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Der Wolfshund des Herrn Krabarty

1. Kapitel.

... Sie denken, wir fanden daheim den vielnamigen Herrn Gisbert Parnack vor, den Verwandlungskünstler, den Verbrecher der neuen Zeit, den Typ des modernen Bekämpfers von Gesetz und fremdem Eigentum ...?!

Weit gefehlt!

Einen Brief, Adresse mit Bleistift flüchtig hingeworfen, fanden wir.

Berlin, 14. 5. 22. morgens 2 Uhr 30.

Sehr geehrter Herr Harst, ich habe eine halbe Stunde hier auf Sie gewartet. Ich kam heute früh kurz nach ein Uhr nach Hanse. Als ich das Licht in meinem Schlafzimmer (ich bin Junggeselle) eingeschaltet hatte, sah ich mich einem Menschen im Radlerkostüm gegenüber, der mit einer Pistole aus mich anschlug. Es war jener Parnack, der die Aufzeichnungen des Großherzogs von Sorringen gefunden hat. Um es gleich zu sagen: er hat sie wirklich gefunden! Das Geheimfach im Schreibtisch der Rätin ist Ihnen entgangen. Parnack hat mir alles mitgeteilt, was vorgefallen ist. Wie er aus dem Obstkahn entkam, verschwieg er. Er ist dann sofort bei mir eingedrungen, vom Dach aus über die Balkons durch eine eingedrückte Scheibe. Er erklärte zynisch, er sei nun von allen Barmitteln entblößt. Er forderte von mir eine Anzahlung für das Tagebuch des Großherzogs. Ich mußte ihm eine Million aushändigen Er zeigte mir drei Seiten aus den Aufzeichnungen. Er verlangte von mir, daß ich Sie, Herr Harst, unbedingt anweisen müßte, sich um diese Angelegenheit nicht mehr zu bemühen. Ich ziehe also meinen Auftrag hiermit zurück.

Ich bin mit vorzüglicher Hochachtung
Ihr ergebener
Graf Schink-Barnfeld.

P. S. Ich bitte obiges streng diskret, auch der Polizei gegenüber, zu behandeln.

Harst zuckte die Achseln.

Wenn es stimmt, daß Parnack die Aufzeichnungen besitzt, hat er sie anderswo gestohlen. Der Schreibtisch der Rätin enthält kein Geheimfach. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. – Jetzt wollen wir schlafen gehen. Ich rate Dir, die Eisenläden Deines Schlafzimmers zu schließen und auch die Tür von innen gut zu verriegeln.«

Ich schlief bis elf Uhr vormittags, fand Harald hinten im Gemüsegarten, wo er in die Maulwurfsgänge mit Karbol getränkte Lappen hineinstopfte.

»Was Neues?« fragte ich.

»Ja. Bechert hat angeläutet. Der Kahn des Herrn Tscheskowitz ist nochmals gründlich durchsucht worden. Man hat da in verschiedenen Verstecken eine Menge Diebesgut gefunden, das Tagebuch jedoch auch jetzt nicht. Der Obstkahnbesitzer hat zum Beispiel während des Transports nach dem Präsidium einen Zettel heimlich wegzuwerfen versucht, obwohl die Aufschrift ganz harmlos ist. Ich ließ mir von Bechert den Inhalt des Zettels diktieren. – Hier – lies mal.«

Ich las:

Ring heute erhalten, muß leider wohl schleunigst umgearbeitet werden. Sofort muß dies nach meiner Ansicht, Heimkehr vorausgesetzt, vielleicht kalt oder anderswie gemacht – durch Hämmern – werden.

»Hm,« meinte ich. »Darin ist natürlich ein anderer Sinn verborgen. Der Schluß mit der merkwürdigen Stellung der Worte gibt zu denken.«

»Falls es nicht ungeschicktes Deutsch Gisbert Parnacks ist. Denn der Originalzettel, den Tscheskowitz wegwerfen wollte, stammt von Parnack, wie Bechert betonte.«

Ich lächelte Harald an. »Du willst mich aufs Glatteis führen! Du weißt doch am allerbesten, daß diese Geschichte von dem Ringe, der umgearbeitet werden muß, nur die Hülle für einen recht gefährlichen Kern ist, eben eine Geheimschrift. Schade, daß Du das Original nicht hast. Vielleicht würdest Du ...«

»Nicht nötig, das Original, lieber Alter.«

»Wie – Du hast den wahren Inhalt schon ...«

»Hast Du schon gefrühstückt?« unterbrach er mich. »Ja? – Wir verreisen. Nur bis Kiel. Ein Katzensprung. Ich habe vorhin Kommerzienrat Kammler angerufen. Er stellt uns seinen Reisewagen zur Verfügung. Mit der Bahn ist's mir zu unsicher. Wir beide wollen doch noch ein paar Jährchen leben. Aber – Parnack will das nicht. Dieser Rohrpostbrief kam um zehn. Da war ich schon zwei Stunden auf.«

Ich vergaß das Rauchen.

Parnack schrieb:

Herr Harst, die Schonzeit ist nun vorbei. Daß Sie mir die Milliarden wieder abgenommen haben, vergesse ich Ihnen nie! Ich wollte mich mit den Milliarden ins Privatleben zurückziehen. Sie sind es, der mich jetzt auf neue Taten sinnen läßt. – Gisbert Parnack.

»Die eisige Kälte, die durch diese Zeilen weht, warnt mich.« sagte Harald. »Komm', ziehen wir uns an. Wir nehmen keinerlei Gepäck mit. Und wir tragen das Kostüm für alle Fälle unter dem Straßenanzug.«

Um zwölf Uhr schlenderten wir, als ob wir lediglich einen Spaziergang vorhätten, die Blücherstraße nach links hinab, wo sie sehr bald in das freie Laubengelände übergeht. An der Ecke der Gladbacher Straße stand ein großes Tourenauto.

Wir hatten die Augen überall gehabt. Wir sahen nur einen Laternenreiniger von Laterne zu Laterne radelte, auf seine leichte Leiter kletterte und mit dem Putzen der Scheiben überraschend schnell fertig wurde.

Das war der einige Mensch, der uns gefolgt war und der uns nicht ganz einwandfrei erschien.

Als wir rasch den Kraftwagen bestiegen hatten, als der Chauffeur des Kommerzienrats uns freundlichst als alte, interessante Bekannte mit einer respektvollen Vertraulichkeit begrüßt hatte, die auf einige gemeinsame Abenteuer zurückzuführen war, – als Harald hastig gesagt hatte: »Schmidtke – sofort Volldampf!!« – als das Auto davonschoß und wir zurückblickten, da hatte der Laternenputzer den über den Sattel seines Rades gehängten Rock und Lodenumhang über den Rücken geworfen und so den am Hinterrad angebrachten Aushilfsmotor enthüllt, hatte die Leiter stehenlassen und knatterte nun hinter uns drein.

