck dieses merkwürdigen Kopfes, und wer je im Osten gereist war, mußte augenblicklich in ihr das Blut der Zigeuner erkennen, wie dieses Volk sich in den Ostländern unseres Weltteils noch zahlreich herumtreibt. Sie selbst leugnete auch diese Abstammung keineswegs; ganz im Gegenteil, mit dem vollen Stolze einer Baronin, die ihre sechzehn Ahnen an den Fingern herrechnet, rühmte sie sich die Tochter eines großen Häuptlings zu sein, der um die Zeit der französischen Revolution ihre Horde aus Armenien durch die Kaukasusländer und die Türkei bis in die Grenzwälder Bosniens und Kroatiens geführt hatte. Die dem deutschen Ohr ungewohnte Häufung scharfer Zischlaute, an welchen man die in Slawenländern Aufgewachsenen erkennt, herrschte in ihrem Munde mit dem allerschneidendsten Akzent, und wenn sie heftig redete oder schalt, so pfiff es aus ihren feinen, schmalen Lippen unheimlich wie Schlangengezisch. Auch auf die Töchter ging dieser Sprachfehler über, obwohl in minderem Grade; aus ihren roten Mündlein tönten die Zischlaute lieblich wie das leise Zwitschern der Schwalben, wenn sie abends im Nestchen ihre Jungen in den Schlaf flüstern.

Oft genug in Winterabenden erzählte die Zigeunerin den Kindern die rührende Legende von der Missetat, die ihr Volk gleich Juden und Armeniern zu rastlosem Wandern verdamme; wie die Mutter Maria mit dem kleinen Christuskindlein flüchtig nach Ägypten gekommen, und vor dem wahren Gott, wo sie durchgezogen, alle Götzenbilder von den Säulen zu Boden niedergestürzt seien; wie aber aus Ingrimm darüber der Stamm der Zigeuner sie als eine landstreichende Dirne aus seinen Grenzen gejagt habe. Da erhob sich, fuhr sie fort, das Wochenkindchen auf dem Arm der Gebenedeiten, und sein Auge leuchtete wie Feuer, und durch ein Wunder begann es zu reden mit einer Stimme wie die Posaunen der Ewigkeit, und gebot diesen argen Heiden flüchtig und elend zu sein auf der ganzen Erde, weil sie dem Herrn der Welt keinen Raum bei sich gegönnt. Und nachher, da die großen Zeichen und Wunder Ihn beglaubigten, da zog wehklagend und heulend der ganze Stamm aus und teilte sich gegen Ost und West.

Und da nun Ägypten als ihr geglaubtes Stammland ihr teuer war, so hatte die Zigeunerin noch im Felde mit heißer Gier den Erzählungen eines von ihrem Regiment gefangenen französischen Soldaten gelauscht, der mit Bonaparte, Kleber und Menou unter den Pyramiden gewesen und als Eskorte mit den französischen Ingenieuren und Forschern nach Theben hinaufgegangen war. Dieser berichtete vom Nil und von des Landes Fruchtbarkeit, von den Pharaonen und den Mumiensärgen in den Pyramiden – und das Herz der heimatlosen Frau schauderte vor wilder Freude über die Herrlichkeit ihrer Heimat, die sie doch niemals wiedersehen sollte. So mischten sich die Hirngespinste altägyptischer Königspracht, christlicher Legende und bonapartistischer Abenteuer in ihrem heißen Kopfe, und in den bunten Teppich derselben hüllte sich früh die Einbildungskraft ihrer Töchter ein, die sich dadurch ebenfalls höher und stolzer empfanden als die deutschen flachshaarigen Bauernmädchen ihrer Nachbarschaft. Ohnehin übersahen sie diese schon als Kinder weit, weil sie mit dem Vater im ganzen Lande herumgezogen waren und vieles konnten, was jenen wie spanische Schlösser erschien.

Allerdings baute diese ausländische Abstammung auch noch eine andere Scheidewand zwischen die Familie Jelinecz und ihre ländliche Umgebung. Die Mutter hatte in Österreich die katholische Taufe angenommen und war eine inbrünstige Verehrerin der Jungfrau Maria; denn sie behauptete, diese sei ganz insbesondere die Beschützerin ihres Stammes, der ja nur, um ihre Ehre wieder herzustellen, zu einem so harten Gericht verurteilt worden sei. Die Fürsprache der Mutter beim Sohne war ihr das sicherste Mittel, für das zerstreute Volk das Ende des langen Elends herbeizuführen. Zu diesem inbrünstigen Glauben erzog sie nun auch ihre Kinder, und die ganze Familie wanderte Sonntags, es mochte wettern wie es wollte, zur Messe in ein entferntes katholisches Dorf. Nun aber waren sie die einzigen Katholiken in ihrem Orte; die Pfalz ist in dem Jahrhundert der Reformation von harten Glaubensbedrückern erst lutherisch, dann streng reformiert gemacht worden, und in dem dort verfaßten Katechismus ist bis heute der beklagenswürdige Satz stehengeblieben, daß die katholische Messe nichts als eine abscheuliche Abgötterei sei. Ein Anhänger dieses Glaubens erschien also dem dortigen Landvolk wie ein von Gott Ausgestoßener, Verblendeter, der gleichsam einer niederem Verstandesstufe als andere Menschen angehören müsse. Der Name des Abgöttischen macht ganz besonders auf Kinder, die noch nicht wissen, daß jeder Mensch Götzen in seinem Herzen umzustürzen hat, einen fast schauerlichen Eindruck; ja dieses unklare Gefühl entfremdete den heranwachsenden Mädchen sogar die Zuneigung der jungen Leute.

Endlich kam etwas noch mehr Verfinsterndes hinzu: Mutter Wlaska galt für eine Zauberin und halbweg noch für etwas Schlimmeres. Aus diesem Grunde war sie im Dorfe zwar oft geliebt und gesucht, aber doch noch viel mehr gefürchtet. Etwas wußte man gewiß, und Wlaska selber leugnete es nicht, daß sie Kenntnis heilsamer Kräuter hatte, das Blut stillen konnte und eine Salbe verfertigte, die Wunden auffallend schnell schloß und heilte. Dabei war nichts Unheimliches, wenn auch schon Wlaska ihre Kräuter gerne im Mondschein auf den stillen Hochflächen des Odenwaldes suchte, ihnen fremdländische wunderliche Namen gab und auf bestimmte Tage des Einsammelns, wie namentlich auf Johannistag, viel hielt. Gar mancher hatte bei ihr sich Heilung geholt; auch bei harten Geburten wurde sie mehr als einmal Retterin der Mutter und des Kindes; in ihrem eignen Hause war nie eine Krankheit, und was ihre Kuren am meisten empfahl, sie nahm kein Geld dafür. Auch sagte sie nach der Weise der Frauen ihres Volkes aus der Hand und andern Zeichen wahr. Allein wer einigermaßen im Hexenfache bewandert ist, der weiß, daß Heilen, Besprechen und Wahrsagen nur grobe Buchstaben in dieser edlen Kunst sind, und daß man erst dann ein Hexenmeister zu heißen verdient, wenn man erstens den Teufel wirklich in sichtbarer Gestalt zu zitieren und zweitens einen Dieb zu stellen versteht. Ob nun das auch in den Kräften Wlaskas liege, darüber herrschten im Dorfe Zweifel. Aus ihrem Garten hätte gewiß niemand einen Apfel gebrochen, aus Furcht gestellt zu werden: aber als einmal eine Nachbarsfrau, der jedes Jahr regelmäßig die Trauben vom Spalier gestohlen wurden, sie wie um eine kleine nachbarliche Gefälligkeit bat, ihr den Dieb zu binden, da hatte Wlaska ein Kreuz geschlagen und heftig gesagt: »Lasse Sie das, daraus wird nichts!« Die Bäurin aber ließ nicht nach: »Warum nicht, böhmische Mutter?« fragte sie. »Ihr weissagt, Ihr gießt den jungen Mädchen das Blei, Ihr besprecht das Blut, Ihr zeiget verlorene Sachen an, Ihr macht Johannisöl und Palmtags-Krautwische; weswegen wollt Ihr mir denn in dem Stück die Freundschaft nicht antun?« Da sprach die Böhmin überaus ernst, daß es der andern durch die Seele schnitt: »Das will ich Ihr sagen, Frau Nachbarin. Zum Diebesverbannen braucht der Mensch die Kraft von unten und nicht die Kraft von oben; wenn ich den Dieb vor Sonnenaufgang nicht erlöse, so kommt im Zwielicht der Teufel und erwürgt ihn; stürbe ich also zuvor des jähen Todes, so wäre meine Seele dahin um die seinige. Aber weissagen und alles was dem Menschen zum Heil von Leib und Leben dient, das ist von Gott und ist die weiße Kunst, die viele fromme und heilige Männer getrieben haben; aber was die abgeschiedenen Seelen angeht und die bösen Geister, das ist Schwarzkunst, und die ist jedem getauften Haupt verboten. Unser Volk im Osten versteht sie, aber nur die unter uns nicht katholisch geworden sind, treiben diese Dinge; wer das Taufwasser und den heiligen Chrisam empfängt, der entsagt dem Teufel und allen seinen Künsten. Ich bin ein Christenmensch, Frau Nachbarin, und darum soll Sie mich nicht in Versuchung führen.« – Nach diesem Bescheide ging die Nachbarin bedenklich fort, aber in ihrem Herzen blieb nicht die Weigerung Wlaskas, sondern nur die Versicherung stehen, daß sie eigentlich recht gut solche Dinge könnte wenn sie nur wolle, und der Glaube an ihre Hexenschaft stellte sich nur um so fester, je eifriger sie mit den deutlichsten Worten sich dagegen verwahrte.

Eine alte Geschichte kam hinzu. Eines Abends waren Nachbarskinder bei Jelineczs und spielten mit den Mädchen, welche damals etwa sechs bis acht Jahre alt sein mochten. Da es im Hof sehr schwül wurde, gingen sie allzusammen in das düstere Hinterstübchen. Dort fragte ein vorwitziges Kind das älteste Töchterchen, ob denn wirklich die Zigeuner Wetter machen und Geister beschwören könnten. Das Kind, welches wie seine Mutter Wlaska hieß, lachte laut auf, sah zum Fenster hinaus und sagte leichtfertig: Das kann ich selber schon und will's euch einmal zeigen. Mit diesen Worten schloß es den Laden, holte ein brennendes Licht und begann wohl eine Viertelstunde lang aus einem großen Buche zu murmeln. Plötzlich zog draußen ein Wetter auf, der Blitz leuchtete durch die Ladenritzen, und es wurde stockfinster drinnen und draußen. Da las das Mädchen mit viel lauterer Stimme, und mit einem Male blies es das Licht aus und schlug dabei heftig auf den Tisch. Der Sturm sauste, und ein furchtbarer Stoß geschah gegen den Laden. Aha, er pocht, sagte die kleine Wlaska; seht ihr, wie gehorsam er ist? Damit sprang sie, wieder laut lachend, auf den Laden zu, öffnete ihn ein wenig und sprach: Da steht er vor dem Fenster, er hat große rote Augen wie ein Teller und mächtige Hörner; jetzt will ich ihn auch noch hereinbeschwören, daß ihr ihn alle sehen sollt; ihr dürft euch aber ja nicht fürchten, sonst frißt er euch. Da sanken die todbleichen Kinder auf die Knie vor ihr und flehten aus Leibeskräften, sie möge doch den schwarzen Mann wieder wegschicken. Wlaska ließ sich rühren und winkte dem Geiste abzutreten; aber in diesem Augenblicke schlug hart über dem Hause ein Blitz, augenblicklich vom Donner gefolgt, so grimmig nieder, daß die kleine Zauberin selbst leichenblaß vom Fenster zurücktaumelte, während die andern Kinder, vor Angst laut heulend, durchs Vorhaus fortstürmten und durch den Regen weinend zu ihren Eltern liefen mit der gräßlichen Geschichte. Es war vergebens, daß das lustige Kind am folgenden Tage seinen dickköpfigen Gespielen beteuerte, es habe mit ihnen nur eine Eulenspiegelei getrieben. Der Aberglaube, der jetzt überall seinen Untergang im Siege der gesunden Vernunft voraussieht, ist wie eine häßliche Raupe, die auf einem schnellfließenden Bache dahinschießt; um sich vor dem Ertrinken zu retten, umklammert sie auch das kleinste Strohhälmchen, das doch sogleich mit ihr untersinkt. Diese Geschichte ward im Dorfe nicht mehr vergessen, und von da an ließen die Eltern ihre Kinder nicht gerne mehr mit Jelineczs Töchtern spielen.

Diese Stellung zur Gemeinde hatte Mutter Wlaska, als der Mann starb und sein ältestes Kind erst zwölf Jahre alt war. Sie war eine Fremde, hatte keinen Grund und Boden und somit kein Bürgerrecht am Orte. Das Gewerbe des Mannes konnten Weiber ohne den Schein der größten Leichtfertigkeit nicht forttreiben, und doch mußte Brot beigeschafft werden, denn das Gärtchen mit dem Kartoffelstück reichte am Ende zur Kost, aber nicht zur Hausmiete und zu sonstigen Bedürfnissen hin. Wie alle Mütter, hoffte sie auf die Möglichkeit, durch eine der Töchter noch einmal ihr Glück zu machen. Die Mädchen waren gesund, hübsch und lebhaft; das tschechische Blut gab ihnen ein in Deutschland nicht gekanntes Feuer und eine angenehme sinnliche Beweglichkeit. Die älteste, Wlaska, die man im Dorfe sehr unpassend in Bläßchen umtaufte, war feiner als die Schwestern; die zweite, Sabine, das Ebenbild der Mutter an Kraft und an Festigkeit der Züge; Ludomilla aber, das jüngste, erst sechs Jahre alte Kind, das im Dorfe Mielchen genannt wurde, machte seiner Taufpatronin, einer heiligen Fürstin Böhmens, alle Ehre; es war schüchtern und hatte von der Mutter nur die brennende hingebende Frömmigkeit ererbt. Um jedoch eine Zukunft hoffen zu dürfen, mußte vor allem die Gegenwart gesichert werden. Die Mutter faßte den Plan, ein Geschäft anzufangen, das ihr möglich machte, in einigen Jahren das Häuschen mit Grund und Boden anzukaufen und so sich als Eigentümerin in der Gemeinde festzusetzen. Dadurch, so schloß sie nicht mit Unrecht, würde auch ein Freier eher sich anlocken lassen. Auf dem Lande gibt es einen großen Übelstand für die Hauswirtschaften: das sind die Marktgänge. Eine Bäuerin hat ein viertel Eier, ein Dutzend Kohlhäupter und ein Schock Zwiebeln zusammen; sie braucht Geld, oder sie muß verkaufen, weil die Sachen ihr verderben. Sie läuft also mit einer kleinen Last in die Stadt eine Meile weit, kommt spät am Nachmittag zurück, hat vielleicht einen Gulden gelöst, aber einen Arbeitstag versäumt. Die Kinder sind nicht gewartet worden, im Hause hat die Aufsicht gefehlt, die Tiere haben ihr Futter nicht gehörig bekommen, und im ganzen Hauswesen ist zweimal mehr Schaden gestiftet, als der Gulden wert war. In größern Haushaltungen ist es nicht viel besser, da man um des Marktgangs willen das Dienstmädchen fast einen ganzen Tag aus der Arbeit mißt. Allerdings sind Bauersfrauen und Bauernmädchen von dieser Wahrheit schwer zu überzeugen, denn den meisten ist der Markttag, was den städtischen Damen die Kaffeevisite: sie sehen die Welt, treffen ihre Bekanntinnen, und unter dem Scheine, beschäftigt zu sein, auf den alle Weiber soviel geben, brauchen sie doch nicht zu arbeiten, gerade wie die vornehme Welt mit Stickereien ihre faulen Stunden entschuldigt. Allein in Stadt und Land gibt es auch der braven Mütter viele, und auf diese baute die kluge Böhmin ihren Plan. Sie wollte mit Hilfe ihrer Töchter Zwischenhändlerin zwischen dem Dorfe und der nahen Universitätsstadt werden, indem sie die Bodenerzeugnisse einkaufte und dann auf ihre Rechnung zu Heidelberg feilbot. Damit verband sie das Geschäft einer Botengängerin, was oft gute Nebenverdienste mit sich führt, wenn es gewissenhaft besorgt wird. Sie verkaufte zwar etwas teurer als die Bäuerinnen selbst, allein da es ihr Grundsatz war, nur gute Ware, reifes Obst und frische Gewächse feilzubieten, diese aber stets zu festen Preisen, so standen auch die städtischen Hausfrauen zuletzt bei ihr sich besser, als bei dem langen Aussuchen und Feilschen, das den andern Verkäuferinnen gegenüber nötig war. Obenein war sie redlich; sowohl ihr Stolz als auch ihre einfach herzliche Frömmigkeit behüteten sie vor jeder gemeinen Betrüglichkeit. In einem einzigen Sommer erwarb sie sich so viele städtische Kunden, daß sie schon täglich ihren Stadtgang machen konnte und in der Regel sogar eins oder zwei der Kinder mit Körben voll von Geflügel oder leichtem Gemüse mitnehmen mußte.

