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Merkwürdig, der Kraftwagen hält noch immer vor Nummer sechs!« sagte Harst zu mir und drehte sich dann langsam um. »Reiche mir doch einmal das Jagdglas, mein Alter,« fügte er hinzu.

Ich blieb vor ihm stehen, nahm das Fernglas von der Schreibtischecke und schaute durch die dünnen, großgemusterten Tüllvorhänge des Fensters gleichfalls die Straße hinab.

Harst wandte sich wieder um, stellte das Glas ein und richtete es auf den geschlossenen, dunkel lackierten Kraftwagen, der vor Nummer sechs mit der Rückseite nach uns hin an der Bordschwelle stand.

»Schreibe die Nummer auf,« bat Harald nun. A 131411.« Ich notierte die Autonummer.

»Wozu das, Harald?« fragte ich mit einiger Berechtigung.

»Es ist jetzt elf Uhr. Seit acht Uhr früh steht der Kraftwagen da. Und das Gesicht hinter dem kleinen Fenster in der Rückwand verschwindet immer nur für Sekunden. Das Fenster hat eine gelbseidene Gardine. Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich annehme, daß die verschleierte Dame in dem Auto unser Haus und unseren Vorgarten beobachtet.«

Ich hatte den Kraftwagen bisher überhaupt noch nicht bemerkt, hatte mich nur gewundert, daß Harst seit neun Uhr alle Augenblicke hier in seinem Arbeitszimmer an das Fenster trat und meine Aufforderung, das schöne Maiwetter zu einem Spaziergang zu benutzen, mit den Worten abgelehnt hatte: »Ich erwarte Arbeit, lieber Alter. Seit zwei Tagen sind wir müßig. Das kann bei den hochschnellenden Lebensmittelpreisen für uns katastrophal werden. Zwei Privatdetektive ohne Klienten sind schlechter dran als Rechtsanwälte ...«

Der letzte Satz hätte ebenso wie der Zeitungsschreiberausdruck »katastrophal« bei Uneingeweihten doch wohl falsche Vorstellungen über unsere Vermögenslage hervorrufen können. Ein Mann wie Harald Harst, Gerichtsassessor a. D., bis vor zwei Jahren weltbekannter Liebhaberdetektiv, dann Berufsdetektiv, weil er zu vornehm war, durch Spekulieren mit seinem Vermögen den Ruin Deutschlands noch zu beschleunigen, – ein Mann von dem Weltrufe eines Harst konnte getrost auch ein paar Monate Arbeitslosigkeit vertragen. Die Sache lag ganz anders. Wenn Harald nichts zu tun hatte – und für ihn gab es ja nur eine Tätigkeit, eben die geistige feine Jongleurarbeit unseres selbstgewählten Berufes – kam sehr bald eine nervöse Unruhe über ihn, gegen die selbst einige vierzig seiner parfümierten Mirakulum-Zigaretten pro Tag nichts halfen. Es war also lediglich die »Sehnsucht nach Arbeit«, die ihn die scherzhaft gemeinten Worte über den »katastrophalen Mangel an Klienten« hatte aussprechen lassen.

»Du erwartest Arbeit durch die verschleierte Dame im Auto,« meinte ich, und kam mir dabei mit meiner Beobachtungsgabe wieder einmal sehr bescheiden im Vergleich zu der meines Freundes und Brotherrn vor, bei dem ich nun bereits ein Jahrzehnt den Privatsekretär spielte, ein Titel, der besser durch »Gehilfe« hätte ersetzt werden müssen.

»Allerdings,« nickte er. »Das Auto stand nämlich auch gestern vormittag hier in der Blücherstraße, freilich vor Nummer sieben. Heute hält es auf der andern Seite. Es ist derselbe Wagen. Gestern konnte ich mir nur den Chauffeur ansehen, da er uns die Vorderseite zeigte. Aber die Dame mit dem weißen Schleier saß ebenfalls darin. Wir werden der Sache nun ein Ende machen und Deinem Wunsch gemäß spazieren gehen. Dann wird sich ja herausstellen, wer – was – und wie ...« –

Fünf Minuten darauf schlenderten wir die Blücherstraße nach der Villenkolonie Grunewald zu hinab, bogen in die zum Teil noch unbebaute Fortenbeckstraße ein und hörten hier sehr bald, daß das Auto uns langsam folgte.

