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Fügung ...!

Joachim wohnt jetzt in der Lindenherberge, wo schon einige Zimmer fertiggestellt sind und auch der Küchenbetrieb schon im Gange ist. Im Rathaus gegenüber haust Stefenson. Er hat seine Arbeitstätigkeit noch vermehrt und, wie er mir sagte, keine Zeit mehr, Luises willen täglich nach Neustadt zu fahren und sich um das »Gänschen« zu kümmern. So wolle er das Mädel lieber zu sich nehmen. Das sei ihm zwar sehr störend, aber was wolle er machen? Er hätte auch gefunden, dass die Pflegeeltern in Neustadt die Sache mit Luise nicht recht verständen. Ich grunzte. Sonst sagte ich nichts ...

Die weitere Ausgestaltung unserer Riesenanstalt schritt mit größter Schnelligkeit vor sich. Da sagte Mister Stefenson eines Tages zu mir:

»Und nun, mein Lieber, ist es die allerhöchste Zeit, dass wir an die Bauernrequirierung gehen. Zehn Höfe sind fast fertig, das Vieh ist rasch zu beschaffen, ebenso die Haus- und Ackergeräte, aber das Bauernvolk, das uns einpasst, das will gesucht sein. Ich hatte anfangs an Agenten gedacht, aber das ist nichts; die gehen bloß auf ihre Provision aus und schicken uns Schinder und Plunder auf den Hals. Haben Sie also die Freundlichkeit, sich in einen Vieh- oder Getreidehändler oder, wenn Ihnen das besser liegt, in einen Gütermakler zu verwandeln und mich morgen auf der Bauernsuche zu begleiten.«

Nun, diese Aufgabe passte mir, zumal ich Stefenson bereit fand, unser Glück zunächst in Schlesien zu probieren. Ich bestimmte die Ausrüstung. Schaftstiefel, englische Lederhosen, eine Joppe aus grauem Tuch mit Hirschhornknöpfen und grüner Tascheneinfassung, ein Vorhemd ohne Schlips, ein seidenes Tüchlein um den Hals, eine Lodenmütze, das war meine Ausrüstung. Solcher Kleidung bringen die Bauern Zutrauen entgegen, da vermuten sie keine verkniffenen Städter, keine »Juden oder Winkeladvokaten«, die sie übers Ohr hauen wollen.

Es wäre alles gut gewesen, wenn nicht Stefenson am nächsten Morgen, als die Reise losgehen sollte, die kleine Luise mitgebracht hätte.

Ich schlug Skandal. Was er sich einbilde, ein so kleines Kind auf so lange Reise mitzuschleppen? Ob er denn nicht bedächte, dass uns das Mädel nur stören und aufhalten würde? Es war alles umsonst; Luise fuhr mit.

»Pappa hat mehr zu sagen als der Onkel«, sagte die Kleine mit einem Anflug von schnippischem Ton.

»Sie macht sich heraus; sie fängt an, Courage zu kriegen«, sagte der »Pappa« anerkennend.

Auf einer größeren Station stiegen wir während des Zugaufenthaltes aus, um dem Kinde Orangen zu kaufen. Noch als wir am Stande des Obsthändlers waren, näherte sich uns eiligen Schrittes eine Frau. Sie starrte erst mich an, dann das Kind, fasste es blitzschnell an der Hand, riss es an sich und küsste es wie rasend.

Das Mädel schrie erschrocken auf, Stefenson sagte betroffen: »Aber Madame, was tun Sie?«, und ich wand der Frau das Kind aus den Armen. Neugierige Leute eilten herbei; es gab gewaltiges Aufsehen.

»Zurück in den Wagen!« rief ich Stefenson zu, der mir verwirrt folgte. Bald saßen wir im Abteil, und die Tür flog zu.

Draußen schrie eine gellende Stimme:

»Es ist mein Kind – es ist mein Kind – lässt mich zu meinem Kinde! Luise! Luise!«

Die Leute hielten die Frau, die sich verzweifelt wehrte, an den Armen fest; der aufsichtführende Beamte eilte an unser Abteil und begehrte Auskunft. Ich stieg aus, stellte mich vor und sprach einige aufklärende Sätze. Zuletzt sagte ich:

»Herr Vorsteher, fragen Sie die Frau, ob sie gesetzlichen Anspruch auf dieses Kind habe!«

Er entfernte sich, ging zu der Frau, wies alle Leute beiseite und sprach leise auf sie ein. Sie stand tiefgesenkten Hauptes mit herabhängenden Armen, heftig schluchzend vor ihm. Nun tat er wohl die Frage: »Haben Sie einen gesetzlichen Anspruch auf jenes Mädchen?«

Da schüttelte sie den Kopf. Ein Blick voll Wehes traf noch unser Wagenfenster, dann verließ die Frau den Bahnhof.

