Eduard von Keyserling
Wellen
Eduard von Keyserling

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10

Knospelius stand im Strandwächterhäuschen am Fenster, ein Opernglas vor den Augen, und schaute auf den Strand hinab. Er liebte es zu beobachten, wie dort auf dem gelben Sande die bunten Figürchen hin- und hergingen, sich suchten, sich trafen, beieinander standen, sich wieder trennten. »Wo die Skorpionen gehen und die Feldteufel sich begegnen«, zitierte er den Propheten. Der Himmel hing voller Wolken, die das Morgenlicht dämpften und versilberten. Das graue Meer schillerte wie die Brust eines Täuberichs. Mitten in dem farbigen Wasser stand Ninis schmale rote Gestalt und die Baronin Buttlär ging am Strande auf und ab und beobachtete das Bad ihrer Tochter. »Ei, ei!« dachte Knospelius, »da erscheint ja die Generalin im weißen Piquékleide, wie ein Schiff, das alle Segel aufgezogen hat, neben ihr die gute Bork, eine bescheidene, nichtssagende Schaluppe. Wedig, der Schlingel, treibt sich natürlich an der Wardeinschen Tür herum und wartet. Aber auch der Baron steht dort einsam herum und stochert im Sande, sollte er auch warten? Ah, das Brautpaar Arm in Arm. Die kleine Lolo noch etwas bleich, der Bräutigam sehr lebhaft, zu liebenswürdig, hat vielleicht ein schlechtes Gewissen wegen gestern. So, nun begegnen sie der Generalin. Man bleibt stehen, man spricht. Endlich, da ist unsre Doralice, sehr fein im Matrosenkostüm blau und weiß, den englischen Roman in der Hand. Natürlich, der Baron ist schon bei ihr. Wie kühl sie nickt. Wie grade und wohlerzogen sie dasteht, jede Linie höfliche Abweisung. Wie sie langsam weiter geht und ihn stehen läßt. Teufel! aber das ist stark. Der Leutnant läßt den Arm seiner Braut fahren und schießt auf Doralice zu, wie der Hecht auf die Angel. An Hemmungen leidet dieser junge Mann nicht. Wo ist denn der Maler? Dort steht er ja unten bei den Booten und spricht mit Stibbe. Warum ist er nicht auf seinem Posten? Der dumme Kerl will den Grandseigneur in der Liebe spielen.«

Jetzt aber litt es Knospelius nicht mehr an seinem Fenster; er mußte hinunter, mußte mittun. Hinter ihm stand Klaus und hielt schon Hut und Stock. Als der Geheimrat seinen Hut nahm, schaute er zu Klaus' ernstem Gesicht hinauf und sagte: »Sie denken wohl, die da unten sind alles Sünder.«

»Wir sind alle Sünder, wenn Exzellenz gestatten«, erwiderte Klaus, ohne die Miene zu verziehen.

»Aber da sind doch Unterschiede«, warf Knospelius ein.

Klaus zuckte kaum merklich mit den Schultern: »Die einen fürchten sich nicht davor Sünder zu sein und wir anderen fürchten uns davor.«

»So, so, ich verstehe«, versetzte der Geheimrat und ging zum Strande hinab.

Unten machte er sich eifrig an das Begrüßen der Anwesenden, ging zu der Gruppe der Generalin, fragte, wie man geschlafen hatte, nannte Lolo »unsere tragische Colombine«, wandte sich dann zu Hilmar und Doralice, die noch beieinander standen, rieb sich die Hände, tat, als sei er der Hausherr des Meeres und habe seine Gäste zu begrüßen. Er winkte Hans Grill zu, der langsam heranschlenderte. »Guten Morgen, Meister, was? Heute nacht auf Fischfang und jetzt wieder bei den Booten, das heißt ja im Schweiße seines Angesichts leben.« Ja, Hans Grill wollte hinausrudern, er lachte: »Das Meer hat mich jetzt, wenn ich nicht was mit ihm zu tun habe, werde ich unruhig. So was wie Säuferdurst. Fährst du mit, Doralice?«

Nein, Doralice wollte nicht mitfahren, das Meer war ihr heute zu grau, sie wollte zu den Birken hinaufgehen und im Heidekraut liegen.