Die Mädchen fanden sich leicht in diesen Erwerb. Wlaska, die schwächste, besorgte meistens Haus und Küche; Sabine und Ludmilla aber taten die Marktgänge mit der Mutter, bis die letztere, nachdem die Töchter nun vollständig erwachsen waren, dieses mühsamste Geschäft ihnen fast ganz überließ und dafür den ebenso wichtigen Einkauf im Dorfe übernahm. So wurde Sabine für die Stadt die Hauptperson, wozu sie auch trefflich sich eignete. Sie war zu einer kräftigen Schönheit herangeblüht, und die täglichen Märsche stärkten noch ihren festen Körper. Ihre Haut war weißer, als die der Mutter, aber dunkel genug, um von keiner Sonnenglut angegriffen zu werden. Auch kannte sie ihren Wert und wußte ihn geltend zu machen; bald lockte in Heidelberg die Anmut der Verkäuferin ebensowohl wie die reinlich ausgelegte Ware manchen anfangs nicht Kauflustigen an. Namentlich die Musensöhne waren ihres Lobes voll; sie versäumte aber auch nie, neben den nutzbaren Sachen ein paar Blumensträuße mitzubringen, die sie an die jungen Leute verschenkte, wenn sie Obst von ihr kauften und dabei artig waren, während sie jede Ungezogenheit mit der treffendsten Antwort abzuweisen verstand. Die frühesten Veilchen wurden dazu an allen sonnigen Hecken mit Eifer gesucht; später gab das eigene Gärtchen oder die Gärten der Nachbarn Rosen und Jelängerjelieber die Fülle her: denn mit Blumen ist auch der Bauer nicht geizig, weil sie ihm nichts einbringen. Waren so die Studenten mit Binchens Munterkeit ebensosehr als mit ihren Kirschen und Rosensträußen zufrieden, so gewann sie die Herzen der Hausfrauen durch ihre Pünktlichkeit, aber noch mehr freilich durch ihre Eier. Denn die Odenwälder Eier sind am Neckar und im ganzen Craichgau sehr beliebt wegen ihrer wunderschönen goldgelben Dotter. Diese goldgelben Dotter hält man für besonders wohlschmeckend und auch für besonders gesund, weil die Hühner auf dem Odenwald frei laufen und in munterer Laune herumflattern, auch viel frisches Gras und feines Kraut fressen; während die milzsüchtigen und hektischen Stadthühner, die in kleinen Höfen nur düstern Phantasien nachhängen, überhaupt allzusehr einem einsamen Brüten sich hingeben, nur solche Dotter zuwege bringen, denen, um mit einem großen Dichter zu reden, bereits die Blässe des Gedankens angekränkelt ist.

An einem Nachmittage im hohen Sommer 1844 wanderte ein frischer Bursche, der einen hübschen, ganz ungeschornen Bart und in der Tasche ein Patent als badischer Unteroffizier trug, über die hessische Grenze auf dem Odenwald in die badische Pfalz hinein. Trotz seinem Bündel schritt er so munter aus, als wolle er heute noch nach Heidelberg oder wer weiß wie weit ins Nachtquartier. Allein als die Schatten allgemach länger wurden und er aus einer Waldschlucht, durch welche der Weg ihn fast eine Stunde geführt hatte, plötzlich auf der Höhe in die von der Abendsonne beleuchtete Kornflur hinaustrat, da blieb er im Staunen über die Schönheit der Gegend stehen und suchte sich, um sie zu genießen eine Rastestelle.

Diese fand er wenige Schritte vom Wald entfernt auf der steinernen Einfassung eines Felsenbrünnchens, das mit kleinen Blasen aus den Kieseln auf seinem Grunde aufperlte und sein sonnenhelles Wässerchen nach kurzem Laufe in die umliegenden Kornfelder versenkte. Eine breite Linde beschattete den Platz und hielt ihn heimlich und kühl mitten unter den in der Sonnenglut zitternden Ähren. Von hier flog der Blick in eine unendliche Weite. Während fern links ein kleines grünes Fleckchen des Neckartals oberhalb Heidelberg zwischen Wald und Fels hervorschien, blickte man rechts in die Rheinebene, wo die Sonne in Majestät hinter den dunkeln Türmen von Speier sich senkte. Dort hob der Donnersberg, im Abendgold leuchtend, seine ruhig erhabene Linie hinter den eigensinnigern Zackenformen des Hardtgebirges herauf. Es war etwa eine Woche vor dem Beginn der Roggenernte, das Korn leuchtete weiß in der Abendsonne, und durch diesen lichten Teppich zogen grünliche Meereswellen, vom Ostwinde des nahenden Abends aufgeregt. Die Wachtel schlug im hohen Spelz, der in der reifenden Dürre wie vor leisen Geisterfußtritten knisterte: der Thymian duftete mächtig auf dem heidebedeckten Felsrücken, der vom Wald zum Gefilde sich absenkte und aus dessen Schoße das Quellchen entsprang. Drunten aber, einige Büchsenschüsse weit, auf steil abfallendem Pfade erreichbar, lag im Talkessel unter grünen Obstbäumen das Dorf, dessen wir früher gedachten; der Rauch der Abendküche stieg leise in die von Goldstrahlen durchsponnene Luft, und mit dem eben jetzt erklingenden Tone der Nachtglocke vermischt, scholl das Lachen der spielenden Kinder und das frohe Gebrüll herauf, mit dem das Vieh, eben von der Weide einziehend, die heimatlichen Ställe begrüßte. Es war einer der Abende, an denen das glückliche Menschenherz nach Liebe verschmachtet, das gramvolle aber zugleich mit dem brechenden Sonnenauge sanft in den Tod sich aufzulösen wünscht.

Mutter Wlaska, die alles Naturfrische liebte, hielt streng darauf, daß in ihrer Küche zu Speisen und Getränk nicht Wasser aus dem Dorfbrunnen, den jeder Regen milchweiß färbte, sondern nur die kühle, ewig helle Gabe des Felsenborns gebraucht wurde. Zu diesem Zwecke mußte jeden Abend abwechselnd eine der Schwestern mit der Bütte hinauf. Heute traf Sabinen die Reihe, und kaum hatte Valentin, so hieß der junge Mann, einen Blick in der Gegend umhergesandt und einen Trunk aus dem Quell getan, so sah er des Mädchens hohe Gestalt den Felsenpfad heraufsteigen.

Er erhub sich vom Steinsitz und hielt staunend die Hand vors Auge, um vor der Abendblendung schärfer zusehen zu können – denn nie war ihm ein solches Mädchen vorgekommen. Sabine war jetzt zweiundzwanzig Jahre alt und stand in der Fülle jugendlicher Blüte und Kraft. Sie trug einen kurzen, aber weiten Rock von hellem Zeuge, der faltig über die Hüften herabfiel. Wer neben ihr hinaufstieg, hätte den Strumpf von ungebleichtem Zwirn in das rote Knieband auslaufen sehen. Dagegen lag das rote Mieder, vorn mit Schnüren geheftet, knapp an, und unter ihm zeichneten sich voll und scharf die Brüste. Nur das Hemde bedeckte die Schulter und den Oberarm, der schlanke Hals war bloß und trug an dünner schwarzer Schnur ein kleines silbernes Kreuz. Auf dem leicht emporgeworfenen Kopfe schaukelte sich der Zuber, der ihr dunkles Antlitz warm beschattete. Das herrlichste schwarze Haar, das Erbteil des Zigeunerstammes, legte sich vorne in kleinen, hinter dem Ohr wieder aufgebundenen Zöpfen bogenförmig an ihre Schläfe, hinten aber fiel es in mächtigen Strängen bis zur Kniebeuge aus dem blendendweißen Kopftuch hervor, das seinen Glanz noch erhöhte. Die schönen braunen Gazellenaugen unter dunkeln Brauen und die lichte Kirschfarbe der feingeschnittenen Lippen deuteten auch bei ihr noch auf die Heimat unter den Palmen des Nils oder den Maulbeerschatten des Multans zurück. Nur auf den Fußspitzen sich hebend, ohne einmal die Ferse aufzusetzen, stieg sie leicht und schwebend wie eine Gemse den ungleichen Felspfad hinauf und überhüpfte die scharfen Steine, die ein dort im Winter herabschäumender Gießbach regelmäßig jedes Jahr aufhäufte. Nicht zauberischer in dunkler Schönheit war die Tochter des Midianiters, als sie des großen Moses Herz gewann beim Brunnen der Wüste, nicht feuriger und herzverlockender Rebekka, als sie auf dem abendlichen Gefild vom Sattel des Kameles herabglitt, um ihren jugendlichen Bräutigam zu begrüßen.

Als sie nahe vor dem Brunnen die Bütte abhob, erblickte sie ihn. Schönheit und Kraft werfen in jedes Herz ein fröhliches Licht; beide lächelten sich an, und Valentin grüßte zuvorkommend und mit Achtung.

»Wie heißt der Ort, Jungfer,« fragte er, »und wie weit ist's von drunten noch nach Heidelberg?«

Das Mädchen nannte ihm das Dorf und fügte hinzu: Wer gut ausschritte, könnte um zehn Uhr in der Stadt sein.

Nach dieser wichtigen Mitteilung trat sofort eine Stockung ein. Sabine nahm einen Krug aus der Bütte und begann mit diesem das Wasser aus dem Born zu schöpfen. Valentin suchte nach einer neuen Anknüpfung.

»Nun, Jungfer,« fragte er, »ist bald Kirmes unten im Dorf?«

»O freilich,« erwiderte sie, »heute haben wir Donnerstag, und Sonntag über vierzehn Tage ist unsere Kirmes.«

»Ei da werden die Burschen drunten sich drum reißen, wer Sie zum Tanz zu führen hat, und der Schatz wird wohl eifersüchtig werden?«

Sabine errötete, aber ihr Stolz stand ihr zur Seite; sie hob den Kopf auf und sagte: »Ich habe keinen Schatz und so gehe ich auch nicht zum Tanz.«

Da sprang Valentin auf, sah ihr ins Gesicht und sagte mit ungeheucheltem Erstaunen: »Sie hat keinen Schatz? Das macht Sie mir nicht weis.«

Das war unfein von Valentin, und schon wollte Sabine schnippisch sagen: Wer's nicht glauben will, mag's halten, wie er Lust hat – aber ein Blick in sein ehrliches Gesicht hielt sie zurück, und sie sagte ruhig: »Ich bin ein gar armes Mädchen und eine Fremde obenein, da regnen die Schätze nicht vom Himmel, Sie können mir's glauben!«

Als sie ihn so mit Sie anredete, merkte er, daß er sich im Tone vergriffen habe. Auch er sprang in die feinere Redeweise hinein, die ihm leicht war, denn wie durchweg in Baden hatte er einen guten Schulunterricht genossen. »Hören Sie,« sagte er bescheiden, »wenn ich nun am Kirmestage hier wäre, würden Sie wohl mir die Ehre geben und ein paar Walzer mir zusagen?«

Sabine war verlegen. Der Mann war wildfremd und sah doch so ordentlich und gesittet aus. Sie wollte ausweichen.

»Ach Sie sind ja hier fremd«, sagte sie; »heute abend oder morgen früh sind Sie über Berg und Tal, und da könnte ich lange warten nachher, wenn ich auf Sie warten sollte.« Und als wollte sie von dem Tanzantrag abspringen, fragte sie mit gleichgültigem Tone: »Um Vergebung, wo soll denn die Reise hin?«

Valentin war schlau genug, in dieser Frage das zu erkennen, was wirklich in ihr lag. Sabine wollte erst eine Auskunft über das Wo und Wie ihres sich anbietenden Tänzers, ehe sie zusagte. Da nun konnte er genügend sich ausweisen. Er berichtete, daß er aus dem Oberlande an der Schweizer Grenze von Bauersleuten herstamme und jetzt einmal wieder heim wolle. Er erzählte, wie er früh Waise geworden und auf Kosten der Gemeinde im Hause des Lehrers erzogen sei, der ihn zum Unterlehrer habe bilden wollen. »Aber das gefiel mir nicht,« fuhr er fort, »ich schaffe lieber in der freien Luft, als daß ich sollte in der Schulstub' hocken. Da bin ich Knecht geworden bei einem reichen Bauern zu Emmendingen, und hernach bin ich zu einem Verwandten von dem gezogen, der wohnt hier unten im Hessischen. Dann hab' ich zum Militär gemußt, und weil ich schön schreiben kann und meine Sachen ordentlich verstanden habe, bin ich Unteroffizier geworden, und wollte erst auf den Offizier dienen; aber alleweil gefallt mir das Faulenzen in den Kasernen auch nimmer recht, da hab' ich meinen Abschied genommen, bin ins Hessische hinüber meine Sachen zu holen, und alleweil will ich ins Oberland, zu schauen, was dort passiert ist die Zeit über; und darnach Arbeit suchen, wo ich's finde.«

»Arbeit?« sagte Sabine. »Arbeit gibt's doch alleweil überall, denn es ist Erntezeit. Arbeit finden Sie auch hier in der Pfalz, und hier ist in dem Stück ein guter Brauch: wer das Korn schneidet, bekommt's auch zu dreschen.«

Lag nicht ein Wink in diesen Worten? Wenigstens Valentin nahm es so. »Wenn Sie das meinen,« sagte er; »ich wollte heut noch nach Heidelberg oder noch ein Endchen weiter hinauf gegen Wiesloch zu, denn um zehn Uhr kommt der Mond. Aber ebensogut bleib' ich da und probiere mein Glück, wo ich bin. Und nun Jungfer – ah so, wie heißen Sie denn?«

»Sabine heiß' ich«, sagte das Mädchen errötend.

»Also, Sabine, wenn ich nun Arbeit treffe hier in der Pfalz, darf ich dann Sonntag über vierzehn Tage kommen und Sie abholen?«

Sabine hatte jetzt keine Möglichkeit mehr, auszuweichen, und kein Recht, zu weigern. Sie sagte also herzhaft: »Warum denn nicht?« und rüstete sich, wegzugehen.

Valentin trat zu ihr und faßte ein Öhr der Bütte an, um ihr die Last auf den Kopf heben zu helfen. »Darf ich wohl mit Ihnen hinuntergehen,« fragte er schüchtern, »damit ich's doch zu finden weiß, wo Sie wohnen?«

»Das gäbe gleich ein Gerede«, sagte Sabine. »Warten Sie, bis ich unten am Stein bin, dann können Sie nachkommen und zuschauen, wo ich eintrete: das ist meiner Mutter Haus.«

Bei diesen Worten hob sie die Bütte an einem Ende und Valentin am andern. Als sie auf dem Kopf Sabinens schwebte, wollte sie ihm für den kleinen Dienst danken; da sie es aber wegen der Last nicht mit einem Kopfnicken konnte, mußte sie es mit einem Winke der Augenlider tun, was denn freilich, wenn wir verliebten Leuten in diesem Stücke glauben, noch viel vertraulicher aussieht, als ein bloßes Kopfnicken. Mädchen in dieser Lage, eine schwere Wasserbütte auf dem Kopfe, sind ziemlich wehrlos, und das benutzte Valentin, um ihr als Erwiderung auf den Augenwink einen geschwinden Kuß auf die Wange zu geben. Sabine errötete tief, aber sie sagte kein Wort und stieg, trotz der Last, mit ebenso leichten Schritten, wie sie gekommen war, den Felspfad hinab.

Valentin wartete eine kurze Weile, sprang hierauf dem Mädchen nach und fing noch einen flüchtigen Gruß der braunen Augen auf, den sie unter ihrer Haustüre ihm zuwarf. Alsdann beschloß er, im Roten Ochsen sein Nachtquartier zu nehmen. Man muß nämlich wissen, daß ganz Baden schier keinen Ort besitzt, in welchem es keinen Roten-Ochsen-Wirt gäbe. Valentin schaute sich also nach diesem ebenso angenehmen, als bedeutungsvollen Zeichen um, und bald leuchtete ihm ein solches durch die Abenddämmerung nahe bei der Kirche entgegen. Er trat in die Gaststube und forderte einen Schoppen Batzenwein, ein Abendbrot und ein Nachtlager.

Wenn nun meine norddeutschen Brüder von einem Wirtszimmer des Südens hören und dabei die langweiligen Restaurationen, Lesekabinette und Kaffeestuben ihrer Städte sich vormalen, oder gar an die fliegensummenden Branntweinschenken auf dem Lande denken, so muß ich ihrer Einbildungskraft etwas nachhelfen. Überall wo Wein wächst, und am Orte seines Wachstums also zu wohlfeilen Preisen getrunken wird, lebt eine höhere, feinere Wirtshausgeselligkeit. Die süddeutsche Gaststube ist einer der wichtigsten Plätze für das öffentliche Leben. Nicht wie im Norden sondern sich hier die Stände in Kasinos und Klubs ab: der Schoppen dient vielmehr als Bindemittel zwischen allen Berufsarten und selbst allen Bildungsstufen, die indessen in Baden nicht so gar weit auseinanderliegen. Während der Berliner zur Teestunde sich mit seiner Familie und vielleicht einem Buche zusammentut, geht hier der Bürger allabendlich ins Wirtshaus, denn hier ist die Hochschule des Volkes für die Politik. Der Lehrer, der im deutschen Süden fast durchweg die Fortschrittspartei vertritt, liest die Zeitung vor, welche jeder Wirt als das hauptsächlichste Anlockungsmittel zu halten verbunden ist, die kraftvollsten Kammerreden kommen zum Vortrag und werden ausführlich besprochen; auch bildet sich hier das Urteil darüber, ob der gewählte Abgeordnete des Kreises im Sinne der Wähler seine Schuldigkeit tue oder nicht. Alle Stände gleichen sich in den gemeinsamen Interessen des Staatslebens aus; selbst Pfarrer und Bürgermeister verschmähen es nicht, hier öfter einzusprechen, und hierauf zum großen Teile beruht es, daß der Klassenkampf zwischen reich und arm hier noch nicht stark durchgreift, vielmehr die Begüterten gerade den Kern der Oppositionspartei bilden. Es würde auffallen, wollte jemand in die Herrenstube sich zurückziehen; höchstens geht man dahin, um allein und ungestört zu speisen, und kehrt dann in die allgemeine Gaststube zurück. Natürlich spielt bei diesem allem der Wirt eine Hauptperson; in ihm sammelt sich gleichsam alles politische Licht, das die gesamten Gäste von sich strahlen; er hat mit der neuen Zeitung und durch die einsprechenden Fremden zuerst die neuesten Nachrichten in Händen und weiß seine Belehrungen stets an den rechten Mann zu bringen; daher auch in allen süddeutschen Bewegungen die Gastwirte stets eine große Rolle gespielt haben. Manche Wirtsstube der Pfalz ist wichtiger als zwölf Gemeindehäuser zusammengenommen.

