Gottfried Keller
Frau Regel Amrain
Gottfried Keller

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So hatten sie nun nichts weiter zu tun als zu stehen oder zu gehen, wo und wie man ihnen befahl, hierhin, dorthin, wie es dem vielköpfigen Souverän beliebte, welchem sie sein Recht hatten nehmen wollen. Und er übte es jetzt in reichlichem Maße aus und es fehlte nicht an Knüffen und Püffen, wenn die Herren Gefangenen sich trotzig zeigten oder nicht gehorchen wollten. Jeder schrie ihnen eine gute Lehre zu: »Wäret ihr zu Hause geblieben, so brauchtet ihr uns nicht zu gehorchen! Wer hat euch hergerufen? Da ihr uns regieren wolltet, so wollen wir nun euch auch regieren, ihr Spitzbuben! Was bezieht ihr für Gehalt für euer Geschäft, was für Sold für euer Kriegswesen? Wo habt ihr eure Kriegskasse und wo euren General? Pflegt ihr oft auszuziehen ohne Trompeter, so in der Stille? Oder habt ihr den Trompeter heimgeschickt, um euren Sieg zu verkünden? Glaubtet ihr, die Luft in unserm Gebiet sei schlechter als eure, da ihr kamet, sie mit Bleikugeln zu peitschen? Habt ihr schon gefrühstückt, ihr Herren? Oder wollt ihr ins Gras beißen? Verdienen würdet ihr es wohl! Habt ihr geglaubt, wir hätten hier keinen ordentlichen Staat, wir stellten gar nichts vor in unserm Ländchen, daß ihr da rottenweise herumstreicht ohne Erlaubnis? Wolltet ihr Füchse fangen oder Kaninchen? Schöne Bundesgenossen, die uns mit dem Schießprügel in der Hand unser gutes Recht stehlen wollen! Ihr könnt euch bei denen bedanken, die euch hergerufen; denn man wird euch eine schöne Mahlzeit anrichten! Ihr dürfet einstweilen unsere Zuchthauskost versuchen; es ist eine ganz entschiedene Majorität von gesunden Erbsen, gewürzt mit dem Salze eines handlichen Strafgesetzes gegen Hochverrat, und wenn ihr Jahr und Tag gesessen habt, so wird man euch erlauben, zur Feier eures glorreichen Einzuges auch eine kleine Minorität von Speck zu überwältigen, aber beißt euch alsdann die Zähne nicht daran aus! Es geht allerdings nichts über einen guten Spaziergang und ist zuträglich für die Gesundheit, insbesondere wenn man keine regelmäßige Arbeit und Bewegung zu haben scheint; aber man muß sich doch immer in acht nehmen, wo man spazieren geht, und es ist unhöflich, mit dem Hut auf dem Kopf in eine Kirche und mit dem Gewehr in der Hand in ein friedfertiges Staatswesen herein zu spazieren! Oder habt ihr geglaubt, wir stellen keinen Staat vor, weil wir noch Religion haben und unsere Pfaffen zu ehren belieben? Dieses gefällt uns einmal so, und wir wohnen geradso lang im Lande als ihr, ihr Maulaffen, die ihr nun dasteht und euch nicht zu helfen wißt!«

