Eduard von Keyserling
Wellen
Eduard von Keyserling

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Doralice rückte ihren Sessel an das geöffnete Fenster. Draußen hatte es zu regnen begonnen, ein feiner, dichter Regen, der einen bleifarbenen Vorhang vor das Fenster zog. Das Zimmer füllte sich mit einem grauen nüchternen Lichte. Agnes räumte das Geschirr ab, stapfte ab und zu, schlug die Türen, dann war auch sie fort. Doralice bewegte ihren Kopf langsam auf der Rücklehne des Stuhles hin und her, wie es ihre Gewohnheit war, wenn sie sich einsam fühlte. Gewiß, dieser Regen, dieses graue Licht im engen Zimmer, dieses Mittagessen bewacht von Agnes' freudlosen Blicken, diese ganze aussichtslose Alltäglichkeit, all das war traurig und Doralice wußte, daß sie auch gleich traurig werden würde, noch aber fühlte sie sich von alledem seltsam losgelöst. Es war eine Traurigkeit und Alltäglichkeit, die nicht zu ihr gehörten, die an ihr vorübergingen. Sie kam sich vor wie ein Reisender, der auf irgendeiner kleinen verschollenen Station liegen bleibt und nun in dem häßlichen Stationszimmer sitzt und sich für eine Weile von der Melancholie eines Lebens eingefangen sieht, das nicht zu ihm gehört. Denn der Zug würde kommen und die kleine Station mit ihrer grauen Langeweile würde hinter ihm versinken und vergessen werden. Und doch, was sollte kommen! In Doralice klangen die Worte wieder, die sie heute Morgen gehört: jeder Augenblick, den Sie allein sind, »ist für einen von uns anderen eine wahnsinnige Verschwendung«. Hans fürchtete sich vor dieser Verschwendung nicht, er fürchtete nicht, etwas zu versäumen, er ging schlafen. Wie sicher er ihrer war! wie sicher, daß er ein ganzes Leben vor sich hatte, um mit ihr zusammen zu sein, ein ganzes Leben. Ein ganzes Leben! klang es eintönig in ihr wieder nach dem Takte des Regens, der da draußen mit seinem flachen Plätschern eifrig in die große, schicksalsvolle Stimme des Meeres hineinplauderte. Wie er dort oben vor ihr gekniet hatte. Wie hatte er doch von seinem Reiten gesagt? »Man denkt nur eins, man will nur eins, so stark, daß man sich wundert, daß das Ziel einem nicht entgegenkommt.« Es war doch ein seltsam starkes Leben, wenn man fühlte, wie ein fremdes Begehren und Wollen wild an einem zog. Das hatte sie auch bei Hans dort auf dem Schlosse empfunden, damals, als er noch nicht abgeklärt war, als er über sie kam wie ein Sturm und wie ein unwahrscheinliches, köstliches Wagnis. Und jetzt war wieder so etwas nahe. Aber nein, das konnte sie nicht wollen, sie würde sich sehr wundern, wenn sie so wäre, daß sie das wollen konnte. Jetzt plötzlich quälte sie das Alleinsein, der graue Tag mit seiner Ereignislosigkeit und die fremden Möglichkeiten, die sie in sich empfand. Etwas tun, dachte sie, und dann sprang sie auf, sie wußte schon, was sie zu tun hatte. Sie ging in ihr Schlafzimmer hinüber, wo die großen Koffer standen, die Graf Köhne ihr nachgesandt hatte. Sie öffnete einen derselben, ein schwüler Jasminduft strömte ihr entgegen, das war das Parfüm gewesen, das der Graf Köhne an ihr geliebt hatte. »Je mehr ich in Jahren vorrücke«, pflegte er zu sagen, »um so mehr gehe ich in meiner Vorliebe für Düfte in den Jahreszeiten zurück. Jetzt bin ich beim Frühsommer angelangt.« Da lagen nun all die Kleider, an die Doralice seit einem Jahre nicht mehr gedacht hatte. Sie blätterte nachdenklich in ihnen, strich mit der Hand über den Sammet, den Krepp, die Seide, und diese Berührung erregte so etwas wie ein festliches Gefühl in ihr. Da war das blaue Kleid, das sie so geliebt hatte. Sie nahm es heraus, weiche pfauenblaue Seide, eine alte Stickerei als Brusteinsatz, grünliche und rötliche Goldfäden auf rahmfarbenem Grunde. Doralice breitete es auf einem Stuhle aus, betrachtete es, dann begann sie langsam sich auszukleiden, legte das Kleid, das sie trug, ab und legte das pfauenblaue an. Jetzt war sie fertig, stand da in dem grauen Lichte und das sanfte Schimmern der Seide, des Goldes an ihr gab ihr eine angenehme Erregung. Sie ging wieder in das Wohnzimmer hinüber, setzte sich auf ihren Sessel und wartete auf Hans. Das mußte auch auf ihn wirken, das mußte auch ihm etwas von früheren Tagen zurückgeben. Sie wartete lange, Hans nahm es gründlich mit seiner Nachmittagsruhe und es begann bereits zu dämmern, als Doralice hörte, daß er sich im Schlafzimmer regte. Endlich kam er. Er machte einige Schritte und fragte: »Warum duftet es hier so süß? so schwül nach Schlössern?« Als er sie dann anschaute, meinte er: »Oh! Du hast dich schön gemacht. Dieses Kleid kenne ich.« Das klang ein wenig trocken und Doralice wurde befangen. Sie entschuldigte sich: »Es war hier so grau und häßlich, da zog ich es an, ich dachte, es würde dir auch gefallen.«

