Justinus Kerner
Geschichte des Mädchens von Orlach (1)
Justinus Kerner

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Nicht durch die Schuld der Eltern, denen dieser Zustand ihres Kindes nur Kummer machte und die sein Ende immer sehnlichst wünschten, sondern durch die Zudringlichkeit der Menge geschah es, daß meinen Warnungen nicht Folge geleistet wurde; viele Neugierige strömten dem sonst unbekannt gewesenen Orlach zu, um das Wundermädchen in seinen Paroxismen zu sehen und zu hören, was vielleicht doch den Vorteil hatte, daß sich auch manche andere außer mir von der Eigenheit dieses Zustandes überzeugten. Ein Berufener unter den vielen Unberufenen war auch Herr Pfarrer Gerber, der das Mädchen in ihrem letzten Anfalle sah und in einem Aufsatze in der Didaskalia seine Beobachtung niederschrieb, auf den wir hier bald wieder zurückkommen werden.'

Am 4. März, morgens sechs Uhr, als sich das Mädchen noch allein in seiner Schlafkammer im alten elterlichen Hause befand, zu dessen Abbruch man aber schon Veranstaltung getroffen hatte, erschien ihr auf einmal die weiße Geistin. Sie war von einem so strahlenden Glanze, daß das Mädchen sie nicht lange ansehen konnte. Ihr Gesicht und Kopf waren von einem glänzend weißen Schleier bedeckt. Ihre Kleidung war ein langes, glänzendes, weißes Faltengewand, das selbst die Füße bedeckte. Sie sprach zum Mädchen: »Ein Mensch kann keinen Geist durch Erlösung in den Himmel bringen, dazu ist der Erlöser in die Welt gekommen und hat für alle gelitten, aber genommen kann mir durch dich das Irdische werden, das mich noch so da unten hielt, dadurch daß ich die Untaten, die auf mir lasteten, durch deinen Mund der Welt sagen kann. O möchte doch niemand bis nach dem Ende warten, sondern seine Schuld immer noch vor seinem Hinscheiden der Welt bekennen! In meinem zweiundzwanzigsten Jahre wurde ich, als Koch verkleidet, von jenem Mönch, dem Schwarzen, vom Nonnenkloster ins Mönchskloster gebracht. Zwei Kinder erhielt ich von ihm, die er jedesmal gleich nach der Geburt ermordete. Vier Jahre lang dauerte unser unseliger Bund, währenddessen er auch drei Mönche ermordete. Ich verriet sein Verbrechen, doch nicht vollständig – da ermordete er auch mich. O möchte doch (wiederholte sie noch einmal) niemand bis nach dem Ende warten, sondern seine Schuld immer noch vor seinem Hinscheiden der Welt bekennen!« Sie streckte nun ihre weiße Hand gegen das Mädchen hin. Das Mädchen hatte nicht den Mut, diese Hand mit bloßer Hand zu berühren, sondern wagte dies bloß vermittelst des Schnupftuches, das sie in die Hand nahm. Da fühlte sie ein Ziehen an diesem Tuche und sah es glimmen. Nun dankte die Geistin dem Mädchen, daß sie alles befolgt habe, und versicherte sie, daß sie nun von allem Irdischen frei sei. Hierauf betete sie: »Jesus nimmt die Sünder an« usw. Das Mädchen hörte sie noch beten, als sie sie schon nicht mehr sah.

Während die Geistin so dagestanden war, sah das Mädchen immer einen schwarzen Hund vor ihr, der auf die Geistin Feuer spie, das aber die Geistin nicht zu berühren schien. Dieser verschwand mit der Geistin. In das Sacktuch des Mädchens aber war ein großes Loch gebrannt, wie das Innere einer Hand und ob diesem Loche noch fünf kleinere Löcher wie von fünf Fingern. Es geben die Brandstellen gar keinen Geruch von sich, und auch im Momente des Glimmens bemerkte das Mädchen keinen Geruch.Auch hier die bekannte Äußerung eines elektrischen Feuers, das mit dem magnetischen Nervenfluidum (dem Nervengeist), diesem Seelenvehikel, identisch oder eine seiner verschiedenen Darstellungen ist.

Vom Schrecken fast gelähmt wurde das Mädchen von den Ihrigen in der Kammer angetroffen und sogleich in das Haus des Bauern Bernhard Fischer gebracht, weil Grombach den Abbruch seiner Wohnung jetzt beschleunigen wollte.