Wir blickten uns nicht ein einziges Mal um.

Wir hatten das nicht nötig. Wenn Harald seine Zigarette zum Munde führte, konnte er durch den in der Hand verborgenen Hohlspiegel die Straße hinter uns im Auge behalten.

»Jetzt ist sie ausgestiegen, mein Alter,« sagte er gerade an der Ecke Cunostraße. »Sie kommt uns nach. Eine schlanke Dame, hellgraues Gabardinekostüm, schwarzer Strohhut mit Reiherstutz, weißer Schleier, moderner Keulenschirm, scheinbar goldene Handtasche. Gang sehr elastisch und doch energisch. Kopfhaltung selbstbewußt. Das blonde Haar kann künstlich gebleicht sein. – Bleiben wir stehen. Immerhin wollen wir vorsichtig sein. Leute wie wir stehen bei gewissen Herrschaften, vom gräflichen Hochstapler angefangen bis hinab zum Kaschemmen-Taschendieb, auf der schwarzen Liste.«

Dann drehte er sich um und schaute der rasch Näherkommenden entgegen, die im Gegensatz zu uns wiederholt nach rückwärts die Straße mit schneller Kopfbewegung überflog.

Das Auto hatte halt gemacht.

Harst lüftete den hellen weichen Filzhut. Ich desgleichen. Die Dame stand vor uns. Sie neigte ein wenig den Kopf zum Gruß.

»Herr Harald Harst und Herr Max Schraut, nicht wahr?«

»Zu dienen ... – Sie wünschen, meine Gnädige?«

»Ich möchte beanspruchen Ihre Hilfe, Herr Harst. Ich bin die Gräfin Helga Södergaard. Hätten Sie Zeit und Neigung für einen Fall von Besonderheit?« – Das Deutsch verriet die Nordländerin, der Name – wenn er richtig war – desgleichen. Eine Schwedin, taxierte ich.

»Gewiß, Zeit und Neigung, Frau Gräfin,« erklärte Harald.

»Dann gehen wir bitte weiter, Herr Harst. Ich will Ihnen vortragen.«

»Wie Sie wünschen, Frau Gräfin.«

Sie teilte uns folgendes mit:

Sie wohnte seit zwei Monaten hier in Berlin in einer vornehmen Pension unter bürgerlichem Namen, um ihre Malstudien bei Professor Helger zu vollenden. In demselben Hause, eine Treppe höher, vermietete eine Geheimratswitwe an Herren möblierte Zimmer. Am 15. Mai, also vor fünf Tagen, fand die Gräfin auf der Treppe einen Brief, der nur einem der Mieter der Geheimrätin aus der Tasche gefallen sein konnte, der gerade vor der Gräfin das Haus verlassen hatte. Sie hörte ihn noch auf dem unteren Treppenabsatz, konnte ihn jedoch nicht mehr einholen, da der Herr es sehr eilig hatte. Sie bekam ihn auch nicht zu Gesicht, so daß sie nicht wußte, welcher der vier möblierten Herren der Geheimrätin es gewesen sein könnte. Der Brief war ohne Umschlag und zu einer losen Kugel zusammengeknüllt. –

Nach dieser Einleitung öffnete die Gräfin ihr Handtäschchen und reichte Harst der zerknitterten Briefbogen.

»Wenn Sie ihn gelesen haben, Herr Harst, werden Sie verstehen, daß ich Sie wollte aufsuchen heute,« sagte sie dazu. »Ich sah aus Ihrem Hause treten zwei Herren, als mein Auto kam die Straße entlang, und da habe ich gegeben dem Chauffeur den Befehl, zu folgen Ihnen beiden, weil ich glaubte, es müßten Sie beide sein nach der Beschreibung.«

Harald nahm von diesen Unwahrheiten keinerlei Notiz, blieb stehen und hielt den Brief so, daß ich mitlesen konnte.

