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Aufklärungen

Auf der Straße trat der Kommissar an den Prinzen heran und sagte:

»Ich bitte Ew. Hoheit untertänigst um Verzeihung wegen der Behelligung.«

Hoheit legte dem Manne huldvoll die Hand auf die Schulter.

»Mein Lieber, ich hab gar nischt gegen Sie. Aber tun Sie mir 'nen Gefallen: reisen Sie ab. Sie sind hier übrig. Lenken Sie mal die Aufmerksamkeit des Ministers auf den Prinzen Emanuel. Der scheint mir ein lockeres Huhn und der Beaufsichtigung sehr bedürftig zu sein. Er ist gegenwärtig in Syrakus. Sie haben keine Ahnung, Mann, wie schön es in Syrakus ist. Da machen Sie sich mal nützlich! Glückliche Reise und viel Vergnügen!«

Der Kommissar reiste ab ...

Mich ging das alles kaum etwas an. Ich dachte nur an Stefenson. Er war zunächst nach seiner Zelle zurückgegangen und hatte uns durch einen Gerichtsdiener sagen lassen, wir möchten im »Hotel Bristol« auf ihn warten. Nach einer reichlichen Stunde kam er. In mir war inzwischen das Gefühlsbarometer hinaufgeschnellt und heruntergestürzt, vom Glutwetter der Bewunderung bis zum Regensturm der Wut – hin und her, her und hin. Ich konnte diesem unberechenbaren Manne gegenüber niemals zu ruhiger Beurteilung kommen. Schließlich beschloss ich, ihm offene Feindschaft anzusagen.

Als er kam und sein Glas Sherry bestellt hatte, sagte er so ruhig, als ob er eine eben abgebrochene Unterhaltung wieder aufnehme:

»Dieser Redakteur von der ›Neustädter Umschau‹ ist ein schwerfälliger Kopf. Nicht mal richtig stenographisch aufnehmen kann der Pinsel. In meinem Artikel von gestern abend waren mehrere Dummheiten.«

»Ah – Sie haben den Artikel über Ihre Verhaftung in der Umschau selbst geschrieben?«

»Na, selbstverständlich. Der Trunkenbold kann's doch nicht. Als ich so unerwartet verhaftet werden sollte, bin ich zunächst nach der Redaktion des feindlichen Blattes gegangen, hab dort einen Artikel diktiert (und natürlich auch bezahlt) und bin dann nach dem Bahnhof hinaus und hab mich da festnehmen lassen. Der Artikel über die Verhaftung war eher fertig als die Verhaftung selbst. Das ist man doch in solchem Fall seinem Unternehmen schuldig.«

Das Barometer stieg wieder. Aber es lag noch eine schwere Depression über mir, und ich sagte:

»Ich glaube nicht gerade begriffsstutzig zu sein; aber Ihre Art, sich zu geben und zu handeln, ist so überaus merkwürdig, dass ich nicht mehr mitkann, sondern Ihnen aufs ernsthafteste erklären muss ...«

»Ein Extrablatt!«

Ein Bote stürmte ins Zimmer.

»Bitte, lesen Sie!« sagte Stefenson ruhig.

Die »Neustädter Umschau« vertrieb ein Extrablatt. Es war ungefähr ein halbes Quadratmeter groß und enthielt in Fettdruck die Nachricht:

»Ehrenerklärung.