Hans setzte sich auf einen Stuhl, zerrte an seinem Bart und schaute an Doralice vorüber zum Fenster hinaus. »O gewiß, sehr schön, sehr schön«, sagte er zerstreut. »Nur, sag mal, willst du die Erinnerungen, von denen dieses Kleid voll ist?«

»Ich will überhaupt keine Erinnerungen«, erwiderte Doralice und das Weinen war ihr nahe. Hans sann noch vor sich hin: »Ja, ja«, murmelte er, »dir war es hier grau und häßlich und du wolltest etwas Schönes haben, natürlich, ich verstehe. Schön, schön.«

Beide schwiegen nun eine Weile und Doralice empfand, daß das bißchen Festlichkeit, welche das Kleid ihr gegeben hatte, fort war. Hans erhob sich und ging nervös im Zimmer auf und ab, dann blieb er stehen und fragte:

»Wirst du das Kleid anbehalten?«

»Ich kann es ja wieder ausziehen«, erwiderte Doralice kleinlaut.

»Ja«, fuhr Hans fort, »es ist nämlich hier in diesem Zimmer etwas fremd. Ich habe das Gefühl, als ob ein Modell bei mir wäre.«

»Ein Modell«, wiederholte Doralice gekränkt.

»Nein, nein, nicht ein Modell«, beruhigte Hans sie, »es war dumm, daß ich das sagte. Höre, ich werde es dir erklären. Es war in München, ich wohnte im vierten Stock, in einem sehr häßlichen Zimmer natürlich. Da verliebe ich mich beim Kunsthändler in eine französische Glasschale, ein hübsches Ding wie aus rosa und grünem Eis, für mich viel zu teuer. Gut. Aber ich bin verliebt und als ich für ein Bild etwas Geld bekomme, kaufe ich sie und trage sie nach Hause. Ich stelle sie auf meinen Tisch. Der Tisch hat eine scheußlich gelbe Decke mit blauen Blumen. Nein das geht nicht. Ich stelle sie auf den Kasten, einen plumpgebeizten gelben Kasten. Aber das geht noch weniger. Ich stelle sie auf den Waschtisch, auf das Fenster – na, was soll ich dir sagen, wo diese Schale auch steht, überall gibt es einen falschen Ton, quält mich wie Zahnweh. Ich bin glücklich, als das Ding wieder beim Kunsthändler ist. Siehst du, so.«

»Bin ich diese Schale?« fragte Doralice. – »Nicht du, dein Kleid, dein Kleid.« Hans stand vor Doralice und wartete gespannt, was sie sagen würde. Sie jedoch sagte nichts, erhob sich und ging in ihr Schlafzimmer hinüber, um sich umzukleiden. Er aber begann wieder im Zimmer auf- und abzurennen, er war wütend. Also er hatte sie wieder einmal gekränkt, aber das schien jetzt nicht anders sein zu können. Sah es nicht aus, als sei die Liebe eine Einrichtung, die zwei Menschen aneinander bindet, damit sie einander quälen? Wahrhaftig, so sah es aus. Aber es sollte anders werden und als Doralice in ihrem dunkeln Kleide zurückkehrte, um sich wieder still in ihren Sessel zu setzen, brach er los: »Du bist gekränkt, ich weiß, ich weiß. Aber du wirst sehen, ich werde dir einen Rahmen schaffen, in dem du dich anziehen kannst wie eine Königin.«

»Ah, das kleine Häuschen«, warf Doralice hin.