Harald lachte. »Einer der Kaschemmengarde!!« Und winkte dem Menschen mit dem grauen Filzhut zu ...

Die Verfolgung war ja auch von vornherein aussichtslos. Kammlers Auto fraß bequem seine 130 Kilometer. Und hier in den leeren Straßen des Laubengeländes fuhr Schmidtke wie der Teufel.

Der Motorradler kam uns bald aus den Augen.

Nun nahm Harst eine Zigarette. Der scharfe Luftzug strich über uns hinweg. Die Glasscheibe vorn war sehr hoch gestellt.

Und nach den ersten Zügen:

»Rittergut und Schloß Beestengart, Eigentum und Wohnsitz des Großherzogs von Sorringen, des ehemaligen Großherzogs, liegt acht Meilen westlich von Kiel.«

Man ist als Haralds Privatsekretär und Freund an Ueberraschungen gewöhnt.

»Also zum Großherzog ... sagte ich nur.

»Ja – höchstens für eine Stunde, mein Alter. Nur eine einzige Frage will ich an ihn richten. Aus der einen können sich mehrere entwickeln, falls er Ja sagt. Deshalb war auch telephonische Erledigung nicht möglich. Und brieflich hätte es zu lange gedauert. Es steht ein Menschenleben auf dem Spiel.«

»Was ...? Menschenleben?«

»Ja – wahrscheinlich. Das hängt mit dem Zettel zusammen.«

Ich wußte genau: wenn ich jetzt mit Fragen über Harst herfiel, würde ich nichts erreichen! –

Zwei Stunden vergingen. Lübeck war bereits hinter uns. Zwischen den grünen Strichen der Chaussebaumkronen vor uns erschien, uns überholend, in maßiger Höhe ein Zweidecker. Der weißgraue Riesenvogel zog eine dünne Rauchlinie hinter sich her. Ich erkannte zwei Personen in dem Flugzeug. Auch Harst schaute empor.

»Luftverkehr.« meinte er. »Wenn's nicht zu teuer gewesen wäre, hätten wir ebenfalls bis Kiel fliegen können, Jeder muß sich nach seiner Decke strecken.«

Ein Dorf kam. Schmidtke mäßigte das Tempo.

Rechter Hand sahen wir in der Ferne den glitzernden Wasserspiegel der Lübecker Bucht.

Das Dorf war passiert.

Ein Wald – grüne Mauern zu beiden Seiten der Chaussee, angenehme Kühle. Ein Berg dann – und unten im Tale auf weiter Lichtung ein neues Dörfchen.

Mitten im Dorfe ein freier Platz mit einer uralten Holzkirche. Links das Haus des Gemeindevorstehers, durch ein großes Blechschild kenntlich gemacht. Und zehn Meter weiter mitten im Wege ein dicker Mann mit einem Krückstock in der Hand, neben ihm ein Landjäger und ein Herr in Ledermantel, Sturzkappe und hochgeschobener Schutzbrille.

»Hm!!« brummte Harst.

Da rief der Landjäger dem Chauffeur Schmidtke schon zu: »Halten!!«

Schmidtke hielt – dicht vor den dreien.

Der Beamte trat näher, ging um das Auto herum.

»Farbe und Nummer stimmen,« sagte er und stellte sich neben den Wagen.

»Können Sie sich ausweisen?« fragte er kurz.

Harald nahm seine Brieftasche hervor, reichte dem bärbeißigen Beamten seinen gestempelten und mit Lichtbild versehenen Ausweis.

Der Landjäger warf einen Blick hinein. »Auch das stimmt. – Steigen Sie aus. Ich erkläre Sie beide für verhaftet.«

Harald sah den Herrn im Ledermantel, der einen blonden Spitzbart hatte, noch immer durchdringend an.

Dann öffnete er die Tür, kletterte hinaus, reckte sich und lächelte den Beamten an.

»Sie sind beschwindelt worden,« meinte er achselzuckend.

Und – warf sich urplötzlich nach rechts – mit einem Riesensatz – auf den Blonden, packte zu, riß ihm ... den falschen Bart herunter ...

Das ging so schnell, daß der Landjäger Harst gar nicht in den Arm fallen konnte.

Und dann – ebenso blitzschnell hatte der Blonde den rechten Fuß gehoben, hatte Harald vor den Unterleib einen solchen Stoß versetzt, daß Harst dem Beamten rückwärts taumelnd in die Arme sank.

Der Blonde aber raffte den langen Mantel hoch und stürmte davon – auf den Kirchhof zu, der hinter dem Kirchlein lag ...

»Ihm nach!« keuchte Harst, bereits vor Schmerzen zu Boden gleitend. »Parnack, Schraut. – Parnack!«

Das wußte ich bereits.

Und rannte hinter dem Flüchtling drein ...

Ein Krückstock flog mir ins Genick – ein Krückstock, den der Gemeindevorsteher Jochem Düsing geschleudert hatte.

Ich schoß einen regelrechten Purzelbaum ...

Dann stand schon Herr Düsing neben mir – einen altehrwürdigen Kavallerierevolver in der braunen Pranke.

»Min Jung, nu stei man wedder upp!« sagte er drohend. »Der Herr Kommischär ut Balin hett mi all seggt, wat för Vagels Ihr seid!«

*

 

2. Kapitel.

Parnack war umgekehrt, stelzte würdevoll herbei.

Ein Dutzend Bauern fanden sich ein.

Horst war unfähig zu sprechen, und all mein Reden, Drohen, Bitten half nichts.

Der Gemeindevorsteher zeigte mir die Depesche, die er vor einer halben Stunde aus Berlin erhalten hatte:

Gemeindeamt Dorf Prökeln bei Pansdorf.
Lübeck.

Auto Nr. B 191803, gelbgrauer Anstrich, offener Tourenwagen, mit Chauffeur und zwei Insassen ist anzuhalten, alle drei verhaften, wegen Juwelendiebstahls. Führen gefälschte Ausweise bei sich. Flugzeug zur Verfolgung unterwegs. – Polizeipräsidium Berlin.

Und Parnack legitimierte sich als Kriminalkommissar Fuhlschläger aus Berlin, trat so sicher auf, daß die Herrschaften in Prökeln sich völlig einwickeln ließen, zumal bei einer Durchsuchung des Autos jetzt in den Falten des Klappverdecks ein kleines Paket von dem Landjäger gefunden wurde, das eine Menge Juwelen enthielt: eine Perlenkette, ein Brillantdiadem, sechs Damenbrillantringe, zwei Broschen mit Smaragden und Brillanten und fünf ebenso kostbare Armbänder.