Die ›Neustädter Umschau‹, immer bemüht, ohne nach rechts oder links zu schauen, lediglich der Wahrheit die Ehre zu geben, erklärt: Die gestrige Verhaftung des Waltersburger Knechts ist zu Unrecht erfolgt. Der als ›Raubmörder Wiczorek‹ von einem übereifrigen Beamten (dessen amtliche Maßregelung bevorsteht!!) hier auf dem Bahnhof verhaftete Mann war kein anderer als der geniale Gründer der Kuranstalt ›Ferien vom Ich‹ selbst, Herr John Stefenson – oder, wie er in Begeisterung für sein angestammtes reines Deutschtum sich jetzt mit Bewilligung unserer Behörden nennt, Herr Stefan! Dieser Multimillionär, dessen Einfluss in Amerika unbegrenzt ist, hat in der demütigen Gestalt eines Bauernknechts (nicht als Kurgast) den ganzen Sommer über in Waltersburg gelebt, alle Lasten, Mühen und Zurücksetzungen des von ihm gewählten geringen Standes getragen, um unerkannt die Probe auf sein gigantisches Exempel zu machen, um als Fremdling, selbst von seinem nächsten Freunde unerkannt, von unten her sein Werk zu prüfen. Diese Prüfung ist so glücklich ausgefallen, dass Stefan mit Freuden in die irrtümlich verhängte Haft ging. Den Neustädter Behörden zollt er für ihre Gewissenhaftigkeit alle verdiente Anerkennung. Heute morgen neuneinhalb Uhr stellte sich bei den Behörden der unbegründete Verdacht heraus. Der wahre Josef Wiczorek sitzt – laut amtlicher Depesche – in Braunschweig in Untersuchung; der bei uns Verhaftete wurde nicht nur von dem leitenden Arzt von Waltersburg, sondern auch von Sr. Hoheit dem Prinzen Ernst Friedrich von ... als Herr Stefenson identifiziert. Die ›Neustädter Umschau‹, deren Devise ›Ehre und Wahrheit‹ ist, scheut sich nicht – errare humanum est – ihren gestrigen Artikel Wort für Wort zurückzunehmen.«

»Diesen Artikel haben Sie wohl auch diktiert?« fragte der Prinz.

Stefenson nickte.

»Ja, direkt dem Setzer. Ich hab noch die Korrektur gelesen, ehe ich hierherkam.«

»Sie sind ein smarter Kerl!« sagte Hoheit voll Anerkennung. »Nu sagen Sie mir bloß, was haben Sie gegen mich gehabt? Warum haben Sie mich immer so miserabel behandelt? Noch gestern haben Sie mich auf den Mist geworfen, direkt auf den Mist. Ist das anständig?«

Stefenson zuckte die Schultern. Dann sagte er mit aufrichtiger Wärme:

»Sehen Sie mal, lieber Piesecke – ich möchte Sie der Einfachheit halber noch mal so nennen –, ich hab gar nichts gegen Sie gehabt! Im Gegenteil! Sie haben mir besser gefallen und mehr imponiert als die meisten anderen. Nur, dass Sie so hinter meiner Braut her waren, das konnte ich mir nicht gefallen lassen.«

»Hinter Ihrer Braut?«

»Ja, also sagen wir: hinter der Forellenhof-Hanne! Mit der werde ich mich heute oder morgen verloben.«

Piesecke prustete los und sagte lachend:

»Also Ignaz oder Stefan oder Wiczorek oder Stefenson oder wie Sie sonst heißen mögen – mir ist ja das ganz egal –, da werden Sie kein Glück haben! Die Hanne mag keinen; nicht mal den Herrn Doktor da hat sie gemocht.«

»Also haben Sie doch –?« fragte Stefenson mit einem Blick auf mich.

»Gar nichts habe ich«, sagte ich zornig. »Gar nichts! Im übrigen möchte ich um einige kurze Aufschlüsse bitten, von denen es abhängen wird, ob ich noch länger an diesem Tisch sitzenbleibe oder nicht.«

»Oho – oho! Also, was ist aufzuschließen?«

»Waren Sie der Journalist Brown, der im Mai zu uns kam?«

»Ja, natürlich war ich der! Aber Sie hätten mich doch damals beinahe erkannt. Deshalb habe ich ja meine Maske geändert und bin als Knecht Ignaz wiedergekommen.«

»Wie kamen Sie damals dazu, mir den seltsamen Brief zu geben?«

»Na, den hatte ich doch selbst geschrieben, in der Annahme, Sie mit den beiden Mädchen zu treffen. Wäre meine Voraussetzung nicht zugetroffen, so hätte ich eben den Brief in der Tasche behalten. Das war doch nur Bluff.«

»Wie konnten Sie aber in der ganzen Zeit Briefe aus Amerika an mich schreiben, da Sie doch bei uns waren?«

»Es gibt Kabel, lieber Freund, durch die man anordnen kann, was zu schreiben ist.«