»Nun, etwas viel Schöneres«, fuhr Hans ungeduldig fort. »In München läßt sich jetzt viel machen. Ich werde eine Malschule gründen und dann werde ich arbeiten, ich bin voller Ideen, ich habe ja so viel in mir aufgespeichert, ich bin geladen wie eine Bombe, und wenn ich da einschlage in diese Welt abgelebter Großstadtleute, die werden Augen machen. Ich freue mich schon drauf. Wir wollen die Lampe anstecken und gleich zusammen einige Briefe nach München schreiben.« Er rieb sich die Hände und lachte, er war ganz Eifer, ganz Tatendurst. Aber Doralice sagte müde: »Ach nein, nur nicht die Lampe.«

Hans stand einen Augenblick da und sann, dann setzte er sich langsam auf einen Stuhl, zündete sich eine Zigarette an und rauchte. Beide schwiegen, es dunkelte immer mehr, die Dämmerung schien mit dem Regen auf das Land niederzufließen, der Wind verfing sich irgendwo im Hause und es gab einen Ton wie ein trauriges Lachen. Doralice fühlte wohl, daß Hans dort neben ihr in der Dämmerung mit sich kämpfte, das Bewußtsein dieser Erregung, die Erwartung, daß es vielleicht einen leidenschaftlichen Auftritt geben würde, tröstete sie in der Melancholie dieser Stunde. Da begann Hans wieder ruhig, freundlich: »Sieh, das kommt daher.«

»Was denn?« fragte Doralice. – »Daß wir hier so zusammensitzen und nicht zueinander sprechen, als seien wir verfeindet. Wir sind nicht miteinander verfeindet und wir haben uns sehr viel zu sagen, aber das kommt daher, daß etwas in unserer Liebe zu Ende ist und etwas Neues anfangen muß. Jetzt haben sich die feinsten, empfindlichsten Teile unserer Seelen auseinanderzusetzen, jetzt fängt die ganz komplizierte Rechnung an, so eine Art Ausziehen von Kubikwurzeln, das ist immer so, das muß so sein. Ich kann nicht immer wie damals ein Ereignis sein.«

»Ich habe gar nicht verlangt von dir, immer ein Ereignis zu sein«, meinte Doralice.

»Ich weiß, ich weiß, und ich weiß auch, was wir zu tun haben, um jetzt dieser jämmerlichen Stunde ein Ende zu machen. Wir müssen hinausgehen ans Meer. Es ist dunkel und es regnet, das macht nichts, das Meer wird uns kurieren, das Meer kann immer ein Ereignis sein und da wollen wir uns anschließen und du wirst sehen, dort werden wir uns wieder einander befreundet fühlen und dann wirst du auch wieder die Lampe ertragen können.«

Er holte Doralicens Mantel, hüllte sie fest ein, nahm sie und zog sie mit sich hinaus.

Draußen mußten sie gegen einen starken Wind ankämpfen, das Meer rauschte sehr laut, ein Durcheinander großer Stimmen, die sich überschrien und einander ins Wort fielen. Und in der Dämmerung hoben sich die Wellen wie große weiße Gestalten, die sich aufrecken, sich neigen, niederfallen. Zuweilen standen Hans und Doralice plötzlich wie auf einem weißen kalten Tuche, das war dann eine brandende Welle, die bis zu ihnen heraufgelaufen war. Beide lachten, drückten sich fest aneinander und Hans fragte laut in das Rauschen hinein: »Fühlst du es, fühlst du es schon, wie wir einander wieder befreundeter werden?«

»Ja, ja«, erwiderte Doralice atemlos von all der mächtig bewegten Luft, die sie atmen mußte. - - -

Im Bullenkrug drückte der Regennachmittag auch auf die Stimmung. Es lag ohnehin eine Spannung in der Luft, welche die Menschen mit einer gereizten und freudlosen Unruhe in den engen Räumen herumtrieb. »Meine Schar«, sagte die Generalin zu Fräulein Bork, »geht hier heute umher wie die Eisbären im Käfig. Lassen Sie alle Lampen anstecken, nur keine Dämmerung, die ist gefährlich. Und dann viel und gutes Essen. So kommen wir am leichtesten über die Schwierigkeiten hinweg.« Das Haus wurde sehr hell, die Generalin setzte sich mit Fräulein Bork auf das Sofa und legte Patience. Sie sprach mit ihrer lauten, beruhigenden Stimme, lachte über ihre Patience. Das Brautpaar zwang sie, miteinander Pikett zu spielen. »Nichts Besseres für nervöse Liebe«, meinte sie, »als Karten.« Wedig und Nini spielten Dame und stritten sich, und Herr von Buttlär ging mit kleinen nervösen Schritten im Zimmer auf und ab und sah immer wieder nach dem Barometer. Da erschien seine Frau in der Eßzimmertür und sagte: »Bitte, Buttlär, auf ein Wort.«