Harst lag mit geschlossenen Augen auf dem Dorfanger. Aus seinem linken Mundwinkel flossen ein paar Blutstropfen zum Kinn hinab.

Und ich – ich schäumte vor Wut.

Ich kam gegen dieses Schurken Parnack überlegene Ruhe nicht auf.

Er blieb dabei, daß er den falschen Bart getragen hätte, weil er von uns nicht erkannt werden wollte und daß der »angebliche« Detektiv Harst in Wahrheit ein bekannter Berliner Einbrecher namens Karl Schmude sei.

Und zog schließlich Handschellen hervor ...

Man hielt mich fest – die Stahlfesseln schnappten zu.

Man stieß mich vorwärts ... –

Schmidtke, der Chauffeur, hatte ebenfalls mit echt Berliner Beredsamkeit die Herrschaften aufzuklären gesucht, hatte den Gemeindevorsteher törichterweise trat einem sonst sehr nützlichen Herdentier verglichen, hatte den Landjäger beschimpft, war auf den Wagen gesprungen, wollte fliehen, wurde gefesselt, tobte, wurde ins Gemeindehaus geschleppt.

Mich stieß man brutal vorwärts. Harald wurde, anscheinend bewußtlos, getragen – zur Dorfwiese, wo der Doppeldecker stand.

Ich hörte, wie der Landjäger dem angeblichen Kommissar erklärte, daß der Schmude doch offenbar schwer verletzt sei, daß der Herr Kommissar die Verantwortung allein übernehmen müßte, den Bewußtlosen im Flugzeug gleich nach Berlin zu transportieren.

Parnack befahl, Harst in die Gondel zu heben.

Bauernfäuste griffen zu. Parnack war rasch in die Gondel geklettert, bückte sich, um Harst emporzuziehen.

Der Führer des Zweideckers hatte den Motor angeworfen. Das Tau, das nach dem in der Grasnarbe steckenden Patentanker lief, spannte sich ...

Und da – im letzten Moment – geschah das Unerwartete ...

Harsts schlaffe Arme flogen hoch, stießen um sich. Er stand wieder auf dem Boden – er riß die Clement heraus ...

Brüllte: »Herunter mit Euch beiden!« zielte auf Parnack, – und der duckte sich blitzschnell, ruckte an der Auslösungsleine des Patentankers ...

Der Zweidecker rollte plötzlich ...

Rollte schneller ...

Da feuerte Harst – – zwei Schuß – – auf den Mann vorn in der Gondel ...

Hätte nochmals abgedrückt, aber der Landjäger schlug ihm den Arm hoch.

Das Flugzeug stieg ...

Der Gemeindevorsteher packte Harst beim Jackenaufschlag.

»Herr Düsing,« sagte Harald und blickte dem Doppeldecker nach, der sehr unruhig flog und merkwürdige Kurven beschrieb, »wenn das Flugzeug da wirklich der Berliner Polizei gehörte, würde es wohl umkehren und wieder landen. Aber – es sucht das Weite. Das heißt: ich scheine getroffen zu haben ... Der Führer hat die Gewalt über den Doppeldecker verloren ...«

So war's ...

Der Riesenvogel überschlug sich in der Luft, sank, überschlug sich abermals und fiel drüben am Waldrande in die Baumkronen. –

Dann waren wir am Waldrande – neben der Leiche des Flugzeugführers, die von oben herabgestürzt war.

Der Doppeldecker hing in der Krone einer Eiche.

Parnack aber war ... verschwunden. Seinen Ledermantel hatte er abgeworfen.

Zwei junge Burschen waren bis zum Flugzeug emporgeklettert. Auch in der Gondel befand er sich nicht.

»Entflohen, Herr Landjäger,« meinte Harst ernst. »Er gibt das Spiel hier verloren. Sie wissen nun ja, wer der Mann ist. Es ist Ihre Pflicht, ihn zu verfolgen.« –

Herr Düsing bewirtete uns und Schmidtke mit allerlei Leckerbissen. Harald hatte mit Bechert telephoniert, hatte ihn gebeten, Ermittlungen über das Flugzeug anzustellen.

Um sechs rief Bechert wieder an:

»Flugzeug in Johannistal von zwei Unbekannten gestohlen – heute mittag halb ein Uhr.«

Harald nickte Düsing zu. »Sehen Sie!!« –

Der Führer des Zweideckers hatte beide Kugeln durch die Brust bekommen. Seine Leiche lag jetzt im Stall des Gemeindevorstehers.

Um halb acht landete auf der Wiese ein Polizeiflugzeug. Kommissar Mellin begrüßte uns herzlich. Den Toten erkannte er an einer Tätowierung am linken Unterarm. Es war der Einbrecher und frühere Luftpilot Karl Schmude – blonder Karl genannt. –

Wir blieben die Nacht im Dorfe. Morgens war noch keinerlei Nachricht über eine Festnahme Parnacks eingetroffen. Er war entkommen.

Um acht Uhr fuhren wir drei weiter.

*

 

3. Kapitel.

Elf Uhr vormittags. Wir saßen in einem Zimmer des Schlosses Beestengart dem früheren Großherzog gegenüber.

»Graf Barnfeld hat mich vorhin wieder angerufen, Herr Harst,« erklärte der Großherzog sehr zurückhaltend. »Ich muß leider den Umständen nach Ihnen jede Auskunft verweigern.«

Der schlanke, sonngebräunte Herr in hohen Stiefeln und Jagdjoppe seufzte und fügte hinzu: »Ich will in Ruhe meinen Kohl bestellen, Herr Harst. Und da sind mir auch fünfzig Millionen nicht zuviel.«

»Wenn Parnack nun aber die Seiten der Aufzeichnungen photographiert, die fünfzig Millionen einsteckt und die Photogramme doch an eine Zeitung verkauft?!« meinte Harald warnend.

»Leute, die so etwas kaufen, wünschen die Originale, Herr Harst. Ich kenne das.«

»Und wenn Parnack des Tagebuches wegen einen Mord plante?!« sagte Harald mit Nachdruck. »Wenn er die Aufzeichnungen vielleicht jemandem gestohlen hätte, der sie selbst stahl, und wenn er diesen Mann nun bei Seite schaffen will?! Dürfte ich dann eine Frage mit erlauben – eine einzige Frage.«

»Gut denn – fragen Sie.«

»Gab es in dem Hofstaat Ihres Herrn Vaters einen Mann namens Ring, Herr von Beestengart?«

»Ring – Doktor Justus Ring etwa? – Ja, Doktor Ring war Bibliothekar. Er bezieht noch heute eine Pension aus meiner Privatschatulle.«

Harald holte den Zettel hervor – den Ring-Zettel.

»Herr von Beestengart, wenn Sie von diesen Sätzen hier jedes dritte Wort lesen, ergibt das:

Ring muß schleunigst sofort nach Heimkehr kaltgemacht werden.