Es war ein einzelner großer Bogen, sehr gutes, etwas rauhes Papier. In lila Maschinenschrift war darauf zu lesen:

 

Berlin, den 3. Februar 1923.

Sehr geehrter Herr,

gestatten Sie, daß wir Sie auf unsere Vereinigung aufmerksam machen. Die Mitglieder bestehen aus Leuten, deren Schicksale, was deren Höhepunkt angeht, Ihrem eigenen traurigen Lose gleichen. Ich brauche Ihnen nicht näher zu erklären, was ich unter diesem Höhepunkt verstehe. Ich bin überzeugt, daß Ihre Einsamkeit Sie oft wünschen läßt, in Gegenwart von Schicksalsgenossen über Dinge frei und offen zu sprechen, die Sie sonst nie vor einem Menschen erwähnen dürfen. Bei uns finden Sie Trost, Anregung und Unterstützung. Stoßen Sie sich nicht daran, daß wir für unsere Vereinigung einen etwas sensationellen Namen gewählt haben. Er kennzeichnet ja die besondere Art unserer Mitglieder am besten. Sollten Sie die Neigung haben, sich uns anzuschließen, so geben Sie uns unter der Chiffre K. d. T. in der Berliner Mittagspost kurz Nachricht, und Sie werden dann weiter von uns hören. Ihrer Verschwiegenheit sind wir gewiß. Männer wie wir verraten nichts – schon im eigenen Interesse nicht!

Der Klub der Toten.
Alfons Niemand
Zweiter Vorsitzender.

 

Harst blickte von dem seltsamen Briefe auf und die Gräfin mit einem liebenswürdig-ironischen Lächeln an.

»Ein Scherz wahrscheinlich, Frau Gräfin,« meinte er.

»Niemals!« Das klang ganz so, als ob sie genau wüßte, daß der Klub der Toten existierte. »Niemals ein Scherz, Herr Harst. Ich habe ja in der Berliner Mittagspost, deren Nummern vom Februar ich mir suchte zu verschaffen, drei Anzeigen mit der Chiffre K. d. T. gefunden. – Hier sind die drei Anzeigen. Ich habe sie ausgeschnitten, auf Pappe geklebt und neben jede den Tag geschrieben, wo sie war enthalten in der Mittagspost.«

»Das ändert meine Ansicht vielleicht, Frau Gräfin,« sagte Harald nunmehr ganz ernst. »Gestatten Sie ...« Er nahm ihr den Zettel ab, auf den die drei kleinen Anzeigen geklebt waren.

Die oberste vom 5. Februar lautete:

»K. d. T. – Bin nicht abgeneigt.
Bitte Näheres.«

Die zweite vom 10. Februar:

»K. d. T. – Sie sind sehr vorsichtig.
Bitte Endgültiges.«

Die dritte vom 16. Februar:

»K. d. T. – Einverstanden.
Eid. Komme.«

Haralds schmales, von der Gartenarbeit auf dem Harstschen Familiengrundstück leicht gebräuntes Gesicht hatte sich beim Lesen verändert.

»Was haben Sie noch festgestellt, Frau Gräfin?« fragte er nun.

»Nichts – nichts! Ich kann auch nichts mehr feststellen, Herr Harst. Ich muß heimkehren heute noch. Aber Sie bitte ich, den Fall zu untersuchen. Auf Geld es nicht kommt an – gar nicht! Geben Sie mir Nachricht in der Mittagspost unter Chiffre H. v. S., wenn Sie haben ermittelt, was dieser Klub hat als Zweck. Hier in diesem Umschlag ist meine Adresse. – Ah – leider habe ich noch etwas im Auto vergessen, was ich Ihnen zeigen will. Ich eile es zu holen. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.«

Sie ließ auch den Umschlag in Haralds Hand zurück und schritt rasch dem Auto zu – so rasch, daß diese Eile mir etwas verdächtig vorkam.

