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V. Gemeingefühl.

Es wurde schon hervorgehoben, daß bei Rahel wie bei der übrigen jüdischen Jugend die Kämpfe und Siege Friedrichs des Großen jenes Zusammengehörigkeitsgefühl hervorriefen, das die einzelnen Mitglieder einer Nation – trotz ihrer Verschiedenheiten – als ein Volk empfinden läßt. In dieser Hinsicht hat der Krieg eine Macht, die der Friede leider noch nicht besitzt.

Aber wenn Rahel die Juden in Berlin »die Juden Friedrichs des Großen« nannte, dann dachte sie vor allem an den neuen Zeitgeist, der von Friedrich dem Großen gehegt und gepflegt wurde und durch ihn seinen Einfluß ausbreitete: den Geist der Gedankenfreiheit und Toleranz. Alle hatten wir, sagt Rahel, an seinen Siegen, an seiner Erkenntnis teil ... » Er gab jeder Pflanze Raum in seinem sonnezugelassenen Lande.« Und ohne daß die Juden sich wirklich von dieser Sonne erwärmt fühlten, hätte sich weder Rahel noch die übrige jüdische Jugend als Preußen gefühlt.

Aber bei Rahel erwachte das Vaterlandsgefühl zugleich mit dem Weltbürgergefühl; und darum besaßen beide eine für ihre Zeit ungewöhnliche Tiefe. Sie begeisterte sich wie die beste Jugend der Zeit in allen Ländern für die Ideale der französischen Revolution, und diese waren für sie in ihrem glänzendsten Repräsentanten, in Mirabeau, verkörpert, den sie bei seinem Aufenthalt in Berlin oft sah. » Er war«, sagt sie später, » ein Kerl, den sich die Natur gefreut hatte, zu erschaffen, sowie er sich später über die Natur freute, was sie sich von neuem an ihm freuen ließ, und diese ihre gegenseitige Freude aneinander ließ uns andere über sie beide froh werden.« Aber nicht nur in der Jugend setzte Rahel ihren Glauben für die Gedanken ein, die in Mirabeau ihren hervorragendsten Verfechter hatten. Trotz Goethes – mehr zeitgemäßer als tiefgehender – Mißstimmung gegen die französische Revolution, trotz der Reaktion der Romantik gegen dieselbe, bewahrte Rahel ihr ganzes Leben lang ihren Demokratismus und Republikanismus. Ihr aristokratischer Individualismus war nämlich so tief, daß er die Begriffe einschloß, die sich noch gewöhnlich ausschließen. Sie leidet ihr ganzes Leben lang mit den arbeitenden Klassen, » weil es die meisten sind und die ärmsten«. Ja, ihr Leiden kann sie zuweilen daran zweifeln lassen, ob nicht die verfeinerte Kultur, die ihr eigener höchster Genuß war, zu teuer erkauft sein könnte. Auch dachte ich über die ganze Masse der Menschenbildung; und ob wohl alle Essenz davon, das höchste Entzücken edler, reichbegabter Menschen aneinander, und jeder andere erhellte, erhabene Moment im Leben das Placken und den Jammer aller wert ist, den es zum Dünger Jahrhunderte lang erforderte. Arbeitende Karrende und ich brachte mich auf den Gedanken.«

Aber wäre sie wirklich vor die Frage gestellt worden, ob sie z. B. das Dasein der großen Geister opfern wollte, falls dies gerade jetzt die Bedingung für die Wohlfahrt der Vielen wäre, dann hätte sie ganz gewiß Nein geantwortet. Ahnend sah sie die Möglichkeit eines Zustandes voraus, wo die großen und die kleinen Menschen einander gegenseitig vollmenschliche Lebensbedingungen schaffen können. Weil ihre Ahnung so der Zeit vorausgeeilt war, war sie, als der St. Simonismus hervortrat, gerüstet, zu erkennen, daß er gerade diesen höheren Zustand bezweckte, daß er die logische Folge des innersten Ziels der französischen Revolution war: der Feststellung des Menschenwertes und der Hebung des Menschengeschlechtes.

