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IV. Religion.

Die Ideen, die man vorzugsweise die religiösen nennt, hatten Rahel seit jeher beschäftigt. Aber wie bei anderen jungen Menschen, trübte die Qual und Freude ihres eigenen Schicksals die Stille, die die Meditation und Frömmigkeit erheischt. Um die Alternde wird das Leben von selber still, und für den seelenvollen Menschen werden mit den Abendschatten die Fragen nach dem Sinn und Zweck des Lebens immer wichtiger. So ging es auch Rahel, die jedoch das verblieb, was sie ihr ganzes Leben lang gewesen war: eine der im tiefsten Sinn religiösen Naturen, für die alles Religion wird, aber die sich nach dem Worte Schillers aus Religion zu keiner Religion bekennen.

Sie war als Jüdin geboren und wurde bei ihrer Verheiratung zur Christin getauft, aber brachte keiner der beiden Lehren ihren Glauben entgegen. Sie war erst fünfzehn Jahre, als die beiden Männer, die die Stellung der Juden unmittelbar und mittelbar umgestaltet haben – Moses Mendelssohn und Friedrich der Große – starben. Aber sie war schon ganz von dem Geist der neuen Zeit durchdrungen; und weder das für das Judentum noch das für das Christentum Charakteristische hatte für sie Autorität. Auf ihrem Totenbett sagt sie, daß sie an Jesus gedacht und ihn zum erstenmal als ihren Bruder im Leiden empfunden habe. Sie fühlte – wie Goethe – Ehrfurcht vor Jesu Person, während sie sich zu der in seinem Namen gestifteten Religion kalt verhielt. Solange Schleiermacher pantheistisch-mystisch war, stand sie ihm nahe, aber nachdem er sich dem positiven Christentum genähert, nahm sie in bestimmter Weise Abstand von ihm. Ihre Seele weissagte ihr eine neue Religion, und die jetzige Gestalt der christlichen Religion war für sie »ein beinahe zufälliges Moment in der Entwicklung des Gemütes und hält zu lange an«; und in einer tiefgehenden Aeußerung zeigt sie die Unvereinbarkeit des Christentums mit dem Erdenleben. »Diese ganze Lehre ist in einem Seelenzustand entstanden und erfunden, der nicht dauern kann; sie ist der Moment der Weihe und der Wiedergeburt ... Sie ist eigentlich die Religion, die auf das Allerheiligste getrieben in jeder Seele allein ausbrechen und wirken und leben und eigentlich nicht mitgeteilt werden sollte ...

Zusammen auszuüben und zur Pflichtreligion ist sie nicht zu machen. Weil sie aber Verleugnung und Aufopferung heischte, verbreitete sie sich wie eine Leidenschaft über die Erde, so ist sie würdig und schön in den Herzen, wo sie herrscht wie Leidenschaft: aber angewandt auf Staat und Leben verkehrt und Jahrtausende hemmend ... Dabei dauert sie zu lange wie jeder Zustand der Menschheit – für einen einzelnen Menschen. Sie ist auf die natürlichste Weise in ihren Wirkungen ihrer Natur widersprechend: denn das Leben quillt wieder hervor, und sie strebt, Tod erzielend, nach dem Himmel.«

Rahel hat hiermit sowohl das – zu gewissen Zeiten im Leben der Menschheit und im Leben des einzelnen Menschen – Bedeutungsvolle an der Lehre vom Kreuz wie auch die Unvernünftigkeit betont, daß diese Lehre der Menschheit als Religion aufgedrängt wurde. Rahel sieht – wie Goethe, wie Schleiermacher, wie die Mystiker – die Quelle der Religionen im eigenen Gemüt. Eine von außen gegebene Religion ist für sie ein Selbstwiderspruch, nur die vom Individuum selbst aus seinem Wesen quellende und nach seinen Bedürfnissen geschaffene Religion ist echt. Sie betont, daß sie selber nichts lernen kann, »auch keine Religion«; denn die Religion ist »der letzte intime Akt« zwischen den Menschen und »dem, was ich nicht nennen mag«. Sobald dieses Verhältnis einen Namen bekommt, wird die Religion sogleich unwahr. Das Große, Göttliche, Unendliche hatte sie – als der »Waldmensch«, der sie war – auf ihrem eigenen Weg gefunden, und sie nennt es Sünde und Lästerung, den Menschen »solche Entdeckungen nicht selbst machen zu lassen«.

