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Der ethischen Elementarlehre Zweiter Teil.
Von den Tugendpflichten gegen Andere

Erstes Hauptstück.
Von den Pflichten gegen Andere, bloss als Menschen

Erster Abschnitt.
Von der Liebespflicht gegen andere Menschen

 

Einteilung

23

Die oberste Einteilung kann die sein: in Pflichten gegen Andere, so fern du sie durch Leistung derselben zugleich verbindest, und in solche, deren Beobachtung die Verbindlichkeit Anderer nicht zur Folge hat. – Die erstere Leistung ist (respektiv gegen Andere) verdienstlich; die der zweiten ist schuldige Pflicht. – Liebe und Achtung sind die Gefühle, welche die Ausübung dieser Pflichten begleiten. Sie können abgesondert (jede für sich allein) erwogen werden und auch so bestehen ( Liebe des Nächsten, ob dieser gleich wenig Achtung verdienen möchte; imgleichen notwendige Achtung für jeden Menschen, unerachtet er kaum der Liebe wert zu sein beurteilt würde). Sie sind aber im Grunde dem Gesetze nach jederzeit mit einander in einer Pflicht zusammen verbunden; nur so, daß bald die eine Pflicht, bald die andere das Prinzip im Subjekt ausmacht, an welche die andere akzessorisch geknüpft ist. – So werden wir gegen einen Armen wohltätig zu sein uns für verpflichtet erkennen; aber weil diese Gunst doch auch Abhängigkeit seines Wohls von meiner Großmut enthält, die doch den Anderen erniedrigt, so ist es Pflicht, dem Empfänger durch ein Betragen, welches diese Wohltätigkeit entweder als bloße Schuldigkeit oder geringen Liebesdienst vorstellt, die Demütigung zu ersparen und ihm seine Achtung für sich selbst zu erhalten.

 

24

Wenn von Pflichtgesetzen (nicht von Naturgesetzen) die Rede ist und zwar im äußeren Verhältnis der Menschen gegen einander, so betrachten wir uns in einer moralischen (intelligibelen) Welt, in welcher nach der Analogie mit der physischen die Verbindung vernünftiger Wesen (auf Erden) durch Anziehung und Abstoßung bewirkt wird. Vermöge des Prinzips der WECHSELLIEBE sind sie angewiesen sich einander beständig zu nähern, durch das der ACHTUNG, die sie einander schuldig sind, sich im Abstande von einander zu erhalten; und sollte eine dieser großen sittlichen Kräfte sinken, »so würde dann das Nichts (der Immoralität) mit aufgesperrtem Schlund der (moralischen) Wesen ganzes Reich wie einen Tropfen Wasser trinken« (wenn ich mich hier der Worte Hallers, nur in einer andern Beziehung, bedienen darf).

 

25

Die LIEBE wird hier aber nicht als Gefühl (ästhetisch), d. i. als Lust an der Vollkommenheit anderer Menschen, nicht als Liebe des Wohlgefallens, verstanden (denn Gefühle zu haben, dazu kann es keine Verpflichtung durch Andere geben), sondern muß als Maxime des Wohlwollens (als praktisch) gedacht werden, welche das Wohltun zur Folge hat.

Eben dasselbe muß von der gegen Andere zu beweisenden ACHTUNG gesagt werden: daß nämlich nicht bloß das Gefühl aus der Vergleichung unseres eigenen Werts mit dem des Anderen (dergleichen ein Kind gegen seine Eltern, ein Schüler gegen seinen Lehrer, ein Niedriger überhaupt gegen seinen Oberen aus bloßer Gewohnheit fühlt), sondern nur eine Maxime der Einschränkung unserer Selbstschätzung durch die Würde der Menschheit in eines Anderen Person, mithin die Achtung im praktischen Sinne ( observantia aliis praestanda) verstanden wird.

Auch wird die Pflicht der freien Achtung gegen Andere, weil sie eigentlich nur negativ ist (sich nicht über Andere zu erheben) und so der Rechtspflicht, niemanden das Seine zu schmälern, analog, obgleich als bloße Tugendpflicht, verhältnisweise gegen die Liebespflicht für enge, die letztere also als weite Pflicht angesehn.

Die Pflicht der Nächstenliebe kann also auch so ausgedrückt werden: sie ist die Pflicht Anderer ihre Zwecke (so fern diese nur nicht unsittlich sind) zu den meinen zu machen; die Pflicht der Achtung meines Nächsten ist in der Maxime enthalten, keinen anderen Menschen bloß als Mittel zu meinen Zwecken abzuwürdigen (nicht zu verlangen, der Andere solle sich selbst wegwerfen, um meinem Zwecke zu frönen).

Dadurch, daß ich die erstere Pflicht gegen jemand ausübe, verpflichte ich zugleich einen Anderen; ich mache mich um ihn verdient. Durch die Beobachtung der letzteren aber verpflichte ich bloß mich selbst, halte mich in meinen Schranken, um dem Anderen an dem Werte, den er als Mensch in sich selbst zu setzen befugt ist, nichts zu entziehen.

 

Von der Liebespflicht insbesondere

26

Die Menschenliebe (Philanthropie) muß, weil sie hier als praktisch, mithin nicht als Liebe des Wohlgefallens an Menschen gedacht wird, im tätigen Wohlwollen gesetzt werden und betrifft also die Maxime der Handlungen. – Der, welcher am Wohlsein ( salus) der Menschen, so fern er sie bloß als solche betrachtet, Vergnügen findet, dem wohl ist, wenn es jedem Anderen wohlergeht, heißt ein Menschenfreund (Philanthrop) überhaupt. Der, welchem nur wohl ist, wenn es Anderen übel ergeht, heißt Menschenfeind (Misanthrop in praktischem Sinne). Der, welchem es gleichgültig ist, wie es Anderen ergehen mag, wenn es ihm selbst nur wohl geht, ist ein Selbstsüchtiger ( solipsista). – Derjenige aber, welcher Menschen flieht, weil er kein Wohlgefallen an ihnen finden kann, ob er zwar allen wohl will, würde menschenscheu (ästhetischer Misanthrop) und seine Abkehrung von Menschen Anthropophobie genannt werden können.