»Und Ihre Handschrift? Ich bekam fast alle Briefe handschriftlich, nur wenige in Maschinenschrift.«

»Ja, da habe ich in einem meiner Büros einen Spezialisten, der meine Handschrift so täuschend nachmachen kann, dass ich selbst nicht zu unterscheiden vermag, was von mir oder von ihm geschrieben ist. Ein goldehrlicher Mann, einem anderen dürfte man die Ausübung der äußerst gefährlichen Kunst nicht gestatten. Na, sehen Sie, es gibt für einen Großkaufmann wie mich täglich mindestens zwei Dutzend Anlässe, wo er handschriftlich schreiben muss: an Verwandte und gute Freunde, wo Maschinenschrift zu kalt wirkt; an Geschäftsgenossen, mit denen man intime Dinge verhandeln will, die kein Angestellter wissen darf; an alle Leute, die etwas darauf geben, wenn ein vielbeschäftigter Mann sich die Mühe und Zeit nimmt, einen handschriftlichen Brief zu senden; schließlich an alle offenen und verkappten Autografenjäger – für sie alle ist Mister Jenkins da, und er machte seine Sache für zweitausend Dollar im Jahre geschickt und reell. Er hat auch in Ihrem Falle sehr brav gearbeitet.«

»Großartig! Großartig!« klatschte der Prinz in die Hände. Mein Barometer aber fiel auf Sturm. »Ihr Verhältnis zu Bauer Barthel«, sagte ich kalt, »brauchen Sie mir nun nicht mehr zu erklären. Er hat gewusst, wer Sie waren, deshalb hielt er Sie, deshalb log er, er kenne Sie von Jugend auf; deshalb hat er Sie sogar gestern nicht verraten.«

»Stimmt! Aber das dürfen Sie dem Barthel nicht übelnehmen. Wir haben ein schriftliches Abkommen, laut dessen er fünfhundert Mark an mich hätte zahlen müssen, falls er mich je verraten hätte. Denken Sie mal – fünfhundert Mark! Es ist klar, dass sich da Barthel lieber einsperren lässt.«

»Hat sonst noch jemand auf dem Forellenhof Sie gekannt?«

»Nein. Auch Susanne nicht.«

»Das ist mir lieb. Aber der Direktor Brüning hat Sie gekannt und sich wahrscheinlich stets heimlich mit Ihnen besprochen. Deshalb erschienen mir alle seine Anordnungen immer so von Ihrem Geiste diktiert.«

»Auch das ist richtig. Ich war nur der lange Ignaz, aber in Wirklichkeit leitete ich die ganze Anstalt durch den Direktor. Wir hatten alle Tage eine kleine Konferenz. Ich war immer von allem unterrichtet. Außer Barthel und dem Direktor hat aber niemand gewusst, wer ich war, nicht mal die kleine Luise, und das ist mir schwer geworden.«

Seine Augen schimmerten warm bei dem Gedenken des Kindes, und das Wort, das ich über seine Abgefeimtheit sprechen wollte, unterblieb. So sagte ich nur kühl und gemessen:

»Wollen Sie mir sagen, Herr Stefenson, warum Sie diese ganze Komödie mit uns gespielt haben?«

»Komödie?« verwunderte er sich; »wieso Komödie? Darf in den Ferien vom Ich nicht jeder auftreten, wie er will? Ist das nicht Ihre eigene Idee? Und was meinen Sie, was ich selbst von dieser Idee, die mir gefiel und für die ich viel Geld gewagt habe, gehabt hätte, wenn ich als Mister Stefenson dageblieben wäre? Der Direktor wäre ich gewesen, einen langweiligen Verwaltungsposten hätte ich gehabt, nichts von dem Zauber trauten Geborgenseins, den unsere Anstalt spendet, hätte ich genießen können. Nein, am eigenen Leibe wollte ich ausprobieren, wie es tut, wenn man Ferien macht vom Ich. Deshalb wurde ich Bauernknecht. Ich habe mich wohlgefühlt als ›langer Ignaz‹, ich habe beobachtet, erlauscht, geprüft von unten her, was an unserer Sache ist, ob sie absurd, phantastisch, unfruchtbar, oder ob sie im Kern echt und gut ist, und ich hatte das Glück zu sehen, dass wir auf dem richtigen Wege sind. Nicht nur die gute geschäftliche Bilanz, die ich erwartet hatte, hat mich belehrt, dass ich mich unserer Gründung freuen darf, sondern das, was ich sah und hörte, als ich unerkannt mitten unter den Feriengästen war.«

»Sie haben auch mich prüfen wollen?« sagte ich.