Für Rahel selbst war das Leid der Weg zu ihren Entdeckungen, auch den religiösen. »Das Herz müßte springen oder erleuchtet werden«, sagt sie von ihren Grübeleien über den Schmerz. Sie hat damit auch die Ursache angegeben, warum die Religiosität ihrer Ansicht nach nie beigebracht werden kann oder darf. Daß jene Ausströmung der Seele, die das Gebet ist, zu bestimmten Stunden und an bestimmten Orten erzwungen wird, ist für Rahel eine Lästerung; es scheint ihr unerhört, daß man ein Kind ein Gedankengebäude in sich aufnehmen läßt, in dem mehrere hohe Fragen beantwortet werden, »die es sich nicht selbst würde vorgelegt haben ... Trauriges Spektakel erstickter Köpfe!« Und sie will der Kindheit das gönnen, worin ihrer Ansicht nach ihr besonderes Glück besteht: daß sie sich kein »Lebensbild« macht, sondern im Augenblick lebt, obgleich sie weiß, daß dieses » Wohlleben«, das sie » erste menschliche Natur« nennt, nicht andauert, daß » das Grübeln über die Dinge die Natur des Geistes ist« oder wie sie auch sagt, » zweite menschliche Natur«.

In ihren eigenen, man kann sagen, lebenslänglichen Grübeleien hatte sie den ganzen Unterschied in der Menschen Geister nur beim Fragen gefunden: Antworten können alle nur auf dieselbe Weise. Sie fand es von größtem Gewicht – namentlich in den höchsten Dingen – keine Antwort vor den Fragen zu bekommen, und selbst zu versuchen, die Fragen, so wie sie auftauchen, zu beantworten. Der Mensch ist dazu imstande, denn seine Seele ist durch keinen Sündenfall verdunkelt, eine Lehre, die Rahel einen für Gott » beleidigenden Irrtum« nannte. Mit Spinoza – den sie kannte und liebte – leugnet sie die Freiheit des Willens und hat darüber das tiefe Wort ausgesprochen: » Frei sein kann nichts anderes heißen als seiner innersten Natur sklavisch folgen zu dürfen.« »Einsicht ist frei, aber nicht der Wille. Das wird verwechselt. Was wir begehren müssen, ist ganz bestimmt in uns, das sind wir gleichsam selbst, davon sind wir gemacht: unser Wollen ist nur wie ein Gelenk, welches hierhin und dorthin gedreht werden kann; Einsicht kann nur freie Zustimmung werden ...

Nur durch Miteinsicht (in den göttlich gelenkten Weltverlauf} erahnden wir Freiheit ...«

Aber sie weiß auch, daß die Einsicht, die uns befreit, von der Zeit bedingt ist; daß Wahrheit nur der stets wachsende Einblick in das wirkliche Wesen der Dinge ist, während »die Wahrheit«, die jedes Volk und jede Sekte zu besitzen glaubt, nur eine lokale Wahrheit ist, die ihre gewisse Zeit hat, in der sie sich entwickeln, leben, wirken und sterben kann. Rahel führt als bezeichnenden Beweis dafür an, daß es die Betitelten, die Herrschenden, Uniformierten waren, die Jesus als Ketzer, Lästerer und Volksaufwiegler verurteilten, während heute die Christen die Siegenden sind, die andere in dieser Weise verdammen.