 

27

Die Maxime des Wohlwollens (die praktische Menschenliebe) ist aller Menschen Pflicht gegen einander, man mag diese nun liebenswürdig finden oder nicht, nach dem ethischen Gesetz der Vollkommenheit: Liebe deinen Nebenmenschen als dich selbst. – Denn alles moralisch-praktische Verhältnis gegen Menschen ist ein Verhältnis derselben in der Vorstellung der reinen Vernunft, d. i. der freien Handlungen nach Maximen, welche sich zur allgemeinen Gesetzgebung qualifizieren, die also nicht selbstsüchtig ( ex solipsismo prodeuntes) sein können. Ich will jedes Anderen Wohlwollen ( benevolentiam) gegen mich; ich soll also auch gegen jeden Anderen wohlwollend sein. Da aber alle Andere außer mir nicht Alle sein, mithin die Maxime nicht die Allgemeinheit eines Gesetzes an sich haben würde, welche doch zur Verpflichtung notwendig ist: so wird das Pflichtgesetz des Wohlwollens mich als Objekt desselben im Gebot der praktischen Vernunft mit begreifen: nicht als ob ich dadurch verbunden würde, mich selbst zu lieben (denn das geschieht ohne das unvermeidlich, und dazu gibts also keine Verpflichtung), sondern die gesetzgebende Vernunft, welche in ihrer Idee der Menschheit überhaupt die ganze Gattung (mich also mit) einschließt, nicht der Mensch, schließt als allgemeingesetzgebend mich in der Pflicht des wechselseitigen Wohlwollens nach dem Prinzip der Gleichheit wie alle Andere neben mir mit ein und erlaubt es dir dir selbst wohlzuwollen, unter der Bedingung, daß du auch jedem Anderen wohl willst: weil so allein deine Maxime (des Wohltuns) sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung qualifiziert, als worauf alles Pflichtgesetz gegründet ist.

 

28

Das Wohlwollen in der allgemeinen Menschenliebe ist nun zwar dem Umfange nach das größte, dem Grade nach aber das kleinste, und wenn ich sage: ich nehme an dem Wohl dieses Menschen nur nach der allgemeinen Menschenliebe Anteil, so ist das Interesse, was ich hier nehme, das kleinste, was nur sein kann. Ich bin in Ansehung desselben nur nicht gleichgültig.

Aber Einer ist mir doch näher als der Andere, und ich bin im Wohlwollen mir selbst der Nächste. Wie stimmt das nun mit der Formel: Liebe deinen Nächsten (deinen Mitmenschen) als dich selbst? Wenn einer mir näher ist (in der Pflicht des Wohlwollens) als der Andere, ich also zum größeren Wohlwollen gegen Einen als gegen den Anderen verbunden, mir selber aber geständlich näher (selbst der Pflicht nach) bin, als jeder Andere, so kann ich, wie es scheint, ohne mir selbst zu widersprechen, nicht sagen: ich soll jeden Menschen lieben wie mich selbst; denn der Maßstab der Selbstliebe würde keinen Unterschied in Graden zulassen. – Man sieht bald: daß hier nicht bloß das Wohlwollen des Wunsches, welches eigentlich ein bloßes Wohlgefallen am Wohl jedes Anderen ist, ohne selbst dazu etwas beitragen zu dürfen (ein jeder für sich; Gott für uns alle), sondern ein tätiges, praktisches Wohlwollen, sich das Wohl und Heil des Anderen zum Zweck zu machen, (das Wohltun) gemeint sei. Denn im Wünschen kann ich allen gleich wohlwollen, aber im Tun kann der Grad nach Verschiedenheit der Geliebten (deren Einer mich näher angeht als der Andere), ohne die Allgemeinheit der Maxime zu verletzen, doch sehr verschieden sein.

 

Einteilung der Liebespflichten

Sie sind: A) Pflichten der Wohltätigkeit, B) der Dankbarkeit, C) der Teilnehmung.

A.
Von der Pflicht der Wohltätigkeit

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Sich selber gütlich tun, so weit als nötig ist, um nur am Leben ein Vergnügen zu finden, (seinen Leib, doch nicht bis zur Weichlichkeit zu pflegen) gehört zu den Pflichten gegen sich selbst; – deren Gegenteil ist: sich aus Geiz (sklavisch) des zum frohen Genuß des Lebens Notwendigen oder aus übertriebener Disziplin seiner natürlichen Neigungen (schwärmerisch) sich des Genusses der Lebensfreuden zu berauben, welches beides der Pflicht des Menschen gegen sich selbst widerstreitet.

Wie kann man aber außer dem Wohlwollen des Wunsches in Ansehung anderer Menschen (welches uns nichts kostet) noch, daß dieses praktisch sei, d. i. das Wohltun in Ansehung der Bedürftigen, jedermann, der das Vermögen dazu hat, als Pflicht ansinnen? – Wohlwollen ist das Vergnügen an der Glückseligkeit (dem Wohlsein) Anderer; Wohltun aber die Maxime, sich dasselbe zum Zweck zu machen, und Pflicht dazu ist die Nötigung des Subjekts durch die Vernunft, diese Maxime als allgemeines Gesetz anzunehmen.

Es fällt nicht von selbst in die Augen: daß ein solches Gesetz überhaupt in der Vernunft liege; vielmehr scheint die Maxime: »Ein jeder für sich, Gott (das Schicksal) für uns alle«, die natürlichste zu sein.

 

30

Wohltätig, d. i. anderen Menschen in Nöten zu ihrer Glückseligkeit, ohne dafür etwas zu hoffen, nach seinem Vermögen beförderlich zu sein, ist jedes Menschen Pflicht.

Denn jeder Mensch, der sich in Not befindet, wünscht, daß ihm von anderen Menschen geholfen werde. Wenn er aber seine Maxime, Anderen wiederum in ihrer Not nicht Beistand leisten zu wollen, laut werden ließe, d. i. sie zum allgemeinen Erlaubnisgesetz machte: so würde ihm, wenn er selbst in Not ist, jedermann gleichfalls seinen Beistand versagen, oder wenigstens zu versagen befugt sein. Also widerstreitet sich die eigennützige Maxime selbst, wenn sie zum allgemeinen Gesetz gemacht würde, d. i. sie ist pflichtwidrig, folglich die gemeinnützige des Wohltuns gegen Bedürftige allgemeine Pflicht der Menschen und zwar darum: weil sie als Mitmenschen, d. i. bedürftige, auf einem Wohnplatz durch die Natur zur wechselseitigen Beihülfe vereinigte vernünftige Wesen, anzusehen sind.

