Gottfried Keller
Frau Regel Amrain
Gottfried Keller

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Nachdem Frau Amrain die Beschaffenheit dieses weiblichen Kreises erkannt, wollte sie eben Gott danken, daß ihr Sohn wenigstens auch da nicht zu erblicken sei, als sie noch eine weibliche Gestalt zwischen ihnen entdeckte, die sie im ersten Augenblicke nicht kannte, obgleich sie dieselbe schon gesehen zu haben glaubte. Es war ein großes prächtig gewachsenes Wesen von amazonenhafter Haltung und mit einem kecken blonden Lockenkopfe, das aber hold verschämt und verliebt unter den lustigen Frauen saß und von ihnen sehr aufmerksam behandelt wurde. Beim zweiten Blick erkannte sie jedoch ihren Sohn und ihr violettes Seidenkleid zugleich und sah, wie trefflich ihm dasselbe saß, und mußte sich auch gestehen, daß er ganz geschickt und reizend ausgeputzt sei. Aber im gleichen Augenblicke sah sie auch, wie ihn seine eine Nachbarin küßte, infolge irgendeines Unterhaltungsspieles, das die fröhliche Gesellschaft eben beschäftigte, und wie er gleicherzeit die andere Nachbarin küßte, und nun hielt sie den Zeitpunkt für gekommen, wo sie ihrem Sohne den Dienst, welchen er ihr als fünfjähriges Knäblein geleistet, erwidern konnte.

Sie stieg ungesäumt die Treppe hinunter und trat in das Zimmer, die überraschte Gesellschaft bescheiden und höflich begrüßend. Alles erhob sich verlegen; denn obgleich sie sattsam durchgehechelt wurde in der Stadt, so flößte sie doch Achtung ein, wo sie erschien. Die jungen Männer grüßten sie mit aufrichtig verlegener Ehrerbietung, und um so aufrichtiger, je wilder sie sonst waren; von den Frauen aber wollte keine scheinen, als ob sie mit der achtbarsten Frau der Stadt etwa schlecht stände und nicht mit ihr umzugehen wüßte, weshalb sie sich mit großem Geräusch um sie drängten, als sie sich von ihrer Überraschung etwas erholt. Am verblüfftesten war jedoch Fritz, welcher nicht mehr wußte, wie er sich in dem Kleide seiner Mutter zu gebärden habe; denn dies war jetzt plötzlich sein erster Schrecken und er bezog den ernsten Blick, den sie einstweilen auf ihn geworfen, nur auf die gute Seide dieses Kleides. Andere Bedenken waren noch nicht ernstlich in ihm aufgestiegen, da in der allgemeinen Lust der Scherz zu gewöhnlich und erlaubt schien. Als alle sich wieder gesetzt hatten und nachdem sich Frau Amrain ein Viertelstündchen freundlich mit den jungen Leuten unterhalten, winkte sie ihren Sohn zu sich und sagte ihm, er möchte sie nach Hause begleiten, da sie gehen wolle. Als er sich dazu ganz bereit erklärte, flüsterte sie ihm aber mit strengem Tone zu: »Wenn ich von einem Weibe will begleitet sein, so konnte ich die Grete hier behalten, die mir hergeleuchtet hat! Du wirst so gut sein und erst heimlaufen, um Kleider anzuziehen, die dir besser stehen als diese hier!«

Erst jetzt merkte er, daß die Sache nicht richtig sei; tief errötend machte er sich fort, und als er über die Straße eilte und das rauschende Kleid ihm so ungewohnt gegen die Füße schlug, während der Nachtwächter ihm verdächtig nachsah, merkte er erst recht, daß das eine ungeeignete Tracht wäre für einen jungen Republikaner, in der man niemandem ins Gesicht sehen dürfe. Als er aber, zu Hause angekommen, sich hastig umkleidete, fiel es ihm ein, daß nun die Mutter allein unter dem Volke auf dem Rathause sitze, und dieser Gedanke machte ihn plötzlich und sonderbarerweise so zornig und besorgt um ihre Ehre, daß er sich beeilte nur wieder hinzukommen und sie abzuholen. Auch glaubte er ihr einen rechten Ritterdienst damit zu erweisen, daß er so pünktlich wieder erschien, und alle etwaigen Unebenheiten dadurch aufs schönste ausgeglichen. Frau Amrain aber empfahl sich der Gesellschaft und ging ernst und schweigsam neben ihrem Sohne nach Hause. Dort setzte sie sich seufzend auf ihren gewohnten Sessel und schwieg eine Weile; dann aber stand sie auf, ergriff das daliegende Staatskleid und zerriß es in Stücken, indem sie sagte: »Das kann ich nun wegwerfen, denn tragen werde ich es nie mehr!«