So tönte es unaufhörlich um sie her, und die Beredsamkeit der Sieger war um so unerschöpflicher als sie das gleiche, dessen sie ihre Gegner nun anklagten, entweder selbst schon getan oder es jeden Augenblick zu tun bereit waren, wenn die Umstände und die persönliche Rüstigkeit es erlaubten, gleich wie ein Dieb die beredteste Entrüstung verlauten läßt, wenn ein Kleinod, das er selbst gestohlen, ihm abermals entfremdet wird. Denn der Mensch trägt die unbefangene Schamlosigkeit des Tieres geradewegs in das moralische Gebiet hinüber und gebärdet sich da im guten Glauben an das nützliche Recht seiner Willkür so naiv wie die Hündlein auf den Gassen. Die gefangenen Freischärler mußten indessen alles über sich ergehen lassen und waren nur bedacht, durch keinerlei Herausforderung eine körperliche Mißhandlung zu veranlassen. Dies war das einzige, was sie tun konnten, und die Älteren und Erfahrenern unter ihnen ertrugen das Übel mit möglichstem Humor, da sie voraussahen, daß die Sache nicht so gefährlich abliefe als es schien. Der eine oder andere merkte sich ein schimpfendes Bäuerlein, das in seinem Laden etwa eine Sense oder ein Maß Kleesamen gekauft und schuldig geblieben war, und gedachte demselben seinerzeit seine beißenden Anmerkungen mit Zinsen zurückzugeben, und wenn ein solches Bäuerlein solchen Blick bemerkte und den Absender erkannte, so hörte es darum nicht plötzlich auf zu schelten, aber richtete unvermerkt seine Augen und seine Worte anderswohin in den Haufen und verzog sich allmählich hinter die Front; so gemütlich und seltsamlich spielen die Menschlichkeiten durcheinander. Fritz Amrain aber war im höchsten Grade niedergeschlagen und trostlos. Zwei oder drei seiner Gefährten waren gefallen und lagen noch da, andere waren verwundet und er sah den Boden um sich her mit Blut gefärbt; sein Gewehr und seine Taschen waren ihm abgenommen, ringsum erblickte er drohende Gesichter, und so war er plötzlich aus seiner bedachtlosen und fieberhaften Aufregung erwacht, der Sonnenschein des lustigen Kampftages war verwischt und verdunkelt, das lustige Knallen der Schüsse und die angenehme Musik des kurzen Gefechtlärmens verklungen, und als nun gar endlich die Behörden oder Landesautoritäten sich hervortaten aus dem Wirrsal und eine trockene geschäftliche Einteilung und Abführung der Gefangenen begann, war es ihm zumute wie einem Schulknaben, welcher aus einer mutwilligen Herrlichkeit, die ihm für die Ewigkeit gegründet und höchst rechtmäßig schien, unversehens von dem häßlichsten Schulmeister aufgerüttelt und beigesteckt wird und der nun in seinem Gram alles verloren und das Ende der Welt herbeigekommen wähnt. Er schämte sich, ohne zu wissen vor wem, er verachtete seine Feinde und war doch in ihrer Hand. Er war begeistert gewesen, gegen sie auszuziehen, und doch waren sie jetzt in jeder Hinsicht in ihrem Rechte; denn selbst ihre Beschränktheit oder ihre Dummheit war ihr gutes rechtliches Eigentum und es gab kein Mandat dagegen als dasjenige des Erfolges, der nun leider ausgeblieben war. Die leidenschaftlich erbosten Gesichter aller dieser bejahrten und gefurchten Landleute, welche auf ihren gefundenen Sieg trotzten, traten ihm in seiner helldunklen Trostlosigkeit mit einer seltsamen Deutlichkeit vor die Augen; überall, wo er durchgeführt wurde, gab es neue Gesichter, die er nie gesehen, die er nicht einzeln und nicht mit Willen ansah und die sich ihm dennoch scharf und trefflich beleuchtet einprägten als ebenso viele Vorwürfe, Beleidigungen und Strafgerichte. Je näher der Zug der Gefangenen der Stadt kam, desto lebendiger wurde es; die Stadt selbst war mit Soldaten und bewaffneten Landleuten angefüllt, welche sich um die neu befestigte Regierung scharten, und die Gefangenen wurden im Triumphe durchgeführt. Von der Opposition, welche gestern noch so mächtig gewesen, daß sie um die Herrschaft ringen konnte und sich bewegte, wie es ihr gefiel, war nicht die leiseste Spur mehr zu erblicken; es war eine ganz andere grobe und widerstehende Welt als sich Fritz gedacht hatte, welche sich für unzweifelhaft und aufs beste begründet ausgab und nur verwundert schien, wie man sie irgend habe in Frage stellen und angreifen können. Denn jeder tanzt, wenn seine Geige gestrichen wird, und wenn viele Menschen zusammen sich was einbilden, so blähet sich eine Unendlichkeit in dieser Einbildung. Endlich aber waren die Gefangenen in Türmen und andern Baulichkeiten untergebracht, alle schon bewohnt von ähnlichen Unternehmungslustigen, und so befand sich auch Fritz hinter Schloß und Riegel und war es erklärlich, daß er nicht mit den Seldwylern zurückgekehrt war.