 

31

Wohltun ist für den, der reich (mit Mitteln zur Glückseligkeit Anderer überflüssig, d. i. über sein eigenes Bedürfnis, versehen) ist, von dem Wohltäter fast nicht einmal für seine verdienstliche Pflicht zu halten; ob er zwar dadurch zugleich den Anderen verbindet. Das Vergnügen, was er sich hiemit selbst macht, welches ihm keine Aufopferung kostet, ist eine Art in moralischen Gefühlen zu schwelgen. Auch muß er allen Schein, als dächte er den Anderen hiemit zu verbinden, sorgfältig vermeiden: weil es sonst nicht wahre Wohltat wäre, die er diesem erzeigte, indem er ihm eine Verbindlichkeit (die den letzteren in seinen eigenen Augen immer erniedrigt) auflegen zu wollen äußerte. Er muß sich vielmehr, als durch die Annahme des Anderen selbst verbindlich gemacht, oder beehrt, mithin die Pflicht bloß als seine Schuldigkeit äußeren, wenn er nicht (welches besser ist) seinen Wohltätigkeitsakt ganz im Verborgenen ausübt. – Größer ist diese Tugend, wenn das Vermögen zum Wohltun beschränkt und der Wohltäter stark genug ist, die Übel, welche er Anderen erspart, stillschweigend über sich zu nehmen, wo er alsdann wirklich für moralisch- reich anzusehen ist.

 

Kasuistische Fragen

Wie weit soll man den Aufwand seines Vermögens im Wohltun treiben? Doch wohl nicht bis dahin, daß man zuletzt selbst Anderer Wohltätigkeit bedürftig würde. Wie viel ist die Wohltat wert, die man mit kalter Hand (im Abscheiden aus der Welt durch ein Testament) beweiset? – Kann derjenige, welcher eine ihm durchs Landesgesetz erlaubte Obergewalt über einen übt, dem er die Freiheit raubt, nach seiner eigenen Wahl glücklich zu sein (seinem Erbuntertan eines Guts), kann, sage ich, dieser sich als Wohltäter ansehen, wenn er nach seinen eigenen Begriffen von Glückseligkeit für ihn gleichsam väterlich sorgt? Oder ist nicht vielmehr die Ungerechtigkeit, einen seiner Freiheit zu berauben, etwas der Rechtspflicht überhaupt so Widerstreitendes, daß unter dieser Bedingung auf die Wohltätigkeit der Herrschaft rechnend sich hinzugeben die größte Wegwerfung der Menschheit für den sein würde, der sich dazu freiwillig verstände, und die größte Vorsorge der Herrschaft für den letzteren gar keine Wohltätigkeit sein würde? Oder kann etwa das Verdienst mit der letzteren so groß sein, daß es gegen das Menschenrecht aufgewogen werden könnte? – Ich kann niemand nach meinen Begriffen von Glückseligkeit wohltun (außer unmündigen Kindern oder Gestörten), sondern nach jenes seinen Begriffen, dem ich eine Wohltat zu erweisen denke, indem ich ihm ein Geschenk aufdringe.

Das Vermögen wohlzutun, was von Glücksgütern abhängt, ist größtenteils ein Erfolg aus der Begünstigung verschiedener Menschen durch die Ungerechtigkeit der Regierung, welche eine Ungleichheit des Wohlstandes, die Anderer Wohltätigkeit notwendig macht, einführt. Verdient unter solchen Umständen der Beistand, den der Reiche den Notleidenden erweisen mag, wohl überhaupt den Namen der Wohltätigkeit, mit welcher man sich so gern als Verdienst brüstet?

 

B.
Von der Pflicht der Dankbarkeit

Dankbarkeit ist die Verehrung einer Person wegen einer uns erwiesenen Wohltat. Das Gefühl, was mit dieser Beurteilung verbunden ist, ist das der Achtung gegen den (ihn verpflichtenden) Wohltäter, da hingegen dieser gegen den Empfänger nur als im Verhältnis der Liebe betrachtet wird. – Selbst ein bloßes herzliches Wohlwollen des Anderen ohne physische Folgen verdient den Namen einer Tugendpflicht; welches dann den Unterschied zwischen der tätigen und bloß affektionellen Dankbarkeit begründet.

 

32

Dankbarkeit ist Pflicht, d. i. nicht bloß eine Klugheitsmaxime, durch Bezeugung meiner Verbindlichkeit wegen der mir widerfahrenen Wohltätigkeit den Andern zu mehrerem Wohltun zu bewegen (gratiarum actio est ad plus dandum invitatio); denn dabei bediene ich mich dieser bloß als Mittel zu meinen anderweitigen Absichten; sondern sie ist unmittelbare Nötigung durchs moralische Gesetz, d. i. Pflicht.

Dankbarkeit aber muß auch noch besonders als heilige Pflicht, d. i. als eine solche, deren Verletzung die moralische Triebfeder zum Wohltun in dem Grundsatze selbst vernichten kann (als skandalöses Beispiel), angesehen werden. Denn heilig ist derjenige moralische Gegenstand, in Ansehung dessen die Verbindlichkeit durch keinen ihr gemäßen Akt völlig getilgt werden kann (wobei der Verpflichtete immer noch verpflichtet bleibt). Alle andere ist gemeine Pflicht. – Man kann aber durch keine Vergeltung einer empfangenen Wohltat über dieselbe quittieren: weil der Empfänger den Vorzug des Verdienstes, den der Geber hat, nämlich der Erste im Wohlwollen gewesen zu sein, diesem nie abgewinnen kann. – Aber auch ohne einen solchen Akt (des Wohltuns) ist selbst das bloße herzliche Wohlwollen schon Grund der Verpflichtung zur Dankbarkeit. – Eine dankbare Gesinnung dieser Art wird Erkenntlichkeit genannt.

 

33

Was die Extension dieser Dankbarkeit betrifft, so geht sie nicht allein auf Zeitgenossen, sondern auch auf die Vorfahren, selbst diejenige, die man nicht mit Gewißheit namhaft machen kann. Das ist auch die Ursache, weswegen es für unanständig gehalten wird, die Alten, die als unsere Lehrer angesehen werden können, nicht nach Möglichkeit wider alle Angriffe, Beschuldigungen und Geringschätzung zu verteidigen; wobei es aber ein törichter Wahn ist, ihnen um des Altertums willen einen Vorzug in Talenten und gutem Willen vor den Neueren, gleich als ob die Welt in kontinuierlicher Abnahme ihrer ursprünglichen Vollkommenheit nach Naturgesetzen wäre, anzudichten und alles Neue in Vergleichung damit zu verachten.