Das Original dieses Zettels nahm man einem Komplicen Parnacks ab. Daß dieser das Tagebuch nicht in dem Schreibtisch der Rätin gefunden hat, steht außer Zweifel. Er konnte die Papiere also nur anderswo sich angeeignet haben, vielleicht von einem Manne, der Gelegenheit hatte, die Möbel Ihres Herrn Großvaters zu durchsuchen. Als ich den Inhalt dieses Zettels – den wahren Inhalt – herausgelesen hatte, dachte ich mir, Ring könnte dieser Mann sein. Und – er ist es auch. Wo lebt er? In Berlin?«

»Ja.« –

Hiermit war die Unterredung beendet. Harald erhob sich.

»Ich werde diesen Mord verhindern.« sagte er nur noch. »Ich muß es. Vielleicht stoßen wir dabei auch auf Papiere.« –

Wir fuhren nach Berlin zurück – eine andere Strecke.

Um vier Uhr waren wir in Potsdam, schickten Schmidtke mit dem Auto heim, sahen in einem Restaurant das Berliner Adreßbuch durch und fanden da:

Ring, Justus, Dr. phil. Bibliothekar. S. O. 26, Elisabethufer 239.

Ich weiß nicht, wer damals überraschter war, Harald oder ich!

Doktor Ring also Bewohner desselben Hauses, in dem Herr Ernst Schönborn von Parnack vorgestern mittag so schlau hineingelegt worden war und wo wir in der Person Emil Krabartys einen so verläßlichen Verbündeten gefunden hatten!

»Parnack versteht es, seine Komplicen richtig auszuwählen,« meinte Harst nur. Und nach kurzer Pause: »Ein Arzt Doktor Menkner wohnt ebenfalls 239. Den werde ich mal anrufen.«

Doktor Menkner meldete sich sofort.

»Hier Bibliothekar Doktor Eugen, Potsdam,« erklärte Harst. »Würden Sie die große Liebenswürdigkeit haben, Herr Doktor, und meinen Kollegen Ring mal an den Apparat bitten lassen. Es handelt sich um eine sehr dringende Angelegenheit. – So?! Mittags gerade aus dem Harz zurückgekehrt? – Ja, danke vielmals, ich warte ...«

Dann meldete sich Doktor Ring.

Harald nannte sich wieder Doktor Eugen und bat den »Kollegen«, ihm heute um sieben Uhr abends im Cafee Ostaria am Potsdamer Platz eine Unterredung zu gewähren ...

»Ich rate Ihnen dringend, Herr Kollege, bis dahin weder Ihre Wohnung zu verlassen, noch jemand Zutritt zu gewähren. Mir ist zufällig zu Ohren gekommen, daß Sie bestohlen sein sollen? Stimmt das? – Ja?! – Ihre Stimme klang mir recht erregt. – Wie gesagt: seien Sie vorsichtig. Ihnen droht Gefahr. Ich meine es gut mit Ihnen, Kollege.«

Um fünf waren wir in Becherts Privatwohnung in der Königstraße. Harald hatte Bechert ebenfalls angerufen und ihm Bescheid gesagt.

Unser alter Freund war noch ganz erfüllt von Parnacks gestrigem Zweidecker-Streich.

Harst erzählte erst das Abenteuer in Prökeln.

»Ich bin überzeugt, Parnack hätte mit Schraut und mir einen Flug über die Lübecker Bucht unternommen und uns dort ersäuft,« sagte er zum Schluß. »Zum Glück fällt er auf so kleine Scherze wie den meinem Munde entquellenden Blutfaden noch immer herein. Man beißt sich selbst in die Lippe – und das Blut macht alle kopfscheu!!«

Dann nahm er eine Zigarette.

»Nun zum zweiten Teil, Bechert ...«

Er schilderte Parnacks Erpressermanöver gegenüber dem Grafen Barnfeld, erwähnte den Doppelsinn des Zettels, den ehemaligen großherzoglichen Bibliothekar Doktor Ring und schloß: »Ich habe eingesehen, lieber Bechert, daß ich bei einer Zusammenarbeit mit der Polizei stets schlecht abschneide. Mein bisheriger Kriegsplan gegen Parnack stützte sich stets auf ein Bündnis mit der Polizei: die Erfolge blieben dabei aus: Parnack ist uns in der Passauer Straße entwischt, ebenso vorgestern nacht aus dem Obstkahn! – Ich arbeite fortan wieder allein, Bechert. Ein großes Polizeiaufgebot ist schwer zu verheimlichen. Schraut und ich fallen nirgends auf. – So, nun Punkt drei: die Juwelen, die Parnack in die Falten des Klappverdecks des Autos hineingeschmuggelt hat, damit unsere Verbrechernatur recht eindringlich der hohen Obrigkeit dort vor Augen geführt wurde. Diese Juwelen, behaupte ich, sind dem Grafen Schink-Barnfeld von Parnack gestohlen worden, als Parnack den Grafen in dessen Schlafzimmer erwartete. Hat Barnfeld diesen Verlust gemeldet?«

»Nein.«

»Vielleicht ahnt er noch nichts davon. Nun, das wird sich ja herausstellen. – Sie geben zu, Bechert: es ist die höchste Zeit, daß wir mit diesem Parnack Schluß machen – auch in Schrauts und meinem Interesse. Daher: borgen Sie uns die nötigen Kleider zu einer erstklassigen Maskierung.«

Zwei bereits etwas zitterige alte Herren von bescheidenem Aeußeren sahen um sieben Uhr im Cafee Ostaria und warteten auf Doktor Ring.

Es wurde ein Viertel acht, es wurde halb acht.

Da sagte Harst leise: »Ich werde den Arzt anrufen. Ich fange an ängstlich zu werden.«

Schon um halb sieben hatte er mit Doktor Menkner telephoniert. Und der hatte ihm mitgeteilt, Doktor Ring sei soeben mit Emil Krabartys Satan ausgegangen. Ring pflege den Hund häufig mitzunehmen, damit das Tier etwas Bewegung hätte. –

Harst setzte sich, nahm einen Schluck Bier und flüsterte:

»Ring ist nicht daheim. Nur der Hund hat sich eingefunden. – Zahlen wir.«

Wir schritten am Potsdamer Bahnhof vorüber. Harald trug ein Paket im Arm: die beiden ältesten Paare von Becherts Stiefeln, die uns nötigenfalls bei Krabarty jederzeit unauffällig Zutritt verschaffen sollten.

Emil Krabarty wohnte im Gartenhaus im Erdgeschoß. Er saß noch bei der Arbeit, feist, schweißglänzend, in miserabler Stimmung.

»Wie – dett solln Stiebel sein!!« fauchte er. »Det sind Löcher mit n paar Lederstückchen zwischen! Da is nischt mehr zu flicken!«

»Harst,« flüsterte das eine der zitterigen Männchen.