»Ja, auch Sie! Ganz natürlich. Ich werde wieder nach Amerika zurück müssen, weil leider meine Ferien aus sind, und ich will wissen, wem ich das Werk hier, ich kann sagen den Liebling unter all meinen Unternehmungen, den einzigen Ausflug ins Romantische, den ich je gemacht habe, hinterlasse. Ich kann ruhig scheiden. Ich werde jetzt wirklich hinübergehen. Weil ich muss! Weil mich die Pflicht ruft. Ich weiß, das Heim ist in guten Händen. Und eines, lieber Freund, vergesse ich Ihnen mein Lebtag nicht. Es gab einen Sommerabend, an dem Sie die Hände ausstreckten nach der schönen Hanne. An diesem Abend fanden Sie meinen Brief, in dem ich Ihnen sagte, dass ich Fräulein Eva Bunkert, die Forellenhof-Hanne, als meine Braut betrachte. Und seit diesem Abend sind Sie dem Mädchen aus dem Wege gegangen. Sehen Sie, das habe ich auch nur als Knecht Ignaz erfahren können, dass ich an Ihnen so einen treuen Freund habe. Das allein lohnt ein halbes Jahr Bauernarbeit.«

Er sprach mit großer, ehrlicher Wärme. Ich aber sagte: »Sie täuschen sich. Ich hätte das Mädel zu gewinnen gesucht; aber ich wusste, dass sie immer nur an Sie dachte, dass Ihnen ihr Herz gehört.«

»Ist das möglich? Ist das möglich? Fräulein Hanne will wirklich ...«

Der Prinz sank in sich zusammen. Er war plötzlich wieder vollständig Piesecke.

Es ist noch viel geredet worden; ich weiß nicht mehr, was alles. Schließlich habe ich Stefenson recht geben müssen, dass er sich unerkannt unter unser kurioses Völklein mischte. Was sollte er sich nicht überzeugen, wie seine Gründung wirkte? Ich überwand meinen Unmut, so gut ich konnte, aber ein Stachel blieb, dass Barthel und der Direktor mehr gewusst hatten als ich. Eine Freundschaft zwischen Stefenson und mir wollte ich nicht mehr gelten lassen.

Piesecke schlich sich ins Heim zurück, ohne uns. Er wollte weiterhin Piesecke sein, und vergebens zerbrachen sich unsere Kurgäste die Köpfe, wer der in der »Neustädter Umschau« genannte Prinz sein möge. Der »Verdacht« blieb schließlich auf einem Referendar sitzen, der im Grundhof wohnte und sich die Rolle des heimlichen Herzogs wohlgefallen ließ. Dieser Referendar lehnte alle grobe Arbeit von nun an ab. Die Damen waren entzückt über seine hocharistokratischen Hände. Sie rühmten die edle Zurückhaltung in Ton und Gebärde, die Güte, die nie zur Vertraulichkeit wird, sondern immer Güte bleibt, die Sprache, die trotz ihres leise verschleierten Timbers und ihrer entgegenkommenden Art doch unabweisbare Befehle gibt, die Augen, die so wissend, so durch den Höhenblick von Jugend auf geschärft zu blicken wussten; sie rühmten selbst kleine Nonchalancen, die sich eben nur der unter dem Kronenhimmel Geborene gestattet. Dieser Mann lachte und lächelte nicht; er zuckte nur mit den Mundwinkeln. Er sagte nicht »nein« zu irgendeinem Verlangen, sondern dieses Verlangen erstarb von selbst vor einem einzigen Faltenwölkchen, das sich auf der Stirn des Hohen bildete; er konnte aber auch durch ein einziges freundliches Lidersenken gewähren, »ja« sagen, wie kein anderer Mensch »ja« zu sagen vermag.