Kaum dort angelangt, erschien der Magdalene der schwarze Geist. Er hatte jetzt etwas Weißes auf dem Kopfe, gleich einer Quaste, da er sonst ganz schwarz war. Er sprach: »Nicht wahr, ich bin auch da? Du wirst recht weinen, weil es das letzte Mal ist! Du siehest nun doch auch etwas Weißes an mir.« Als er dieses gesprochen, ging er auf sie zu, griff ihr mit kalter Hand in den Nacken, sie verlor ihr Bewußtsein, und er war nun in ihr. Ihr Aussehen (berichtet ein Augenzeuge) war nun blaß, die Augen fest geschlossen. Wenn man den Augendeckel öffnete, fand man den Augapfel ganz gegen die Nase zu hinaufgetrieben und sah vom Lichten des Auges nur wenig. Das Auge schien auch wie eingesunken zu sein. Der Puls schlug wie gewöhnlich. Der linke Fuß war in beständiger Bewegung. Die linke Seite war auffallend kälter als die rechte.

Von Sonntag nachts bis Dienstag mittags nahm das Mädchen keine Speise mehr zu sich. Ebenso unterblieben während dieser Zeit alle Sekretionen bei ihr. Sie blieb nun unausgesetzt vom schwarzen Geiste bis zum andern Tage mittags besessen. Zuerst kündigte der Dämon an, daß er nicht vor halb zwölf Uhr am andern Tage (was auch so eintraf) gehen könne. Dann sprach er: »Wäre ich dem, was bei Petrus steht, nachgefolgt, so müßte ich nicht mehr hier sein.« Hierauf sprach er die Verse Petr. 1, 2. Kap., Vers 21 bis 25, her: »Denn dazu seid Ihr berufen, sintemal auch Christus gelitten hat für uns und uns ein Vorbild gelassen, daß ihr sollt nachfolgen seinen Fußstapfen; welcher keine Sünde getan hat, ist auch kein Betrug in seinem Munde erfunden worden, welcher nicht wieder schalt, da er gescholten ward, nicht drohte, da er litt, er stellte es aber dem heim, der da recht richtet, welcher unsre Sünden selbst geopfert hat an seinem Leibe auf dem Holze, auf daß wir der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben, durch welches Wunden ihr seid heil worden: denn ihr waret wie die irrenden Schafe, aber ihr seid nun bekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen.«

Während des Tages kam eine ungeheure Menschenmenge in Orlach zusammen, um das Mädchen zu sehen und Fragen an den Dämon zu richten. Genügend und nach der Erklärung der Frager richtig, äußerte er sich besonders über Klöster und Schlösser und überhaupt über Altertümer der Umgegend; andere vorwitzige Frager wies er mit Spott oder Witz ab.

Nachts, als sich auf polizeiliche Anordnung der Andrang der Gaffer verloren, erklärte der Dämon, gebetet zu haben, und äußerte mit Freude, er könne nun den Namen Jesus, Bibel, Himmel, Kirche aussprechen, er könne beten und läuten hören. Wenn er sich doch nur schon im Sommer gewendet hätte, dann wäre es besser gewesen! –

Seine Schuld gab er nun auch so an: »Mein Vater war ein Edler von Geislingen, eine Stunde von Orlach. Da hatte er ein Raubschloß auf dem Löwenbuk bei Geislingen zwischen dem Kocher und der Bühler, man muß seine Mauern noch finden. Ich hatte noch zwei Brüder. Der älteste, der nicht weiter kam, als wo ich auch bin, bekam das Schloß, der andere kam im Kriege um. Ich wurde zum geistlichen Stande bestimmt. Ich kam ins Kloster nach Orlach, wo ich bald der Obere wurde. Der Mord von mehreren meiner Klosterbrüder, von Nonnen und von Kindern, die ich mit ihnen erzeugte, lastet auf mir. Die Nonnen brachte ich in männlicher Kleidung in das Kloster, und fand ich an ihnen keinen Gefallen mehr, ermordete ich sie. Ebenso ermordete ich die Kinder, die sie geboren, sogleich nach der Geburt. Als ich die ersten drei meiner Klosterbrüder ermordet hatte, verriet mich die, die du die Weiße nennest. Aber in der Untersuchung wußte ich mir dadurch zu helfen, daß ich meine Richter bestach. Ich ließ die Bauern während der Heuernte zusammenkommen und erklärte ihnen, keine Messe mehr zu lesen, würden sie mir nicht ihre schriftlichen Dokumente ausliefern, dann würde zur Heuernte es immer regnen, ich würde Fluch über ihre Felder beten.Daher wohl auch sein anfängliches Erscheinen bei dem Mädchen hauptsächlich zur Heuernte und seine Reden von Messe lesen, daß das Wetter schön bleibe. Sie gaben ihre Dokumente, die die Gerechtsame Orlachs enthielten, und die lieferte ich meinem Inquisitor aus. Wieder ins Kloster zurückgelassen, ermordete ich meine Verräterin, darauf noch drei meiner Klosterbrüder und nach vier Wochen, im Jahre 1438, mich selbst. Als Oberer wußte ich meine Opfer ins Verborgene zu locken und erstach sie da. Die Leichen warf ich in ein gemauertes Loch zusammen. Mein Glaube war: Mit den Menschen ist es nach dem Tode wie mit dem Vieh, wenn es geschlachtet ist, wie der Baum fällt, bleibt er liegen. Aber – aber, es ist ganz anders, es ist eine Vergeltung nach dem Tode.«