Krabartys Mund öffnete sich – blieb offen ...

»Harald Harst, Freund Krabarty. – Tatsache!«

»Det freit mir wirklich, Sie beede wiederzusehen,« sagte der Portier nun, indem er unwillkürlich in den Berliner zurückfiel. »Janz besonders, da meen Satan mir ausjekniffen is. Sehn Sie, Herr Harst, det Viech is nu so meene eenzige Freide. Seit meene Frau dot is, hab' ick mir an den Hund immer mehr anjeschlossen ...«

Harald wollte diesen Redefluß etwas eindämmen.

»Wann ist Satan denn ausgekniffen, Freund Krabarty?« fragte er rasch.

»So vor zwanzig Minuten, Herr Harst.«

»Er war doch erst mit Doktor Ring ausgegangen, kam dann allein zurück ...«

»Ach nee – det wissen Sie?! – Ja, die Sache hat ihre Richtigkeit. Mit eenem Mal war er alleen wieder da, bellte vor die Haustür, und die Juste von Doktor Menkner ließ ihm rein. Det war so jejen sieben Uhr, und jejen halb achte rum, als ich mal mit ihm vor die Tür ging, da rennt det Viech mit 'n Mal wie besessen davon, nachdem es sich so vor mir hinjestellt und mir anjeblafft hatte.«

»Und Doktor Ring ist noch nicht heimgekehrt?« fragte Harald gespannt.

»Nee. Und det wundert mir ja jrade. Satan hängt sehr an 'n Doktor, sehr. Ick vastehe jar nich, det er ihm wejjelofen is. So wat tut Satan nie.«

»Sagte Ihnen Doktor Ring denn, wohin er mit dem Hunde wollte? Nur ein Spaziergang?«

»Ja – so halb und halb, Herr Harst. Er hatte ne Verabredung mit 'n Kollegen im Cafee Ostaria. Er meinte, er würd' so um achte rum wieder zu Hause sein. Er jab mir seine Schlüssel und Jeld. Ick sollte ihm wat zum Ambrod innholen. Er is Jungjeselle, der olle Herr, is so wat wie 'n Original.«

Harald rückte mit seinem Schemel näher an den kleinen Dicken heran und weihte ihn nun vollständig ein. »Sie werden hiernach begreifen, Freund Krabarty, daß ich allen Grund zu der Befürchtung habe, Doktor Ring könnte vielleicht in eine Falle gelockt worden sein.«

»Allen Jrund!« nickte der Dicke ernst. »Ick vastehe: Satan is nu wieder dorthin zurickjekehrt, wo man den alten Herrn injefangen hat! Son Schuft, dieser Parnack, son Schuft!!«

»Ja. Sie verstehen ganz richtig. Ich möchte mich mit Schraut in Rings Wohnung so etwas umsehen. Die Schlüssel haben Sie ja hier.«

»Hm ...« Krabarty machte ein sehr bedenkliches Gesicht und stierte in das grelle Licht der Glühbirne. »Hm – er wohnt aber in die Mansarde, Herr Harst, und von die drei Stubentüren hat er die der Hinterstube mit Eisenblech benagelt, Eisenstangen vorjelegt und Schlösser anjebracht. Da kennten Sie also nich rinn, Herr Harst, und sonst gibt's da nischt zu sehen – jar nischt!«

»Und was enthält diese Stube?«

Der kleine Flickschuster hob die Schultern.

»Weeß ick nich. Keene Ahnung. – Also – kommen Sie. Ick stelle mir vor die Haustür, und Sie sehen in die Mansarde ruff.«

Er erhob sich.

Die Fenster nach dem Hofe zu standen halb offen.

Plötzlich machte Krabarty eine heftige Handbewegung.

»Hörten Sie ...« flüsterte er. »Hörten Sie? Da ... da schrie eener! Bei Jott – da schrie eener!«

Ich hatte gleichfalls eine der Art nach schwer zu bestimmende Reihe von Tönen gehört.

»Der Hund!« meinte Harald und warf mir einen langen Blick zu ...

*

 

4. Kapitel.

Es war Satan. Er saß vor Doktor Rings Flurtür, in der halben Dunkelheit nur als Schatten zu erkennen.

Harsts Taschenlampe blitzte aus. Er trat näher an das Tier heran, schmeichelte sanft:

»Schöner Hund – schöner Hund ...!« – Und beleuchtete eine kleine Blutlache auf den grauen Dielen des Vorbodens.

»Verwundet – dort am Halse!« keuchte Krabarty jetzt. – »Da – ein ganzes Stück Fell hängt herab!« fügte Harst schon hinzu. »Halten Sie Satan fest. Ich werde mir die Wunde ansehen. – – Das ist ein Messerstoß gewesen. Er sollte die Halsschlagader treffen. Man wollte den Hund töten, lieber Krabarty. Verbinden wir ihn erst. Ob wir wohl bei Doktor Ring alles Nötige dazu finden? Dann brauchen wir nicht erst hinunterzugehen.«

Im Medizinschränkchen im Schlafzimmer is allens vorhanden, Herr Harst.« Und Krabarty schloß die Flurtür auf. – Eine Viertelstunde später standen wir vor der so sorgsam versperrten Tür des Hinterzimmers ...

Eine Tür, wie vor dem Kontor eines Gutsbesitzers. – drei dicke Eisenstangen, Blechbeschlag, drei Vorlegeschlösser amerikanischen Systems mit Buchstabenkombinationen.

Harsts Taschenlampe glitt immer wieder über die Schlösser hin ...

»Die kriegt keener uff!« flüsterte unser kleiner Verbündeter.

»In diesem Zustande doch!« meinte Harst. »Die Sperrbügel der Schlösser sind nämlich durchgesägt. – Da.«

Und er löste das unterste mit ein paar Griffen, tat dasselbe mit dem mittleren und oberen. »Nun können wir hinein ...«

Die Eisenstangen wurden losgemacht. Noch ein Druck auf die Klinke, und die Tür ließ sich aufdrücken.

Und jetzt – jetzt schoß der Wolfshund kurz aufheulend an uns vorüber in das Zimmer hinein ...

Jetzt war Harst mit zwei Sätzen ihm nach ...

Lehnte sich weit zum Fenster hinaus, dessen einer Flügel offen gewesen und an dessen Kreuzpfosten ein Seil befestigt war ...

Schwang sich hinaus – blieb jedoch auf dem Fensterkopf sitzen ...

Ich stieß den anderen Flügel auf ...

Da war ein schachtartiger, enger Hofraum ...

Da war an dem Seil ganz unten ein Mensch, der jetzt die letzten Meter hinabsprang und nach links in die Haustür schlüpfte.