Diese rächten sich für ihren mißlungenen Zug dadurch, daß sie den sieghaften Gegnern auf der Stelle die abscheulichste und rücksichtsloseste Rachsucht zuschrieben und daß jeder, der entkommen war, es als für gewiß annahm, die Gefangenen würden erschossen werden. Es gab Leute, die sonst nicht ganz unklug waren, welche allen Ernstes glaubten und wieder sagten, daß die fanatisierten Bauern gefangene Freischärler zwischen zwei Bretter gebunden und entzweigesägt oder auch etliche derselben gekreuzigt hätten.

Sobald Frau Regula diese Übertreibungen und dies unmäßige Mißtrauen vernahm, verlor sie die Hälfte des Schreckens, welchen sie zuerst empfunden, da die Torheit der Leute ihren Einfluß auf die Wohlbestellten immer selbst reguliert und unschädlich macht. Denn hätten die Seldwyler nur etwa die Befürchtung ausgesprochen, die Gefangenen könnten vielleicht wohl erschossen werden nach dem Standrecht, so wäre sie in tödlicher Besorgnis geblieben; als man aber sagte, sie seien entzweigesägt und gekreuzigt, glaubte sie auch jenes nicht mehr. Dagegen erhielt sie bald einen kurzen Brief von ihrem Sohne, laut welchem er wirklich eingetürmt war und sie um die sofortige Erlegung einer Geldbürgschaft bat, gegen welche er entlassen würde. Mehrere Kameraden seien schon auf diese Weise freigegeben worden. Denn die sieghafte Regierung war in großen Geldnöten und verschaffte sich auf diese Weise einige willkommene außerordentliche Einkünfte, da sie nachher nur die hinterlegten Summen in ebenso viele Geldbußen zu verwandeln brauchte. Frau Amrain steckte den Brief ganz vergnügt in ihren Busen und begann gemächlich und ohne sich zu übereilen die erforderlichen Geldmittel beizubringen und zurechtzulegen, so daß wohl acht Tage vergingen, ehe sie Anstalt machte damit abzureisen. Da kam ein zweiter Brief, welchen der Sohn Gelegenheit gefunden heimlich abzuschicken und worin er sie beschwor, sich ja zu eilen, da es ganz unerträglich sei, seinen Leib dergestalt in der Gewalt verhaßter Menschen zu sehen. Sie wären eingesperrt wie wilde Tiere, ohne frische Luft und Bewegung, und müßten Habermus und Erbsenkost aus einer hölzernen Bütte gemeinschaftlich essen mit hölzernen Löffeln. Da schob sie lächelnd ihre Abreise noch um einige Tage auf, und erst als der eingepferchte Tatkräftige volle vierzehn Tage gesessen, nahm sie ein Gefährt, packte die Erlösungsgelder nebst frischer Wäsche und guten Kleidern ein und begab sich auf den Weg. Als sie aber ankam, vernahm sie, daß ehestens eine Amnestie ausgesprochen würde über alle, die nicht ausgezeichnete Rädelsführer seien, und besonders über die Fremden, da man diese nicht unnütz zu füttern gedachte und jetzt keine eingehenden Gelder mehr erwartete. Da blieb sie noch zwei oder drei Tage in einem Gasthofe, bereit ihren Sohn jeden Augenblick zu erlösen, der übrigens seiner Jugend wegen nicht sehr beachtet wurde. Die Amnestie wurde auch wirklich verkündet, da diesmal die siegende Partei aus Sparsamkeit die wahre Weise befolgte: im Siege selbst, und nicht in der Rache oder Strafe, ihr Bewußtsein und ihre Genugtuung zu finden. So fand denn der verzweifelte Fritz seine Mutter an der Pforte des Gefängnisses seiner harrend. Sie speiste und tränkte ihn, gab ihm neue Kleider und fuhr mit ihm nebst der geretteten Bürgschaft von dannen.