»Wer war die böse Frau?« fragte Luise verängstigt.

»Eine Verrückte«, sagte Stefenson rauh.

»Wird sie nie wieder zu mir kommen?«

»Nein, nie wieder!«

Wie lange doch der Aufenthalt noch währte! Die Leute spazierten draußen und gafften neugierig nach unserem Fenster. Ich zog den Vorhang vor. Endlich setzte sich der Zug langsam wieder in Bewegung. Aber kaum hatte er den Bahnhof verlassen und fuhr noch nicht mit voller Geschwindigkeit, da gab es einen gewaltigen Ruck und Stoß, und der Zug stand.

Ich riss das Fenster auf. Von der Lokomotive sprang der Heizer ab, Schaffner eilten den Bahnsteig entlang – ein Schaffner kam zurück und gab uns Auskunft ...

Über das Feld rannte jene Frau ...

Das Weib hatte sich dicht hinter dem Bahnhof auf die Schienen geworfen, und der Lokomotivführer hatte den Zug noch rechtzeitig zum Stehen gebracht.

Luise war auf die Sitzbank geklettert und schaute durchs Fenster.

»Da rennt sie – da rennt die böse Frau!« rief das Kind.

»Lass das verrückte Weib!« knirschte Stefenson.

Wir fuhren weiter. Grauer Nebel zog über die Fluren, frierende Vögel saßen auf den Telegraphendrähten, alles, was draußen war, fror, die Bäume und die Berge, die Tiere und die Menschen.

Die eine irrte nun allein mit dem aufgeschreckten Weh verschmähter Mutterliebe im Herzen durch die kalte Flur, das Kind hatte sich vor ihr entsetzt, und selbst der Tod hatte sie verschmäht.

Stefenson saß finster in seiner Ecke.

Das Kind begann wieder zu sprechen.

»Alle verrückten Menschen sind sehr böse.«

Da brummte sie Stefenson an:

»Das kann man nicht sagen, du Gänschen! Manche Menschen können nicht mal richtig dafür, dass sie verrückt sind.«

»Wieso nicht?«

»Das verstehst du nicht. Das versteht selbst unter den großen Menschen von Tausenden kaum einer richtig.«

»Du hast aber gesagt, sie ist verrückt, und du hast es böse gesagt«, verharrte das Kind.

»Dann habe ich eben eine Dummheit gesagt. Denn ich kenne die Frau nicht und kann daher auch nicht wissen, ob sie verrückt oder böse ist.«

»Böse ist sie«, wiederholte Luise; »denn sie hat mich sehr gequetscht und mich auch in die Wange gebissen. Sie soll nicht wiederkommen.«

Grau rann der Regen über das Wagenfenster.

All unsere frohe Laune war dahin. Schwache, gedrückte Menschen, saßen wir da im Zuge, der uns schnell davonführte und eine große Strecke zwischen uns und die Sünderin legte, die uns gestört hatte in unserer Behaglichkeit, und die wir daher nicht rasch und rauh genug abschütteln konnten.

Der göttliche Freund Mariens von Magdala fiel mir ein. Wie hätte er wohl gehandelt in meinem Falle? Hätte er die Arme beiseitegestoßen, sich einen Beamten kommen lassen und sich hinter »gesetzliches Recht« verschanzt? Wäre er dann weitergefahren, fast hinweg über den zuckenden Leib, und hätte er der Fliehenden nachgeschaut vom sicheren Fenster aus, mit hochmütigem Abscheu in der Seele? Oder wäre ihr der Meister nachgegangen, hätte sie an der Hand genommen und ihr, wenn sie guten Willens war, ein Zweiglein vom verlorenen Mutterkranz wieder versprochen, ihr ein klein wenig goldene Kindesliebe für die Zukunft verheißen?

Ich werde mich vor allen Dingen erlösen müssen von allem kalten Hochmut des Herzens und allem auch noch so »gesetzmäßigen« Zurückstoßen der Schwachen und Schuldigen ...


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