Harald sagte leise: »Parnack, mein Alter! Parnack!! Er bog den Kopf zurück, schaute nach oben. Er war es. Ihn zu verfolgen, wäre zwecklos. Er hat zu viel Vorsprung. Er wird wohl vom Dache aus in die Wohnung eingedrungen sein.«

Und ging zur Tür, prüfte die durchsägten Schloßbügel, sagte zu Krabarty:

»Wie lange war der Doktor verreist?«

»Fünf Wochen ungefähr.«

»Und diese Schlösser sind vor vielleicht einer Woche erbrochen worden, das heißt damals, als etwa das Tagebuch gestohlen wurde – hier aus diesem Raume, der zumeist gestohlene Bücher enthält. Ring ist eben Bücherdieb aus Leidenschaft. Er wird so ganz allmählich die großherzogliche Bibliothek geplündert und den Raub beiseite geschafft haben, den er jetzt hier hinter Schloß und Riegel hielt. – Es bleibt nun noch aufzuklären, wie Parnack erfahren hat, daß Doktor Ring auch die Aufzeichnungen des alten Großherzogs sich angeeignet hatte und weshalb er soeben hier nochmals eingedrungen war. Daß Parnack mich erkannt hat, halte ich für ausgeschlossen. Er ahnt ja nicht im geringsten, daß wir auf Ring aufmerksam geworden sind.«

Satan hatte dumpf geknurrt, lief zur Tür, lief in den Flur hinaus – zur Tür von Rings Arbeitszimmer hin ...

Und als wir nun vor Rings großem Schreibtisch standen, lag da auf dem grünen Tuchbezug ein Wisch Papier:

Herr Harst, ich habe mir erlaubt, nach der schnellen Seilfahrt in die Tiefe wieder die Treppe emporzusteigen. Die Flurtür ist gut geölt. Ich wollte nur diesen Zettel niederlegen. Daß ich einige Ihrer Sätze mit anhörte, ist Ihre Schuld. Sie haben mit mir eben stets Pech! Und dieses Pech wird sich steigern bis an einem enormen Abhang, an dessen Fuße Sie beide das Genick brechen. – Sie sehen: ich habe Sie erkannt – ich werde Sie auch in jeder anderen Maskierung erkennen. Mehr brauche ich wohl nicht tu sagen. Parnack.

»Eins muß man dem Menschen lassen,« meinte Harald sinnend. »Er hat Mut. Er besitzt ja überhaupt Eigenschaften, die ihn zu einem nützlichen Mitglied der menschlichen Gesellschaft machen würde.«

Seine Stimme war immer leiser geworden. Sein Blick hing starr an einem Bilde neben dem Schreibtisch, an einer der wenigen Photographien, die die Wände dieses ernsten und doch behaglichen Raumes schmückten.

In breitem Goldrahmen dort aus braunem Karton das wundervoll ausgeführte Bild eines jungen Weibes, nur Kopf, Hals und Nackenansatz ...

Harst ließ das grelle Licht der Taschenlampe aufflammen und beleuchtete so die Photographie stärker.

Ich erkannte das junge Weib: es war Anna Holm, Parnacks Genossin, Parnacks Vertraute, jene Anna Holm, die das arme, ahnungslose Weiblein, die Rätin Sturz, kaltblütig in den Tod geführt hatte. (Vergl. Band 96. Der tote Kanarienvogel)

Harald wandte sich an den Flickschuster.

»Freund Krabarty, kennen Sie die Frau?«

»Und ob, Herr Harst, und ob! Es ist Doktor Rings frühere Sekretärin. Anna Lohm hieß sie.«

»Was gelogen war, Freund Krabarty! Diese Anna Lohm, in Wahrheit Anna Holm, ist eine Hochstaplerin – prima Qualität, ist dieselbe, die jetzt in Untersuchungshaft sitzt als Parnacks Komplicin. Sie haben wohl davon in den Zeitungen gelesen. Und daß die Holm hier nur Sekretärin spielte, um das Versteck des Tagebuches zu ermitteln oder um sonstwie im Trüben zu fischen, ist m klar.«

Harst nahm die Photographie von der Wand und sah nach, ob auf der Rückseite eine Widmung stände.

»Merkwürdig!« murmelte er. »Lies mal, mein Alter.«

Da stand in einer überaus energischen, schmucklosen Schrift folgendes:

Berlin, den 27. März 1922.

1 2 3 4 5 9 10,
Vielleicht einmal auf Wiedersehen!

Zur freundlichen Erinnerung
Anna Lohm.

Harald trat mit dem Bilde näher unter die elektrische Hängelampe. Er hatte es aus dem Rahmen herausgenommen, hatte offenbar an der Schrift der Holm etwas entdeckt, das ihm auffiel.

»Was siehst Du?« fragte Harst ganz leise und hielt mir die Widmung unter die Augen.

Ich prüfte, schaute, stutzte ...

»Donnerwetter – die Schrift stammt niemals vom 27. März her, die ist ganz frisch, aber mit Hilfe der Sonne rasch getrocknet worden.«

»Es stimmt,« nickte Harald. »Diese merkwürdige Widmung ist erst heute nach Doktor Rings Rückkehr geschrieben worden. Mithin hat dies auch nicht Anna Holm geschrieben. Die sitzt ja, am Alexanderplatz, Polizeigefängnis.«

Harst drehte sich halb um. »Freund Krabarty, eine Frage ... Hing das Bild schon immer dort neben dem Schreibtisch?«

»Ne, Herr Harst. Det Bild hatte ooch keenen Rahmen bisher. In dem Joldrahmen steckte 'n anderet Bild bis heite. Der Doktor muß ...«

»Danke. Es ist anzunehmen, daß Ring die Widmung selbst geschrieben hat! Es fragt sich nun, wozu er das tat. Einen Zweck muß er dabei doch gehabt haben. Außerdem, die Zahlen – die Zahlen!! Die Sechs, Sieben und die Acht fehlen. Etwa nur des Reimes wegen?! Ich glaube das nicht. Hinter allem steckt mehr, weit mehr.«

Da meldete Emil Krabarty sich ganz bescheiden.

»Herr Harst, entschuldigen Sie man ... Ick hörte da oben, daß Sie von Zahlen sprachen, und daß die Sechs, die Sieben und die Acht fehlen. Ick weeß nu nich, ob ick über den Talisman reden darf, den der Doktor mir heite for meenen Satan jejeben hat.«

Harald richtete sich mit einem Ruck auf.