Als er sich nun wohlgeborgen und gestärkt neben seiner Mutter sah, fragte er sie, warum sie ihn denn so lange habe sitzen lassen? Sie erwiderte kurz und ziemlich vergnügt, wie ihm schien, daß das Geld eben nicht früher wäre aufzutreiben gewesen. Er kannte aber den Stand ihrer Angelegenheiten nur zu wohl und wußte genau, wo die Mittel zu suchen und zu beziehen waren. Er ließ also diese Ausflucht nicht gelten und fragte abermals. Sie meinte, er möchte sich nur zufrieden geben, da er durch sein Sitzen in dem Turme ein gutes Stück Geld verdient und überdies Gelegenheit erhalten, eine schöne Erfahrung zu machen. Gewiß habe er diesen oder jenen vernünftigen Gedanken zu fassen die Muße gehabt. »Du hast mich am Ende absichtlich stecken lassen«, erwiderte er und sah sie groß an, »und hast mir in deinem mütterlichen Sinne das Gefängnis förmlich zuerkannt?« Hierauf antwortete sie nichts, sondern lachte laut und lustig in dem rollenden Wagen, wie er sie noch nie lachen gesehen. Als er hierauf nicht wußte, welches Gesicht er machen sollte, und seltsam die Nase rümpfte, umhalste sie ihn, noch lauter lachend, und gab ihm einen Kuß. Er sagte aber kein Wort mehr, und es zeigte sich von nun an, daß er in dem Gefängnis in der Tat etwas gelernt habe.

Denn er hielt sich in seinem Wesen jetzt viel ernster und geschlossener zusammen und geriet nie wieder in Versuchung, durch eine unrechtmäßige oder leichtsinnige Tatlust eine Gewalt herauszufordern und seine Person in ihre Hand zu geben zu seiner Schmach und niemand zum Nutzen. Er nahm sich nicht gerade vor, nie mehr auszuziehen, da die Ereignisse nicht zum voraus gezählt werden können und niemand seinem Blut gebieten kann stille zu stehn, wenn es rascher fließt; aber er war nun sicher vor jeder nur äußerlichen und unbedachten Kampflust. Diese Erfahrung wirkte überhaupt dermaßen auf den jungen Mann, daß er mit verdoppeltem Fortschritt an Tüchtigkeit in allen Dingen zuzunehmen schien und den Sachen schon mit voller Männlichkeit vorstand, als er kaum zwanzig Jahre alt war. Frau Amrain gab ihm deswegen nun die junge Frau, welche er wünschte, und nach Verlauf eines Jahres, als er bereits ein kleines hübsches Söhnchen besaß, war er zwar immer wohlgemut, aber um so ernsthafter und gemessener in seinen fleißigen Geschäften als seine Frau lustig, voll Gelächter und guter Dinge war; denn es gefiel ihr über die Maßen in diesem Hause und sie kam vortrefflich mit ihrer Schwiegermutter aus, obgleich sie von dieser verschieden und wieder eine andere Art von gutem Charakter war.

So schien nun das Erziehungswerk der Frau Regula auf das beste gekrönt und der Zukunft mit Ruhe entgegenzusehen; denn auch die beiden älteren Söhne, welche zwar trägen Wesens, aber sonst gutartig waren, hatte sie hinter dem wackern Fritz her leidlich durchgeschleppt und, als dieselben herangewachsen, die Vorsicht gebraucht, sie in anderen Städten in die Lehre zu geben, wo sie denn auch blieben und ihr ferneres Leben begründeten als ziemlich bequemliche, aber sonst ordentliche Menschen, von denen nachher so wenig zu sagen war wie vorher.


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