Rahels soziale Anschauung verband den Idealismus, der die Zukunft schafft, mit dem Realismus, der die Gegenwart gestaltet. So ist sie in den Napelonkriegen eine glühende Patriotin, die klar die nächsten Aufgaben erkennt: Deutschland von dem französischen Joch zu befreien; und sie findet den wärmsten Ausdruck für die Liebe zu ihrem leidenden Land. Aber keinen Augenblick flammt ein Funke von Nationalhaß in ihr auf, und den Krieg selbst haßt sie mit dem tiefsten Haß. Er war ihr » der Beweis, daß wir noch inmitten des Rohesten leben; daß verwundender Krieg, und tolles Nehmen und Wehren bis zu unseren Schwellen kommen kann, daß wir vor den Wilden nichts voraushaben.« Daß Varnhagen sich mitten unter den Gefahren befindet, ist ihr persönlicher Schmerz, aber er tritt zurück vor ihrem tiefen Mitleid mit der allgemeinen Not, vor ihrer Beschämung über das Gräßliche und Menschenunwürdige, das sie miterlebt. »O, teurer, schöner verkannter Friede! O Gott, wie schön ist Friede. So schön wie Jugend, Unschuld, Gesundheit, die man auch nur kennt, wenn man sie beweint ...«

Sie verabscheut alle Aeußerungen des Chauvinismus. Die Eigenschaften, sagt sie, womit wir Deutsche uns schmücken sollen, sind »Gerechtigkeit, Mäßigung, Gesetzmäßigkeit.« Gegen die prahlerischen und beschränkten Formen des Nationalismus richtet sie die folgenden Worte: »Bornieren tut mich mein Land doch nicht. Was Närrisches darin vorgeht, ärgert und frappiert mich genug.«

Und dann:

... »Es wird eine Zeit kommen, wo Nationalstolz ebenso angesehen wird wie Eigenliebe und andere Eitelkeit und Krieg wie Schlägerei.«

Und gegen die Geschichtsauffassung, die zum Chauvinismus aufstachelt, wendet sie ein, daß die Geschichte in törichten Händen nur Schaden tut, denn jeder Irrtum hat Vorläufer und erhält Nachkommen; daß die Welt, das Licht, die Natur die eigentliche Geschichte ist, und die geistige Entwicklung der Völker ihre wesentliche Historie. Rahel kann mit Wahrheit sagen, daß kein Dogma, kein Vaterland, keine Liebe ihr Gerechtigkeitsgefühl bestechen kann, und sie betont, daß es gerade die große Aufgabe der Frauen sein sollte, die Seele ihrer männlichen Freunde zu sein, sie dazu anzueifern, zum Besten der Menschen zu handeln. Sonst sind die Frauen, meint Rahel, nur ein schwerer Ballast in der Gesellschaft. Unendlich viel seelenvoller, edler, besser, hilfreicher, sagt Rahel, sollte jede Frau sein, als der Mann, dem sie angehört ... Daß die Frauen stets neutral sein sollten, um aller Not unparteiisch lindern zu können, ist ein anderer Ausspruch Rahels.

Daß die Entwicklung stets irgend eine Form des Kampfes erheischt, begriff Rahel wohl. Aber sie ahnte eine Zukunft, wo die Kämpfe und Siege der Geister die einzig überlebende Form des Wettkampfes der Völker wie der Individuen sein werden. Die Wissenschaft ist's, die ein Kommen, Sehen und Siegen bedarf. Es weiche der rohe Kampf der armen Völker! Professoren seien ihre Sieger!«

»Die Welt ist nicht mehr so roh, daß die Taten sie gestalten und sie denken lehrten; dies müssen unsere besten Denker und Dichter tun: die Edelsten der Nation.«