Je älter Rahel wurde, desto mehr war sie von jener Frömmigkeit erfüllt, deren Ausdruck sie vor allem in der Bibel, bei Goethe, Angelus Silesius, Saint-Martin und anderen mystisch-pantheistischen Geistern suchte, die mit ihren Gedanken » wie aus einem religiösen Meer« kamen und dadurch völlig von jenen verschieden waren, die durch ein Mosaik von Lehrsätzen eine bestimmte Religion schaffen: » Mein Geist sträubt sich, meine Seele empört sich gegen solche Zumutungen

Die Religion, die Rahel sich selbst geschaffen hatte, war ein Gottesglaube, der zuweilen ganz alttestamentarische Ausdrucksformen der leidenschaftlichen Anrufung und des Jubels annahm. Für Rahels Gefühl war Gott unverkennbar persönlich, ein Gott, zu dem sie in ihrer Not ruft; auf dessen Mantelsaum sie ruht: ein »Allumfasser« und ein »Allerhalter«, auf dessen Hilfe sie baut wie Daniel und Jesaja. Aber wenn sie denkt, fühlt sie, daß diese Personifizierung Gottes eine Begrenzung ist. Selbst die allgemeine Vorstellung einer Persönlichkeit des Urseins ist mir beschränkt und willkürlich – aber ich kann nicht anders, ich bin doch immer wieder darauf zurückgewiesen, und ich kann es mir nicht nehmen lassen, das Weltall und die ganze geistige Schöpfung erscheinen mir doch nur als Glieder, zu denen es ein Haupt geben muß. Ohne persönlichen Gott kommt mir alles wie verstümmelt, wie dessen beraubt vor, das dem übrigen erst Leben, Schönheit und Bedeutung gibt ...«

Und sie behielt diesen kindlichen Gottesglauben, der doch oft in pantheistisches Allgefühl hinüberglitt, ebenso wie den Glauben an eine persönliche Unsterblichkeit. In beiden Fällen unterschied sie sich von Goethe, der wohl das Wort Gott gebrauchte, aber nicht mit einem mit diesem Wort verknüpften Persönlichkeitsbegriff und der von der Unsterblichkeit überzeugt war, aber nur für den, der sie sich selbst zu schaffen vermocht hatte.

Ob Rahel sich diesen Unterschied zwischen ihrer und Goethes Lebensanschauung klargemacht hat, scheint mir ungewiß. Und hatte sie es, so war er für sie ganz unwesentlich, denn das Gefühl war für sie wie für ihn in diesen Dingen alles, und Goethes Frömmigkeit konnte sie ebensowenig bezweifeln wie sein Dasein. Rahels metaphysisches Bedürfnis war ganz gewiß stärker als das seine. Wir haben in dieser Hinsicht eine Aeußerung Rahels, die sehr charakteristisch ist. Sie spricht von Benjamin Constant, der Madame Staël die große Liebe ihres Lebens einflößte. Rahel begriff den Zauber, den Constant besaß, vollkommen, und sie freute sich an seinem »enjouement ironique«, solange es sich auf die Mißstände des Daseins richtete. Aber sie litt darunter, wenn es sich als Skepsis gegenüber allen tiefen Fragen des Lebens äußerte. Gerade weil er recht darin hat, daß das Leben widerspruchsvoll und verwirrt ist, sagt Rahel, so ist das Bedürfnis nach Vernunft, Güte und Gerechtigkeit, das uns innewohnt, eine Bürgschaft dafür, daß wir all dies auf irgend eine Weise erreichen werden. Und sie schließt damit, zu bedauern, daß Constants enjouement ironique aus so tiefer Quelle kam und daß er dennoch da nicht tiefer schöpfte. Rahels religiöses Gefühl hat einen morgenländischen Ernst. Daß sie in einer rationalistischen Zeit als Jüdin herangewachsen war, machte sie allerdings zur Freidenkerin, aber zu einer, die ihre Ehrfurcht vor jedem ehrlichen religiösen Glauben bewahrte: sie hatte selbst unter den Vorurteilen gegen ihre Rasse gelitten und konnte nicht in denselben Fehler verfallen. Wenn sie mit Geringschätzung von der Romantik spricht, so ist es nur, weil sie findet, daß diesem neuen Katholizismus die Ehrlichkeit und der Ernst fehlt. Fand sie wie bei Novalis die Mystik tief und groß, dann liebte sie sie. Aber wenn sie einerseits die Romantik durch ihre Liebe zu solchen Geistern wie Novalis, Lavater, Saint-Martin, Angelus Silesius begreift, so steht sie andererseits durch ihre Sympathie für Lessing der Aufklärungsepoche nahe. Bei ihren größten Lehrern – Goethe, Fichte, Spinoza – findet sie jene Einheit von Gedankenklarheit und Gefühlstiefe, die sie über alles hebt Der Freund, der sie eine »philosophische Naturalistin« nannte, hat ihren Standpunkt am richtigsten angegeben, wenn es nicht ein Selbstwiderspruch wäre, vom »Standpunkt« einer Subjektivistin zu sprechen, der ja der des Seglers auf Entdeckungsfahrten sein muß!