Gewiß, dies hat auch seine Kehrseite. In den bewegtesten Wirtshäusern werden nur Oppositionsblätter geduldet; der Ton dieser politischen Besprechung, die gar oft auch zur politischen Kannegießerei wird, ist heftig und leidenschaftlich, und der zu diesem geistigen Vergnügen hinzugenossene Wein, verbunden mit der lauten und redseligen Art dieses warmblütigen Menschenstammes, macht gründliche Belehrung, kalte Überlegung unmöglich. Das knattrige Rauschgold macht sich ebensowohl wie das Edelmetall geltend, und das zornige Räsonieren der offiziellen Wirtshausdemokraten ersetzt nur zu oft die tüchtige Bildung, den gediegenen Charakter. Unstreitig ist dies ein Übelstand, den die Regierung überwinden konnte, wenn sie früh genug sich entschloß, durch ihre Schulen gesunde und klare Staatsbegriffe in die Köpfe des heranwachsenden Geschlechtes zu pflanzen. Allein hier wie überall sind die neun Stufen der Engel aus dem Katechismus stets für wichtiger zu wissen erachtet worden, als die Kenntnis der heiligen Rechte und Pflichten, die dem Bürger seinem freien Staate und der Gemeinde gegenüber zukommen. Nebenbei schließen sich denn im Wirtshaus noch eine Menge anderer Geschäfte ab. die auf Handel und Wandel Bezug haben. Die Gaststube ist die Bank und Börse des Dorfes, wo man die Schrannenpreise der nächsten Märkte erfährt und gar oft auch die Preise macht; außerdem aber dient die abendliche Zusammenkunft als allgemeines Kommissionsbureau. Darauf nun ging unser Valentin sogleich aus. Nachdem er dem Ochsenwirt auf die gewöhnlichen Fragen Rede gestanden, rückte er mit seinem Anliegen heraus, ob es wohl für einen rüstigen Tagewerker Arbeit im Orte gebe. Ehe eine Viertelstunde verging, war er bereits mit einem begüterten Bauern in Unterhandlung, der für die bevorstehende Ernte Hilfe brauchte und in dessen Lohn Valentin gleich morgenden Tages eintreten konnte. Nachdem dieses im reinen war, gab man sich sorglos den politischen Debatten hin, die von Minute zu Minute lebhafter wurden, und Valentin, der gegen das Allgemeine nie gleichgültig gewesen war, klang begeistert mit an, als sich zur Zeit der Bürgerglocke die Gesellschaft mit einem fröhlichen Anstoßen der Gläser auf Vater Itzstein trennte.


Valentin war als Knecht in die Dienste des Bauern getreten, der eine Viertelstunde vom Dorf einen großen Hof bewohnte, und während der Ernte hatte er treu seine Pflicht erfüllt. Da ihm seine vor dem Militärdienst getragenen Kleider zu knapp und zu abgetragen erschienen, so wandte er einen Rest seines früheren Lohnes, den er im Hessischen eingezogen hatte, auf einen zierlichen neuen Anzug. Eine schwarze, eng zugeknöpfte Jacke, auf dem Rücken mit ein paar Schnüren besetzt, hob seine schlanke Gestalt gut hervor. Statt der hierzulande modischen Kappe wagte er, einen jener über dem linken Ohr aufgeschlagenen Heckerhüte mit hinten herabhängenden Troddeln anzuschaffen, die jedem kräftigen Männerkopf den Ausdruck einer kecken Entschlossenheit verleihen. Seinen Bart ließ er ungeschoren, obwohl das in jener Zeit beim Landvolk noch ebenso selten war, als es nach der Revolution von 1848 bräuchlich geworden ist. In dieser Tracht, der seiner militärischen Haltung erst den rechten Ausdruck gab, ging er am Kirmestage vor dem Mittagessen ins Haus Sabinens, die er mittlerweile während der harten Erntetage nur im Vorübergehen hatte begrüßen können, und stellte sich der Mutter Wlaska vor. Von dieser, die auf ihn in ihrem Ernst einen ebenso bedeutenden Eindruck machte, als wiederum sein männliches Wesen ihr wohlgefiel, erhielt er sodann gleichfalls die Erlaubnis, abends vier Uhr Sabinen auf den Tanzboden führen zu dürfen. Valentin war so klug, auch die beiden Schwestern einzuladen; die ältere nahm es nach kurzem Schöntun mit innerem Vergnügen an, die kleine fromme Ludmilla aber hatte am Morgen ausnahmsweise die für heut etwas reichlicher bedachte Küche versehen und deshalb auf die Messe verzichten müssen; sie erklärte daher, sie wolle lieber den Nachmittag dazu verwenden, um auf das entfernte katholische Dorf zu wandern und sich für die versäumte Messe durch Vesper und Predigt zu entschädigen.

Schon um drei Uhr war Valentin da und ging stolzen Schrittes zwischen den beiden schönen Mädchen, eines an jedem Arme führend, durchs Dorf zum Roten Ochsen hinab, in dessen Oberstock der angesehenste Tanzplatz des Ortes sich befand. Er tischte seinen Tänzerinnen vom besten Weinheimer Wein auf, und bald begann nun der Tanz, so lustig, so wild und so unermüdlich, wie das Landvolk in ganz Deutschland und in der ganzen Welt an den auserwählten Tagen des Vergnügens – und das sind ja vor allem die Kirmestage – ihn liebt. Valentin tanzte zuvorkommend mit beiden Mädchen, aber Sabine war und blieb sein Herzblatt, und auch sie selber ward mit jedem neuen Walzer feuriger und zutraulicher, während die feine Wlaska bald andere Tänzer fand.

Der Tanz mochte eine Stunde gedauert haben, als mit lautem Peitschenknall und noch lauterem Hallo neue Gäste heranfuhren. Es waren Heidelberger Studenten mit bunten Mützen und vielfarbigen breiten Verbindungsbändern, die, sechzehn an der Zahl, ihre Beine und Stöcke aus zwei gichtbrüchigen Droschken heraussuchten, deren jede von einem einzigen lendenlahmen Gaul gezogen wurde.

Unsere Leser sollen hier erfahren, daß es in der Nähe jeder Universitätsstadt eine Hauptkirmes gibt, die von den Musensöhnen ganz regelmäßig und bloß zu dem höchst uneigennützigen Zwecke besucht wird, daselbst sich eine triftige Anzahl gediegener Prügel zu holen. In Bonn galt für diese Kirmes während unserer akademischen Periode die zu Siegburg; in Heidelberg stand 1844 gerade jenes Odenwälder Dorf in Mode. Die Waffen, mit denen man für diesen geistreichen Zweck sich versah, waren vor zwanzig Jahren die Ziegenhainer; seit aber der einzige Wald bei Jena eingegangen ist, welcher dieses berühmte Gewächs erzeugte, sind die dicken spanischen Rohre stark in Schwung gekommen, deren Hieb schon sanfter, obwohl kaum minder einschneidend ist. Endlich hat die jüngste Zeit uns mit der Erfindung der Guttaperchastöcke beschenkt. Ich trage kein Bedenken, diesen den Preis zu geben und sie für das Ideal und Nonplusultra aller Prügel in der ernsteren Gattung zu erklären (in der komischen würde ich das Studentenrapier vorziehen), da ihre gewichtigen Hiebe sich mit einer Wollust und Biegsamkeit, die etwas wahrhaft Schlangenartiges hat, an jede Vertiefung und Erhöhung des Körpers anschmiegen, dem sie zufallen. Allein in dem Jahre, von welchem wir erzählen, war die heilsame Erfindung der Guttapercha leider noch nicht gemacht, und so waren es, außer den aushilflich dienenden faustdicken Weichselrohren der Pfeifen eben Stöcke verschieden an Holz und Stärke, mit denen unsere Achäer den Kampfplatz betraten.

Es gibt keine Menschenklassen, mit denen man herzlicher und unbefangener zechen und froh sein kann, als mit Bauern und Handwerkern. Sowie aber ein echter Student in deren Nähe kommt, fordert es der akademische Brauch, gegen sie brutal zu werden und sie durch Neckereien und Renommagen herauszufordern. Diesmal gab Sabine den Anlaß her, welche einige der Korpsburschen als frühere Bekannte vom Markt her begrüßten. Sie tanzten ein paar Walzer mit ihr, und Valentin war vernünftig und gebildet genug, um sich darüber nicht zu ärgern. Aber da das Wesen von einigen etwas zu täppisch wurde, beschloß Sabine selbst, der Sache ein Ende zu machen. Das flinke Mädchen trat mit dem Längsten und Übermütigsten zum Walzer an und begann ihn so unablässig und unaufhaltsam herumzureißen, daß er, nachdem sie ihn zehnmal zur Tour um den ganzen Saal herum gezwungen hatte, endlich plump zu Boden fiel. Sie erwartete das, ließ ihn im rechten Augenblick los, sprang mit einem federleichten Hupf über seine Beine weg und tanzte laut lachend den Walzer ohne Tänzer fort bis zu Valentin. Diesen riß sie sofort in den Wirbel hinein und zeigte dessen unermüdliche Kraft dem städtischen Renommisten, der gedemütigt giftige Blicke auf den von Sabinen offenbar begünstigten Nebenbuhler schoß. Die Studenten beschlossen Rache: einer trat Sabinen mit dem Sporn ins Kleid und zerriß es ihr, worauf er sich halb spöttisch entschuldigte, und bei dem nächsten Tanz flog ein Stock, wie unversehens gefallen, Valentin dicht vor die Füße, so daß er, wenn Sabine nicht aufmerkte, heftig hätte hinstürzen müssen. Er sprang aus dem Tanz und trat vor den Tisch der Studenten hin. »War das Spaß oder Ernst,« fragte er, »daß Sie mich und das Mädchen zu Boden werfen wollten?«

»Nimm's wie du willst, Bauer!« sagte der lange Renommist.

»So nehm' ich's als Ernst«, schrie Valentin, sprang drei Schritte zurück und warf seine Jacke ab. Von Sabine vergebens zurückgehalten, ergriff er mit erstaunlicher Behendigkeit einen jener eichenen Bauernstühle von sehr einfacher Bauart bei der Rücklehne, und stieß dessen vordere Beine kräftig auf den Boden. Der Erfolg entsprach: das Sitzblatt sprang entzwei und lieferte ihm an den Vorderbeinen zwei auserwählte Schlägel. Mit dem Rückenblatt und dem, was sonst von Trümmern in seiner Hand blieb, hielt er sich nicht lange auf; dies diente ihm bloß dazu, den langen Renommisten sofort kampfunfähig zu machen, indem er es ihm kurzweg an den Kopf warf, daß er zu Boden taumelte. Dann packte er die beiden Stuhlbeine wie Keulen an deren dünnem Ende, und mit dem einen parierend, mit dem andern draufklobend drang er in den brüllenden Haufen der Studenten ein.

Die deutschen Studenten sind, wenige Ausnahmen abgerechnet, nicht allzusehr durch Herzhaftigkeit ausgezeichnet. Man kann es erleben, daß ein Student eine ehrbare Frau öffentlich beleidigt; das ist nichts, denn einzelne Niederträchtige hat jeder Stand; man kann es aber gleichfalls erleben, daß andere Studenten zugegen sind, welche den Niederträchtigen nicht mit der Reitpeitsche züchtigen. In der Tat, wer sich auf unsern ideenlosen Schulen acht Jahre mit dem verstümmelten Altertum abplagt und dann unsere Professoren ein paar Semester hindurch die herkömmlichen Brotkollegien vortragen hört, kann keine Begeisterung in sich retten; die letzte Kraft aber geht mit dem erbärmlichen Duellrenommieren verloren, das den Menschen durch seine Lächerlichkeit so aushöhlt, daß er hernach vor einer pfeifenden Kugel nicht aufrecht zu stehen vermag. Man sah dies glänzend im letzten badischen Revolutionskrieg; unter den Freischarenkompagnien sind diese liebenswürdigen Jünglinge, die doch stets die schönsten und längsten Hahnenschwänze trugen, in der Regel die ersten gewesen, die für ihre Mütter ihr junges Leben retteten. Das wirkliche Leben, die Not und große Schicksale verbessern glücklicherweise das, was unsere Gelehrtenschulen gesündigt haben, bei einzelnen – nicht bei allen freilich, denn unsere Kandidaten, Referendarien und jungen Ärzte sind ja meist die Söhne derjenigen Stände, welche sich, sie wissen selbst nicht warum, die gebildeten nennen – und aus diesen ist die herbe Tugend und der naturwüchsige Heldenmut längst entschwunden, um der gepriesenen Mäßigung, der hochbeliebten Weltklugheit Platz zu machen.

Trotz diesem versuchten die Studenten einigen Widerstand, sobald sie wahrnahmen, daß Valentin allein auf sie einstürmte; denn die andern jungen Burschen hatten nicht übel Lust diesen steckenzulassen, da er ein Fremder war, während die Mädchen der stolzen Sabine halbwegs eine Demütigung gönnten. Allein noch zur rechten Stunde besann man sich, welch eine Lücke es in der Chronik des Dorfes geben müsse, wenn man einmal die Heidelberger ohne Prügel von der Kirmes heimließe. Die Überlieferung überwog also, wie so oft, die eigene Meinung; einige Bauernburschen entschlossen sich zum Entsatz Valentins, der sich von spanischen Röhren bereits bedenklich umschwirrt sah. Und nun wurden die Studenten blitzschnell und mit wunderbarer Leichtigkeit vom Tanzboden weggeklopft und die Treppe hinuntergeworfen; damit aber war auch nach ritterlicher Kampfesart die ganze Fehde zu Ende, und dem fliehenden Feinde wurde eine goldene Brücke gebaut. Die Studenten durften in der Unterstube ungestört ihre Brauschen mit nassen Tüchern versehen und sich in ihre Droschken setzen, welche sie denn so rasch als nur Studentengäule vermögen, in den Sitz ihrer ernsten Musen und lieblichen Nymphen zurückführten.

Nachdem die Luft rein war und jeder der Dorfburschen mit dem tapfern Valentin auf nähere gute Bekanntschaft angeklungen hatte, begann der Tanz von neuem. Valentin hatte sofort, als wäre nichts vorgefallen, seine schwarze Jacke wieder angezogen und schwang sich eben mit Sabine in einer lustigen Polka, als er plötzlich einen scharfen stechenden Schmerz im linken Arm spürte. In einer Pause griff er unter den Ärmel und fühlte das warme Blut seiner Hand entgegenquellen. Gleichwohl tanzte er erst die Polka durch, trank mit den Mädchen seine Flasche Wein aus und bat Sabinen erst dann, so leid es ihm tue, eine Weile mit ihm hinauszugehen, indem er auf das schon den Fußboden beträufelnde Blut hinwies. Heftig erschreckt forderte sie ihn auf, mit nach ihrem Hause zu kommen, da ihre Mutter ihn rascher als jeder Arzt heilen werde. Wie gerne folgte er, und wie stolz aufeinander schritten beide durchs Dorf in die kleine Hütte der Mutter Wlaska!

Eine zerbrochene Flasche war nach Valentins Kopf gezielt gewesen, hatte ihm aber bloß den fleischigen Teil des Oberarms zerschnitten. Wlaska nahm mit einem feinen Zänglein eine kleine Glasscherbe, die sitzengeblieben war und den Schmerz verursachte, heraus, und verband geschickt die Wunde, nachdem sie ausgewaschen war. Dabei aber verbot sie den jungen Leuten streng, auf den Tanzboden zurückzukehren, weil dieses der Tod des Jünglings werden könne: wie zum Ersatz aber sollte er zum Abendessen dableiben. Wie froh war das Paar über diese Auskunft! Die Mutter und die älteste Tochter, welche auch bald vom Tanzboden heimkam, wirtschafteten in der Küche, Ludmilla war aus der Vesper noch nicht zurück; Valentin und Sabine, durch den Vorfall von heute auf einmal sich ganz nahe gebracht, durften Viertelstunden lang allein in der traulich dämmernden Stube zusammensitzen. Valentin war für Sabine zum Retter und halbwegs ja auch zum Märtyrer geworden, und von da ist's bei den Frauen nicht mehr weit zum Geliebten. Unsere Leserinnen mögen sich jener wonnevollen Stunden der ersten liebenden Annäherung zweier jungen Gemüter erinnern, die jede, auch die unglücklichste von ihnen einmal im Leben wenigstens in einem blassen Abbilde kennengelernt hat. Unsere Leser weisen wir dafür auf jene Gefühle zurück, die sie empfanden, als sie zum erstenmal am Familientische des Mädchens saßen, dem sie ihr Herz geschenkt hatten. Wir selber erzählen von diesem Abend nichts weiter.