»Gewiß, meine Liebe«, erwiderte er und richtete sich mit einem Ruck strammer auf, »was gibt es denn?« Er folgte seiner Frau ins Eßzimmer und die Tür fiel hinter ihnen ins Schloß. Die Generalin schüttelte unzufrieden den Kopf und bemerkte: »Bella überschätzt von jeher die Wirkung von Auseinandersetzungen.« Das Gespräch des Ehepaares dauerte ziemlich lange. Man hörte die Stimme des Barons, die pathetisch wurde, und Wedig flüsterte Nini zu: »Hör, eben hat der Papa gesagt: poetisches Bedürfnis.«

Hilmar und Lolo wurden sehr zerstreut bei ihrem Spiel. Endlich ging die Eßzimmertür wieder auf, Frau von Buttlär kam in das Wohnzimmer, setzte sich schweigend an den Tisch und nahm ihre Häkelarbeit auf. Sie war blaß, man sah es ihr an, daß sie geweint hatte. Der Baron aber war in der Tür stehen geblieben und sagte feierlich: »Hilmar, bitte auf ein Wort.«

»Zu Befehl«, erwiderte Hilmar und sprang auf. Er zog dabei die Augenbrauen zusammen und sein Gesicht nahm einen Augenblick einen so zornigen Ausdruck an, daß Lolo ihn erschrocken anschaute. Dann verschwanden die beiden Herren hinter der Eßzimmertür. Die Generalin zog die Augenbrauen hinauf und sagte: »Wozu diese Konferenzen gut sind, weiß ich nicht, zur Gemütlichkeit tragen sie nicht bei.« – »Nein, liebe Mutter«, erwiderte die Baronin, indem sie eifrig forthäkelte, »ich bin ungemütlich und prosaisch, das habe ich eben gehört. Andere können gemütlich und poetisch sein, ich nicht. Ich bin wie der Gendarm, den jeder braucht und den keiner mag.«

»Aber Bella«, wandte die Generalin ein. Fräulein Bork jedoch fand das schön. Sie fand das schön, die Mutterliebe als die Polizei für das Glück der anderen.

»Sie haben gut reden, liebe Bork«, meinte die Baronin und die Generalin wurde ärgerlich: »Ich sage nicht, daß einmal tüchtig dreinfahren nicht ganz nützlich sein kann, aber immer besser kurz und scharf, als lang und sauer.«

»Wer ist denn sauer?« fragte die Baronin, worauf die Generalin nichts erwiderte. Lolo ging währenddessen im Zimmer unruhig auf und ab, blieb an der Glastür stehen und schaute in die Dunkelheit hinein, dann öffnete sie die Tür und trat auf die Veranda hinaus. Der Wind, als hätte er auf sie gewartet, fiel sie sofort an, zerrte an ihrem Kleide, wühlte in ihrem Haar. Lautes Tönen flog durch die Finsternis wie Sausen großer, hastiger Flügel, ein hastiges, ausgelassenes Leben trieb hier in der Nacht sein Wesen und Lolo stand da und atmete tief und angestrengt. Sie litt, aber da drinnen im Schein der Lampe war ihr Schmerz eine unerträglich nagende Qual gewesen, hier draußen konnte sie ihn als groß, fast als schön empfinden. Als sie dann hörte, daß die Eßzimmertür ging und die beiden Herren wieder in das Wohnzimmer gekommen waren, öffnete sie ein wenig die Glastür und rief Hilmar. Hilmar trat zu ihr auf die Veranda hinaus. Sie standen einen Augenblick im Dunkeln still beieinander, Lolo hatte Hilmars Arm genommen und lehnte sich fest an ihn. Endlich sagte sie leise: »Hat er dir meinetwegen Vorwürfe gemacht?«

»Ach, er hat ja recht«, erwiderte Hilmar und seine Stimme klang gepreßt und mutlos. »Alle haben sie recht, wenn du um meinetwillen leidest, dann bin ich ein gemeiner Hund. Ich durfte nicht zu dir kommen, du mußt sicher und glücklich sein.«