Was aber die Intension, d. i. den Grad der Verbindlichkeit zu dieser Tugend, betrifft, so ist er nach dem Nutzen, den der Verpflichtete aus der Wohltat gezogen hat, und der Uneigennützigkeit, mit der ihm diese erteilt worden, zu schätzen. Der mindeste Grad ist, gleiche Dienstleistungen dem Wohltäter, der dieser empfänglich (noch lebend) ist, und, wenn er es nicht ist, Anderen zu erweisen: eine empfangene Wohltat nicht wie eine Last, deren man gern überhoben sein möchte, (weil der so Begünstigte gegen seinen Gönner eine Stufe niedriger steht und dies dessen Stolz kränkt) anzusehen; sondern selbst die Veranlassung dazu als moralische Wohltat aufzunehmen, d. i. als gegebene Gelegenheit, diese Tugend der Menschenliebe, welche mit der Innigkeit der wohlwollenden Gesinnung zugleich Zärtlichkeit des Wohlwollens (Aufmerksamkeit auf den kleinsten Grad derselben in der Pflichtvorstellung) ist, zu verbinden und so die Menschenliebe zu kultivieren.

 

C.
Teilnehmende Empfindung ist überhaupt Pflicht

34

Mitfreude und Mitleid (sympathia moralis) sind zwar sinnliche Gefühle einer (darum ästhetisch zu nennenden) Lust oder Unlust an dem Zustande des Vergnügens sowohl als Schmerzens Anderer (Mitgefühl, teilnehmende Empfindung), wozu schon die Natur in den Menschen die Empfänglichkeit gelegt hat. Aber diese als Mittel zu Beförderung des tätigen und vernünftigen Wohlwollens zu gebrauchen, ist noch eine besondere, obzwar nur bedingte Pflicht unter dem Namen der Menschlichkeit ( humanitas): weil hier der Mensch nicht bloß als vernünftiges Wesen, sondern auch als mit Vernunft begabtes Tier betrachtet wird. Diese kann nun in dem Vermögen und Willen, sich einander in Ansehung seiner Gefühle mitzuteilen ( humanitas practica), oder bloß in der Empfänglichkeit für das gemeinsame Gefühl des Vergnügens oder Schmerzens ( humanitas aesthetica), was die Natur selbst gibt, gesetzt werden. Das erstere ist frei und wird daher teilnehmend genannt ( communio sentiendi liberalis) und gründet sich auf praktische Vernunft: das zweite ist unfrei ( communio sentiendi illiberalis, servilis) und kann mitteilend (wie die der Wärme oder ansteckender Krankheiten), auch Mitleidenschaft heißen: weil sie sich unter neben einander lebenden Menschen natürlicherweise verbreitet. Nur zu dem ersteren gibts Verbindlichkeit.

Es war eine erhabene Vorstellungsart des Weisen, wie ihn sich der Stoiker dachte, wenn er ihn sagen ließ: ich wünsche mir einen Freund, nicht der mir in Armut, Krankheit, in der Gefangenschaft usw. Hülfe leiste, sondern damit ich ihm beistehen und einen Menschen retten könne; und gleichwohl spricht eben derselbe Weise, wenn sein Freund nicht zu retten ist, zu sich selbst: was gehts mich an? d. i. er verwarf die Mitleidenschaft.

In der Tat, wenn ein Anderer leidet und ich mich durch seinen Schmerz, dem ich doch nicht abhelfen kann, auch (vermittelst der Einbildungskraft) anstecken lasse, so leiden ihrer zwei; obzwar das Übel eigentlich (in der Natur) nur Einen trifft. Es kann aber unmöglich Pflicht sein, die Übel in der Welt zu vermehren, mithin auch nicht aus Mitleid wohl zu tun; wie dann dieses auch eine beleidigende Art des Wohltuns sein würde, indem es ein Wohlwollen ausdrückt, was sich auf den Unwürdigen bezieht und Barmherzigkeit genannt wird, und unter Menschen, welche mit ihrer Würdigkeit glücklich zu sein eben nicht prahlen dürfen, respektiv gegen einander gar nicht vorkommen sollte.

 

35

Obzwar aber Mitleid (und so auch Mitfreude) mit Anderen zu haben an sich selbst nicht Pflicht ist, so ist es doch tätige Teilnehmung an ihrem Schicksale und zu dem Ende also indirekte Pflicht, die mitleidige natürliche (ästhetische) Gefühle in uns zu kultivieren und sie als so viele Mittel zur Teilnehmung aus moralischen Grundsätzen und dem ihnen gemäßen Gefühl zu benutzen. – So ist es Pflicht: nicht die Stellen, wo sich Arme befinden, denen das Notwendigste abgeht, umzugehen, sondern sie aufzusuchen, die Krankenstuben, oder die Gefängnisse der Schuldner u. dgl. zu fliehen, um dem schmerzhaften Mitgefühl, dessen man sich nicht erwehren könne, auszuweichen: weil dieses doch einer der in uns von der Natur gelegten Antriebe ist, dasjenige zu tun, was die Pflichtvorstellung für sich allein nicht ausrichten würde.

 

Kasuistische Fragen

Würde es mit dem Wohl der Welt überhaupt nicht besser stehen, wenn alle Moralität der Menschen nur auf Rechtspflichten, doch mit der größten Gewissenhaftigkeit eingeschränkt, das Wohlwollen aber unter die Adiaphora gezählt würde? Es ist nicht so leicht zu übersehen, welche Folge es auf die Glückseligkeit der Menschen haben dürfte. Aber in diesem Fall würde es doch wenigstens an einer großen moralischen Zierde der Welt, nämlich der Menschenliebe, fehlen, welche also für sich, auch ohne die Vorteile (der Glückseligkeit) zu berechnen, die Welt als ein schönes moralisches Ganze in ihrer ganzen Vollkommenheit darzustellen erfordert wird.

Dankbarkeit ist eigentlich nicht Gegenliebe des Verpflichteten gegen den Wohltäter, sondern Achtung vor demselben. Denn der allgemeinen Nächstenliebe kann und muß Gleichheit der Pflichten zum Grunde gelegt werden; in der Dankbarkeit aber steht der Verpflichtete um eine Stufe niedriger als sein Wohltäter. Sollte das nicht die Ursache so mancher Undankbarkeit sein, nämlich der Stolz, einen über sich zu sehen; der Widerwille, sich nicht in völlige Gleichheit (was die Pflichtverhältnisse betrifft) mit ihm setzen zu können?