»Aha«, meinte Knospelius, »ich verstehe, graues Meer ist für Ihre Seele heute sozusagen nicht die richtige Toilette. Nehmen Sie mich mit, Meister, meine Seele paßt zu jedem Meer.«

Aus den anderen Gruppen wurde nach Hilmar gerufen, Nini hatte ihr Bad beendet und man wollte nach Hause gehen. Aber Lolo winkte ihm zu. »Bleibe nur, du willst segeln, auf Wiedersehen.« Etwas unschlüssig blieb Hilmar zurück, schaute der abziehenden Familie nach, sah, wie Doralice die Düne hinaufstieg zu den Birken und wie Hans und der Geheimrat zu den Booten hinabgingen. Nachdenklich nahm er Kieselsteine auf und begann sie über die Wellen springen zu lassen. Sein Gesicht hatte wieder den eigensinnig entschlossenen Ausdruck, der ihm eine finstere Schönheit gab. Plötzlich wandte er sich um und ging schnell mit leichtem wiegendem Schritt die Düne hinan, mit jenem lustigen, unternehmungsvollen Schritt, den wohl der kleine Hilmar gehabt haben mochte, wenn er der Kinderstube entronnen in der Sommerdämmerung zu der Dorfstraße hinabflüchtete. Er schlug den graden Weg zum Birkenwäldchen ein.

Er fand Doralice im Heidekraute sitzend, den Rücken gegen den Stamm einer Birke gelehnt, das Buch lag aufgeschlagen auf ihrem Schoß, sie schaute nicht hinein, sondern bog den Kopf zurück und blinzelte mit halbgeschlossenen Augen zu den Wipfeln der Birken hinauf, das Gesicht ruhig wie das Gesicht eines Menschen, der einem Schlummerliede lauscht und darauf wartet, daß der Schlaf komme. Und rings um sie her klang das unablässige und eifrige Schrillen der Feldgrillen. Hilmar räusperte sich leise. Doralice schaute auf. Sie war nicht besonders überrascht, sie zog nur leicht die Augenbrauen empor und sagte: »O, Sie sind es. Sind sie mir hierher nachgekommen? Sie wollten ja segeln.«

Hilmar war etwas befangen. »Ja, – hm, ich bin Ihnen hierher nachgekommen. Sie gestatten doch,« und er setzte sich auf einen Baumstumpf Doralice gegenüber. »Mit dem Segeln war es nichts. Da Sie nicht auf dem Meere waren, schien das Meer mir so sinnlos.«

»Ah«, sagte Doralice, die wieder in ihre ruhevolle Stellung zurückgesunken war. »Mir sagte einmal ein junger Attaché, er halte es für unhöflich, einen Augenblick mit einer jungen Frau allein zu sein, ohne ihr eine Liebeserklärung zu machen.«

Hilmar errötete. »Unsinn«, meinte er. »Mir ist gewiß nicht höflich zu Mute, aber gleichviel, ich kam herauf, weil ich glaubte, daß Sie sich langweilen würden.«

»Ja, warum glaubten Sie, daß ich mich langweilen würde?« fragte Doralice.

»Nun, weil«, sagte Hilmar, »weil ich sah, daß Sie nur dieses Buch da mit hatten und ich annahm, daß an diesem schwülen, etwas traurigen Tage das Schicksal der Miß mit den zu rosa Wangen und zu goldenen Haaren, die sich einen ganzen Band darüber kränkt, daß sie sich in einem Park von einem Herrn hat küssen lassen, Sie auch traurig stimmen würde.«

Doralice lächelte matt.

»Sollen wir nicht eine Zigarette rauchen?« schlug Hilmar vor. Ja, Doralice nahm eine Zigarette an, ließ sich Feuer geben und dann rauchten beide und schwiegen und hörten dem Schrillen der Feldgrillen zu. Endlich bemerkte Doralice: »Sie wollten mich ja unterhalten?«

»Ja, ach ja«, erwiderte Hilmar zögernd, als ließe er sich nur ungern im ruhigen Betrachten der hellen Gestalt vor sich stören. »Aber es gibt Lebenslagen, die so wohltuend sind, daß man sie mit Sprechen nur verdirbt. So hätte ich es als Knabe für eine Entweihung gehalten zu sprechen, während ich einen Kirschkuchen aß.«