Lolo begann jetzt wieder zu sprechen ganz sanft und tröstend: »Nein, du kannst nichts dafür, wir können beide nichts dafür. Es gibt manches in der Welt, das stärker ist als wir beide. Ich habe das jetzt verstanden. O, ich habe jetzt sehr viel verstanden. Früher glaubte ich, sich lieben ist Hand in Hand sitzen und sich lange Briefe schreiben. Aber jetzt weiß ich, sich lieben ist eine furchtbar große Sache und da muß man auch die ganz großen Dinge tun können und – warum soll ich nicht auch leiden? Du leidest auch und so viele, viele leiden. Nein, mein armer Hilmar, wenn ich auch keinen schicksalsvollen Mund habe, mit dem blauen Sonntagskittel ist es doch nichts. Aber sei ruhig, wir werden schon den richtigen Weg finden.« Und sie strich sanft mit der Hand über seinen Ärmel hin.

»Lolo! Lolo!« rief die Baronin und der Baron klopfte an die Fensterscheiben. »Sie rufen, wir müssen hinein«, sagte Lolo.

»Da hinein kann ich jetzt nicht«, stöhnte Hilmar, »aber du, du mußt sicher und glücklich sein und ich... ich bin ein gemeiner Hund.« Dann beugte er sich über sie und drückte seine heißen, trockenen Lippen fest auf ihre Augen, schob sie dann von sich und lief in die Dunkelheit hinaus. Lolo stand noch einen Augenblick da, sie legte beide Hände auf ihre Brust und schaute mit heißen, fanatischen Augen in die Nacht hinein und berauschte sich an ihrem großen Schmerz.

Aus der Küchentür an der Schmalseite des Hauses schlichen drei in Mäntel gehüllte Gestalten dem Strande zu. Es waren Nini und Wedig, die sich aus dem Wohnzimmer fortgestohlen hatten und nun unter Ernestinens Führung ihrem Lieblingsabenteuer nachgingen, die Gräfin sehen. Dazu mußten sie die Düne hinaufsteigen, um auf der Rückseite des Wardeinschen Anwesens an das rechte Fenster zu gelangen. Es war ein Genuß, aus der dumpfen Luft der Wohnstube herauszukommen, die heute ohnehin schwer von Mißstimmung und Langeweile war, und sich mit dem Winde herumzuschlagen, die steilen Sandwände hinanzuklettern, mitten durch die nassen Wachholderbüsche hindurch und sich vor allem zu fürchten, was ihnen in der Dunkelheit begegnen könnte. Jetzt sahen sie schon das kleine helle Viereck des Fensters, sie brauchten nur noch vorsichtig die Sandlehne herunterzusteigen, um dann leise heranzuschleichen, als Ernestine Alarm zischte. Sofort duckten alle drei hinter einem Wacholderbusche nieder. Dort vor dem kleinen hellen Viereck stand schon einer, eine kleine, schiefe Gestalt und ein langes, regelmäßiges Profil hob sich scharf von den gelbbeleuchteten Fensterscheiben ab. »Exzellenz«, flüsterte Ernestine. Sie wagten sich nicht zu regen. Dieser kleine Mann dort in der Dunkelheit vor dem Fenster stehend erschien ihnen entsetzlich unheimlich. Dann plötzlich war er nicht mehr da, war in die Nacht untergetaucht. Aber die drei Kinder wagten sich noch nicht vor, sondern kauerten still hinter ihrem Wachholderbusch. Und wieder tauchte eine Gestalt aus der Nacht auf und stand vor dem Fenster, eine schmale Gestalt, ein dunkeler Kopf, ein feines Profil, das wie ein Schattenriß gegen die helle Scheibe stand. »Hilmar«, erklärte Wedig. Es schien ihnen, daß sie dieses Mal lange warten mußten, bis auch diese Gestalt in der Dunkelheit verschwand. Da erst trauten sie sich aus ihrem Verstecke heraus, an das Fenster heran und sahen Hans Grill am Tische sitzen und einen Brief schreiben, sahen Doralice in ihrem Sessel, den Kopf zurückgelehnt, mit weit offenen Augen verträumt vor sich hingehend. Als Nini später oben in ihrem Schlafzimmer im Bett Lolo ihre Erlebnisse erzählte, sagte sie: »Weißt du, sie sah aus, als machte es sie furchtbar müde, so schön zu sein.«

»Ja, weil es eine furchtbare Verantwortung ist, so schön zu sein«, klang es feierlich und weise aus Lolos Bett zurück.


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