 

Von den der Menschenliebe gerade (contrarie) entgegengesetzten Lastern des Menschenhasses

36

Sie machen die abscheuliche Familie des Neides, der Undankbarkeit und der Schadenfreude aus. – Der Haß ist aber hier nicht offen und gewalttätig, sondern geheim und verschleiert, welches zu der Pflichtvergessenheit gegen seinen Nächsten noch Niederträchtigkeit hinzutut und so zugleich die Pflicht gegen sich selbst verletzt.

a) Der Neid (livor), als Hang das Wohl Anderer mit Schmerz wahrzunehmen, obzwar dem seinigen dadurch kein Abbruch geschieht, der, wenn er zur Tat (jenes Wohl zu schmälern) ausschlägt, qualifizierter Neid, sonst aber nur Mißgunst (invidentia) heißt, ist doch nur eine indirekt-bösartige Gesinnung, nämlich ein Unwille, unser eigen Wohl durch das Wohl Anderer in Schatten gestellt zu sehen, weil wir den Maßstab desselben nicht in dessen innerem Wert, sondern nur in der Vergleichung mit dem Wohl Anderer zu schätzen und diese Schätzung zu versinnlichen wissen. – Daher spricht man auch wohl von einer beneidungswürdigen Eintracht und Glückseligkeit in einer Ehe oder Familie usw.; gleich als ob es in manchen Fällen erlaubt wäre, jemanden zu beneiden. Die Regungen des Neides liegen also in der Natur des Menschen, und nur der Ausbruch derselben macht sie zu dem scheußlichen Laster einer grämischen, sich selbst folternden und auf Zerstörung des Glücks Anderer wenigstens dem Wunsche nach gerichteten Leidenschaft, ist mithin der Pflicht des Menschen gegen sich selbst sowohl, als gegen Andere entgegengesetzt.

b) Undankbarkeit gegen seinen Wohltäter, welche, wenn sie gar so weit geht, seinen Wohltäter zu hassen, qualifizierte Undankbarkeit, sonst aber bloß Unerkenntlichkeit heißt, ist ein zwar im öffentlichen Urteile höchst verabscheutes Laster, gleichwohl ist der Mensch desselben wegen so berüchtigt, daß man es nicht für unwahrscheinlich hält, man könne sich durch erzeigte Wohltaten wohl gar einen Feind machen. – Der Grund der Möglichkeit eines solchen Lasters liegt in der mißverstandenen Pflicht gegen sich selbst, die Wohltätigkeit Anderer, weil sie uns Verbindlichkeit gegen sie auferlegt, nicht zu bedürfen und aufzufordern, sondern lieber die Beschwerden des Lebens selbst zu ertragen, als Andere damit zu belästigen, mithin dadurch bei ihnen in Schulden (Verpflichtung) zu kommen: weil wir dadurch auf die niedere Stufe des Beschützten gegen seinen Beschützer zu geraten fürchten; welches der echten Selbstschätzung (auf die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person stolz zu sein) zuwider ist. Daher Dankbarkeit gegen die, die uns im Wohltun unvermeidlich zuvor kommen mußten, (gegen Vorfahren im Angedenken, oder gegen Eltern) freigebig, die aber gegen Zeitgenossen nur kärglich, ja, um dieses Verhältnis der Ungleichheit unsichtbar zu machen, wohl gar das Gegenteil derselben bewiesen wird. – Dieses ist aber alsdann ein die Menschheit empörendes Laster, nicht bloß des Schadens wegen, den ein solches Beispiel Menschen überhaupt zuziehen muß, von fernerer Wohltätigkeit abzuschrecken (denn diese können mit ächtmoralischer Gesinnung eben in der Verschmähung alles solchen Lohns ihrem Wohltun nur einen desto größeren inneren moralischen Wert setzen): sondern weil die Menschenliebe hier gleichsam auf den Kopf gestellt und der Mangel der Liebe gar in die Befugnis, den Liebenden zu hassen, verunedelt wird.

c) Die Schadenfreude, welche das gerade Umgekehrte der Teilnehmung ist, ist der menschlichen Natur auch nicht fremd; wiewohl, wenn sie so weit geht, das Übel oder Böses selbst bewirken zu helfen, sie als qualifizierte Schadenfreude den Menschenhaß sichtbar macht und in ihrer Gräßlichkeit erscheint. Sein Wohlsein und selbst sein Wohlverhalten stärker zu fühlen, wenn Unglück oder Verfall Anderer in Skandale gleichsam als die Folie unserem eigenen Wohlstande untergelegt wird, um diesen in ein desto helleres Licht zu stellen, ist freilich nach Gesetzen der Einbildungskraft, nämlich des Kontrastes, in der Natur gegründet. Aber über die Existenz solcher das allgemeine Weltbeste zerstörenden Enormitäten unmittelbar sich zu freuen, mithin dergleichen Eräugnisse auch wohl zu wünschen, ist ein geheimer Menschenhaß und das gerade Widerspiel der Nächstenliebe, die uns als Pflicht obliegt. – Der Übermut Anderer bei ununterbrochenem Wohlergehen und der Eigendünkel im Wohlverhalten (eigentlich aber nur im Glück, der Verleitung zum öffentlichen Laster noch immer entwischt zu sein), welches beides der eigenliebige Mensch sich zum Verdienst anrechnet, bringen diese feindselige Freude hervor, die der Pflicht nach dem Prinzip der Teilnehmung (des ehrlichen Chremes beim Terenz): »Ich bin ein Mensch; Alles, was Menschen widerfährt, das trifft auch mich« gerade entgegengesetzt ist.

Von dieser Schadenfreude ist die süßeste und noch dazu mit dem Schein des größten Rechts, ja wohl gar der Verbindlichkeit (als Rechtsbegierde), den Schaden Anderer auch ohne eigenen Vorteil sich zum Zweck zu machen, die Rachbegierde.

Eine jede das Recht eines Menschen kränkende Tat verdient Strafe, wodurch das Verbrechen an dem Täter gerächt (nicht bloß der zugefügte Schade ersetzt) wird. Nun ist aber Strafe nicht ein Akt der Privatautorität des Beleidigten, sondern eines von ihm unterschiedenen Gerichtshofes, der den Gesetzen eines Oberen über Alle, die demselben unterworfen sind, Effekt gibt, und wenn wir die Menschen (wie es in der Ethik notwendig ist) in einem rechtlichen Zustande, aber nach bloßen Vernunftgesetzen (nicht nach bürgerlichen) betrachten, so hat niemand die Befugnis Strafen zu verhängen und von Menschen erlittene Beleidigung zu rächen, als der, welcher auch der oberste moralische Gesetzgeber ist, und dieser allein (nämlich Gott) kann sagen: »Die Rache ist mein; ich will vergelten.« Es ist also Tugendpflicht nicht allein selbst bloß aus Rache die Feindseligkeit Anderer nicht mit Haß zu erwidern, sondern selbst nicht einmal den Weltrichter zur Rache aufzufordern; teils weil der Mensch von eigener Schuld genug auf sich sitzen hat, um der Verzeihung selbst sehr zu bedürfen, teils und zwar vornehmlich, weil keine Strafe, von wem es auch sei, aus Haß verhängt werden darf. – Daher ist Versöhnlichkeit ( placabilitas) Menschenpflicht; womit doch die sanfte Duldsamkeit der Beleidigungen ( mitis iniuriarum patientia) nicht verwechselt werden muß, als Entsagung auf harte ( rigorosa) Mittel, um der fortgesetzten Beleidigung Anderer vorzubeugen; denn das wäre Wegwerfung seiner Rechte unter die Füße Anderer und Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst.