Doralice lächelte nicht darüber. Eine seltsame Erregung machte plötzlich ihre Augen klar und bog die schmalen roten Linien ihrer Lippen und ihre Stimme wurde tiefer und zitterte ein wenig, als sie sagte: »Es ist wohl auch, weil es für Sie nicht leicht ist, mit mir zu sprechen. Wovon sollen Sie sprechen? Hinter mir sind alle Fäden abgerissen. Da können Sie nur entweder vom Wetter sprechen, oder mir eine Liebeserklärung machen.«

Hilmar schlug sich mit der flachen Hand auf das Knie: »Ich sagte es gleich, an solch einem verdächtig grauen Tage allein im Heidekraut zu liegen tut nicht gut. Zu sagen? Eine Welt habe ich Ihnen zu sagen, die unerhörtesten Dinge. Da brauchen wir nicht davon zu sprechen, wie es der Baronin Marowitz geht und welche Liaison die Gräfin Patky jetzt hat, aber, wenn Sie wollen, können wir auch davon sprechen.«

Doralice schien ihm nicht recht zuzuhören, sie blickte an ihm vorüber, lauschte ihrem eigenen quälenden Gedanken. »Und«, begann Sie, »was sagen sie dort von mir... die anderen.«

»Nichts!« rief Hilmar ungeduldig. »Was sollen sie sagen? Sie sprechen nicht mehr davon.«

»Sie sprechen nicht mehr davon«, wiederholte Doralice. »Ich bin also wie eine, die gestorben ist und die vergessen wird.«

»Wie man das macht, Sie zu vergessen«, höhnte Hilmar.

Doralice sann einen Augenblick vor sich hin, bleich und kummervoll, dann fragte sie leise: »Kennen Sie den Friedhof am Meer?«

Nein, Hilmar kannte ihn nicht, er interessierte sich nicht besonders für Friedhöfe. »Der Geheimrat hat ihn mir gezeigt«, fuhr Doralice fort, »ein Friedhof, von dem das Meer große Stücke fortspült. Die Särge und die Toten ragen aus dem Sande heraus. Der Geheimrat sagt, in Sturmnächten holt das Meer die Särge ab. Die stillen Herren gehen auf die Reise, sagte er.«

»Das kleine Ungeheuer«, rief Hilmar, »warum zeigte er Ihnen das? Er will, daß Sie sich fürchten.«

»Vor dem Totsein würde ich mich sonst nicht fürchten«, meinte Doralice, »man braucht ja vielleicht nicht da zu sein. Nur daß das Totsein so furchtbar nach Alleinsein klingt, und... ich kann nicht allein sein.« Sie saß da, ein wenig aufgerichtet, die eine Hand in das Heidekraut gestützt, ihr Gesicht war ernst, obgleich die Lippen jetzt lächelten; ein unendlich einsames, frierendes Lächeln und die Augen füllten sich mit Tränen.

»Sie weinen«, stieß Hilmar hervor. Eine plötzliche Ergriffenheit würgte ihn wie ein Schmerz: »Sie dürfen nicht allein sein.« Er glitt von seinem Sitz in das Gras nieder, lag ausgestreckt da, wie einer am Bachrande sich ausstreckt, um zu trinken, und drückte seine Lippen auf Doralicens Hand, die im Heidekraut ruhte. Einen Augenblick blieb diese Hand unbeweglich, dann wurde sie fortgezogen, eine leichte Röte stieg in Doralicens Gesicht und ihre Stimme war wieder wach und lebensvoll, als sie sagte: »Was tun Sie da, stehen Sie doch auf, ich bin ja gar nicht allein.«

Hilmar richtete sich auf, er kniete jetzt im Heidekraute, jede Linie seines Gesichts und seines Körpers schien gespannt von übergroßer Erregung. »Sie und allein sein. Jeder Augenblick, den Sie allein sind, ist eine furchtbar Verschwendung für einen... für einen von uns anderen. Das weiß ich jetzt. Aber das Leben ist ja reich an solch wahnsinniger Verschwendung. Was ist denn unser Leben anders, als ein beständig dummes Versäumen der ganz kostbaren Augenblicke.«

Doralice hörte ihm zu, sie hörte ihm wohlwollend zu, die Leidenschaft seiner Worte erwärmte sie angenehm. Dann sagte sie in einem mütterlichen Tone: »Stehen Sie auf, gehen Sie nach Hause. Ich muß auch gehen; Hans erwartet mich.« Hilmar gehorchte. Er stand einen Augenblick unschlüssig da, etwas arbeitete und kämpfte in ihm, dann wandte er sich kurz um und lief den Abhang hinab. Doralice lächelte, als sie ihm nachschaute. Sie erhob sich, fuhr sich mit der Hand über die Augen und trat den Heimweg an, jetzt wieder ruhig und getröstet.