Es war Winter geworden. Valentin hatte sich in seinem Dienste als ein treuer und tüchtiger Arbeiter bewährt. Wenn er mit einer rührigen Frau eine eigene Wirtschaft auf einem gepachteten Stückchen Acker anfing und nebenbei als Tagewerker arbeitete, so hatte er Aussicht auf das Los, das manchem Armen in der arbeitslustigen und betriebsamen Pfalz winkt. Man fängt mit wenig an, man kauft zuletzt von irgendeinem Auswanderer zu billigem Preise ein kleines Grundstück und legt mit jahrelanger Anstrengung das darauf ruhende Schuldkapitälchen ab. Dann wird ein Wieschen angeschafft, um eine Ziege und wenn's hoch kommt eine Kuh zu halten. Auf dieser Stufe des errungenen Wohlstandes wird nun ein Gemüsegärtchen die Leidenschaft der Frau, wo sie pflanzen und durch den Marktgang etwas verdienen kann – und so erringt das Paar am Ende auch noch eine eigene Hütte. Dann gehen sie zu ihren Vätern, zufrieden ihren Kindern die erste Handhabe hinterlassen zu können, an welcher dann diese sich manchmal sogar zum Reichtum emporschwingen. Was aber einem gelang, war auch für Valentin möglich, zumal wenn Sabine das Marktgeschäft oder doch ein gutes Teil ihrer Kunden in seinen Haushalt mit herüberbrachte. Seit der Kirmes galten beide im Dorfe für ein Liebespaar, und auch im Hause des Mädchens wurde das stillschweigend angenommen. Als im Herbst die Abende lang wurden, spannen die vier Frauen noch eifriger als sonst, und jede wußte im stillen wofür. Valentin war nicht ganz ein Mann nach dem Wunsche der Mutter Wlaska, sie hätte der rührigsten Tochter, die so sehr in ihre kräftige Art schlug, gerne eine glänzendere Partie gegönnt als einen Tagewerker. Auch fürchtete sie häuslichen Unfrieden, da Valentin ein Protestant war. Aber die Freier waren in diesem Hause schon allzulange ausgeblieben, als daß man hätte wählerisch sein dürfen. Außerdem lebte Wlaska, wie jede töchterreiche Mutter, des Glaubens, daß ein glücklich verheiratetes Mädchen die Schwestern gleichfalls in den heiligen Ehestand mitreiße: was auch unter zehn Fällen zuweilen einmal zutreffen soll. Auch hatte sie ja selber noch immer ihren Wunsch nicht erreicht, es zu einem liegenden Eigentum zu bringen: durfte sie Valentin abweisen, weil er arm war? Als daher eines Sonntagsmorgen der junge Mann sein Anliegen der Mutter vortrug, erhielt er ohne Bedenken die Zusage; er wollte nur seine Zeit beim Bauern ausdienen, und dann sollten die jungen Leute ihre eigene Wirtschaft anfangen. Seitdem fand Valentin sich fast regelmäßig abends in der Spinnstube ein, wo Sabine ihre kleine Ausstattung rüstete. So verflossen ein paar stillglückliche Monate, und nun war's zum Aufgebot Zeit, wenn man im Frühjahr Hochzeit machen wollte.

In Baden haben die Geistlichen noch die Führung der Zivilstandsregister, und die kirchliche Trauung schließt die bürgerliche in sich. Valentin begab sich demnach zum protestantischen Pfarrer des Dorfes, bei dem er sich bereits gleich bei seinem Dienstantritt als Gemeindeglied gemeldet hatte. Er traf ihn, wie man Pastoren zu treffen gewohnt ist, im Schlafrock und Lehnstuhl mit der brennenden Pfeife und einer Tasse Kaffee vor sich. An diesem Pfarrer war das Merkwürdigste, daß er in seiner ganzen Gemeinde keinen Feind hatte. Dies ist freilich schwer zu begreifen, denn ein Pfarrer soll ja das Laster züchtigen und die Bosheit aufdecken, was ohne Feindschaften nicht abgeht. Allein ob nun Laster und Bosheit in diesem glücklichen Erdenwinkel gar nicht vorkamen, oder ob der Pastor das Züchtigen und Aufdecken vergaß – genug, er galt für einen vortrefflichen Mann, dem niemand etwas vorwerfen könne.

Im Vertrauen hierauf trug Valentin geläufig seine Wünsche vor. Der Pfarrer nickte freundlich, überzeugte sich, daß alle notwendigen Tauf- und Totenscheine vorhanden seien, und schrieb sich bereits die Vor- und Zunamen auf das Ankündigungsblättchen, das er aus seiner Kanzelbibel hervornahm. Das erste Aufgebot sollte schon am nächsten Sonntag stattfinden, und an Valentins Geburtsort erbot sich der Pfarrer selbst die nötige Aufforderung amtlich abgehen zu lassen; der Bräutigam gab ihm herzlich dankend die Hand. Noch einen Gruß an die Jungfer Braut, sagte der Pfarrer, als Valentin die Türe in die Hand nahm.

Schon war er auf der Treppe, da rief ihn die Stimme des Seelenhirten noch einmal hinauf. »Wie ist es denn,« fragte dieser, »mit den hundertfünfzig Gulden?«

»Hundertfünfzig Gulden?« sagte Valentin mit einem leisen Schauder. »Was für hundertfünfzig Gulden?«

»Nun, Sie kennen doch unsere badische Gemeindeordnung? Wer sich in einer Gemeinde verheiraten will, muß zuvor Bürger sein und zu diesem Zweck ein Grundstück oder eine Geldsumme aufweisen. Ein liegendes Eigentum haben Sie meines Wissens nicht, die Braut hat es auch nicht; die Geldsumme aber beträgt für Landstädtchen und Dörfer hundertfünfzig Gulden.« »Herr Pfarrer,« sagte der arme Junge, »das kommt mir wie ein Blitz vom Himmel herunter. Ich kann ja doch von meinem Arbeiten leben und gut leben, selbst wenn ein paar Kinder dazu kämen; soll ich denn, weil ich arm bin, keine Frau nehmen dürfen?«

Der Pfarrer tat ein paar starke Züge aus der Pfeife, zuckte die Achseln und erwiderte: »Jede Gemeinde sucht sich zu hüten, daß nicht arme Leute in sie hineinheiraten, Kinder zeugen und so in das Vermögen der Gemeinde sich breit hineinsetzen. Darum haben unsere Kammern Anno 1831, als die neue Gemeindeordnung und die vielen liberalen Gesetze gemacht worden sind, diesen Punkt ausdrücklich aufgenommen.«

»Aber mein Gott,« sagte Valentin fast verzweifelnd, »was ist denn da zu tun? Wäre die Sabine meine Frau und ich hätte meine eigene Wirtschaft, so sollten die hundertfünfzig Gulden in anderthalb Jahren da sein, aber so zwingen wir's nicht bald. »Herr Pfarrer,« fuhr er fort, als jener schwieg, »Sie sind ein guter Mann und haben auch eigenes Vermögen; helfen Sie mir in die Ehe hinein, leihen Sie mir hundert Gulden, die fünfzig wollen wir schon dazu verdienen bis zum Herbst. Oder schaffen Sie mir's von guten Leuten.«

»Hören Sie, Valentin, das geht nicht an«, sagte der Pfarrer gleichmütig. »Meine kleinen Kapitalien stehen alle fest; und ich muß zuerst an meine eigene zahlreiche Familie denken. Ich halte Sie für einen braven Mann, aber wenn Sie sterben? Und bei andern für Sie borgen – das müssen Sie nicht verlangen. Ich kann bei Ihnen wohl frei heraus sprechen. Sehen Sie, die Gemeinde hat die Familie Ihrer Braut nicht gern. Es ist eine brave Familie, eine arbeitsame Familie, auch eine fromme Familie auf ihre Art und Weise – aber sie sind fremd, sie sind katholisch, sie sind arm. Heiraten die Mädchen und es geht nachher mit der Wirtschaft schief, so fallen die Kinder der Gemeinde zur Last. Nun muß ein Pfarrer sich alle Mühe geben, daß er seinen Gemeindegliedern zu Willen lebt und sich ja keine Feinde macht. Danach habe ich immer gestrebt, und Gott sei Dank, es ist mir auch gelungen. Wenn ich nun Ihnen zur Ehe mit dem Mädchen verhülfe, so würde mir das übelgenommen. Probieren Sie es daher lieber in Ihrer eigenen Heimat; dort können Sie nach den Gesetzen ebenfalls getraut werden.«

Valentin erblaßte vor Zorn, und sprach ingrimmig: »Zu was soll ich's erst noch einmal im Oberland versuchen? Daheim bin ich gerade so gut ein armer Junge, wie hier unten in der Pfalz. Obenein bin ich dort fremd geworden und müßte wenigstens ein Jahr erst wieder daselbst arbeiten, daß die Leute Vertrauen zu mir hätten. So lange kann ich und will ich nicht warten. Also,« sagte er zum Weggehen sich wendend, »ist das Ihr letztes Wort? Sie wollen wirklich nichts dafür tun, daß ich als redlicher Bürger und guter Christ in die Ehe komme?«

»Ich hab's Ihnen ja gesagt,« erwiderte der Pfarrer mit Ungeduld, »ich kann's nicht und darf es nicht. Die Amtspflicht und, junger Mann, die Amtsklugheit! – Übrigens tut es mir leid, daß wir über diesen Gegenstand uns gegenwärtig nicht weiter besprechen können; mein Küster wartet schon lange unten, denn ich habe eine Kindtaufe.«

Bei diesen Worten Zog der Pfarrer (so eilig waren die Amtsgeschäfte) vor Valentins Augen den Schlafrock aus und griff nach seinem schwarzen Rock, der an der Wand hing. Diese Andeutung, daß die in Gnaden gewährte Audienz bei dem hochehrwürdigen Herrn nunmehr vorüber sei, konnte niemand mißverstehen. Valentin stieß einen tiefen Seufzer aus und trat mit einer stummen Verbeugung aus der Türe. Der Pfarrer aber beendete gleichmütig seinen Anzug und setzte sich sodann wieder in den Lehnstuhl, um vor den so eiligen Amtsgeschäften zuvörderst noch seine Pfeife auszurauchen und keinen Rest darin zu lassen. Während sein sterbliches Teil sich mit dieser Verrichtung zerstreute, sammelte er in seinem Geiste einige locker in der Studierstube herumflatternde Gedanken, um sie im Hause des Bauern, wohin er ging, zu einer notdürftigen Kindtaufrede zusammenzusetzen.

Valentin ging gesenkten Hauptes und tief beschämt zum Hause seiner Braut zurück; er hatte jetzt freilich Gelegenheit, darüber nachzudenken, woher die gepriesene Beliebtheit des Herrn Pfarrers stamme. Ein giftiger Mehltau fiel über das Familienglück, das gestern abend die traute Stube noch mit so frohem Hoffnungsschimmer vergoldet hatte.

Die Mutter Wlaska war, wie gewöhnlich, die erste, die sich faßte. »Ei,« sagte sie, »die Sabine gehört ja gar nicht zu der Gemeinde des protestantischen Predigers. Wir wollen Sonntag nach der Messe mit unserm Dechanten darüber sprechen, der ist mir immer gut gewesen und hat mir gar manchmal freundlichen und nützlichen Rat gegeben. Du sollst sehen, Valentin, der ist vernünftiger und auch besser auf die armen Leute.«

Und so geschah es. Sabine ging den folgenden Sonntag mit der Mutter, und sie fanden einen freundlichen Empfang beim Dechanten, der ihren regelmäßigen Kirchenbesuch aus dem entfernten Orte sehr zu schätzen wußte. Stockend trug Sabine ihren Wunsch vor und schüttete in einem Atem ihr Herz auch über die hundertfünfzig Gulden aus. »Ich wollte mich,« sagte sie, »Tag und Nacht plagen, bis wir sie hernach zusammenhätten und wiedergeben könnten, und auch der Valentin versteht's Arbeiten wie einer! Wenn nur auf Ihr Wort, Herr Dechant, einer sie uns vorstreckte!«

»Das könnte sich machen,« sagte der Dechant. »Warum nicht? Ich habe gute Freunde unter den Herrn droben um Freiburg und sonst im Oberland, die würden schon etwas tun. Es ist zwar bedenklich, daß die Sabine einen Kalviner heiratet, da aber natürlich alle Kinder katholisch werden – «

»Also das wäre die Bedingung?« fiel ihm die Braut ins Wort.

»Wie kannst du danach nur fragen, Sabine?« sagte der Geistliche erstaunt. »Erinnerst du dich denn der Christenlehre nicht mehr, die du bei mir empfangen hast? Eher will ich die Stola nimmer anziehen, ehe denn ich eine gemischte Ehe traue, wo das nicht zugesagt wird. Noch viel weniger möchte ich zum Bürgergelde helfen, daß eine Ehe ohne diese Bedingung geschlossen würde.«

»Dann geht es nicht,« sagte Sabine. »Wir zwei haben das schon miteinander beredet, daß wir darüber niemals hadern wollen. Wir überlassen es dem lieben Gott: schenkt der uns Kinder und das erste ist ein Junge, so gehen sie alle nach des Vaters Glauben, ist's ein Mädchen, so lassen wir sie allesamt katholisch taufen, dann haben sie auch unter sich nachher keinen Hader. Davon geht auch der Valentin nicht mehr ab, das weiß ich zum voraus.«

»Ja, Mädchen,« sagte jetzt der Dechant mit offener Entrüstung, »wenn du so leichtsinnig das Seelenheil deiner Kinder aufs Spiel setzest, daß du dir nicht einmal Mühe geben willst, deinen Mann herumzukriegen, dann wäre es ja eine Sünde, dir zu einer solchen Ehe zu verhelfen; am Ende risse der Kalviner noch deine eigene Seele dazu ins Verderben mit. Nein, mein Kind, fügte er sanfter hinzu (denn die Kirche redet stets sanft, wenn sie uns einen Stich ins Herz gibt) opfre du lieber deinen Wunsch Gott auf; besser nicht freien, als am Glauben Schiffbruch leiden!«

Trotz den Einsprüchen der Mutter, trotz den tränenreichen Bitten der unglücklichen Braut bestand der Dechant auf seiner Weigerung, und als er nun zuletzt die bis dahin ruhige Besprechung in eine heftig niederregnende Strafpredigt auslaufen ließ, da fanden beide es geraten, diesem kräftigen Wasserbade mit verzagtem Herzen sich zu entziehen. Valentin kam ihnen unterwegs entgegen und empfing die hoffnungslose Kunde aus erster Hand.

Nach dieser abermals erloschenen Aussicht war für heute an keine vertrauliche Familienunterhaltung mehr zu denken. Auch für die Schwestern Sabinens lag ja eine bittere Lehre darin, und die Hoffnungen der Mutter Wlaska, auf eine Verbesserung ihres Hausstandes durch künftige Schwiegersöhne gingen gleichfalls einigermaßen in die Brüche. Valentin benutzte also den Sonntagabend zu einem einsamen Spaziergang in den Wald. Er fühlte, daß hier ein schweres Unrecht der menschlichen Gesellschaft verborgen liege; aber zum ersten Male berührte ihn dieser Gedanke, und sein einfacher Verstand konnte aus ihm noch keine Folgerungen ziehen. Demnach lenkte er lieber seinen Sinn darauf, was seinerseits zur Abhilfe geschehen könne. Er rechnete zusammen, daß, wenn er seine und Sabinens Habseligkeiten verpfände, wenn die Mutter alles Geld auf ein paar Wochen aus dem Handel ziehe, alles vorhandene Geflügel und Gartenkraut ausverkaufe, und wenn endlich auf die im Hause vorhandenen Hausgeräte geborgt werde, man wohl fünfzig Gulden zusammenbringen könne; somit blieben noch Hundert zu beschaffen. Hundert Gulden sind eine unermeßlich große Summe, wenn sie nicht auf der Börse, am Spieltisch oder mit der Feder, sondern mit Spaten und Botengängen verdient werden sollen. Das wußte auch Valentin recht wohl, aber dennoch meinte er, dieses Geld, wenn Sabine mit Spinnen nachhelfe, etwa in vier bis fünf Jahren aufbringen zu können. Die Rechnung war ohne den Wirt gemacht, aber sie erleichterte wenigstens sein Herz. Er teilte sie noch an demselben Abend Sabinen mit und trat sobald als möglich aus dem Dienst als Knecht heraus, weil er als Tagewerker mehr bares Geld hoffte zurücklegen zu können.

So arbeiteten und sparten sie denn zur Probe drei volle Monate. Sabine spann mit müden Augen und Händen ein paar Stunden tiefer als ihre Schwestern in die Nacht hinein; Valentin zog sich an Essen und Trinken das Mögliche ab. Nach drei Monaten kamen sie zusammen und rechneten. Mit der höchsten Anstrengung hatten beide zusammen neun Gulden erspart, aber beide fühlten auch, daß sie dieses Leben keine drei Jahre fortsetzen könnten. Ein stiller tiefer Ingrimm gegen die Welt, die ihr Glück an unmögliche Bedingungen knüpfte, zerwühlte ihre Herzen, und schon waren beide dem Entschlusse nahe, dafür nach dem Urteile dieser Welt auch nichts mehr zu fragen.

»Wir können so lange nicht warten,« sagte Valentin. »Dieses Leben ist ein Hundeleben, und nur wenn wir beisammen wären, könnte etwas verdient werden. Die Gemeinde hat dir, Sabine, dein schönes Angesicht und mir meine Kräfte nicht geschenkt, und wenn ich grabe und du spinnst, so machen wir doch andere Leute reich mit unserem Arbeiten. Mein Arm ist gerade so gut wie eines andern Bauern Grundstück, denn das Grundstück trägt nichts ohne die Arbeit des Armes. Darf nun der heiraten, der das Grundstück hat, so darf ich's auch.«

»Ja,« sagte Sabine, »aber die Kirche?«

»Liebes Herz,« antwortete Valentin, »man liest allezeit, daß die ersten Christen bitterarme Leute gewesen sind, aber geheiratet haben sie doch, und wenn Not kam, so halfen sie den armen Eheleuten fort. Tut das die Kirche jetzt nicht mehr, so geht sie auch nicht mehr in den Wegen der Apostel. Und obendrein hat's Ehen gegeben, ehe man an eine Kirche dachte. Ob wir getraut sind oder nicht,« fügte er bitter hinzu, »unsere Kinder taufen sie uns doch, und wenn wir sterben, müssen sie die auch ernähren.«

Ein liebendes Gemüt ist leicht zu überzeugen, daß es außer der Liebe keine Pflicht gebe, und daß ihr jedes Bedenken weichen müsse. Als sie schieden, als nun Valentin seine Braut fragte: »Sprich, Sabine, willst du zum Trotz aller Welt vor Gott meine Frau werden mit Leib und Seele, bis wir so viel haben, daß wir getraut werden können?« Da wandte Sabine sich ab, aber sie gab ihm abgewendet die Hand.

»Morgen ist Sonntag,« sagte er, »so komm morgen, wenn die Sonne untergehen will, in deinen besten Kleidern ans Brünnele, wo wir uns zuerst gesehen haben.«

Ein reines Herz freut sich auf seinen Hochzeitstag, wie ein Kind auf den Christbaum, und dieses Brautpaar hatte ein reines Herz. Nicht ein wilder Rausch der Sinne, sondern die innige stille Vorfreude in dem Gedanken, endlich einander ganz anzugehören, wohnte diesen Sonntag in ihren Seelen, und mit süßer Scheu sahen sie den Abend herannahen, der heiß und prächtig über der schönen Sommerflur aufging.