Weit davon entfernt, an dem Napoleonhaß teilzunehmen, empfand Rahel wie Goethe eine große Bewunderung für Napoleons gewaltige Persönlichkeit. Mitten im Franzosenhaß, der in Deutschland herrschte, bewahrte und äußerte sie ihre Bewunderung für die großen Werte der französischen Kultur. Selbst übte sie – und war stolz, daß es die Juden reichlicher als die Christen taten – das freigebigste und werktätigste Mitgefühl, das nicht nach der Nationalität fragte, sondern nur nach der Hilfsbedürftigkeit. Es war eine Zeit, die Rahel ein » Fest des Gutes-Tuns« nannte. Rahel befand sich in Prag, als sie in die Lage kam, Ernst und Ordnung in die freiwillige Pflege der Verwundeten zu bringen. Sie betätigte jetzt im Dienste der Allgemeinheit die Kraft, die sie bisher nur auf dem Gebiete des geselligen Lebens erprobt hatte: Menschen dadurch zu vereinigen, daß sie die Macht hatte, gerade die besten, die verbindenden Elemente der Menschennatur hervorzuholen. Sie kann schreiben: »Gott hat mir gelächelt: ich helfe etwas« ... Sie, »die klein und gering geboren und verarmt« ist, sieht sich nun imstande, im Großen zu nützen; sie hat das Glück erlebt, schwerleidende Soldaten bei ihren bloßen Worten in »plötzlicher Freude lächeln zu sehen«. Sie tröstet die Kranken, ermuntert, ermahnt die Genesenden. Und wie sie dies tat, können wir aus ihren Worten ahnen: »Oft weine ich: Sie haben Mütter wie wir, die sich totweinten, wenn sie sie sähen ...«

Sie freut sich, ihre eigene, ordnende und leitende Begabung zu entdecken und ruft in diesem Gefühl aus: »Wenn ich eine Besorgung hätte!« Dasselbe Gefühl bemächtigte sich ihrer bei ihrer Tätigkeit in Berlin in der Cholerazeit 1830. Als sie da Einblick in die Verhältnisse der Armenpflege gewann, war sie sich darüber klar, daß die Frau in die Verwaltung der Armenpflege eintreten müsse, damit die Armen auch in den Tagen der Gesundheit Reinlichkeit, Kleider, Arbeit usw. erhalten konnten.

Rahel wollte, wie schon früher gesagt, der Gesellschaftsmütterlichkeit Raum schaffen: darum wünschte sie sich ein »Amt«. Aber mit vollkommen richtigem Instinkt dafür, was das einzige Amt war, zu dem sie bei ihrer Natur taugen konnte, fügt sie sogleich hinzu, daß sie – »eine Fürstin« sein möchte, d. h. mit der Macht ausgestattet, in ganz persönlichem und großem Stil jene Tätigkeit auszuüben, die sie individuell liebt, nach den schönen Worten: »Mich unterhält, tröstet und stärkt allein Gutes tun, sorgen, besorgen.«

* * *

Rahels Ausruf während des Wiener Kongresses: »Pfui, Christen! Und sie schmieren wieder so etwas im Kongreß zusammen« ist einer unter den vielen Ausdrücken ihrer Auffassung der Politik, die die Reaktion auf christlicher Grundlage in ein System brachte.

Aber Rahel fand nicht nur die Diplomatie und die Kriege des alten Regimes verwerflich: sie fand auch die Reformfragen, die der Liberalismus als so wichtig betrachtete, abgedroschen. Man müßte, meinte sie, anfangen, seine Unwissenheit einzusehen und aufhören, die Gesellschaft da aufzubauen, wo kein anderer Grund ist als selbstfabrizierte Fabeln: »Es muß eine neue Erfindung gemacht werden: es ist noch Phantasie im Menschen übrig, für idealische Zustände, und die will Stoff, Nahrung ...« Sie hofft auf einen großen Mann, der »eine hohe allgemeingültige Ansicht des Lebens zu erfinden wüßte. Etwa ein neues religiöses Element, welches die Sittlichkeit schärfer zu verstehen, allen gebotenen Handlungen eine andere Richtung, einen neuen Ehrgeiz gäbe.«

Nichts zeigt Rahels Seherkraft klarer, als daß sie schon im Jahre 1820 den innern Zusammenhang der zukünftigen höheren Gesellschaftsordnung mit einer religiösen Erneuerung erkannte. Sie wußte auch – das hatte die erste französische Revolution sie gelehrt – daß die kompakten »Irrtümer, die gar nicht aus den Köpfen herauskommen wollen, am Ende mit den Köpfen fallen.« Sie sah die Julirevolution voraus, und sie fühlte, daß die Völker Europas wohl nach der Freiheit riefen, aber daß es sich im Innersten um Gleichheit, um Rechte drehte. Ueber die Formen dieser Rechte hatte Rahel keine feststehenden Ansichten. Von Rahels politischen Meinungen gilt, was sie im allgemeinen von sich sagt:

»Ich habe keine Resultate vorher im Auge und Geist und bin immer bereit, unschuldig aufzufassen.«

Gegen die abergläubischen Staatslehren der Romantik richten sich Gedanken wie diese:

»Jede Staatsverfassung ist nichts anderes als eine Regel zum Wohlsein aller in einem gegebenen Fall.«

»Die Zeit ist ein Geist und schafft sich ihren Körper.«

»Der Geist der Zeit ist nichts als die jedesmal allgemein gewordene Ueberzeugung.«
Rahel sah mit einem Scharfblick, den nur wenige Männer unter ihren Zeitgenossen besaßen, daß die Versprechungen einer Verfassung, womit die Regierungen während der Napoleonkriege die Völker zu beschwichtigen suchten, »über die Versprechenden hinausgewachsen waren, wie Kinder ihren Eltern entwachsen. Und plötzlich stehen die Kinder mit Kräften und Rechten vor den Eltern, von denen diese sich bei der Taufe nichts träumen ließen.« Was der Liberalismus zu ihrer Zeit wollte, was der Sozialismus zu verlangen anfing, war für Rahel das Glied derselben notwendigen Entwicklung.

Sie spricht von dem Wahnwitz der Gesellschaftsordnung, die verlangt, daß die Mehrzahl sich als gute Christen zeige und zum Vorteil der Minderzahl auf alle Güter dieser Welt verzichte; der Gesellschaftsordnung, in der – wie sie und wir alle wissen – Arbeitswille, Erfindungsgabe, Kenntnisse an und für sich nicht genug sind, um denen, die sie besitzen, menschenwürdige Lebensbedingungen zu bereiten; einer Gesellschaftsordnung, bei der sie sehr richtig die Bewegung nur einen Kreislauf nennt, kein Vorwärtsschreiten. Alle Bewegung muß auf ein Menschliches besagen werden können; das heißt hier: auf allgemeines, alle Menschen betreifendes, sonst wird alles Bewegen am Ende pagodisch, kinderhaft lächerlich, bedeutungslos. Das, woran nicht alle Menschen am Ende teilhaben können, ist nicht gut; das, woran sie nicht teilhaben sollen, ist schlecht ...«

So wie es ein Franzose – Saint Martin – war, dessen Anschauungen am innigsten mit Rahels religiöser Mystik in ihrem letzten Lebensabschnitt zusammenklangen, war es ein anderer Franzose – Saint-Simon – der zur selben Zeit ihrem sozialen Seherblick den Richtpunkt gab. Und Saint-Simon war ihr um so sympathischer, als auch seine Lebensanschauung dieselbe pantheistisch-religiöse Grundstimmung hatte wie ihre eigene. Sie fühlte sich sogleich in der neuen Lehre glücklich, denn sie hatte sich eigentlich ihr ganzes Leben lang darauf vorbereitet. »Es trifft einen ganz lebendigen, geordneten Vorrat in mir an. Ich litt nicht allein, aber mit allen Menschen und unendlich, vielleicht einzig ... Auch interessiert mich nichts ganz, als was die Erde für uns bessern kann, sie und unsere Handlungen darauf.«

Der St.-Simonismus ist für sie »das neue, großerfundene Instrument, welches die große alte Wunde, die Geschichte der Menschen auf der Erde endlich berührt. Er operiert und säet, und unumstößliche Wahrheit hat er ans Licht gebracht, die wahren Fragen in Reih und Glied gestellt, viele wichtige beantwortet ...«

»Die Erde verschönern: mein altes Thema. Freiheit zu jeder menschlichen Entwicklung: ebenso ...«

»Ich bin die tiefste St.-Simonistin. Nämlich mein ganzer Glaube ist die Ueberzeugung des Fortschreitens, der Perfektibilität, der Ausbildung des Universums zu immer mehr Verständnis und Wohlstand im höchsten Sinn; Glück und Glückbereitung.«