Anmerkung. Alle Laster, welche selbst die menschliche Natur hassenswert machen würden, wenn man sie (als qualifiziert) in der Bedeutung von Grundsätzen nehmen wollte, sind inhuman, objektiv betrachtet, aber doch menschlich, subjektiv erwogen: d. i. wie die Erfahrung uns unsere Gattung kennen lehrt. Ob man also zwar einige derselben in der Heftigkeit des Abscheues teuflisch nennen möchte, so wie ihr Gegenstück Engelstugend genannt werden könnte: so sind beide Begriffe doch nur Ideen von einem Maximum, als Maßstab zum Behuf der Vergleichung des Grades der Moralität gedacht, indem man dem Menschen seinen Platz im Himmel oder der Hölle anweiset, ohne aus ihm ein Mittelwesen, was weder den einen dieser Plätze, noch den anderen einnimmt, zu machen. Ob es Haller mit seinem »zweideutig Mittelding von Engeln und von Vieh« besser getroffen habe, mag hier unausgemacht bleiben. Aber das Halbieren in einer Zusammenstellung heterogener Dinge führt auf gar keinen bestimmten Begriff, und zu diesem kann uns in der Ordnung der Wesen nach ihrem uns unbekannten Klassenunterschiede nichts hinleiten. Die erstere Gegeneinanderstellung (von Engelstugend und teuflischem Laster) ist Übertreibung. Die zweite, obzwar Menschen, leider! auch in viehische Laster fallen, berechtigt doch nicht eine zu ihrer Spezies gehörige Anlage dazu ihnen beizulegen, so wenig als die Verkrüppelung einiger Bäume im Walde ein Grund ist, sie zu einer besondern Art von Gewächsen zu machen.

 

Zweiter Abschnitt.
Von den Tugendpflichten gegen andere Menschen aus der ihnen gebührenden Achtung

37

Mäßigung in Ansprüchen überhaupt, d. i. freiwillige Einschränkung der Selbstliebe eines Menschen durch die Selbstliebe Anderer, heißt Bescheidenheit; der Mangel dieser Mäßigung (Unbescheidenheit) in Ansehung der Würdigkeit von Anderen geliebt zu werden die Eigenliebe ( philautia). Die Unbescheidenheit der Forderung aber, von Anderen GEACHTET zu werden, ist der Eigendünkel ( arrogantia). Achtung, die ich für andere trage, oder die ein Anderer von mir fordern kann ( observantia aliis praestanda), ist also die Anerkennung einer Würde ( dignitas) an anderen Menschen, d. i. eines Werts, der keinen Preis hat, kein Äquivalent, wogegen das Objekt der Wertschätzung ( aestimii) ausgetauscht werden könnte. – Die Beurteilung eines Dinges als eines solchen, das keinen Wert hat, ist die Verachtung.

 

38

Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden Anderen verbunden.

Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von Anderen noch sogar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle andere Weltwesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt. Gleichwie er also sich selbst für keinen Preis weggeben kann (welches der Pflicht der Selbstschätzung widerstreiten würde), so kann er auch nicht der eben so notwendigen Selbstschätzung Anderer als Menschen entgegen handeln, d. i. er ist verbunden, die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen, mithin ruht auf ihm eine Pflicht, die sich auf die jedem anderen Menschen notwendig zu erzeigende Achtung bezieht.

 

39

Andere verachten ( contemnere), d. i. ihnen die dem Menschen überhaupt schuldige Achtung weigern, ist auf alle Fälle pflichtwidrig; denn es sind Menschen. Sie vergleichungsweise mit Anderen innerlich geringschätzen ( despicatui habere) ist zwar, bisweilen unvermeidlich, aber die äußere Bezeigung der Geringschätzung ist doch Beleidigung. – Was gefährlich ist, ist kein Gegenstand der Verachtung, und so ist es auch nicht der Lasterhafte; und wenn die Überlegenheit über die Angriffe desselben mich berechtigt zu sagen: ich verachte jenen, so bedeutet das nur so viel, als: es ist keine Gefahr dabei, wenn ich gleich gar keine Verteidigung gegen ihn veranstaltete, weil er sich in seiner Verworfenheit selbst darstellt. Nichts desto weniger kann ich selbst dem Lasterhaften als Menschen nicht alle Achtung versagen, die ihm wenigstens in der Qualität eines Menschen nicht entzogen werden kann; ob er zwar durch seine Tat sich derselben unwürdig macht. So kann es schimpfliche, die Menschheit selbst entehrende Strafen geben (wie das Vierteilen, von Hunden zerreißen lassen, Nasen und Ohren abschneiden), die nicht bloß dem Ehrliebenden (der auf Achtung Anderer Anspruch macht, was ein jeder tun muß) schmerzhafter sind, als der Verlust der Güter und des Lebens, sondern auch dem Zuschauer Schamröte abjagen, zu einer Gattung zu gehören, mit der man so verfahren darf.

Anmerkung. Hierauf gründet sich eine Pflicht der Achtung für den Menschen selbst im logischen Gebrauch seiner Vernunft: die Fehltritte derselben nicht unter dem Namen der Ungereimtheit, des abgeschmackten Urteils u. dgl. zu rügen, sondern vielmehr voraus zu setzen, daß in demselben doch etwas Wahres sein müsse, und dieses heraus zu suchen; dabei aber auch zugleich den trüglichen Schein (das Subjektive der Bestimmungsgründe des Urteils, was durch ein Versehen für objektiv gehalten wurde) aufzudecken und so, indem man die Möglichkeit zu irren erklärt, ihm noch die Achtung für seinen Verstand zu erhalten. Denn spricht man seinem Gegner in einem gewissen Urteile durch jene Ausdrücke allen Verstand ab, wie will man ihn dann darüber verständigen, daß er geirrt habe? – Eben so ist es auch mit dem Vorwurf des Lasters bewandt, welcher nie zur völligen Verachtung und Absprechung alles moralischen Werts des Lasterhaften ausschlagen muß: weil er nach dieser Hypothese auch nie gebessert werden könnte; welches mit der Idee eines Menschen, der als solcher (als moralisches Wesen) nie alle Anlage zum Guten einbüßen kann, unvereinbar ist.