»Warum denn?« sagte Fritz erstaunt und wieder kleinlaut. »Wie werde ich«, erwiderte sie, »ein Kleid ferner tragen, in welchem mein Sohn unter liederlichen Weibern gesessen hat, selber einem gleichsehend?« Und sie brach in Tränen aus und hieß ihn zu Bette gehen. »Hoho«, sagte er, als er ging, »das wird denn doch nicht so gefährlich sein.« Er konnte aber nicht einschlafen, da sein Kopf sowohl von der unterbrochenen Lustbarkeit als von den Worten der Mutter aufgeregt war; es gab also Muße, über die Sache nachzudenken, und er fand, daß die Mutter einigermaßen recht habe; aber er fand dies nur insofern als er selbst die Leute verachtete, mit denen er sich eben vergnügt hatte. Auch fühlte er sich durch diese Auslegung eher geschmeichelt in seinem Stolze, und erst, als die Mutter am Morgen und die folgenden Tage ernst und traurig blieb, kam er dem Grunde der Sache näher. Es wurde kein Wort mehr darüber gesprochen; aber Fritz war für einmal gerettet, denn er schämte sich vor seiner Mutter mehr als vor der ganzen übrigen Welt.

Während einiger Monate fand sie keine Ursache, neue Besorgnisse zu hegen, bis eines Tages, als ein blühendes junges Landmädchen sich einfand, um den Dienst bei ihr nachzusuchen, Fritz dasselbe unverwandt betrachtete und endlich auf es zutrat und, alles andere vergessend, ihm die Wangen streichelte. Er erschrak sogleich selbst darüber und ging hinaus; die Mutter erschrak auch und das Mädchen wurde rot und zornig und wandte sich, ohne weitern Aufenthalt zu gehen. Als Frau Amrain dies sah, hielt sie es zurück und nahm es mit einiger Überredung in ihren Dienst. Nun muß es biegen oder brechen, dachte sie und fühlte gleichzeitig, daß auf dem bisherigen, bloß verneinenden Wege dies Blut sich nicht länger meistern ließ. Sie näherte sich deshalb noch am selben Tage ihrem Sohne, als er mit seinem Vesperbrote sich unter eine schattige Rebenlaube gesetzt hatte hinter dem Hause, von wo man zum Tal hinaus in die Ferne sah nach blauen Höhenstrichen, wo andre Leute wohnten. Sie legte ihren Arm um seine Schultern, sah ihm freundlich in die Augen und sagte: »Lieber Fritz! Sei mir jetzt nur noch zwei oder drei Jährchen brav und gehorsam, und ich will dir das schönste und beste Frauchen verschaffen aus meinem Ort, daß du dir was darauf einbilden kannst!«

Fritz schlug errötend die Augen nieder, wurde ganz verlegen und erwiderte mürrisch: »Wer sagt denn, daß ich eine Frau haben wolle?« – »Du sollst aber eine haben!« versetzte sie, »und, wie ich sage, eine von guter und schöner Art; aber nur wenn du sie verdienst; denn ich werde mich hüten, eine rechtschaffene Tochter hierher ins Elend zu bringen!« Damit küßte sie ihren Sohn, wie sie seit undenklicher Zeit nicht getan, und ging ins Haus zurück.

Es ward ihm aber auf einmal ganz seltsam zumute und von Stund an waren seine Gedanken auf eine solche gute und schöne Frau gerichtet, und diese Gedanken schmeichelten ihm so sehr und beschäftigten ihn so anhaltend, daß er darüber keine Frauensperson in Seldwyla mehr ansah. Die Zärtlichkeit, mit welcher die Mutter ihm solche Ideen beigebracht, gab seinen Wünschen eine innigere und edlere Richtung, und er fühlte sich wohlgeborgen, da man es so gut mit ihm meine. Er wartete aber die zwei Jahre und die Anstalten seiner Mutter nicht ab, sondern fing schon in der nächsten Zeit an, an schönen Sonntagen ins Land hinaus zu gehen und insbesondere in der Heimat der Mutter herumzukreuzen. Er war bis jetzt kaum einmal dort gewesen und wurde von den Verwandten und Freunden seiner Mutter um so freundlicher aufgenommen als sie großes Wohlgefallen an dem hübschen Jüngling fanden und er zudem eine Art Merkwürdigkeit war als ein wohlgeratener, fester und nicht prahlerischer Seldwyler. Er machte sich ordentlich heimisch in jenen Gegenden, was seine Mutter wohl merkte und geschehen ließ; aber sie ahnte nicht, daß er, ehe sie es vermutete, schon in bester Form einen Schatz hatte, der ihm allen von der Mutter ihm gemachten Vorspiegelungen vollkommen zu entsprechen schien. Als sie davon erfuhr, machte sie sich dahinter her, voll Besorgnis, wer es sein möchte, und fand zu ihrer frohen Verwunderung, daß er nun gänzlich auf einem guten Wege sei; denn sie mußte den Geschmack und das Urteil des Sohnes nur loben und ebenso dessen ungetrübte Treue und Fröhlichkeit, mit welcher er dem erwählten Mädchen anhing, so daß sie sich aller weiteren Zucht und aller Listen endlich enthoben sah.