Und wieder war es im Juli, wie voriges Jahr, als der erste Augenblick, da sie einander sahen, ihr Schicksal entschied. Wieder verglomm die Sonne jenseits des Speyerer Doms, wieder knisterte der Spelz geisterhaft in der Abendglut, wieder ließ die Wachtel ihren eintönigen Laut über die Felder gellen, und der Thymian stand in voller duftiger Blüte. Und wieder stieg auch Sabine den Felspfad hinauf, schön gekleidet, leicht und herrlich wie damals, und Valentin harrte ihrer auf der Einfassung des Börnleins unter dem dunkeln Lindenschatten. Schweigend setzten sie sich zusammen, schweigend saßen sie eine lange, lange Zeit Herz an Herz, bis die Sonne ganz herunter und die Flur verstummt war. Dann sprach Valentin: So frage ich dich denn nun, ob du von heut an und immerdar, bis der Tod uns scheidet, meine treue Frau sein willst vor Gott im Himmel, recht so, als ob wir vor dem Altar getraut wären? Und Sabine antwortete ja. Da kniete er vor ihr nieder und sprach: So will auch ich dein Mann sein in Not und Tod, und meine Seele soll verlorengehen, wenn ich dich jemals verlasse! Damit löste er einen goldnen Ring von seinem kleinen Finger – es war ein kleines Ringlein, einst von seinem Taufpaten ihm geschenkt und nun schon längst von der harten Arbeit dieser Hand dünn geschliffen – das steckte er an ihre Hand. Und Sabine nahm dafür das silberne Kreuzchen von ihrem Halse und hängte es auf die Brust ihres Bräutigams. Dann fiel sie neben ihm auf die Knie nieder und gab ihm den Kuß der ewigen Treue, und sie falteten ihre vier Hände in einen Bund und aus beider Herzen stieg ein stummes Gebet zu dem auf, der alle Ehen in der ersten gesegnet hat, die er im Schweigen des Paradieses oder im Rauschen des Urwaldes ohne die Formeln eines Priesters schloß.

Und nun erhuben sie sich. Sabine hatte im Körbchen ein Abendbrot mitgebracht, Valentin nahm eine Flasche Wein aus dem Brünnchen, wo er sie kühlte. Sie setzten sich auf den Rand des Quells, und zum ersten Male aßen sie fröhlich allein miteinander, wie sie bald hofften am eigenen festen Tische zusammenzusitzen. Dann sprang Sabine auf und tat scherzend, als wolle sie ihm fortlaufen; er aber verfolgte sie – und die Waldschlucht, aus der er einst zum ersten Anblick dieses beglückten Tals hervorgetreten war, nahm beide in ihren undurchdringlichen Schatten auf.

Am folgenden Morgen ging Sabine auf den Markt nach Heidelberg, und die Mutter, die einiges selbst zu besorgen wünschte, ging ausnahmsweise mit. Die junge Frau fühlte, daß sie vor der Mutter ihr Geheimnis nicht bewahren dürfe und fragte also: »Sag, Mutter, wie kam es denn, daß du ohne Mühe mit dem Vater getraut wurdest, denn arm waret ihr doch auch?«

»Ach Gott, Kind,« antwortete Wlaska, »in der Kriegszeit gab's allewege nicht soviel Umstände; nach Geld und Gut fragte dazumal niemand. Dein Vater und ich wir gingen zu einem Feldpater und sagten: Traut uns. Das tat er und damit war's gut; der Pater war froh, daß wir uns nur die Mühe gaben ihn um seinen Segen zu bitten.«

»Du hast es also leicht gehabt, Mutter. Wenn aber der Pater nein sagte, was hättest du getan?«

»Liebe Sabine,« antwortete Wlaska, »du mußt deine Mutter nicht in Versuchung führen. Du weißt, was über die Sache im Katechismus steht.« »Mutter,« sagte die Tochter, »ich fragte dich nicht nach dem Katechismus, sondern nach deinem Herzen. Hättest du den Vater gehen heißen, wenn ihr nicht getraut wurdet?«

»Nein.« sagte Wlaska, »ich hatte ihn zu lieb dafür. Aber damals fragte man auch nicht soviel nach dem Gesetz, wie jetzt. Bei uns Zigeunern ist das immer freier gewesen: man heiratet sich im Walde und hernach zeigt man's nur dem Hauptmann an.«

»Nun, Mutter,« sagte Sabine frisch heraus, »so hab' ich auch getan, und Valentin ist jetzt wirklich mein Mann.«

Die Mutter blickte ihrer Tochter bekümmert ins Antlitz. »Sabine,« sagte sie, »ich sollte dir böse sein, doch ich wußte voraus, daß es so kommen würde, und es konnte auch nicht anders kommen. Aber du dauerst mich, denn du wirst schrecklich hiefür leiden müssen!«

Mutter Wlaska kannte das Leben und die Menschennatur; sie sagte die Wahrheit. Nach der echten rücksichtslosen Liebe sehnt sich jedes Menschenherz, und da dennoch nur wenige Herzen die Kraft haben, sie zu gewinnen, so entsteht in den meisten Gemütern ein Ingrimm gegen jeden, der es wagt, um einer solchen Liebe willen der menschlichen Gesellschaft, ihren Urteilen und Vorurteilen zu trotzen. Dieses Paar glaubte seine Lage zu verbessern, indem es einen unwiderruflichen Schritt tat; aber es hatte sie im Gegenteil womöglich noch verschlimmert.

Verhältnisse, wie dieses, werden auf dem Dorfe sehr schnell bekannt. Was bei Sabine ein ganz freier, ja ein schwerer und starker Entschluß gewesen war, wurde ihr als Schwäche und Leichtsinn angerechnet, man sah darin nichts als eine wohlverdiente Demütigung ihres Stolzes, und alles war überzeugt, daß Valentin ihr nicht einmal treu bleiben werde. Um sie recht zu ängstigen, gaben sich jetzt sogar mehrere Mädchen absichtlich und augenfällig Mühe um den jungen Mann, der sie freilich übel ablaufen ließ. Es entstand unter den Frauen eine Art stiller Verschwörung, welche sich nicht bloß auf das Paar, sondern auch auf die ganze Familie bezog und dem Marktgeschäft derselben bald erheblichen Schaden tat. Die wackern Gemeindevorsteher grämten sich bitter über die Möglichkeit, daß nun doch die Zigeunerhaushaltung, wie man sie nannte, sich um Sprossen vermehren könne, denen sich das Heimatsrecht nicht absprechen lasse. So vereinigte sich alles zu einem freilich nie ausgesprochenen Plan, den jungen Leuten nirgendwo einen Vorschub zu tun, um sie womöglich zum Wegziehen nach einem andern Orte zu veranlassen.

Valentin und Sabine waren Geächtete – und ein Geächteter kommt auf keinen grünen Zweig.

Das fühlte Valentin am bittersten, als er sich für seine anzufangende Haushaltung eine kleine Wohnung mieten wollte. Seine Arbeitskraft und Sabinens Fleiß kannte jeder, und Wohnungen gab es genug, da noch kürzlich mehrere Haushaltungen nach St. Louis ausgewandert waren. Allein die Frauen in allen Häusern, wohin er kam, wiesen ihm mehr oder minder grob mit der Andeutung die Tür, daß sie die Wirtschaft einer wilden Ehe unter ihrem Dache nicht dulden würden. Wie selig hatte er sich das geträumt, mit seinem jungen Weibe einsam zusammenzusitzen und allen Verdruß im vertrauten Geplauder an ihrem Herzen zu vergessen! Gelang erst das, kam erst die süße Ruhe des eigenen Herdes über sie, dann konnte, dann mußte ja alles besser gehen! Aber ach – statt des gehofften eigenen Herdes sah Valentin sich plötzlich selber obdachlos, da er seine Stelle als Knecht gekündigt hatte und nun dem neugemieteten Manne Platz machen mußte. Kaum erlangte er zuletzt für seine eigene Person eine kleine Bodenkammer auf einem einsamen Gut, das wohl eine halbe Stunde von dem Dorfe entfernt lag. Er nahm auch diese Zufluchtstätte vorläufig an; denn sich ins Haus der Mutter Wlaska einzudrängen, dazu war er zu stolz, selbst wenn es möglich gewesen wäre.

Es war aber auch nicht möglich, denn Sabinens Schwestern hätten das nicht geduldet. Beide fühlten sehr wohl, daß der Nachteil dieser unglücklichen Liebe auch auf sie und zwar sehr stark zurückfiel; ihre Hoffnungen auf häusliches Glück sanken tief herunter durch die arme Schwester. Zwar behandelten sie die letztere nicht geradezu unfreundlich, aber das fühlte Sabine doch durch, daß statt der frühern Herzlichkeit eine leise Verachtung in den Gemütern aufwuchs. Die ältere, Wlaska, machte große Ansprüche an Glück, und sah sich nun sogar von Valentin, den sie wegen seiner Armut stets mit Stolz behandelt hatte, gegen die jüngere Sabine zurückgesetzt. Ludmilla aber entwickelte täglich mehr eine nonnenhafte Frömmigkeit, und hatte gegen Sabinen jenes um seines Hochmuts willen ganz unerträgliche Mitleid, mit welchem die Gottseligen alles von oben herab anschauen, was ihnen ein Fehltritt heißt. Nur das Mutterherz verleugnete sich niemals; Mutter Wlaska, obwohl sie klarer als alle überblickte, welch ein Schlag ihr Haus und ihr Geschäft betroffen habe, rechnete die Verschuldung der Welt nicht ihrer Tochter an.

Die Natur erquickt auch das große Leid mit ihren unschätzbaren Gaben. Im Frühling brachte Sabine ihrem Manne sein erstes Kind, einen schönen Jungen mit den treuen dunkelbraunen Augen der Mutter. Zwar war es ein trauriges Vorzeichen, daß als Taufpate der Totengräber genommen werden mußte, weil kein anderer Mann dafür sich auffinden ließ. Auch ging das Gerede im Dorf von neuem und bitterer als je zuvor los. Gerade die Frauen, die den ein Obdach suchenden Valentin am schnödesten aus ihren Häusern gewiesen hatten, äußerten jetzt den meisten Ingrimm darüber, daß das Paar nicht wenigstens zuvor unter ein Dach gezogen sei, damit die Sache doch noch einen Schein von Ehestand an sich hätte. Aber es ist mit Kindern doch ein wunderlich Ding, zumal wenn sie hübsche Augen haben: sie stehlen auch den bösesten Leuten zuweilen das Herz, und leicht geschieht es, daß sie uns mit der Welt und die Welt mit uns versöhnen. Die Mutter Wlaska war im höchsten Grade glücklich über den Enkel, und auch die Töchter trugen ihre Abneigung nicht auf das unschuldige Kind über. Ganz selig aber war Valentin, und beide Ehegatten gelobten von neuem auf das Haupt des Knaben sich unverbrüchliche Treue und den höchsten Fleiß, um ihm eine berechtigte Stellung im Leben zu verschaffen.

Zu diesem Zwecke faßte Valentin einen Entschluß, den man unter diesen Umständen fast einen verzweifelten nennen konnte. Bis dahin hatte er sich noch ganz wohl als Schnitter und Drescher erhalten; jetzt aber im Frühjahr ließ die Arbeit nach und er mußte von seinem Gelde zehren. Die Ungunst der Nachbarschaft erstreckte sich auch auf ihn; er nahm sich mit blutendem Herzen vor, auswärts Arbeit zu suchen und sein Weib mit ihrem Kummer allein zu lassen. Nach einem herzzerreißenden Abschied ging er in die jenseitige Pfalz und arbeitete dort den Sommer über an der Eisenbahn nach Kaiserslautern, was gut bezahlt wurde. Im Herbst kam er mit einer ansehnlichen Handvoll Gulden zurück nach Hause; aber nun gab es in den Wintermonaten gar keinen Verdienst, und er fand die Familie stark im Zurückgehen. Die Abneigung der Gemeinde trug ihre giftigen Früchte. Auch konnte Sabine wegen des Kindes die Marktgänge nicht regelmäßig mehr tun; die älteste Schwester war zu schwächlich, die jüngere nicht regsam und munter genug zu dieser Art von Geschäft. Während Valentin auf den Erwerb dieses Hauses Hoffnungen gebaut hatte, sah er jetzt gerade umgekehrt sich genötigt, seine Frau mit seinem Verdienst zu unterstützen. Im Frühling war kein halber Gulden mehr in seiner Tasche, und Valentin mußte von neuem auf die Eisenbahn wandern. Alle Aussicht, je die nötige Summe zusammenzubringen, war dahin, und mit dem dumpfen Schmerz der Hoffnungslosigkeit nahm der Vater diesmal von Weib und Kind Abschied.

Hatte er aber so an der eigenen einzelnen Kraft verzweifeln müssen, so lernte er dafür in seinem neuen Geschäft Glauben an die Gesamtheit fassen. Jene Eisenbahn, wie sie von Neustadt aus viele Meilen weit in schlängelndem Lauf durch die roten Sandsteinfelsen sich bis Hochspeyer hinaufzieht, ist ein Riesenzeugnis von der Macht des Menschengeistes und der Menschenfaust; ihr bloßer Anblick hebt die Brust und zwingt uns, groß von dem gegenwärtigen Geschlecht zu denken. Die endlosen Tunnels, in kühnem Bogenlauf unter den alten Raubburgen durchgeführt, drücken so recht unsere Übermacht über die Vorwelt mit den schloßartigen Eingängen aus, die wie Triumphbogen der Arbeit das dunkelgrüne Tal schmücken. Ein starkes Wehen dieses Stolzes fühlte Valentin unter den Arbeitern, die dort seine Genossen wurden. Sie waren aus aller Welt zusammengeströmt, und viele trugen in ihrem Kopfe über die deutsche Grenze die neue Lehre, welche bestimmt ist, in der nächsten Zukunft die Gestalt unseres alternden Weltteils noch einmal zu verjüngen. Wie einst in den Katakomben Roms das Christentum, wie in den tiefen Schachten des Erzgebirges und des Salzkammerguts die neue Lehre Luthers, so verbreiten in unsern Tagen im Dunkel der werdenden Tunnels unter den Arbeitern sich jene Lehrsätze des jüngsten Weltevangeliums, die klar sind wie das Licht der Sonne, einfach und unumstößlich wie das Zeugnis der Menschenseele von Gott, und die das schärfste Siegel ihrer Wahrheit darin an sich tragen, daß ihre Anhänger von den ungläubigen und harten Herzen mit demselben dunkeln Haß verfolgt und gekreuzigt werden, wie die Apostel und die Boten der Reformation zu ihrer Zeit. Hier im stillen einsamen Denken und in der leisen Belehrung seiner Kameraden ging auch für Valentin endlich die Klarheit auf. Er begriff, daß aller Reichtum des Volkes allein auf der Arbeit ruht, und daß das Kapital selbst nur das Kind der Arbeit ist, das undankbare Kind, welches seine Mutter in den Hungerturm sperrt. Er sah ein, daß wer arbeitet, nicht bittweise das Recht zu leben erlangt, sondern daß er von Natur Anspruch hat auf ein menschenwürdiges Dasein – nicht Anspruch auf Federbetten, Champagner und Trüffeln, denn sie sind zum Genuß des Lebens nicht nötig, wohl aber den Anspruch, ein Weib rechtmäßig zu besitzen, satt an einem eigenen Herde auszuruhen und Kinder ohne Schamgefühl und Seelenqual an sein Herz zu drücken. Er sah es an seinem Beispiel, daß eine Weltordnung, wie die gegenwärtige, eben weil sie auf das Eigentum einen falschen Wert legt, das Recht des Eigentums der großen Mehrheit der Lebendigen grausam entreißt; daß also ein neuer Begriff des Eigentums in den Geistern der Menschen lebendig werden müsse. Seit dieser Stunde tröstete ihn die Ruhe des Gedankens für den eigenen Seelenschmerz – aber es war eine Löwenruhe, die sich stets bereit hielt, aus dem Lager der Überzeugung auf das Feld der Tat und des Kampfes hinüberzuspringen.

Als er im Spätherbst 1847 nach Hause kam, sah er sich ärmer als je; denn das schreckliche Notjahr hatte die Familie ganz heruntergebracht und sogar gezwungen, von ihrem Hausrate zu leben, den er nun mit seinem Erwerb wieder einlöste. Aber Valentin verzagte jetzt nicht mehr, denn gerade die Not war ihm ein Morgenwehen der neuen Zukunft, auf welche auch schon die Proletarieraufstände desselben Sommers deutlich hinwiesen. Er brachte mehrere Schriften seiner Richtung mit, die ganz zerlesen waren, da sie unter den Arbeitern von Hand zu Hand gingen. Seiner Frau redete er wenig von diesen Dingen, aber ein offenes Ohr und einen hellen Kopf fand er an Mutter Wlaska. Ihr war ja von ihrer Jugend an die Not vertraut; bis zum dreißigsten Jahre jene Kriege durchlebend, in denen Österreich unter den ermattendsten Anstrengungen in Italien, Schwaben, Böhmen, der Macht Napoleons erlag, hatte sie das Elend in seinen scheußlichsten Gestalten kennengelernt, und jetzt sah sie nicht in ihrer allein, sondern in gar mancher Familie des Dorfes die Verarmung anpochen. Sie verstand das Feuer, mit welchem Valentin seine Lehren vortrug, und sie gab ihm zu seinen Lehrsätzen die Summe der Erfahrung. Tüchtige Weiber sind das feine reinliche Linnen, durch welches ein Heilkünstler die Arznei fließen läßt, um sie zu klären: was noch trüb und wirr im Tiegel des menschlichen Geistes kocht und brodelt, das nötigen sie ihn durchsichtig und kristallen ans Licht zu treiben.