»Einen Talisman? – Reden Sie! Sie müssen reden!«

»Hm – der Doktor meinte aber, der ... der Zettel in Satans Halsband würd' die Wirkung verlieren, wenn ick darüber mit jemandem sprechen täte. Der Talisman is doch jejen Gift. Die Lumpen vajiften jetzt wieder so ...«

»Bot Ring Ihnen den Talisman ganz von selbst an?«

»Ja, heite so um sechse rum.«

»Und es ist ein Zettel, den der Doktor wohl unter die Messingplatte des breiten Lederhalsbandes geschoben hat – ein Zettel mit den Zahlen 1 2 3 4 5 9 10?«

»Ja – und mit Buchstaben und mit Zeichen.«

Harst lockte den Wolfshund, der denn auch sofort zu ihm hinlief.

Dann hatte Harst den eng gefalteten Zettel in der Hand. Da waren auf der einen Seite allerhand Arabesken, auf der anderen drei ebenfalls mit Tinte gezeichnete Totenköpfe und darunter folgendes:

10 N ist 1 I. 2 M ist 9 H. 3 O war 5 A und 4 K
Heilger Plift, vernichte Gift.
Bleib' gesund, treuer Hund.

Harst zog plötzlich die Augenbrauen hoch, legte den Zettel auf die Widmung, beugte den Kopf darüber.

»Freund Krabarty, der Talisman ist erstklassig. Ich werde den Zettel sehr sorgfältig wieder hinter die Messingplatte schieben. So ... Nun ist Satan wieder geschützt. – Sie könnten uns jetzt mal die Eßwaren heraufholen, die Sie für den Doktor eingekauft haben.«

Der Flickschuster verschwand.

Kaum schnappte die Flurtür hinter ihm zu, als Harst den Hund an die Leine nahm und mit ihm die ganze Wohnung durchging. Dann band er ihn im Flur an, kam zu mir ins Zimmer zurück.

»Hier ist kein Spion verborgen,« meinte er und sah mich scharf an. »Und hier ist der Talisman – hier die Photographie, die Widmung. Und beides zusammen ist eine Nachricht, eine Verabredung zu einem Stelldichein ...«

Ich glaube, mein Gesicht war in dem Moment nicht eben geistvoll.

»Stelldichein?« wiederholte ich verständnislos.

»Ja. Irgend jemand soll sich mit Ring im 1 2 3 4 5 9 10 treffen.«

»Mit Ring?!«

»Das stimmt. Ring ist zwar tot. Aber vielleicht lassen wir ihn wieder auferstehen. – Bitte, wenn Du hier aus dem famosen Talisman statt der Zahlen die Buchstaben entnimmst, also 10 = N, 1 = I, 2 = M und so weiter, und wenn Du diese Buchstaben und Zahlen so ordnest, wie die Zahlen in der Widmung stehen, ergibt das

I M O K A H N

oder Im O-Kahn. – im Obstkahn! Fein, wie?!«

Ich nickte nur.

»Ring hat mithin die Verabredung mit demjenigen, der in den Obstkahn kommen soll, unter den allergrößten Vorsichtsmaßregeln getroffen, hat dem Betreffenden aus Vorsicht wohl nur Nachricht gegeben, daß Photographie und Halsband alles weitere besagen. Dieser Jemand wird daher ohne Zweifel hier erscheinen und sich die Widmung ansehen, wird auch den Talisman Satans prüfen müssen ...«

Da kehrte Krabarty zurück.

»So, meine Herren.« rief er. »Allens da! Allens! Juten Appetit! Ich bringe noch Messer und Gabel und Tellers.« –

Wir aßen. Harald erteilte Emil Krabarty allerlei Anweisungen. Sobald wir mit Satan das Haus verlassen hätten, sollte Krabarty Freund Bechert anrufen – von Doktor Menkner aus. und sollte ihm bestellen, daß Bechert in einer Verkleidung sogleich in Doktor Rings Wohnung die Wache übernehmen und jeden verhaften müßte, der dort eindringen würde.

»Sie selbst, Freund Krabarty,« fügte Harst hinzu, »halten über alles, was hier geschehen, den Mund, auch über das Bild, den Talisman und das Hinterzimmer!«

»Wat doch selbstvaständlich is,« nickte der kleine Dicke.

Mittlerweile war es halb zehn geworben.

Der Wolfshund, die Nase auf dem Pflaster, drängte an der Leine keuchend vorwärts.

Durch verschiedene Straßen ging es dem Görlitzer Bahnhof auf Umwegen zu. Gegenüber dem Bahnhof machte Satan vor dem Eingang eines Gemüsekellers halt. Die Tür war noch offen. Keller brannte Licht.

Aber – vor der Kellertür strichen noch fünf andere Hunde aller Größen umher.

Harst lachte. »Liebessehnsucht! Der Gemüsehändler besitzt eine Hündin! – Gehen wir weiter ...«

Der Wolfshund sträubte sich jetzt, uns zu folgen. Er knurrte, riß an der Leine ...

Und – riß sich los, als wir uns etwa fünfzig Schritt nach dem Spreewaldplatz zu entfernt hatten.

Wir sahen, wie jetzt eine ärmliche Frau auf der Kellertreppe erschien, wie sie den Wolfshund an sich lockte, ihn streichelte ...

»Wetter!« sagte Harald und zog mich mit sich fort. »Nun ist der Talisman nicht mehr im Halsband, behaupte ich. Nun werden wir beide verschwinden. – Auto, halt!«

Wir stiegen ein, fuhren nach Hause, nach der Blücherstraße.

Harald lehnte stumm in seiner Ecke. Draußen regnete es sacht.

*

 

5. Kapitel.

Zwei waschechte Berliner Kaschemmenbrüder schoben anderthalb Stunden später am Elisabethufer entlang.

Es regnete Bindfäden ...

Vor dem Obstkahn blieben die beiden stehen.

Ich erkannte nur undeutlich einen großen Hund vor der Treppe, die von dem überdachten Heck nach unten führte.

»Das begreife ich nicht,« flüsterte Harald weiter. »Wer kann Satan getötet haben?!«

Er hatte mich untergefaßt. Wir gingen weiter. Eine Weile schwieg er. Dann meinte er grübelnd: »Die Wunde Satans rührte doch von einem Biß her. Es wird zwischen den Hunden vor dem Gemüsekeller zur Beißerei gekommen sein. Die ärmliche Frau, die Satan dort vorhin streichelte, kann ...«

Plötzlich fühlte ich den jähen Druck seines Armes. Wir waren bis zur Luisen-Brücke gelangt. Ein Mann kam uns entgegen, vom Laternenschein umspielt, ein Mann mit einer tief ins Genick gezogenen Mütze, einem um den schlanken Körper schlotternden Anzug, Hände in den Hosentaschen.

Er ging dicht an uns vorüber, warf uns einen messerscharfen Blick zu. Sein rußbeschmutztes Gesicht war bartlos.