Keine Erziehung führt zu solcher Haltung. Kein Emporkömmling kann sie erlernen. Rasse! Vererbung von Herreninstinkten durch Jahrhunderte! Das ist's! Und der heimliche Herzog ging in schlichter, leutseliger Würde durch das Gewimmel aller derer, die ihm täglich in den Weg zu laufen wussten. Er empfing keine Besuche – er erteilte Audienzen; er plauderte nicht – er hielt Cercle.

Mir machte alles dies so viel Spaß, dass ich den Direktor ersuchte, dem heimlichen Herzog noch auf weitere zwei Wochen die wesentlich erleichterten Zahlungsbedingungen zu gewähren; denn der Referendar hatte bisher nur gelegentlich geringe Remunerationen genossen, und sein Vater, der ein biederer Sattlermeister war, hatte auch nicht viel Geld übrig.

Das alles hatte mit ihrem Artikel die »Neustädter Umschau« getan. An Piesecke dachte kein Mensch ...

Barthel, der Heimtücker, war inzwischen auch aus der Haft entlassen worden. Er ließ sich bei mir melden, aber es wurde ihm gesagt, ich sei nicht zu sprechen. Da kam er nach einer Stunde mit seiner Susanne wieder.

»Herr Doktor«, sagte Susanne mit kirschrotem Kopf, »dass er ein Lump ist, weiß ich. Unsern guten Herrn Doktor so zu beschwindeln wegen lumpiger tausend Taler, die er jetzt von Ignaz, der ja Stefenson gewesen ist, Schweigegeld kriegt. Was soll uns das Geld? Was geht uns Herr Stefenson an? Wir halten uns an unseren guten Herrn Doktor. Aber was das schlimmste ist, mich hat er auch beschwindelt mit dem langen Ignaz. So ein Lump! Sein eigenes Weib belügt er. Ich hab ihm nie getraut, nie im Leben! Nicht über den Weg! Aber jetzt lass ich mich scheiden; er hat gesessen, und mit einem Zuchthäusler hat eine anständige Frau nichts zu tun.«

Was blieb mir übrig, als für den in erbärmlichem Zustand dastehenden Barthel Partei zu ergreifen und der empörten Susanne gut und mild zuzureden? Sie wollte aber auf keinen Zuspruch hören. Sie blieb dabei, sie müsse sich scheiden lassen, da er »gesessen« habe. Schließlich weinte sie.

»Und was er für ein Liedrian ist, Herr Doktor!« schluchzte die brave Frau. »Für die tausend Taler, die er jetzt von Stefenson kriegt, will er sich eine Dreschmaschine kaufen, wo ich ihm doch sage, dass er das Geld lieber in die Sparkasse tragen soll.« Da erkannte ich, dass das Barthelsche Eheglück noch nicht hoffnungslos verloren war, und ich entließ die beiden, indem ich sie meines Wohlwollens versicherte.

Ich saß allein in meiner Klause. Ich war in einer Stimmung, die ich nicht kannte. Wie war das, was ich in den letzten vierundzwanzig Stunden erlebte – war das traurig, war es komisch, war es erbärmlich? Sollte ich lachen, sollte ich zürnen?

Sollte mir das Herz weh tun, weil die blonde Hanne fortzog?

Sollte ich grollen, weil Stefenson dem Direktor und einem Bauern mehr Vertrauen geschenkt hatte als mir, den er seinen Freund nannte?

Sollte ich mich ärgern über den Barthel, weil er profitsüchtig gewesen war?

Es blieb ganz still in mir. Wahrscheinlich waren das alles ganz gute, liebe Leute. Nur das Leben schüttelte die Menschen durcheinander, wie ein Kind die Steinchen schüttelt, die es in ein Säcklein gesammelt hat. Wenn es eine Reibung gibt, was schadet es? Ein Krümlein alter, weicher Heimaterde bröckelt ab, und der Stein schimmert durch, hart und widerstandslustig. Dem Stein aber kann keine Reibung mehr schaden, kann ihn nur glätten.