Und Rahel wußte, daß die Bedingung für all dies war: »Die Einheit des Lebens zu finden, in welcher Beruf und Trieb ineinander aufgehen. Rahels eigentlicher Einwand gegen den St.-Simonismus ist, daß er sich eine neue Religion nennt. Denn, meint sie, er war wohl religiös, hatte aber nicht jene Merkmale, die dem Begriff Religion eigen sind. Und er braucht auch das Wort Religion nicht anzuwenden, meint sie, denn er hat die heilig gewordene Erkenntnis – die beweisbare Erkenntnis – des Guten, des Gesunden, des Gerechten, all dessen, das jetzt für uns »das heilige Antlitz Gottes« sein muß.

* * *

Rahels tiefes, soziales Gefühl verleitete sie jedoch nie zu den beiden Vorurteilen, die heutzutage so üppig wuchern. Das erste besteht darin, die Pflichten gegen die Gesellschaft über die Pflichten gegen sich selbst zu stellen. Rahel wußte wie Goethe, wie alle echten Humanisten: erst wenn ich selbst etwas bin, kann ich für das Ganze etwas sein – und man braucht sehr viel Selbstbehauptung, um etwas zu werden.

Das zweite Vorurteil ist dies, alle Tugenden in die Klasse der Ungebildeten zu verlegen, aber der der Gebildeten alle Untugenden zuzuschreiben! Rahel wählte ihre Freunde aus allen Klassen, wo immer sie echte Menschlichkeit fand, aber diese mit echter Verfeinerung vereint zu finden, war ihre höchste Freude.

»Adlige liebe ich oft, den Adel nie«, sagt sie. Sie weist die Achtlosigkeit, die eine Gräfin sich gegen sie erlaubt, zurück. Aber sie läßt ihre kranke Dienerin an ihrem eigenen Tisch essen, und als diese Rahel in ihrer letzten Krankheit »Gnädige Frau« nannte, rief Rahel – gleichsam erleichtert – aus: »Ach, es hat sich ausgegnädigefrauet, nenn mich Rahel!«

Diese kleinen Züge hängen mit der Art zusammen, wie Rahel im übrigen gegen ihre Diener war. Wenn jemand einwendete, daß sie diese durch allzu große Freundlichkeit und Rücksicht »zugrunderichte«, dann sagte sie, daß dies nicht unmöglich sei, aber daß sie in diesem Falle egoistisch genug sei, durch ihr Benehmen lieber ihre Diener zugrunde zu richten, als durch ein anderes Benehmen gegen diese sich selbst! Sie war auch in der jetzt so brennenden Dienstbotenfrage ihrer Zeit so weit voraus, daß sie einsah, »daß es unnatürlich ist, ein Domestik zu sein«. Und sie war überzeugt, daß die Hausfrauen, die sich am meisten über ihre Dienstboten beklagen, selbst als Dienende zu ebensovielen, wenn nicht zu mehr Klagen Anlaß geben würden.

Rahels soziales Gefühl war für ihre Zeit selten tief. »Gott helfen in seinen Kreaturen« war ihre höchste Freude. Aber sie war nicht nur wohltätig, sie war auch gerecht. Darum sehnte sie sich nach der »gerechten, frommen, reinseligen, wahrhaft inneren Gleichstellung der Menschen« – und darin begegnet sie sich vor allem mit Jung-Deutschland. Sie hat das Gefühl in einem »Durchgangspunkt zu besseren Zuständen« zu leben, und sie meint, daß diese in gewissen Fällen von selber kommen würden, wenn nicht die Regierungen der Wohlfahrt der Völker ganz ausgesprochen entgegenwirkten. »Für alle Völker gäbe die schwere, dunkle, geduldige Erde Fülle her; sie brauchten nicht zu kriegen, nicht zu lügen – und nicht die Proklamationen zur Rechtfertigung!« Die Reaktionsperiode nach dem Napoleonskriege kühlt bei Rahel nicht die glühende Begeisterung für ihre Jugendideale, während die Mehrzahl der Männer, die gleich ihr mit jungen feurigen Herzen die französische Revolution gegrüßt, nun von ihren Ideen abfielen. Und während sie früher über das Gesellschaftselend empört waren, sprachen sie jetzt von Gottes Willen oder der Weltordnung oder der historischen Notwendigkeit. Na, rief Rahel aus: » Wir sollen es anders machen.«