Am andern Tage morgens äußerte sich der Dämon noch gegen Umstehende über die ehmaligen Klöster zu Crailsheim ganz richtig. Dann verfiel er wieder in Zweifel, ob er wohl in Gnaden angenommen werde, wenn er jetzt für immer diesen Raum und das Mädchen verlassen müsse. »Heute abend«, sprach er, »muß ich zum zweiten Mal ins Gericht, und zwar mit jener.« Er verstand darunter die weiße Geistin.

Es war vor halb zwölf Uhr mittags. Die Leute, welche das Haus abbrachen, waren an den letzten Rest eines Stücks der Mauer gekommen, welche das Eck des Hauses bildete und von ganz anderer Beschaffenheit als der übrige Teil war. Während die andern Mauern nur von Leim aufgeführt waren, so war dieses Stück mit ganz besonderem Kalk und fester verbunden, so daß es wirklich scheint, diese Mauer stamme von einem sehr alten Gebäude her. Mit dem Sinken dieses Teils des Gebäudes auch (was das Mädchen nicht sehen konnte), es war jetzt halb zwölf Uhr, und zwar mit dem Abbruch des letzten Steins desselben, trat bei dem Mädchen ein dreimaliges Neigen des Kopfes auf die rechte Seite ein, ihre Augen schlugen sich auf. Der Dämon war aus ihr gewichen, und ihr natürliches Leben war wieder da. Herr Pfarrer Gerber beschreibt als Augenzeuge den Moment, nachdem der letzte Stein jener Mauer gefallen war, also: »In diesem Moment wendete sich ihr Haupt auf die rechte Seite, und sie schlug die Augen auf, die nun hell und voll Verwunderung über die vielen Personen, welche sie umgaben, um sich schauten. Auf einmal fiel es ihr ein, was mit ihr vorgegangen war, sie deckte beschämt mit beiden Händen das Gesicht – fing an zu weinen, erhob sich, noch halb taumelnd, wie ein Mensch, der aus einem schweren Schlaf erwacht – und eilte fort. Ich sah nach der Uhr – es war – halb zwölf! Nie werde ich das Überraschende dieses Anblicks vergessen, nie den wunderbaren Übergang von den entstellten dämonischen Gesichtzügen der, wie soll ich sie nennen – Kranken, zu dem rein menschlichen, freundlichen Antlitz der Erwachten; von der widrigen, hohlen Geisterstimme zu dem gewohnten Klange der Mädchenstimme, von der verborgenen, teils gelähmten, teils rastlos bewegten Stellung des Körpers zu der schönen Gestalt, die wie mit einem Zauberschlage vor uns stund. Alles freute sich, alles wünschte dem Mädchen, wünschte den Eltern Glück: denn die guten Menschen waren fest überzeugt, daß nun der schwarze Geist zum letzten Male dagewesen sei.

Der Vater zeigte mir hierauf das verbrannte Tuch, das seine Tochter gestern in der Hand hatte, als der weiße Geist von ihr Abschied nahm. Es war ganz deutlich zu sehen, daß die Löcher, welche darin waren, durch Feuer entstanden waren.

Ich ging auf den Bauplatz. Das alte Haus war bis auf eine kleine Mauer, mit welcher man in wenigen Stunden fertig werden konnte, schon abgebrochen.« –

Bei Wegräumung des Schuttes in den späteren Tagen fand man ein brunnenähnliches, ungefähr zehn Schuh im Durchmesser haltendes Loch, das zwanzig Schuh tief ausgegraben wurde. In diesem und sonst im Schutte des Hauses wurden Überreste von menschlichen Knochen, auch die von Kindern, gefunden. Das Mädchen blieb von jener Stunde an durchaus gesund, und nie mehr kehrten bei ihr die früheren Erscheinungen zurück.

Selbst in der Krankheit, die sie infolge einer Erkältung ein Jahr später erlitt und die in Hemmung des Schlingens und in Stimmlosigkeit bestand, aber sich bald wieder hob,Es brachen Geschwürchen am Kehlkopfe auf. zeigte sich keine Spur des früheren dämonisch-magnetischen Zustandes mehr.


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