Denn Subjektivismus bedeutet auf dem Gebiet der Lebensanschauung, daß die Seele sich horchend und gehorsam verhält, sowohl in bezug auf die Offenbarungen, die aus ihren eigenen Tiefen quellen, wie auf jene, die ihr aus dem übrigen Dasein zuströmen.

Für Rahel wurde alles zur Offenbarung: die großen Geister und die kleinen Kinder, die vollkommenen Schöpfungen der Kunst und die kleinsten Werke der Natur. Sie, die ihre Andacht in keiner Kirche verrichtete, lebte jeden Augenblick andächtig, denn sie fand, wie sie selbst sagte, überall ihre Kirche. Und wenn sie ihrem Gottesglauben auch einen persönlicheren Ausdruck lieh als Goethe, so fühlte sie doch wie er: » Leben ist die große Uressenz, woraus alles quillt, mit oder ohne unser Zutun. Frömmigkeit bestand für sie wie für Goethe vor allem darin, jeden Tag, jede Stunde zu denken, daß gerade diese Bedingungen des Augenblicks uns als Stoff zur Bearbeitung gegeben sind, auf daß wir so die bewußten Mitarbeiter des Lebens werden.

Mystikerin war sie in dem Sinne, daß sie durch Intuition, durch das Gefühl – niemals durch abstraktes Räsonnement – ihre Einblicke in die Tiefen des Lebens, des Todes, der Menschenseele gewann und daß sie, wenn sie auf dem Wege der einsamen Kontemplation oder irgend eines anderen Erlebnisses vor dem Unerkennbaren, dem Unergründlichen Halt machte, stets auf künftige größere Klarheit hoffte. Rahel – die sich » für ein Paradies mit Engeln bedankte«, empfand es für ihr Wesen, für das Wesen des Menschen notwendig, auf » einen heiligen freien unverletzlichen Zustand« zu hoffen; und mit dieser ihrer Hoffnung auf » stets neue Erlebnisse« stillte sie ihr Herz angesichts des Todesgedankens. Beim Verlust teurer Menschen – den sie ihre » Entblätterung« nennt – sowie bei ihren eigenen wiederholten Erkrankungen kreisten ihre Gedanken immer häufiger um den Tod.

Wieviel sie auch früher über die Unbegreiflichkeit des Lebens gegrübelt, angesichts des Todes wurde das Leben nur » das große, heilige amüsante Rätsel« und das neue Leben, dessen Möglichkeiten sie in » Momenten von wahrem Erschauen« ahnte, das ernstere Problem.

Ueber seine Lösung schreibt sie: » Ich halte mich ans Wunder der Existenz überhaupt: ist das möglich, wird das Unbegreifliche noch begriffen werden. Man muß besser werden, gut sein, das ist die Aufgabe.« Sie schreibt diese wunderbaren Worte über den Tod: »Ist er wunderbarer als das Leben? Dieses zerrissene Bruchstück, wo er am Ende doch steht. Wer mir durch den dunklen Mutterleib half, bringt mich auch durch dunkle Erde! Ich will leben, also muß ich auch leben. Mein Lebensgefühl, mein Glücks-, Ordnungs-, Vernunftsbedürfnis sind mir auch Bürgen für dies alles: wie käm' ich sonst darauf? Diese sind mein Gott, in mir und außer mir, mein letzter Winkel, wo auch mein Tempel und meine Religion ist. Wenn ich jeden Augenblick sterben kann, so bin ich schon tot, das heißt: ich lebe tot weiter. Und ich fühle ja mein Leben und nicht den Tod ... Gewiß werden wir wieder jung. Eine neue viel gesteigertere Jugend müssen wir wieder erhalten, in ihr fortleben. Und in einer, einer inneren leben wir schon fort.«