Hans wartete schon ungeduldig auf Doralice. Mit großen Schritten ging er um den gedeckten Mittagstisch herum und schalt leise vor sich hin... »Ich komme zu spät, bist du böse?« sagte sie, als sie eintrat. Er lächelte gutmütig: »Ja, ich war sehr böse, aber jetzt, wo du da bist, hat das keinen Sinn mehr. Agnes! die Suppe. Ich habe einen Hunger, komm, setzen wir uns.« Agnes brachte die Suppe, sehr ernst, denn sie hatte Doralicens Zuspätkommen nicht verziehen. Sie füllte die Teller und stellte sich dann wie jeden Tag neben dem Tische auf, um aufmerksam zuzusehen, wie Hans aß.

»Nun also«, begann Hans gut gelaunt die Unterhaltung, »Wie war deine Einsamkeit oben im Heidekraute?«

»Hübsch war es dort«, antwortete Doralice. »der Baron Hamm kam vorüber und plauderte einen Augenblick.«

»Ah!« Hans schien ganz von seiner Suppe hingenommen. »Was sagte er denn?«

»O nichts!« meinte Doralice, sie könnte ja erzählen, was sich dort droben zugetragen, dachte sie, aber wozu, Hans würde doch nur sagen, das reiche nicht an sie heran, und würde von reineren Gesetzen und von Freiheit sprechen. Hans lehnte sich in seinen Stuhl zurück und begann: »Ja, das verstehen diese Leute, zu sprechen und nichts zu sagen. Das ist mir auch gestern aufgefallen. Einmal ein guter Witz, eine gute Bemerkung, aber meist nur Füllnis, wie bei jungen Taubenbraten, wenig Fleisch und viel Farce.«

»Ja, belehrend sind sie natürlich nicht«, bemerkte Doralice ein wenig gereizt.

»Nein, das verlange ich auch nicht«, sagte Hans beruhigend. »Ich greife die Leute übrigens nicht an. In ihrer Art sind sie gewiß nette, kluge Leute, man muß sich vielleicht an ihre Art gewöhnen.«

Doralice erwiderte nichts; es ärgerte sie, daß er plötzlich den Abgeklärten und Gerechten spielte. Warum schalt er nicht drauf los wie früher? Agnes nahm die Teller und ging hinaus, um das Brathuhn zu holen.

»Muß Agnes hier stehen und bewachen, wie du ißt?« fragte Doralice.

»Stört dich das?« sagte Hans. »Ich müßte vielleicht sagen, daß sie es läßt, aber ich fürchte, es ist die größte Freude ihres Lebens, mich essen zu sehen.« – »O dann«, meinte Doralice und nachdenklich fügte sie hinzu: »Mich liebt sie nicht, sie sieht nie hin, wie ich esse.« Hans lachte: »Die arme Agnes braucht eben ihre ganze Liebesfähigkeit für mich auf, aber sie wird doch fest zu dir halten, wie zu allem, was mir gehört. Sie ist wie ein Hund, dem der Stock seines Herrn auch nicht sympathisch ist und der ihn doch bewacht und verteidigt.«

»Es ist nicht besonders angenehm, dein Stock zu sein«, bemerkte Doralice. Dann kam Agnes zurück und brachte das Huhn. Die Unterhaltung geriet ins Stocken. Doralice fragte nach der Bootsfahrt und was der Geheimrat gesagt hatte. »Der Geheimrat sprach von mir«, erwiderte Hans. »Er sagte mir, wie ich bin.«

»Wie bist du denn?« Doralice schaute neugierig auf.

»Es scheint, ich bin sehr gut«, berichtete Hans, »aber wie alle sehr guten Menschen lebe ich von Mißverständnissen.«

»Ach was, der Knirps«, meinte Doralice ungeduldig. Als dann beim Kaffee Hans sich eine Zigarette anzündete, wurde er schläfrig. Er reckte sich, gähnte diskret, die Nacht auf dem Meere lag ihm doch noch in den Knochen. Endlich stand er auf. Es sei doch das Beste, er lege sich noch ein wenig nieder, meinte er.


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