»Die Stiefel!!« hauchte Harst. »Sahst Du die Stiefel! Es waren Lackschuhe – Lackschuhe, von denen der Regen die Schmutzschicht weggespült hatte. – Trennen wir uns. Ihm nach. Aber Vorsicht!«

Der Mann war von der Brücke nach dem Elisabethufer zu abgebogen, war dann blitzschnell über das Eisengeländer geklettert und vom Rande der Kanalmauer auf den Obstkahn hinübergesprungen.

Harst erschien neben mir. »Rasch – zum Boot!«

Der Nachen war im Moment losgekettet. Gerade als wir ihn dann bis zum Heck gebracht hatten, als wir uns aufrichteten und über die Reling hinweglugten, sahen wir den Mann in dem schlotterigen Anzug auf den toten Hund zukriechen. Jetzt hatte der Mann eine schwarze Seidenmaske vor dem Gesicht.

Da schwang Harald sich empor – leicht – mit elegantem Satz, packte zu, packte die beiden Handgelenke.

Ich war neben ihm. – »Binden, schnell!« befahl er. Dann riß er dem Menschen die schwarze Seidenmaske ab. Das rußgeschwärzte Gesicht, vom Monde beschienen, war mir fremd. Das war nicht etwa Gisbert Parnack. Wer war's?!

Harst schob den Mann in den Schatten des Heckdaches, sagte leise: »Anna Holm, es ist der falsche Hund. Es ist nicht Krabartys Satan. Sie hätten bei diesem Tiere keinerlei Zettel gefunden, keinen ... Talisman! – Schraut, heraus mit der Clement! Die Holm geht voraus!«

In der Kajüte keine Seele ...

Auf dem Tische unter der Hängelampe lag seltsamerweise ein ... ein Bund Radieschen, frische, rotbäckige Radieschen, wie gewaschen aussehend, irisches Grün daran.

Harst blickte die Holm scharf an. »Sie sind also mit Hilfe Parnacks entflohen,« sagte er mit einem Male sehr ruhig. »Parnack hat Ihnen nur einen Zettel zukommen lassen mit für Uneingeweihte unverständlichen Worten, etwa: Wolfshund, Halsband, Photographie, Goldrahmen. Vielleicht war der Inhalt des Zettels auch etwas anders – etwas! – Aber Sie wußten Bescheid. Sie haben mit Parnack wohl schon häufiger so vorsichtige Verabredungen getroffen, Fräulein Anna ... Lohm!«

Da zuckte die Hochstaplerin doch zusammen.

Harald lächelte sie an. »Das Spiel ist aus. Sagen Sie nur die Wahrheit. Sie fürchten Krabartys Satan, sahen den toten Hund hier auf dem Deck liegen, wollten den Zettel aus dem Halsband nehmen, dann in Doktor Rings Wohnung nach oben. Stimmt's? Und bei Ring Ihr Bild – das sollte Ihnen verraten, wo Sie Parnack finden würden. Nun, ich kann Ihnen die Sache erleichtern: die Geheimschrift besagt nur: »Im Obstkahn«. Und im Obstkahn sind wir jetzt. Hier ist niemand. Ganz bestimmt ist hier niemand.«

Die Holm verzog hohnvoll das Gesicht. »Suchen Sie Parnack doch. Sie ... Sie schlauer Herr!«

In geradezu komischem Gegensatz dazu nun Haralds fast schwärmerische Worte:

»Wie schön sie sind, wie Rosen, diese Radieschen – Kinder des Frühlings. Ich möchte wohl wissen, wo man frische Radieschen zu kaufen bekommt!«

Ich sah, daß Anna Holms Gesicht sich veränderte.

Und – Harald blickte sie an, warf die Radieschen auf den Tisch und sagte hart und befehlend:

»Vorwärts – zu Doktor Justus Ring! Es regnet wieder. Es gießt ...«

Und durch Sturzbäche einer peitschenden Sintflut eilten wir über die Straße nach Nr. 239. – Emil Krabarty stand im Hausflur. Satan neben sich.

»Wem gehört der tote Wolfshund auf dem Obstkahn?« fragte Harald kurz.

»Dem Herrn Direktor Gloger aus Nr. 238. Det arme Tier wurd' jejen zehn hier vor die Tür von 'n Auto dotjefahren.«

»Ist Kommissar Bechert oben? – So, dann holen Sie ihn bitte herunter. Er soll die Holm wegbringen lassen.«

Wir gingen mit Bechert und zwei Beamten in den Regen hinaus. Harald hatte Satan an der Leine. Zur nächsten Polizeiwache gingen wir. Bechert schritt zwischen uns. »Diesmal fühlt Parnack sich völlig sicher,« sagte Harald, als der Regen plötzlich nachließ. »Diesmal werden wir das Haus einkreisen, daß keine Maus entschlüpfen kann!«

Das Haus war dasjenige, in dem sich der Gemüsekeller befand.

Und es war kurz nach Mitternacht, da ... fingen wir ihn, den großen Verbrecher?

Wir hatten den Gemüsekeller bereits zweimal durchsucht, als Satan aufbellte und wie toll in dem Schlafzimmer der Händlerin den Bettvorleger beiseite kratzte.

Die beiden Beamten hoben zwei tadellos eingepaßte Dielenstücke hoch. Ein Loch darunter – ein feuchter enger Raum ...

Bechert rief hinab – drohte ...

Gisbert Parnack kam – kletterte heraus, sagte angesichts der so überzeugend wirkenden Pistolen: »Verspielt!« Zuckte die Achseln ...

Handfesseln schnappten um seine Gelenke.

»Sie hätten die Radieschen nicht als Hinweis auf diesen Gemüsekeller in die Kajüte legen sollen,« meinte Harald. »Sie hätten auch, als ich von Potsdam aus mit Ihnen telephonierte – als Doktor Gugen mit Doktor Ring – Ihre Stimme besser verstellen sollen, Gisbert Parnack. Sie sind Parnack, sind der Vielnamige. Sie sind auch Doktor Ring. Zuerst zweifelte ich noch daran. Den Ausschlag gab nicht Ihre Stimme, sondern die Handschriften der Widmung und des Talismans, die beide verstellt waren. Aber beide glichen der Parnacks ein wenig. – Wo ist der echte Doktor Ring?«

»Seit fünf Jahren tot,« lachte Parnack stolz. »Seit fünf Jahren, seit ich als Doktor Ring nach Elisabethufer 239 zog, vertrete ich ihn.« – –

Das Tagebuch des alten Großherzogs fand Harald im Geschirrschrank der Händlerin in einer großen Kaffeekanne, dazu die Juwelen, die in Prökeln eine Rolle gespielt hatten. –

Und dann kam das andere – das Unangenehme, Unglaubliche, Unbegreifliche ...

 

Was es war, kann ich hier leider nicht mehr berichten. Es steht im folgenden Band, im ...

Geheimnisvollen Fenster.

Walter Scholz


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