Soweit sie konnte, linderte sie die Not, mit der sie in persönliche Berührung kam, namentlich die Not alter, armer Menschen. Aber sie hielt sich von der öffentlichen Wohltätigkeit fern; die sie allzuoft mit dem Mut zur Verschwendung gepaart sah, einem Mut, den sie unfaßbar fand, solange die Armut noch immer die meisten Menschen bedrückte.

Und sie sah außerdem klar, wie ohnmächtig die Wohltätigkeit im großen ganzen Gesellschaftszuständen gegenüber ist, deren Grundlage umgestaltet werden muß.

Von 1807 an – als Fichte seine Reden an die deutsche Nation hielt – bis zu seinem Tode war er in Rahels Gesellschaftskreis tonangebend. Sie nannte ihn und Goethe »Deutschlands beide Augen." Und wenn sie später seinen Einfluß auf sie mit dem Saint-Simons verglich, geschah es vermutlich aus dem Gesichtspunkt, daß beider höchster Gedanke die Menschenveredelung war, obgleich Fichte mehr die individuelle, Saint-Simon mehr die sozialen Bedingungen derselben betonte und obgleich die beiden großen Geister die Menschen diesem Ziele auf verschiedenen Wegen zuzuführen strebten.

Für dieses Ziel lebte auch Rahel unmittelbar oder mittelbar jeden Augenblick ihres Lebens!

So wie Rahel in einer großen Synthese aristokratisch-individualistische und demokratisch-soziale Gesellschaftsansichten vereinigte, waren Pessimismus und Optimismus bei ihr – wie bei George Eliot – zu jener Lebensanschauung verschmolzen, die die letztere durch das Wort »Meliorismus« so glücklich bezeichnete. Und ist dies nicht die einzig mögliche Lebensanschauung für einen Menschen, der imstande ist, sowohl zu beobachten wie zu denken, sowohl zu fühlen wie zu träumen? Rahel stimmte niemals in die Sehnsucht der Romantik nach vergangenen Zeiten ein. Sie war im Gegenteil immer mehr und mehr von Bewunderung für das Jetzt erfüllt, ihr »geliebtes, geehrtes Jetzt«. Und es ist für ihren Klarblick bezeichnend, daß sie auf die Zunahme des Solidaritätsgefühles als den sichersten Beweis des Fortschrittes hinwies: sie hebt hervor, daß Europa heute in Aufruhr gerät, wenn in irgend einem Winkel »Unrecht vorkommt«. Sie weist auf den immer augenscheinlicheren Trieb hin, daß alle nicht nur besser werden, sondern auch besser leben können. Sie macht auf die materiellen Verbesserungen aufmerksam, die sie schon miterlebt hat, und ruft aus: » Ja, es freut mich, jetzt zu leben, weil wirklich reell die Welt schreitet, weil Ideen, gute Träume ins Leben treten, weil Technik, Industrie, Erfindungen und Assoziationen diese Träume verwirklichen. Die Erkenntnis, wie es sein soll, wird schließlich siegen, wenn diese Erkenntnis auch tausend Jahre auf den Sonnenschein warten muß, der die Pflanze wachsen lassen wird!« Sie weiß, daß auch »die Gegenwart Zukunft ist«, und daß man diese nicht zu erleben braucht, um sie zu besitzen. Und ihre fröhliche Ueberzeugung »sie geht, die Welt« ist nicht minder froh, weil sie sich gleichzeitig sagt, daß die Welt zu langsam geht, als daß sie selbst das Fest miterleben könnte.

Nichts schildert Rahels Gemeingefühl schöner als ihre eigenen im April 1831 niedergeschriebenen Worte:

...»Ich habe mir nun auch eine Grabschrift erdacht. Sie soll heißen:

›Gute Menschen, wenn etwas Gutes für die Menschheit geschieht, dann gedenket freundlich in Eurer Freude auch meiner‹.«


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