Im Februar stand Valentin am Wochenbett seiner Frau, die ihm sein zweites Kind, diesmal ein lustig in die Welt hineinschauendes Töchterchen, auf den Arm reichte. In diesem Augenblick schlug im Westen der prächtige Blitz der Pariser Revolution auf, und Valentin goß heiße Freudentränen über die Stirn seines Kindes, das nun schon Bürgerin einer neuen Weltordnung werden sollte.

»Das war der erste Schlag,« sagte er zu seiner Schwiegermutter, »die andern folgen!«

Und sie folgten, rascher als der kühnste Seher Zeit fand, sie zu weissagen. In Mailand, Wien, Ungarn zündeten die Schläge, am spätesten, aber am unwiderstehlichsten in Berlin. Das politische Spatzengezänke über eine Verfassung war schleunig beseitigt, und mit dem furchtbaren, kalt lächelnden Rätselgesicht einer Sphinx trat hinter allen konstituierenden Versammlungen die Frage der Arbeit und des Brotes hervor. Die Einheit Deutschlands! Das war das Zauberwort, welches den Bundestag niederwarf und das Frankfurter Parlament schuf. Nicht der schwärmende Burschenschäftler allein, nicht der Preußischgesinnte, der auf eine Kaiserkrone spekulierte, oder der Bürger kleiner Staaten, der endlich einmal im Strome eines großen Volkstums verschwimmen wollte – nicht sie allein schwuren, das Frankfurter Einheitswerk mit Gut und Blut zu schirmen, sondern auch die vier Fünftel der deutschen Bevölkerung taten es, die von der Arbeit ihrer Faust leben müssen. Denn die Arbeiter sahen, daß, wenn Deutschland mächtig werde, wie England; einig, wie Frankreich, es seine Waren selbst auf den Weltmarkt bringen und also doppelt verwerten könne. Für uns war die Einheitsfrage der Anfang zur Lösung der Arbeitsfrage.

Und wieder schaffte Valentin auf der Eisenbahn bei Frankenstein – da brach die pfälzische Revolution los. Dieselbe Frankfurter Versammlung, der das Volk trotz ihrer Schwäche treu anhing, erkannte durch ihren Sendboten den Landesausschuß an. Plötzlich trat auch Baden bei, der Ruf: Freiheit, Wohlstand, Bildung für alle! den schon Struve auf seine Fahne gesetzt, scholl jetzt als Bannerspruch eines ganzen Staats, mächtig lockend für jeden Armen, herüber. Nun war Valentin nicht mehr zu halten. Er warf seine Spitzhaue hin, brauste auf der Bahn, an der er ein gutes Stück in drei schwülen Sommern mitgebaut, nach Mannheim hinunter und kam zu Hause an, als soeben die provisorischen Herrscher des Landes das Gesetz über die Volksbewaffnung erließen. Jetzt war ihm ein Feld aufgetan für seine militärische Tüchtigkeit. Die Jünglinge seines Ortes konnten ihn nicht mehr entbehren, das erste Aufgebot wählte ihn zum Befehlshaber, und in wenigen Tagen hatte er mit ihm die nötigen Übungen in der geschlossenen Bewegung durchgemacht. Er eilte zum Zivilkommissär seines Amtes; Verdienst und Tüchtigkeit werden in Revolutionszeiten leicht anerkannt, weil man dann sogar die Untüchtigen in Ermangelung Besserer verwenden muß. Valentin wies auf die Wichtigkeit der Grenzorte gegen Hessen hin, und es gelang ihm, für seine Kompagnie Feuergewehre, Munition und regelmäßige Bekleidung zu erwirken. Jetzt folgten rasch Tirailleurübungen und Unterricht im Felddienst. Valentin war unermüdlich, seine frische Begeisterung riß die Jünglinge mit fort. Er selbst war ein anderer geworden, man hätte ihn kaum wieder gekannt. Der blaue Kittel mit dem roten Halstuch und der hellen, weiten, zum Marsch so bequemen Hose, der kecke Heckerhut mit roten Schnüren – es ist an sich die zumeist malerische Tracht, die unsere verschneiderte Zeit kennt, und für einen Sommerfeldzug hat sie in ihrer Leichtigkeit sogar vor der Uniform des regulären Soldaten ihre Vorzüge. In dieser Tracht, welche der Offizier so gut wie der gemeine Wehrmann trug, erschien Valentin wie umgetauscht: in ihm ging der frische militärische Geist wieder auf, welcher in keinem zu ersticken ist, der einmal die bunte Jacke getragen hat, und war früher sein Körper unter der Last seiner Gedanken und Sorgen gebeugt, so gewann er jetzt seine feste männliche Haltung wieder. Von stolzen Hoffnungen schwoll sein Herz. Sein Glaube weissagte ihm den Sieg einer Sache, die er mit solcher Glut umfaßt hatte, wenn er in diesem Kriege sich auszeichnete, so war ja auch sein Los endlich festgestellt. In schlaflosen Nächten, wenn die Einbildungskraft eines kühnen Mannes sich so oft wie die Schneide eines Bohrers bis in die tiefen Gründe der Hölle einwühlt, dachte er wohl an Beute, Überfall und kühnen Gewinn in Feindesland, aber der Tag verscheuchte von seiner reinen Stirn wieder die Runzel der Begehrlichkeit. So flocht er all sein Hoffen in den Sieg dieser Revolution hinein. Als daher die Hessen und Mecklenburger vom Norden her die feste Stellung an der Neckarlinie bedrohten, rückte Valentin mit einer vortrefflich eingeübten Kompagnie von 150 Mann aus seinem Dorfe aus und stellte sich zu Ladenburg dem Kommandanten zur Verfügung.

Es war ein Abend gegen die Mitte des Juni; das Gefecht bei Käfertal war vorüber, der erste Sieg, den die Freiheitsarmee, begeistert von Mierolawskis frischem Eindrucke, gegen Hessen und Mecklenburger errang. Valentin, dessen Volkswehr am Tage nicht ins Feuer gekommen war, erhielt dafür den Befehl, in der Nacht einen Teil des Schlachtfeldes abzupatrouillieren und bis dicht an die Stellungen des Feindes vorzugehen. Er nahm dazu die tüchtigsten Burschen seiner Kompagnie und begann, als der letzte Tagschein am Westhimmel verglomm, die stille Wanderung.

Das Gefecht war, wie fast alle in diesem badischen Feldzug, nicht sehr bedeutend gewesen, obwohl doch besonders die Mecklenburger, durch eine Kriegslist mitten unter die Feinde gelockt, stark verloren hatten. Jedenfalls boten sich dem Blicke der Patrouille alle Züge eines Schlachtfeldes dar. Dem Gotte des Krieges schaut der Wehrmann ruhig und kaltblütig ins ernste Antlitz, wenn er, die tüchtige Waffe in der Faust, selbsttätig zur Vernichtung des Feindes vorwärts schreitet. Aber wenn der Kampf ausgetobt hat, wenn nicht mehr das spannende Lebensgefühl, die gehobene Tatkraft den Krieger beseelt, wenn der Feind als Leiche, blaß und wehrlos, mit dem gebrochenen Auge ihn zu bedräuen scheint – dann fühlt auch der Tapferste, welch ein menschenschändender Wahnsinn der Krieg ist!

Verwundete und Tote waren bereits während des Kampfes weggeschafft worden; aber Spuren von ihnen blieben. Die Patrouille sah, wenn sie auf schmalen Feldwegen einherzog, wie die dort marschierenden Bataillone links und rechts vom Pfade vier bis sechs Schritte weit das hohe Korn so flach niedergewandert hatten, wie das Stroh auf der Dreschtenne liegt. Felder, durch welche Tirailleure beim Ausschwärmen vorgegangen waren, sahen wie verrupft oder von einem schweren Hagel eingeschlagen aus. Man mußte über eine kleine Schlucht weg, die mit Brombeergesträuch, Nesseln und einigen Bäumen besetzt war; hier hatten Schützen sich festgesetzt und waren erst nach heftigem Kugelwechsel gewichen. Die Bäume ließen geknickte Zweige bis auf den Boden hängen, Patronen lagen im Graben zerstreut, einige noch geladene Gewehre, ohne Zweifel den Händen der Toten entfallen, blinkten aus dem Grase hervor und wurden mitgenommen; auch blutige Tücher fand man, welche Sterbende, um das rasche Verrinnen des Lebensstromes zu hemmen, noch eine Weile auf ihre zerschmetterten Glieder gepreßt hatten. Auf andern Plätzen waren schon einzelne zersprengte Trupps in regelloser Flucht durchgekommen; man fand einige verlorene Patronentaschen, Mäntel und Kopfbedeckungen. Endlich bezeichnete auf einem Kreuzwege eine im Sternenlicht dämmernde große Blutlache den Platz, wo man am Schlusse des Gefechtes mehrere Leichen zusammengehäuft hatte, um sie auf einen Wagen zu laden und in das nächste Dorf zum Friedhofe abzuführen.

An dieser Stelle sammelte Valentin seine Leute und befahl den Rückweg; das nächste Dorf war vom Feinde besetzt, und die Wachtfeuer seiner Biwachten glänzten in der Entfernung von wenigen Minuten herüber. Lautlos lösten sich nach gegebenem Befehl die Rotten wieder auf und traten, jetzt näher gegen das Gebirge der Bergstraße sich ziehend, den Rückmarsch an. Bald waren sie aus dem Bereiche, wo ein Zusammenstoß mit dem Feinde gefährlich werden konnte. Es ging schon gegen den Morgen, die Leute wurden müde und schläfrig. Um so mehr fühlte sich Valentin zur Aufmerksamkeit veranlaßt; er strich eifrig durch die taubenetzten Kornfelder, sah unter allen Gesträuchen nach und war bald vor, bald hinter seinen Leuten, die nachlässig plaudernd die bequemsten Feldwege sich suchten.

Als er in dieser Weise seitwärts vom Wege ein dichtes Weizenfeld durchschritt, glitt plötzlich sein linker Fuß aus und er stürzte aufs rechte Knie nieder. Seine Hand, auf die er sich stützte, um rasch aufzustehen, tappte in Nässe: er griff um sich und traf etwas Weiches, Kaltes – so kalt, daß es in solcher Sommernacht nur eine Leiche sein konnte. Er sprang schaudernd auf und bog die Halme nach der Seite hin nieder, wo eben der Mond im letzten Viertel blutrot hinter dem Odenwald aufging. In seinen Strahlen blitzte ihm der blanke Metallhelm eines jungen mecklenburgischen Offiziers entgegen, der auf dem Rücken vor ihm lag. Das steigende Licht ließ ihn rasch erkennen, daß aus dem Haupte ein heftiger Blutstrom auf den Boden geflossen war, aber auch die Brust war durchschossen, und auf diese Wunde hielt der Jüngling mit dem Krampfe des Todes seine linke Faust gepreßt; aus der rechten Hand war ihm der blanke Degen gefallen, der jetzt einige Schritte von ihm entfernt lag. Er mußte lange mit dem Tode gerungen haben, oder hatten andere Flüchtlinge über ihn weggesetzt? Denn ringsum war das Getreide zerdrückt, und breite einzelne Spuren durchs Korn zeigten, daß auch Rosse hier durchgejagt hatten. Valentin umfaßte alle diese Umstände mit einem Blick, sprang an den Saum des Feldes und erwartete seine Leute. Er schwieg von dem Toten, übergab aber dem Feldwebel das Kommando und befahl ihm, sich ruhig in die Quartiere zu begeben und an seiner Statt den Rapport über die Patrouille abzustatten. Zweien der Leute aber gebot er, am nächsten Kreuzweg haltzumachen, bis er zu ihnen käme. Die Leiche mußte zur Bestattung weggebracht werden und ihre Uniform ging mit ihr ins Grab; aber was sie sonst von Wert an sich trug, gehörte nach allem Kriegsrecht dem, der sie fand.

Er kehrte auf die blutige Stelle zurück, und mit der Schonung, welche jeder nicht ganz rohe Mensch einer frischen Leiche zuwendet, bog er den Arm derselben sacht von der Wunde weg. Der Jüngling mußte reich sein: eine Zylinderuhr mit zierlicher Goldkette fiel zuerst in Valentins Hand; es folgten ein Ring und eine Brustnadel mit schönen Steinen, endlich eine Börse mit Goldstücken und eine Brieftasche mit norddeutschem Papiergeld. Der Arme setzt jedes Ding sofort in seinen Wert um, denn die Not lehrt ihn leider die Schätzung der Dinge kennen; rasch überschlug Valentin, daß der Betrag des Ganzen auf mehrere hundert Gulden sich belief. Und so hielt er es auf einmal durch den wunderbarsten Glückszufall in seiner Hand, was er so lange, so qualvoll ersehnt hatte: eine gültige Ehe, rechtmäßige Kinder, ein hübsches Stück Ackerland und vielleicht gar ein Häuschen für Frau und Kinder! Das alles, alles war sein, der Schmerz war zu Ende, das bittere Rätsel seines Lebens gelöst – und mit nassem Auge und dankerfülltem Herzen blickte er zum stillen Sternenhimmel empor.

In diesem Augenblicke vernahm er zu seinen Füßen ein leises Geräusch, erschreckt bog er sich nieder und traute kaum seinen Sinnen. War es das zitternde Mondlicht, was sein Auge blendete? War es das von seinen Brüchen im Labsal des Taues sich wieder aufrichtende Korn, was in sein Ohr knisterte? Nein – der Tote zu seinen Füßen erhub langsam und unterbrochen seinen Arm und legte die Hand wieder auf seine Brustwunde, welche infolge der Erschütterung von frischem Blute sich rötete. Zugleich scholl aus der Kehle jenes schwere röchelnde Atemholen, das für den Vorboten des nahen Todes gilt, und mit einem heftigen, durch den ganzen Leib gehenden Zuck warf er sich aus der Rückenlage mehr auf die rechte Seite. Er lebte noch: aber das Krampfige seiner Bewegungen und der jetzt wahrhaft grimmig sich verzerrende Ausdruck seines Antlitzes bewies, welchen Schmerz ihm der noch übrige Lebensfunke verursache. Sein Anblick war furchtbar. Valentin überzeugte sich nochmals beim Schein des nun ganz hellen Mondes, daß er wirklich zwei schwere Wunden habe. Bei dem starken Blutverlust schien Rettung nur durch ein Wunder möglich; auch waren Wangen und Lippen bereits kalt wie Eis und der Puls fast nicht mehr zu spüren. Valentin bedachte, was er selbst in solchem Falle als Soldat wünschen möchte: Abkürzung der Todesqual schien ihm Menschlichkeit gegen den Feind. Er zog seine Pistole aus dem Gurt, spannte den Hahn und setzte die Mündung auf die schon vom Todesschweiße perlende Stirn des Sterbenden.

In diesem Augenblicke schoß am Westhimmel ein Stern, und Valentin, unwillkürlich aufblickend, zitterte in sich zusammen, denn es war ihm, als erblicke er drei Schritte vor sich am Rande des Kornfeldes Sabinen auf den Knien liegend, die Hände zum Gebet erhoben. Es war wohl ein Spiel seiner durch die Nachtwanderung geweckten Einbildung; aber jetzt erst zuckte der Gedanke durch seine Seele, wie sein Weib in dieser Nacht bangen müsse um ihn, da sein Dorf von dieser Stelle nicht fernlag und die Nachricht von dem Gefecht schon am Abend dort sein mußte. Wie der Blitz schoß hinter diesem Gedanken der zweite auf: Wenn du so dalägest, was würde Sabine darum geben, noch vor der tötenden Kugel des Feindes zu dir zu kommen und deine letzten Odemzüge zu erhaschen! Und auf breiten Schwingen stürmte nun sein Geist nach der Ostsee, in die Heimat seines Opfers – ein Vater, eine Mutter – eine Braut – ein Weib vielleicht und ein verwaistes Kind! – und dann kehrte er zu sich zurück, und wie ein Dolchstich fuhr der Vorwurf durch seine Brust: Wolltest du vielleicht auch den Mann bloß darum töten, um seines Erbes und deines Lebensglückes ganz sicher zu sein?

So schnell wie der fallende Stern seinen Lauf vollendete, ebenso schnell lief Valentins Geist alle diese Gedanken durch. Vielleicht hätte in ihm der dunkle Geist des Eigennutzes den Kampf gegen den lichten Engel des Rechtes noch einmal gewagt – aber die eine Sekunde des Zögerns hatte schon über Leben und Tod seines Feindes das Los geworfen: der Sterbende öffnete die Augen, verdrehte sie qualvoll und stieß aus den blassen Lippen mühsam und kaum verständlich die Worte: Wasser, Wasser! hervor.

Dem Auflebenden gegenüber war Valentin augenblicklich wieder ganz Mensch. Bei seiner genauen Kenntnis der Gegend wußte er jeden Fußpfad und fand so mit Leichtigkeit ein kleines vom Walde herabkommendes Bächlein, das durch die Felder dem Neckar zulief. Im Helme des Feindes schöpfte und brachte er das Labsal; er richtete ihn langsam auf, und als er den Helmrand den Lippen näherte, sah er mit Staunen die Gier und Kraft, mit welcher diese die kühle Flut schlürften. Das harte Röcheln der Brust ließ nach, der furchtbare Ausdruck des Angesichtes milderte sich. Valentin hatte schon ein paar Schritte durchs Weizenfeld getan, um seine Begleiter zu rufen und mit ihrer Hilfe den Kranken im Quartier dem Chirurgus zu übergeben. Aber plötzlich hielt er inne. Wenn sie den Mann, so dachte er bei sich, jetzt eilfertig verbinden, auf einen Bauernwagen werfen und nach Heidelberg transportieren, so ist er hin, und ist er das nicht, so stirbt er hernach im Lazarett. Nein, ich weiß einen bessern und nähern Ort!