 

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Die Achtung vor dem Gesetze, welche subjektiv als moralisches Gefühl bezeichnet wird, ist mit dem Bewußtsein seiner Pflicht einerlei. Eben darum ist auch die Bezeigung der Achtung vor dem Menschen als moralischen (seine Pflicht höchstschätzenden) Wesen selbst eine Pflicht, die Andere gegen ihn haben, und ein Recht, worauf er den Anspruch nicht aufgeben kann. – Man nennt diesen Anspruch Ehrliebe, deren Phänomen im äußeren Betragen Ehrbarkeit ( honestas externa), der Verstoß dawider aber Skandal heißt: ein Beispiel der Nichtachtung derselben, das Nachfolge bewirken dürfte, welches zu geben zwar höchst pflichtwidrig, aber am bloß Widersinnischen ( paradoxem), sonst an sich Guten zu nehmen, ein Wahn (da man das Nichtgebräuchliche auch für nicht erlaubt hält), ein der Tugend gefährlicher und verderblicher Fehler ist. – Denn die schuldige Achtung für andere ein Beispiel gebende Menschen kann nicht bis zur blinden Nachahmung (da der Gebrauch, mos, zur Würde eines Gesetzes erhoben wird) ausarten; als welche Tyrannei der Volkssitte der Pflicht des Menschen gegen sich selbst zuwider sein würde.

 

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Die Unterlassung der bloßen Liebespflichten ist Untugend ( peccatum). Aber die Unterlassung der Pflicht, die aus der schuldigen Achtung für jeden Menschen überhaupt hervorgeht, ist Laster ( vitium). Denn durch die Verabsäumung der ersteren wird kein Mensch beleidigt; durch die Unterlassung aber der zweiten geschieht dem Menschen Abbruch in Ansehung seines gesetzmäßigen Anspruchs. – Die erstere Übertretung ist das Pflichtwidrige des Widerspiels ( contrarie oppositum virtutis). Was aber nicht allein keine moralische Zutat ist, sondern sogar den Wert derjenigen, die sonst dem Subjekt zugute kommen würde, aufhebt, ist Laster.

Eben darum werden auch die Pflichten gegen den Nebenmenschen aus der ihm gebührenden Achtung nur negativ ausgedrückt, d. i. diese Tugendpflicht wird nur indirekt (durch das Verbot des Widerspiels) ausgedrückt werden.

 

Von den die Pflicht der Achtung für andere Menschen verletzenden Lastern

Diese Laster sind: A) der Hochmut, B) das Afterreden und C) die Verhöhnung.

A.
Der Hochmut

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Der Hochmut ( superbia und, wie dieses Wort es ausdrückt, die Neigung immer oben zu schwimmen) ist eine Art von Ehrbegierde ( ambitio), nach welcher wir anderen Menschen ansinnen, sich selbst in Vergleichung mit uns gering zu schätzen, und ist also ein der Achtung, worauf jeder Mensch gesetzmäßigen Anspruch machen kann, widerstreitendes Laster.

Er ist vom STOLZ ( animus elatus) als Ehrliebe, d. i. Sorgfalt seiner Menschenwürde in Vergleichung mit Anderen nichts zu vergeben, (der daher auch mit dem Beiwort des edlen belegt zu werden pflegt) unterschieden; denn der Hochmut verlangt von Andern eine Achtung, die er ihnen doch verweigert. – Aber dieser Stolz selbst wird doch zum Fehler und Beleidigung, wenn er auch bloß ein Ansinnen an Andere ist, sich mit seiner Wichtigkeit zu beschäftigen.

Daß der Hochmut, welcher gleichsam eine Bewerbung des Ehrsüchtigen um Nachtreter ist, und denen verächtlich zu begegnen er sich berechtigt glaubt, ungerecht und der schuldigen Achtung für Menschen überhaupt widerstreitend sei: daß er Torheit, d. i. Eitelkeit im Gebrauch der Mittel zu etwas, was in einem gewissen Verhältnisse gar nicht den Wert hat, um Zweck zu sein, ja daß er sogar Narrheit, d. i. ein beleidigender Unverstand sei, sich solcher Mittel, die an Anderen gerade das Widerspiel seines Zwecks hervorbringen müssen, zu bedienen (denn dem Hochmütigen weigert ein jeder um desto mehr seine Achtung, je bestrebter er sich darnach bezeigt), – dies alles ist für sich klar. Weniger möchte doch angemerkt worden sein: daß der Hochmütige jederzeit im Grunde seiner Seele niederträchtig ist. Denn er würde Anderen nicht ansinnen, sich selbst in Vergleichung mit ihm gering zu halten, fände er nicht bei sich, daß, wenn ihm das Glück umschlüge, er es gar nicht hart finden würde, nun seinerseits auch zu kriechen und auf alle Achtung Anderer Verzicht zu tun.

 

B.
Das Afterreden

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Die übele Nachrede ( obtrectatio) oder das Afterreden, worunter ich nicht die Verleumdung ( contumelia), eine falsche, vor Recht zu ziehende Nachrede, sondern bloß die unmittelbare, auf keine besondere Absicht angelegte Neigung verstehe, etwas der Achtung für Andere Nachteiliges ins Gerücht zu bringen, ist der schuldigen Achtung gegen die Menschheit überhaupt zuwider: weil jedes gegebene Skandal diese Achtung, auf welcher doch der Antrieb zum Sittlichguten beruht, schwächt und so viel möglich gegen sie ungläubisch macht.