Diese Klippe war unterdessen kaum glücklich umschifft, als sich eine andere zeigte, welche noch gefährlicher zu werden drohte und der Frau Regula abermals Gelegenheit gab, ihre Klugheit zu erproben. Denn die Zeit war nun da, wo Fritz, der Sohn, anfing zu politisieren und damit mehr als durch alles andere in die Gemeinschaft seiner Mitbürger gezogen wurde. Er war ein liberaler Gesell, wegen seiner Jugend, seines Verstandes, seines ruhigen Gewissens in Hinsicht seiner persönlichen Pflichterfüllung und aus anererbtem Mutterwitz. Obgleich man nach gewöhnlicher oberflächlicher Anschauungsweise etwa hätte meinen können, Frau Amrain wäre aristokratischer Gesinnung gewesen, weil sie die meisten Leute verachten mußte, unter denen sie lebte, so war dem doch nicht also; denn höher und feiner als die Verachtung ist die Achtung vor der Welt im ganzen. Wer freisinnig ist, traut sich und der Welt etwas Gutes zu und weiß mannhaft von nichts anderm als daß man hiefür einzustehen vermöge, während der Unfreisinn oder der Konservatismus auf Zaghaftigkeit und Beschränktheit gegründet ist. Diese lassen sich aber schwer mit wahrer Männlichkeit vereinigen. Vor tausend Jahren begann die Zeit, da nur derjenige für einen vollkommenen Helden und Rittersmann galt, der zugleich ein frommer Christ war; denn im Christentum lag damals die Menschlichkeit und Aufklärung. Heute kann man sagen: sei einer so tapfer und resolut als er wolle, wenn er nicht vermag freisinnig zu sein, so ist er kein ganzer Mann. Und die Frau Regula hatte, nachdem sie sich einmal an ihrem Eheherren so getäuscht, zu strenge Regeln in ihrem Geschmack betreffs der Mannestugend angenommen als daß sie eine feste und sichere Freisinnigkeit daran vermissen wollte. Übrigens, als ihr Mann um sie geworben, hatte er in allem Flor eines jugendlichen Radikalismus geglänzt, welchen er freilich mehr in der Weise handhabte wie ein Lehrling die erste silberne Sackuhr.

Abgesehen von diesen Geschmacksgründen aber war sie aus einem Orte gebürtig, wo seit unvordenklichen Zeiten jedermann freisinnig gewesen und der im Laufe der Zeit bei jeder Gelegenheit sich als ein entschlossenes, tatkräftiges und sich gleich bleibendes Bürgernest hervorgetan, so daß, wenn es hieß: die von Soundso haben dies gesagt oder jenes getan! sie gleich einen ganzen Landstrich mitnahmen und einen kräftigen Anstoß gaben. Wenn also Frau Amrain in den Fall kam, ihre Meinung über einen Streit festzustellen, so hörte sie nicht auf das, was die Seldwyler, sondern auf das, was die Leute ihrer Jugendheimat sagten, und richtete ihre Gedanken dorthin.

Alles das waren Gründe genug für Fritz, ein guter Liberaler zu sein, ohne absonderliche Studien gemacht zu haben. Was nun die nächste Gefahr anbelangt, welche da, wo das Wort und die rechtlichen Handlungen frei sind und die Leute sich das Wetter selbst machen, für einen politisch Aufgeregten entsteht, nämlich die Gefahr ein Müßiggänger und Schenkeläufer zu werden, so war dieselbe zu Seldwyla allerdings noch größer als an andern Schweizerorten, welche mit der ganzen alten Welt noch an der gemütlichen ostländischen Weise festhalten, das Wichtigste in breiter halbträumender Ruhe an den Quellen des Getränkes oder bei irgend einem Genusse zu verhandeln und immer wieder zu verhandeln. Und doch sollte das nicht so sein; denn ein gutes Glas in fröhlicher Runde zu trinken ist ein Zweck, ein Lohn oder eine Frucht, und, wenn man das in einem tiefern Sinne nimmt, das Ausüben politischer Rechte bloß ein Mittel, dazu zu gelangen. Indessen war für Fritz diese Gefahr nicht beträchtlich, weil er schon zu sehr an Ordnung und Arbeit gewöhnt war und es ihn gerade zu Seldwyla nicht reizte, den anderen nachzufahren. Größer war schon die Gefahr für ihn, ein Schwätzer und Prahler zu werden, der immer das gleiche sagt und sich selbst gern reden hört; denn in solcher Jugend verführt nichts so leicht dazu als das lebendige Empfinden von Grundsätzen und Meinungen, welche man zur Schau stellen darf ohne Rückhalt, da sie gemeinnützig sind und das Wohl aller betreffen.


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