Er eilte zu den beiden Leuten, die seinem Befehl gemäß am nächsten Kreuzweg sich ausruhten; den einen schickte er mit einem im Monddämmer schnell geschriebenen Zettelchen der Patrouille nach und meldete seinem im Quartier gebliebenen Lieutnant, daß er erst in einigen Stunden eintreffen werde. Den andern nahm er zu dem Verwundeten mit und befahl, ihn mit Vorsicht anzufassen und aufzurichten. Dann legte er sein Schnupftuch mit Wasser stark benetzt als Aufschlag auf dessen Kopfwunde und knüpfte sein Halstuch darum: das blutrote Republikanertuch eines Freischärlers legte sich rettend auf die Wunden des mecklenburgischen Aristokraten. Beide faßten nun den Jüngling an; auf dem nächsten Bauernhof klopfte Valentin die Leute heraus und requirierte eine leichte Tragbahre mit einer Schütte Stroh. Auf diese wurde der Verwundete gelegt, und rasch ging's jetzt die Höhe hinauf, dem Dorfe zu, wo Valentin wohnte. Niemand begegnete den Trägern, im Schein des Morgenrots setzten sie die Bahre vor Wlaskas Hause nieder, und Valentin schickte sofort seinen Kameraden zurück, indem er ihm, wenn er ganz von der Sache schweigen würde, ein gutes Geschenk aus der Börse des Gefangenen versprach. Alsdann pochte er an das Kammerfenster, und Sabine trat ganz angekleidet mit der erschreckten Frage: Wer da? ihm entgegen. Das Haus war rasch geöffnet, die Tragbahre und das blutige Stroh im Ziegenstalle untergebracht; den Verwundeten empfing die Mutter Wlaska und ließ ihn zuvörderst ohne weiteres auf den Tisch der Wohnstube niederlegen. Man brachte Licht; die Zigeunerin besichtigte flüchtig sein Antlitz und seine Wunden, griff nach seinem Puls und hielt die Hand vor seine Lippen. Dann sagte sie zu ihrer ältesten Tochter: Rasch die Brieftasche mit den Messern, Wlaska, einen Eimer kaltes Wasser aus dem Börnlein und den Lebensspiritus!

Das Verlangte stand da. Jetzt gebot sie kurz und bestimmt: Alle drei Mädchen aus der Stube, Valentin bleibt allein bei mir. Wlaska, du machst heißes Wasser in der Küche. Sabine, du zerschneidest mein Brautleinen, es ist das feinste im Hause, zu Bändern so breit wie deine Hand. Aus einem deiner Kopftücher machst du zwei große Handvoll Wieken. Alsdann zwei reine Leintücher auf dein Bett drin in der Hinterstube. Du, Ludmilla, gehst auf die Bodenkammer und betest, daß die heilige Mutter Gottes mir eine gute Hand gibt zu dieser Stunde, und fährst damit fort, bis die Sonne aufgeht. Keine von euch kommt in die Stube, bis Valentin sie ruft. Hinaus jetzt und rasch eure Sachen getan! So, Valentin, jetzt riegle die Tür und paß wohl auf: tue nichts mehr und nichts weniger, als was ich dir befehle.

Wlaska wusch dem Verwundeten, der jetzt kein Lebenszeichen mehr von sich gab, zuerst den Kopf. Sofort zeigte sich, daß die Wunde der Tritt eines flüchtigen Pferdes war, den die Kraft des Schädels zur Seite gelenkt hatte; von den Hufnägeln waren die deutlichen Schrammen noch zu sehen. Sobald die Wunde klar und rein vorlag, begann das Blut wieder zu rinnen, und der Jüngling schlug ab und zu matt die Augen auf. Valentin empfing aus Sabinens Hand die Wieken, die das Blut aufsogen und schnell wieder stillten. Mit sachter und unmerklicher Hand schnitt sodann die alte Frau ihrem Pflegling alle Oberkleider herunter, ohne seinen Körper zu erschüttern. Man kam nun zur Brustwunde. Es war ein Schuß, der unter dem rechten Schulterblatt ins Fleisch gegangen war, halb hatte er die Weiche des Arms, halb die Brust über den Rippen durchgeschlagen und so durch zwei Wunden den heftigen Blutverlust bewirkt, von denen jedoch an sich keine tödlich war. Wlaska befühlte die Doppelwunde und nickte hoffnungsvoll, als der Kranke dabei vor Schmerz stöhnte und heftig zuckte. Sie öffnete das Besteck, und mit einem Geschick, das jedem Wundarzt Ehre gemacht haben würde, zog sie die Kugel, die im Oberarm vor dem Knochen steckengeblieben war, heraus, während Valentin auf ihren Befehl dem Leidenden den Lebensspiritus vorhielt. Sabine wartete bereits mit den Verbandwickeln vor der Türe und eilte nun in die Kammer, um das Bett zu bereiten. Das Blut schoß noch ziemlich stark der Kugel nach, aber Wlaska kreuzte ihre Zeigefinger über dem Verband und murmelte einen kurzen Reimspruch – da stand es stille. In einer Viertelstunde lag der Verwundete vortrefflich verbunden auf dem stillen Lager. Man hielt ihm mehrmals Wasser an die Lippen, obwohl er nicht die Kraft hatte, es zu verlangen, aber sobald er das Glas am Munde spürte, trank er heftig.

»Mach uns eine Tasse Kaffee, Wlaska, und kommt jetzt herein, Kinder,« sagte die Mutter freundlich, nachdem sie ihre Instrumente sorgsam gereinigt und die Brieftasche wieder verpackt hatte.

Jetzt erst fragte Valentin: »Wird er leben?«

»Das kommt aufs Wundfieber an,« antwortete Wlaska. »Ich hoffe aber ihn durchzubringen, nur darf kein anderer Doktor mir ins Handwerk greifen. Die Sache muß vor der Hand still bleiben; versprecht mir alle zu schweigen, bis ich euch die Erlaubnis zu reden gebe.«

Es war leicht das Geheimnis zu bewahren, da außer den Bewohnern niemand das Haus der Armut zu betreten pflegte, und die Kinder sagten der Mutter Stillschweigen zu.

Valentin übergab jetzt beim Frühstück an seine Schwiegermutter alles Besitztum des Verwundeten, um es demselben bei seiner Genesung wiederzugeben. Man zählte alles, schrieb es auf und schloß es ein, nachdem man aus dem Beutel für die notwendigen Auslagen zwei Goldstücke herausgenommen hatte. Es war im ganzen für mehr als dreihundert Gulden Wert. In der Brieftasche lag das Offizierspatent und mehrere Briefe, man las sie und sah aus ihnen, daß er der Sohn eines adeligen Gutsbesitzers unfern Strelitz sei. Die Briefe waren von seiner jetzt verwitweten Mutter und atmeten eine mit zärtlicher Bekümmernis gemischte Liebe für diesen Sohn, der ihr jüngstes Kind zu sein schien. Sabine erinnerte daran, wie schwer diese Mutter leiden würde, wenn sie die Nachricht empfinge, daß ihr Kind spurlos verschwunden sei, und Valentin setzte sich sofort hin, um ihr so trostreich als es möglich war zu schreiben. Den Brief nahm er an sich, weil er ihn zu Ladenburg selbst auf die Post geben wollte. Die aufgehende Sonne mahnte ihn jetzt an seine Dienstpflicht; er küßte seine noch süß schlafenden Kinder, nahm seine Waffen, drückte seinen Verwandten herzlich die Hand und schritt, obwohl um eine große Hoffnung ärmer, mit leichtem Herzen seinem Tagewerk entgegen. Sabine begleitete ihn bis vor das Dorf.

»Was habe ich diese Nacht um dich gelitten, Valentin,« sagte die junge Frau. »Stets schwebtest du mir als durchschossen, verwundet, gefangen vor den Augen. Ich konnte es im Bett nicht aushalten; heute früh zog ich mich an und lief hier heraus vors Dorf; du fandest mich auch noch in den Kleidern. Sieh dort beim Kornfeld lag ich auf den Knien und betete für dich und mich.«

»Wie,« sprach Valentin erstaunt, »dort knietest du, dort am Kornrande? Um welche Stunde war das?«

»Die Stunde weiß ich nicht, aber der Mond, der eben über den Berg kam, hatte mich geweckt; es wird gerade eine Viertelstunde nach seinem Aufgang gewesen sein.«

Valentin schauderte. Es war dieselbe Minute, als er Sabinen drunten beim Neckar am Saume des Kornfeldes mit betend erhobenen Händen knien gesehen, als der jähe Gedanke an ihren Schmerz seine Hand vor einem Morde bewahrt hatte. Er wagte nicht, ihr die Tatsache zu gestehen, sondern küßte sie nur gedankenvoll auf Mund und Stirn. Als er aber weit genug von ihr entfernt war und ihre letzten Winke zwischen den Obstgärten hindurch aufgefangen hatte, da warf er sich auf den taufeuchten Rasen und weinte wie ein Kind. Es waren Tränen der Reue zugleich und Tränen der Freude, daß die furchtbarste Versuchung seines Lebens ihn zwar schwach gefunden, aber nicht überwältigt hatte.

Ein schöner Julimorgen glänzte in das kleine Hinterstübchen von Mutter Wlaskas Hause. Durch das offene Fenster zog frisch der Ostwind herein und spielte mit den Weinblättern, die durchsichtig in der Sonne glänzten. Vor dem Fenster lag ein mit einigen Obstbäumen besetzter Grasfleck, wo die Ziege weidete; dahinter, durch eine Hecke getrennt, das Gärtchen mit den hohen Bohnenstangen und den reinlichen Beeten voller Küchengewächse; rechts hatte in einem umhegten kleinen Hofraum das Federvieh seinen Tummelplatz. Eine tiefe Ruhe lag über dieser friedlichen Einsamkeit, man hörte nur das Summen der Bienen, dann und wann durch das zornige Brummen einer Hummel unterbrochen, die in den Weinblättern sich verfangen hatte. Zuweilen tauchten auch aus dem Bohnenfelde die hellen Töne von Sabinens Schwestern hervor, welche dort Bohnen brachen. Zweistimmig sangen sie die unsterblichen Lieder, in welche unser Volk sein ganzes tiefes Gefühl ausgegossen hat: »Zu Straßburg auf der Schanz,« und: »Es stehen drei Stern am Himmel,« und: »Muß i denn, muß i denn zum Städtli naus« – es waren die letzten Reste des musikalischen Unterrichts, den sie in ihrer Jugend vom Vater, dem böhmischen Musikanten, erhalten hatten; aber in dieser Naturstille griffen die einfachen Klänge dieser glockenreinen Stimmen tiefer ans Herz, als es die feinsten modernen Notturnen auf einem Erardschen Flügel vermocht hätten. Wohl war dies eine Umgebung, in der ein Kranker genesen konnte!

Am Bette des jungen Offiziers, der noch im Morgenschlaf ruhte, saß seine Mutter, eine hohe adlige Frau mit dem Ausdruck mütterlicher Güte und vorsorgender Milde in ihren Zügen. Sie war auf Valentins Brief augenblicklich mit der Schnelle, die jetzt Eisenbahn und Dampfboot dem sehnenden Herzen gewähren, herbeigeeilt, und fand den Sohn in dem Augenblick, als er neun Tage nach dem Gefecht die Phantasien des Wundfiebers eben überstanden hatte und zum erstenmal wieder mit Bewußtsein um sich sah. Sein erster Blick fiel in das mütterliche Auge, und seine Genesung schritt rasch und ohne unglückliche Zwischenfälle vorwärts. Die Dame, welche alle Ursache hatte mit Wlaskas ärztlichem Geschick zufrieden zu sein, gab ihren ersten Gedanken auf, den Sohn so rasch als möglich in eine Stadt hinüberzuschaffen, und beschloß vielmehr, der Hand, die ihn gerettet hatte, auch das Verdienst der gänzlichen Heilung zu lassen. Sie mietete sich deshalb beim Ochsenwirt ein, wohnte aber sonst den ganzen Tag in Wlaskas Hinterstübchen, das man für den Kranken ganz ausgeräumt und hübsch gesäubert hatte. Das Eigentum ihres Sohnes war ihr ebenfalls gleich beim Eintritt ins Haus ausgehändigt und über das, was von dem Gelde für ihn verwendet worden war, Rechnung abgelegt worden. Die Matrone lebte wie zur Familie gehörig im Hause mit, und freute sich an der einfachen, aber reinlich und schmackhaft bereiteten Kost, die sie täglich durch eine Zusatzschüssel aus ihrer Kasse bereicherte. Am glücklichsten waren dabei Sabinens Kinder, denen die neue Tante tagtäglich Spielzeug und Naschwerk aus der Stadt mitkommen ließ und die bald eine grenzenlose Anhänglichkeit an sie zeigten. So saß sie auch jetzt mit Sabinens anderthalbjährigem Töchterchen auf dem Schoße, das mit ihrer goldenen Uhr spielte, während der Junge auf der Türschwelle ein großes Bilderbuch auf den Knien hielt und in wahrer Andacht dessen bunte Blätter umschlug – es war ja das erste Bilderbuch, das in diese arme Stube drang!

Längst war der junge Offizier kein Kriegsgefangener mehr. Die so kräftig begonnene Revolution stockte. Frankreichs zehnter Juni mißlang, der dem Druck aus Norden einen Gegendruck aus Westen gegeben hätte. Die Volkswehr hatte geübten Truppen gegenüber die Probe nicht bestanden, unfähige und zaghafte Führer das Staatsruder nicht zu lenken vermocht. Als die feindlichen Truppen im Rücken der Neckararmee über den Rhein gingen, wurde die unangreifbare feste Stellung verlassen. Valentins Kompanie (es hatte ja keiner wie er unter den alten Verhältnissen gelitten!) floß auseinander, um von der angebotenen Amnestie Gebrauch zu machen. Und als nun auch Willichs Korps, das letzte, den Rückzug über Bretten machen mußte, da nahm Valentin von den Seinigen einen verzweifelten Abschied, zog sich mit den letzten Flüchtlingen an der württembergischen Grenze hin und nahm noch an dem Schießen bei Durlach teil. Dann, von dem Gefühl geleitet, daß ein Mann auch eine sinkende Sache nicht verlassen dürfe, trat er in die Linie wieder ein und stand eben jetzt an der Murg, wo die badischen Truppen, auf Rastatt gestützt, die letzte feste Stellung nahmen. Aber schon war aus ihren Reihen der Geist gewichen; Wankelmut, Feigheit und Eigennutz hinderten jeden todesmutigen Kampf, und die Gemeinheit war einzig noch darauf bedacht, das was sie der Bewegung geopfert hatte, durch Auspressung des unglücklichen Landes rasch wieder zu gewinnen, um nicht ganz verarmt in die Verbannung zu ziehen. Der einzelne edle Mensch, der in diesem Strudel mitschwamm, vermochte höchstens sich selber obenzuhalten, nicht aber die schlammige Flut einzudämmen. Und schon meldeten sich im Lande die Stimmen, die jetzt von furchtbarer Rachgier über den ganzen Aufstand erfüllt waren, nachdem er gescheitert. Mit Entsetzen hatte die Mecklenburgerin in ihrem Gasthof einige Nummern jenes Blattes gelesen, das eben damals zu der schauderhaftesten Rolle von allen sich zudrängte, die es nach einem Bürgerkrieg geben mag – zu der Rolle, der siegenden Partei Todesurteile über gefangene Gegner anzuraten und die vollzogenen der öffentlichen Meinung zu empfehlen: es war die von Giehne geleitete Karlsruher Zeitung. Und sie wirkten, diese Stimmen! Die Verhaftungen und Sequester gingen ins Maßlose, und Preußen, nachdem seine Linie und Landwehr so brav sich geschlagen, gab allen Vorteil dem eroberten Lande gegenüber dadurch wieder aus den Händen, daß es die Blutgerichte mit seinen Offizieren und Soldaten besetzte und so auf seinen Namen allen Jammer der Familien lud, die jetzt verdammt waren, monatelang um Väter, Brüder, Söhne zu erbeben, bis das schreckliche Standrecht seinen Blitz auch auf ihre Häupter entladen hätte!

In diesen trüben Anschauungen verfloß der alten Dame Stunde um Stunde, und es ging sehr stark gegen Mittag. Jetzt erwachte der Genesende und sah munter um sich. Sabine, der ihr kleiner Junge sogleich die Nachricht in die Küche brachte, trat mit einem Napf Fleischbrühe und geröstetem Weißbrot ein und grüßte den jungen Mann freundlich. Die Frauen halfen ihm in einen Sessel, der mit Kissen weich belegt war, und Sabine gab ihm seine Mittagsmahlzeit. Dann holte sie das Süppchen für ihr Kleines, nahm das Kind vom Schoße der Matrone, auf den es sich sofort wieder heraufgebettelt hatte, und gab ihm mit dem Löffelchen sein Essen, worauf sie es in die Wiege legte und zum Mittagsschläfchen zudeckte.

»Morgen,« sagte Sabine, »darf der Herr schon ein Stündchen im Garten sitzen, das hat mir heut früh die Mutter gesagt. Lieber Gott,« fuhr sie fort, indem sie die Wiege näher an sich rückte, »es ist auch so eng hier, man weiß sich kaum herumzudrehen!«

»Lassen Sie das gut sein, Frauchen,« antwortete die andre, »Sie halten's schon in Ordnung. Aber das freilich seh' ich auch nicht, wie denn in diesem Häuschen Sie mit Valentin noch Platz gehabt haben.«

Sabine wurde rot und antwortete: »Valentin hat nie mit uns unter einem Dache gewohnt.«

»O mein Gott,« sagte die Dame, »und ihr hattet euch doch so lieb. Das muß ein hartes Los sein, in der Ehe getrennt zu leben! Warum zoget ihr nicht in ein Haus?«

Die Frage war so gutmütig getan, daß kein Arg dahinterliegen konnte. Sabine wollte einen Augenblick ausweichen, aber ein Gefühl von Stolz auf ihre Schuldlosigkeit bekämpfte in ihr die Scham. »Ich höre,« sagte sie mit einem Tone, der gleichgültig scheinen sollte, »Sie wissen noch nicht, daß ich mit Valentin nicht getraut bin.«

Die alte Dame stand hastig und mit dem Ausdruck der Entrüstung auf. Wenn der Brahmine, unwissentlich in des Paria Hütte getreten, plötzlich erfährt, wo er sich befindet, er kann nicht mehr erschrecken, nicht heftiger erzürnt sein, als die vornehme, tugendhafte Frau aus dem sittenstrengen Norddeutschland es in diesem Augenblicke war. Sie warf einen Blick des Abscheus auf das Mädchen; sie schaute wie entsetzt auf das Bette, aus welchem eben ihr Sohn erstanden war. Ihr Sohn hatte das Bette einer Frau berührt, die in wilder Ehe lebte! Es war gut, daß Sabinens Kind nicht mehr auf ihrem Schoße saß – sie war so heftig erregt, daß sie es vielleicht unfreundlich von sich gestoßen hätte!