Ein anderesmal ist ihr Todesgedanke pantheistischer:

»Aber ach, wir sind nur ein Tropfen Bewußtsein! Ich will auch ja so gerne wieder ins Meer, will gar nichts Besonderes sein.«

Und von ihrem Seelenzustand als Alternde entwarf sie diese schöne Schilderung:

»Nach Beendigung unseres Schicksals haben wir gleiche Gefühle wie vor Anfang desselben. Eine Art von vagem, neugierigem Jugenddasein, ein zum All gehöriges Dasein. Wenn man sich nun einmal hat verlieren müssen, so ist es schön, diese kleine Seligkeit, diese zweite Jugend noch auf der Erde abzuleben ...«

* * *

Mit einem Worte: Rahel lebte ein frommes Leben und starb einen frommen Tod, ohne im Leben oder im Tode ihre Erleuchtung in irgend einer bestimmten Religion gesucht zu haben.

In mannigfachen und großen eigenen Leiden bewahrte sie sich den Glauben an einen guten und großen Sinn des Daseins, an die Göttlichkeit des Lebens und an seinen höhern Zusammenhang.

Tief gesehen sind es auch diese Gefühle, die – allerdings in der Form des Entwickelungsgedankens – die neue Religion begründet haben, deren Anbruch Rahel ahnte, dank der » keuschen, ehrwürdigen Seeleneinsamkeit«, die für sie die Grundbedingung der echten Frömmigkeit, wie der tiefen religiösen Offenbarung war.

In ihrer inneren Ueberzeugung, daß die Individualität die Ewigkeitsverheißung in sich schließt, dürfte Fichte Rahel noch bestärkt haben. Er hatte, wie sie selbst sagt, ihr » bestes Herz herausgekehrt, befruchtet«. Seine Lehre über das »Ich« klang mit Rahels Individualismus zusammen, und das Lebenskräftige und persönlich Mächtige bei Fichte flößte Rahel tiefe Bewunderung für diesen ihren » lieben Herrn und Meister« ein, bei dessen plötzlichem Tod sie den ergreifenden Brief schrieb, in dem sie davon spricht, daß Deutschland sein eines Auge geschlossen hat.

Aber sie bekannte sich weder zu Fichtes noch zu irgend eines anderen System, denn in jedem solchen findet sie stets etwas » mit uns Lebendes, zu uns Gehöriges, als Totes Getötetes« eingemauert Und darum fühlte sie, daß ihr eigener Widerstand gegen jedes System nicht » durch den Geist des Widerspruchs« verursacht wurde, sondern Selbsterhaltungstrieb war. Sie wie Goethe konnte nie eine Sekunde die Oberhoheit des Lebens – des sich verwandelnden, entwickelnden Lebens – bezweifeln. Und jeder Anspruch nach irgend einer Richtung, eine feste Form für das ewig Wechselnde festzustellen, war für sie wie für ihn ein Frevel.

Das Göttliche war ihr so nahe wie die Luft, in ihm lebte und webte ihre Seele und hatte ihr Wesen darin: Ja, man hat mit Recht von ihr gesagt, daß die Weltseele mit solcher Stärke in ihrer Seele vibrierte, daß ihr gebrechliches Wesen unter der Macht des Gottes erzitterte, den sie einschloß. Aber jeder Versuch, sich mit Analyse und Beweisen Gottes Wesen zu nähern »schnitt wie mit scharfen Messern in sie«.

Rahel hat die neue religiöse Sittlichkeit der neuen Zeit und ihre einzige religiöse Ueberzeugung mit den tiefen Worten ausgesprochen, die sie einige Tage vor ihrem Tode niederschrieb: » Je mehr Leben einer Ueberzeugung innewohnt, je tiefere und reichere Beziehung sie hat, je mehr sie allen unseren Anlagen zusagt und entspricht, je schwerer ist das gerade als eine Maschinerie zusammenzufassen und darzustellen: Jedes System aber will zur Maschine werden. Nur ein groß und lebendig Organisiertes gibt es: die erschaffene, sich noch erschaffende Welt.«


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