Alte, weiche Heimaterde, wie du mich umsponnen hattest! Jedes Käferwürmlein konnte an dir zehren! Ich möchte dich ja halten, denn du bist gut und weich, aber das Leben schüttelt zu hart. Doch ich bin getrost, ein gut Teil Krümlein werden mir bleiben, darauf will ich mich heimlich betten, und die glatte Fläche wird nur nach außen sein ... Als am nächsten Morgen die blonde Hanne in mein Zimmer trat, pochte mein Herz nicht rascher, als käme eine Patientin. Wohl war das Mädchen blasser, als ich es je gesehen.

»Sie kommen sich verabschieden, Eva?«

»Ja. In zwei Stunden fährt drüben in Neustadt mein Zug ab.«

Wir schwiegen beide. Plötzlich begann Eva laut und heftig zu weinen. Ich hätte hingehen mögen, um über ihre Stirn zu streichen; aber ich tat es nicht.

»Eva, Sie wissen, dass Stefenson hier ist – dass er die ganze Zeit hier war?«

Sie nickte.

»Er hat wohl mit Ihnen gesprochen?«

Da stand sie auf. Tränenlos, zornig sagte sie:

»Ja, er hat mit mir gesprochen. Er war so dreist, mich um meine Hand zu bitten. Ein halbes Jahr lang hat er neben mir gewohnt, ohne dass ich ihn kannte, hat mich beobachtet, belauert, geprüft, ob ich wohl – der hohen Ehre würdig sei, seine Gattin zu werden, ob ich nicht am Ende ein kokettes, leichtfertiges Weib sei, das heut dem, morgen jenem zulächelt; er hat diese Prüfung angestellt, weil ich beim Theater bin, weil ich keine der unter hermetischem Verschluss stehenden Misses von Neuyork bin, die heimlich oft liederlich genug sind; er hat mich, ohne dass ich es wusste, geprüft, und ist nun so gnädig, mir zu sagen: du hast deine Prüfung bestanden. Aber ich – ich werfe ihm sein Diplom vor die Füße! Was ist denn die Liebe? Liebe ist doch blindes Vertrauen. Welcher Mann hat denn eine Garantie? Das Mädchen, der Vater, die Mutter, alle Muhmen und Vettern können ihn belügen, wenn sie wollen, er ist machtlos dagegen. Der Mann muss das Mädchen sehen, er muss wie von einer himmlischen Erleuchtung geführt sagen: Du bist rein, ich lege meine Ehre und mein Glück in deine Hände. Sonst ...«

Sie sank weinend auf den Stuhl zurück.

Hochauf loderte der glimmende Funke meiner Liebe wieder zu diesem schönen Mädchen, als ich so sein ehrliches weibliches Empfinden sah. In plötzlicher Müdigkeit stützte ich den Kopf in die Hände.

Ich zwang die Welle in meinem Herzen. Es wurde ganz still in mir. Eine unheimliche, aber große Stille. Wie in der Wüste. Nur von ferne hörte ich die Tränen rinnen, wie Wasser einer fremden Oase. Ich hätte lange so mit dem aufgestützten Haupt sitzen mögen. Wieviel Zeit verging, weiß ich nicht. Da hörte ich Evas Stimme.

»Haben Sie keinen guten Rat für mich, lieber Freund?«

»Lieber Freund!« Unter allen Gestirnen, die an unserem Himmel flimmern, ist dieses Wort wohl eines der hellsten. Aber wenn es ein Weib sagt, das man liebt, bekommt dieser Stern ein überweißes Licht, ist wie ein Schimmer aus einer Welt, die in Eiseskälte untergeht.

»Warum sagen Sie nichts? Wissen Sie nicht einmal als Arzt etwas zu sagen?«

Da erhob ich mich.