Dieses kränkende Benehmen reizte Sabinen: sie aber bezwang sich. »Bleiben Sie stillsitzen, gnädige Frau,« sagte sie mit bitterer Ruhe. »Arme Leute können nicht wie sie wollen, und hätten wir halb das Geld gehabt, das vielleicht Ihr Hochzeitskleid gekostet hat, so ging dieser Kelch an uns vorüber, und Sie, gnädige Frau, hätten mir dann auch ein Angesicht wie dieses zwischen meinen eigenen Pfählen und in Gegenwart dieses Mannes nicht gezeigt, den mein Valentin und meine Mutter vom Tode gerettet haben!«

»Sie haben recht«, sagte die Matrone beschämt und nahm ihren Platz wieder ein. »Aber ich verstehe die ganze Sache nicht; sollte es denn in der menschlichen Gesellschaft Verhältnisse geben, die eine rechtmäßige Ehe verhindern?«

»So hören Sie, ehe Sie urteilen,« sagte Sabine und setzte sich an die Wiege ihres Mädchens, das ungewiegt nicht schlafen wollte. Und nun erzählte sie kurz, aber mit der beredten Zunge der Erfahrung, ihr grenzenloses Unglück. »So steht's, Madame«, schloß sie ihren Bericht. »Ich bin kein Mädchen und keine Frau. Nur eins fürchte ich sehr, daß ich vielleicht schon jetzt eine Witwe bin. Mein Mann läßt nichts aus dem Felde hören, es geht mit unserer Sache alle Tage schlechter, und wir sind verloren so oder so; entweder wird er getötet oder er muß in die Fremde, Gott weiß wie lange! Nun richten Sie, gnädige Frau, wie Ihr Gewissen spricht!«

Mit diesen Worten stand Sabine auf, da das Kind jetzt fest schlief, und wollte die Stube verlassen. Die Dame aber kam ihr zuvor, bot ihr die Hand und sprach: »Verzeihen Sie mir, Frau, ich habe gegen Sie mich verfehlt – zwar nur mit einem Blick, aber ich habe mich schwer verfehlt. Sind Sie mit dieser Abbitte zufrieden?«

Sabinens nasse Augen dankten der Matrone für dieses herzliche Wort, und diese redete weiter: »Wieviel sagten Sie betrage die Summe, die Sie brauchten, um Bürger zu werden?«

»Hundertfünfzig Gulden,« antwortete Sabine.

Eine Ahnung von der Selbstverleugnung, die ihrem Sohne das Leben gerettet hatte, ging erst jetzt wie ein Licht in den Gedanken der Mutter auf. »Mein Sohn,« sagte sie, »hatte doppelt soviel bei sich, als Valentin ihn fand – und Valentin brachte ihn hierher zur Pflege!«

»Was meinen Sie damit?« fragte die junge Frau erstaunt. »Sie denken wohl gar, er hätte Ihren Sohn liegenlassen können, um seines Geldes gewiß zu sein? O Gott, Madame, welch ein Unglück ist doch die Armut, daß man ihr sogar zutrauen darf, sie könne schlecht sein und unchristlich handeln!«

Im Gemüt verwundet schritt Sabine hinaus und brachte ihren Knaben, den sie von der Schwelle mitnahm, in den Garten zu ihren Schwestern. Die Matrone aber trat zu ihrem Sohn, strich ihm das Haar von der Stirne und blickte ihm liebevoll ins Angesicht. Ihre Hand zitterte noch vor dem Gedanken an die Gefahr, die an ihm vorbeigegangen war, und deren Größe sie erst jetzt durchschaut hatte. »Hast du gehört, Arthur?« sagte sie. »Das Lebensglück dieser Menschen hing daran, daß du starbst, und sie retteten dein Leben! Hundertfünfzig Gulden – es ist gerade soviel, als wir jährlich bei der großen Jagd auf unserem Gute, zu der wir deine Freunde einladen, an dem Madeira verbrauchen, der bloß zum Frühstück genommen wird! Um dieser Summe willen sind zwei Menschen fünf Jahre lang gepeinigt und sittlich erniedrigt worden!«

»Liebe Mutter,« antwortete der Sohn, »du bist im Reichtum erwachsen und kennst die junge Welt nicht. Ich habe trotz meiner Jugend mehr draußen gelebt als du, und auf diesem kurzen Feldzug bin ich oft mit meinen Soldaten ins Gespräch gekommen, auch in allerlei Quartieren herumgefahren. Da habe ich manche neue Erfahrung gesammelt; glaube mir, Mutter, der Druck, der diese zwei Herzen zerpreßt, lastet in tausendfach verschiedener Gestalt auf ganzen Millionen unseres Volkes. Aber was du sagst, ist wahr – nur wenige hätten sich gehalten wie diese Leute.« »Du erschreckst mich, Arthur,« sagte die Mutter, »doch du hast recht, ich habe zu wenig auf die Welt außer meinen Kreisen geachtet, um prüfen zu können, ob du nicht allzu dunkel siehst. Ich möchte es auch nicht untersuchen, denn wäre es so, ich trüge es nicht, daß ich Millionen elend wüßte, denen ich nicht helfen könnte. Aber dem einzelnen kann geholfen werden; – wenn wirklich gegen diese Menschen das Schicksal so furchtbar hart gewesen ist, dann bin ich entschlossen, ihr gutes Schicksal zu werden und eine Ausgleichung in ihr Leben zu bringen.«

Mutter und Sohn sprachen noch vieles über die Wege, die zu diesem Zwecke die geeignetsten wären. Nach dem Mittagessen besuchte die alte Dame, um vollkommen auf den Grund der Sache zu schauen, nacheinander den Wirt, den Bürgermeister und den Pfarrer des Ortes. Am Abend aber fuhr sie nach Mannheim und von dort, da die Eisenbahnfahrt durch den Kriegslärm gestört war, mit dem Dampfboot nach Straßburg. Am zweiten Abend danach kam sie zurück, fand ihren Sohn schon wieder bedeutend in der Genesung fortgeschritten und teilte ihm das Ergebnis ihrer Erkundigungen mit.

Wir finden alle Personen, von denen unsere Erzählung handelt, in den letzten Tagen des Augustmonats in Havre versammelt. Arthur mit seiner Mutter wollte eine Nachkur im Seebade halten; hinter Wlaska aber mit Valentin und ihrem ganzen Hause war Deutschland mit allem Schmerz und aller Not in die Vergangenheit gesunken, und vor ihrem inneren Auge dämmerte das Land der Hoffnung auf: Amerika.

Valentin durfte nicht mehr nach Hause zurückkehren: als Bildner und Führer einer Kompanie, die ohne ihn nicht zustande gekommen wäre, konnte er einer endlos langen Untersuchungshaft in den ungesunden Kasematten von Rastatt und später dem Zuchthause nicht entgehen; – da sowohl seine Gesinnung als auch seine tapfere Beteiligung an mehreren Gefechten sich nicht verhehlen ließ, war sogar ein Todesurteil denkbar. Arthurs Familie hatte Verbindungen in den Vereinigten Staaten, und so konnte die Matrone, ohne die Besorgnis, der Armut eine gefährliche Gabe zu schenken, sie zur Auswanderung ermutigen. Es war vorauszusehen, daß Mädchen, so schön und fleißig wie Sabinens Schwestern, dort, wo Frauen von guter Sitte so sehr gesucht werden, nicht bloß passende, sondern sogar glänzende Partien tun könnten. Die Mutter Wlaska nahm freilich schweren Abschied von der alten Welt; es war ihr, als schiede sie nun ganz aus der Lebensgemeinschaft mit ihrem ergrauten Volke; aber der Gedanke, endlich den Wunsch ihres Lebens zu erreichen und wenigstens im Alter noch auf einem ihr eigentümlich zugehörigen Flecke der Welt wohnen und wirtschaften zu können, lockte auch sie zu mächtig. Vor allem aber war für Valentins Tatkraft und Geisteshelle drüben eine ausgedehnte Laufbahn geöffnet.

Und doch entschloß Valentin sich von allen am schwersten. Da alle Briefverbindung mit dem Oberlande unsicher war, so schickte man ihm einen klugen Mann aus dem Dorfe als Boten zu, der sich durchs Elsaß bis zur Schweiz durchwand. Er fand die Trümmer der badischen Freiheitsarmee bereits auf fremdem Boden. Valentin empfand ganz das bittere Los des Flüchtlings am Tische des Auslandes, aber dennoch wäre es ihm beinahe als Pflicht erschienen, den großen Kampf der Zeit, dessen Bedeutung er so scharf begriff, in Europa durchzufechten. Gleichwohl sah er klar genug in die Welt hinein, um zu wissen, daß der Kampf, den er führte, der Kampf der Besitzlosen gegen die erdrückende Geldmacht der Gegenwart, überall seine Streiter finde diesseits und jenseits des Meeres, und mit dem festen Entschlüsse, in diesem Kampfe nie zu ermüden, folgte er seinem Landsmann und traf in Straßburg mit seiner Familie zusammen, die auf den Rat der Matrone nur ihr bestes Linnen und Bettzeug mitgenommen, alles übrige aber zu jedem Preise verkauft hatte.

Inhaltreiche Gespräche über die schwere Frage der Zeit kürzten die Fahrt im Postwagen. Der verschiedene, oft scharf entgegengesetzte Standpunkt der Parteien machte diese Gespräche höchst anziehend, und doch wirkten sie stets versöhnend, weil man auf dem Boden der Menschlichkeit und eines gegenseitigen guten Willens immer wieder herzlich sich begegnete. In Paris blieb man drei Tage, um den Eindruck der wunderbarsten Stadt der alten Welt in die neue mitzunehmen und in Andacht die Straßen, Plätze und Vorstädte zu besuchen, welche das Gethsemane und Golgatha unserer Tage sind. Dann trug das Dampfboot alle nach Havre herunter.

Das Paketboot lag zum Absegeln bereit, Arthur und seine Mutter fuhren noch mit an Bord, um die letzte halbe Stunde mit ihren Freunden zuzubringen.

Dort im kleinen Boot, während Sabine ängstlich ihre Kinder behütete und die Dame herzlich mit Wlaska plauderte, setzte sich Arthur mit Valentin auf eine Ruderbank und sagte: »Hören Sie mich nun, Valentin. Sie haben mein Leben gerettet, ich schenke Ihnen dafür Ihr Lebensglück. Verwandte von uns sind vor wenigen Jahren nach Amerika gegangen und haben nahe bei St. Louis sich angesiedelt. Meine Mutter war um Ihretwillen selbst bei Hecker, als dieser vor einem Monat in Straßburg verweilte; er versicherte ihr, daß jene Männer, die er selbst gut kennt, in einer Gegend leben, die in wenigen Tagen ein Paradies sein wird. Empfangen Sie diese Brieftasche, sie enthält die Zahlungsbescheinigung eines Grundstücks, das meine Verwandten im vorigen Jahre in meinem Auftrag für einen Freund gekauft hatten, der aber vor der Abreise starb. In dieser Brieftasche finden Sie ferner Adressen und Empfehlungsbriefe für alle Hauptstädte, durch welche Ihre Reise ins Innere führt. Nach Newyork und zu meinen Verwandten am Missouri trägt bereits ein Dampfschiff unsere Aufträge über Sie, das vor drei Tagen von hier abging. Sie können nicht irren: aber selbst wenn Ihnen ein Verlust begegnen sollte, brauchen Sie sich nur an meine Verwandten zu wenden, bei denen Sie auf mich Kredit haben bis zu einem Betrage, den Sie im ersten Jahre schwerlich überschreiten müssen. Im nächsten Jahre eröffne ich Ihnen einen neuen Kredit, um Ihr Neubruchland und Ihre Herden vergrößern zu können, davon werden Sie auch Sabinens Schwestern aussteuern. Schütteln Sie nicht den Kopf, Valentin, ich schenke Ihnen nichts außer der freien Fahrt und dem Grundstück selbst, und das ist wenig – denn Sie müssen es erst durch eigene Faust urbar machen. Das Kapital dazu schenke ich Ihnen nicht – hören Sie wohl, was ich sage: ich leihe es Ihnen nur, natürlich wie Brüder leihen, ohne Zinsen. Nach zehn Jahren müssen Sie, wenn nicht hartes Unglück Sie trifft, ein Mann sein, den man in Deutschland schon reich nennen würde. Von da an beginnt Ihre Verpflichtung, die Schuld zurückzuzahlen, ich oder meine Familie behalten das Recht darüber zu verfügen, um einer andern Auswandererfamilie damit zu helfen. Und nun das letzte, Valentin. Sie wissen, ich bin reich und aus einem alten Hause, darum gehöre ich der Erhaltungspartei an. Aber mir ahnt, daß diese Partei in Europa fallen wird. Wenn ich, Valentin, oder einer meines Blutes (er stockte bei diesen Worten), wenn vielleicht einmal ein Kind von mir als armer Flüchtling an Ihrem Hause drüben anklopft – Ihre Hand drauf, Valentin, daß Sie oder Ihre Kinder alsdann dieser Stunde gedenken werden!«

Die edle Art, mit welcher der Reiche gab, machte dem Armen die Annahme leicht. Valentin schlug, ohne ein Wort zu sprechen, seine Rechte in die dargebotene des Aristokraten. Sie waren am Ziel: das Boot legte an den Flanken des Schiffes an, und alle bestiegen das Deck. Im Flaschenkorbe hatte Arthur noch einige Flaschen Rheinwein und die grünen Römer mitgebracht, die zu ihm gehören; noch einmal in Europa sollten seine Freunde das Edelste genießen, was der alte Weltteil an Naturgaben bietet, und auch die beiden Kinder bekamen ihre Becher vorgesetzt. Die Frauen schauten nicht ohne leises Zittern auf die Flut und dann noch einmal nach dem Lande, wo Havres Türme im blauen Abendduft schwammen; aber Valentins Auge glitt der im Westen verglühenden Sonne auf der Goldbrücke nach, welche diese über das Meer bis zu den Planken des Schiffes warf. Wlaska, die greise Mutter, faßte die Hand der Matrone und goß noch einmal dankend ihr Herz aus für den sanften Lebensabend, den gute Menschen ihr nach harten Stürmen zurüsteten. Aber die Dame sprach mit gerührter Seele: »Danket uns nicht. Ihr tatet mehr an uns als wir an euch, und ich habe vieles bei euch gelernt. Ich habe gelernt, daß die Grundlagen all unseres Lebens hier in Europa nicht mehr fest liegen, weil sie nicht mehr auf Recht und Vergeltung aufgebaut sind. Aber ich habe auch gelernt, daß ein neues Fundament schon gelegt ist in Herz und Gemüt derer, die bisher für die Niederen und Geringen gehalten worden sind – in Herz und Gemüt der arbeitenden Klassen. Stoßen Sie an mit mir, Valentin! Sie haben mich überzeugt und bekehrt, mit mir und meinem Geschlecht geht eine alte Bildung zugrunde, – Valentin, ich grüße in Ihnen den Vertreter der neuen Zeit. Aufs Wohl des vierten Standes!«

Aus Valentins Auge drang eine heiße Träne: es war das erstemal, daß ihm aus einem gebildeten Munde eine Anerkennung des Gedankens tönte, auf dessen Altar die tiefste Glut seiner Seele sich verzehrt hatte. Er hob sein Glas und sprach: »So spreche ich Heil dem alten Europa im Morgenschimmer seiner Freiheit und seiner Auferstehung, von den Toten! Heil jenem Frankreich, unserem gelobten Lande, zu dem die Völker mit Sehnen hinaufblicken! Heil meinem Deutschland, das berufen ist, Frankreichs Anfang in der Liebe zu vollenden! Auf Wiedersehen in einem Lande, das keine Sklaverei mehr kennt, es sei in Europa oder in Amerika!«

Alle erhoben sich bei diesem Trinkspruch; die grünen Gläser klangen aneinander, und Tränen fielen in den goldenen Wein. Der Abendwind sprang vom Lande auf und schwellte prächtig die französische Trikolore, die soeben am Mast emporflatterte. Der Kapitän trat an die Gesellschaft heran, und mit den Worten: »Meine Damen, meine Herren, es ist Zeit zum Abschied, in fünf Minuten segelt mein Schiff« – schritt er zum Steuermann; die Matrosen stellten sich auf ihren Plätzen bereit und faßten die Taue.

Arthur und seine Mutter gingen zur Treppe, die Schiffer im Boot warteten, die Hand am Ruder. Sabinens Kinder umklammerten die Tante und wollten nicht von ihr lassen. Die Dame segnete sie, warf sich noch einmal an Wlaskas Brust und küßte die drei Mädchen auf die Stirne, während Arthur mit seinem Retter den letzten Händedruck wechselte. Die Treppe flog auf, der Kahn tanzte auf den Wellen. In demselben Augenblick breitete das Paketboot seine mächtigen Schwingen aus, der Hauch aus den grünen Tälern der Normandie legte sich spielend in die Segel, das Spriet tauchte tiefer zu den Wogen hinab, und scharf gegen die Stelle, wo das Sonnenbild in der Meerflut versank, wendete sich der schäumende Kiel. Ein Gruß noch, ein Wink weißer Tücher – und der Duft des Abends ließ Schiff und Boot verschwimmen.


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