Die geflissentliche Verbreitung ( propalatio) desjenigen die Ehre eines Andern Schmälernden, was auch nicht zur öffentlichen Gerichtsbarkeit gehört, es mag übrigens auch wahr sein, ist Verringerung der Achtung für die Menschheit überhaupt, um endlich auf unsere Gattung selbst den Schatten der Nichtswürdigkeit zu werfen und Misanthropie (Menschenscheu) oder Verachtung zur herrschenden Denkungsart zu machen, oder sein moralisches Gefühl durch den öfteren Anblick derselben abzustumpfen und sich daran zu gewöhnen. Es ist also Tugendpflicht, statt einer hämischen Lust an der Bloßstellung der Fehler Anderer, um sich dadurch die Meinung, gut, wenigstens nicht schlechter als alle andere Menschen zu sein, zu sicheren, den Schleier der Menschenliebe nicht bloß durch Milderung unserer Urteile, sondern auch durch Verschweigung derselben über die Fehler Anderer zu werfen: weil Beispiele der Achtung, welche uns Andere geben, auch die Bestrebung rege machen können sie gleichmäßig zu verdienen. – Um deswillen ist die Ausspähungssucht der Sitten Anderer ( allotrio-episcopia) auch für sich selbst schon ein beleidigender Vorwitz der Menschenkunde, welchem jedermann sich mit Recht als Verletzung der ihm schuldigen Achtung widersetzen kann.

 

C.
Die Verhöhnung

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Die leichtfertige Tadelsucht und der Hang Andere zum Gelächter bloß zu stellen, die Spottsucht, um die Fehler eines Anderen zum unmittelbaren Gegenstande seiner Belustigung zu machen, ist Bosheit und von dem Scherz, der Vertraulichkeit unter Freunden, sie nur zum Schein als Fehler, in der Tat aber als Vorzüge des Muts, bisweilen auch außer der Regel der Mode zu sein, zu belachen (welches dann kein Hohnlachen ist), gänzlich unterschieden. Wirkliche Fehler aber, oder, gleich als ob sie wirklich wären, angedichtete, welche die Person ihrer verdienten Achtung zu berauben abgezweckt sind, dem Gelächter bloß zu stellen, und der Hang dazu, die bittere Spottsucht ( spiritus causticus), hat etwas von teuflischer Freude an sich und ist darum eben eine desto härtere Verletzung der Pflicht der Achtung gegen andere Menschen.

Hievon ist doch die scherzhafte, wenn gleich spottende Abweisung der beleidigenden Angriffe eines Gegners mit Verachtung ( retorsio iocosa) unterschieden, wodurch der Spötter (oder überhaupt ein schadenfroher, aber kraftloser Gegner) gleichmäßig verspottet wird, und rechtmäßige Verteidigung der Achtung, die er von jenem fordern kann. Wenn aber der Gegenstand eigentlich kein Gegenstand für den Witz, sondern ein solcher ist, an welchem die Vernunft notwendig ein moralisches Interesse nimmt, so ist es, der Gegner mag noch so viel Spötterei ausgestoßen, hiebei aber auch selbst zugleich noch so viel Blößen zum Belachen gegeben haben, der Würde des Gegenstandes und der Achtung für die Menschheit angemessener, dem Angriffe entweder gar keine oder eine mit Würde und Ernst geführte Verteidigung entgegen zu setzen.

Anmerkung. Man wird wahrnehmen, daß unter dem vorhergehenden Titel nicht sowohl Tugenden angepriesen, als vielmehr die ihnen entgegenstehende Laster getadelt werden; das liegt aber schon in dem Begriffe der Achtung, so wie wir sie gegen andere Menschen zu beweisen verbunden sind, welche nur eine negative Pflicht ist. – Ich bin nicht verbunden Andere (bloß als Menschen betrachtet) zu verehren, d. i. ihnen positive Hochachtung zu beweisen. Alle Achtung, zu der ich von Natur verbunden bin, ist die vor dem Gesetz überhaupt ( reverere legem), und dieses, nicht aber andere Menschen überhaupt zu verehren ( reverentia adversus hominem), oder hierin ihnen etwas zu leisten, ist allgemeine und unbedingte Menschenpflicht gegen Andere, welche als die ihnen ursprünglich schuldige Achtung ( observantia debita) von jedem gefordert werden kann.

Die verschiedene Andern zu beweisende Achtung nach Verschiedenheit der Beschaffenheit der Menschen, oder ihrer zufälligen Verhältnisse, nämlich der des Alters, des Geschlechts, der Abstammung, der Stärke oder Schwäche, oder gar des Standes und der Würde, welche zum Teil auf beliebigen Anordnungen beruhen, darf in metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre nicht ausführlich dargestellt und klassifiziert werden, da es hier nur um die reine Vernunftprinzipien derselben zu tun ist.

Zweites Hauptstück.
Von den ethischen Pflichten der Menschen gegen einander in Ansehung ihres Zustandes

 

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Diese (Tugendpflichten) können zwar in der reinen Ethik keinen Anlaß zu einem besondern Hauptstück im System derselben geben; denn sie enthalten nicht Prinzipien der Verpflichtung der Menschen als solcher gegen einander und können also von den metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre eigentlich nicht einen Teil abgeben, sondern sind nur nach Verschiedenheit der Subjekte der Anwendung des Tugendprinzips (dem Formale nach) auf in der Erfahrung vorkommende Fälle (das Materiale) modifizierte Regeln, weshalb sie auch wie alle empirische Einteilungen keine gesichert-vollständige Klassifikation zulassen. Indessen gleichwie von der Metaphysik der Natur zur Physik ein Überschritt, der seine besondern Regeln hat, verlangt wird: so wird der Metaphysik der Sitten ein Ähnliches mit Recht angesonnen: nämlich durch Anwendung reiner Pflichtprinzipien auf Fälle der Erfahrung jene gleichsam zu schematisieren und zum moralisch-praktischen Gebrauch fertig darzulegen. – Welches Verhalten also gegen Menschen, z. B. in der moralischen Reinigkeit ihres Zustandes, oder in ihrer Verdorbenheit; welches im kultivierten, oder rohen Zustande; was den Gelehrten oder Ungelehrten und jenen im Gebrauch ihrer Wissenschaft als umgänglichen (geschliffenen), oder in ihrem Fach unumgänglichen Gelehrten (Pedanten), pragmatischen, oder mehr auf Geist und Geschmack ausgehenden; welches nach Verschiedenheit der Stände, des Alters, des Geschlechts, des Gesundheitszustandes, des der Wohlhabenheit oder Armut usw. zukomme: das gibt nicht so vielerlei Arten der ethischen Verpflichtung (denn es ist nur eine, nämlich die der Tugend überhaupt), sondern nur Arten der Anwendung (Porismen) ab; die also nicht, als Abschnitte der Ethik und Glieder der Einteilung eines Systems (das a priori aus einem Vernunftbegriffe hervorgehen muß), aufgeführt, sondern nur angehängt werden können. – Aber eben diese Anwendung gehört zur Vollständigkeit der Darstellung desselben.


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