»Wohl, liebe Eva! Ich glaube, ich kann Ihnen die Sache richtig auseinandersetzen.«

Ich war über mich selbst verwundert. Wie ein trockener, etwas pedantischer Magister sprach ich:

»Sehen Sie, Eva, Sie stecken zu tief in der Romantik! Sie denken sich den Freiersmann so wie Lohengrin, der als Fremdling ans Ufer steigt, die Holde, die von aller Welt geächtet wird, an der Hand nimmt und sagt: Frei aller Schuld ist Elsa von Brabant. Und drei Minuten später: Elsa, ich liebe dich! Unser Stefenson ist nicht von dieser Schwanenritterart, er fährt auf dem Passagierdampfer, ist hausbacken, nüchtern, verfährt vorsichtig.«

»Verstellen Sie sich doch nicht, lieber Freund! Das ist doch nicht Ihre Art, so zu sprechen!«

»Doch, doch! Es ist ganz meine Art, so zu sprechen! Eva, ich will Ihnen ehrlich folgendes sagen: Stefenson hat nicht nur Sie prüfen wollen, sondern auch mich, auch unsere ganze Anstalt. Er schätzt wahrscheinlich drei Dinge: Erstens das Geld, das er für ein Unternehmen anlegt (und das ist ihm als Kaufmann durchaus nicht übelzunehmen), zweitens seine Geschäftsfreunde, unter denen er keine unfähigen Gesellen haben will (auch das ist ohne weiteres zu billigen), und drittens die Liebe oder die Ehe, in welcher Richtung er durchaus klar sehen will. Die Beurteilung dieses dritten Punktes wage ich nicht, da ich von Liebe nichts verstehe.«

In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet. Stefenson erschien.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er, »und versichere, dass ich an der Tür nicht gehorcht habe. Ich entlasse Dienstmädchen ob solch schmählicher Schwäche. Aber der Herr Doktor hat so deutlich gepredigt, dass jedermann, der den anstoßenden Korridor entlang ging, Wort für Wort verstehen musste. Darf ich mir zu der Sache das Wort erlauben?«

»Bitte!«

»Erstens mal das Geld. Schön! Ich schätze es! Ich halte es für einen sehr guten Freund. Für einen, der nicht nur die Stube ausmöbliert und das Essen schafft, sondern auch für einen, der einem eine vernünftige Körperpflege gönnt, der die Theater und Museen aufschließt, einen in der Welt herumführt, der gestattet, sich gegen ärmere Mitmenschen anständig zu benehmen, der den Doktor ruft, wenn man krank ist, und der einem schließlich ein Denkmal setzt, wenn sich kein Mensch um den Grabhügel bekümmert, ja, für den einzigen Freund, der einem, wenn man zum Beispiel in der Wut eine Gewalttat begangen hat und ins Zuchthaus oder sonst ins Elend gekommen ist, hinterher wieder die Hand reicht und zu einem ordentlichen Leben zurückverhilft. Ein gutes Bankdepot ist wirklich ein außerordentlich reeller Freund. Nur dumme Kerle und verärgerte arme Schlucker können es leugnen.

Zweitens: Geschäftsfreunde dürfen noch eher in mäßigen Grenzen unreell als dumm, rückständig, faul oder sonstwie borniert sein.

Drittens: Jeder Mensch, der ein Pferd kauft, das er übermorgen weiterverkaufen oder schlachten lassen kann, überlegt es nach zwanzig Rücksichten. Einer, der eine Frau nimmt, die er zeit seines Lebens auf dem Halse behält, und der weniger vorsichtig verfährt, ist ein Dummian.«

Stefenson brachte diese Sätze ohne alle Gemütsbewegung vor, wie einer, der unwiderlegbare Behauptungen aufstellt.

Die blonde Eva hatte ihn bisher nicht angesehen.

Jetzt stand sie auf, blickte ihm voll in die Augen und sagte kühl:

»Alles, was Sie da sagen, ist nach Ihrer Meinung klug und richtig. Aber ich – ich mag das nicht! Ich mag das alles ganz und gar nicht!«

Sie verließ das Zimmer. Wir riefen ihr beide nach.

Sie gab keine Antwort mehr.

Stefenson ging langsam durch das Zimmer, zündete sich eine Zigarre an und sagte nach einer Weile:

»Das ist daneben gegangen!«

»Ja, ganz daneben!«

»Sie freuen sich wohl?«

»Ach, ich kann nicht sagen, dass ich verärgert bin.«

»Das kann ich mir denken!«

Darauf zündete auch ich mir eine Zigarre an, und wir setzten uns gegenüber und rauchten dicke Wolken.

»Was war denn eigentlich los?« fragte Stefenson.

»Nun«, sagte ich, »Sie sind ein Mann, und sie ist ein Weib.«


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