»Da – der Chauffeur wirft den Motor an,« sagte Harald neben mir. »Sie wird nicht zurückkehren. Sie will unerkannt entschlüpfen.«

Er hatte den weißen Umschlag aufgerissen, den Inhalt herausgezogen: zehn Tausendkronennoten!!

Sonst war nichts darin – nichts – keine Adresse! Nur dieses Vermögen in schwedischen Banknoten!

Ich starrte noch auf die Scheine ...

Hörte das Auto davonrattern – hörte den Motor lautlos weiterarbeiten.

Der Kraftwagen schoß davon, entführte die Gräfin.

Wir hatten von ihr nur den Brief, den Zettel, die Banknoten und den Umschlag als vielverheißende Beweise zurückbehalten, daß diese Begegnung mit der verschleierten kein seltsamer Traum gewesen.

»Ich wußte ja: Arbeit!!« meinte Harald, mit großen klaren Augen dem Auto nachschauend. »Und fraglos eine Arbeit, die besser ist, als Spargelbeete säubern!« Er lachte froh. »Gräfin Helga, Du heißt weder Helga noch Södergaard, bist auch keine Schwedin. Dein Deutsch war Kunst. Deine Wiege stand vielleicht in Berlin wie die meine. – Vorwärts, Alter, – zur Redaktion der Mittagspost! Ich muß die Nummern der Zeitung mir ansehen – bis zum heutigen Tage.«

So begann für uns das Geheimnis des Klubs der Toten.

*

Am Ringbahnhof Berlin-Schmargendorf fanden wir ein freies Mietauto.

Wir stiegen ein. Es ging dem Zentrum Berlins zu.

»Wir wissen von der Verschleierten herzlich wenig,« sagte Harst, als wir den Kurfürstendamm erreicht hatten. »Der Name ist Schwindel, wahrscheinlich auch, daß sie in einem Pensionat wohnt. Wahrscheinlich auch, daß sie den Brief auf einer Treppe gefunden hat und daß es eine Frau Geheimrat mit vier möblierten Herren gibt.«

»Was hältst Du von dem Briefe des angeblichen Klubs?«

Er nahm eine Zigarette. – Drei Züge – dann:

»Es kann einen solchen Klub schon geben, mein Alter. Wir leben in einer tollen Zeit. Kokainschnupfer, Opiumraucher, Fassadenkletterer, die Milliarden stehlen, Beamte, die Milliardenunterschleife machen, Banklehrlinge, die eine Villa besitzen und eine Geliebte, – nichts ist mehr unmöglich in Berlin!«

»Verstehst Du die Andeutungen über die besondere Art der Mitglieder des Klubs?« fragte ich gespannt.

»Nein. Genau so wenig wie Du.«

»Ich hoffe, die Frau bis zum Mittagessen gefunden zu haben, mein Alter. Dann werden wir sie beobachten, und sie wird uns viel verraten, ohne es zu ahnen. Der Klub kommt erst in zweiter Linie heran.« –

Auf der Redaktion der Mittagspost sahen wir die Nummern bis heute genau durch.

Und stießen so auf noch zwei K.-d.-T.-Anzeigen, vom 12. Mai und vom 16. Mai, also jüngsten Datums. – Sie lauteten:

»K. d. T. – Sehr gern.
Bitte nähere Angaben.«

»K. d. T. – Einverstanden.
Eid. Komme.«

Im ganzen gab es also fünf K.-d.-T.-Anzeigen. Die beiden vom 16. Februar und 16. Mai waren im Wortlaut gleich.

»Diese völlige Gleichheit,« sagte Harst, als wir die Redaktion verließen, »läßt den Schluß zu, daß dieser Wortlaut von dem Klub von den Anwärtern auf die Mitgliedschaft verlangt worden ist. Das Wort ›Eid‹ dürfte bedeuten, daß der Anwärter sich eidlich verpflichtet, die Statuten des Klubs einzuhalten. Und es handelt sich um zwei Anwärter, die durch die Anzeigen mit dem Klub in Verbindung getreten und auch Mitglieder geworden sind.«

Wir wichen dem Menschengewühl der Leipziger Straße aus und bogen in die Wilhelmstraße ein.

»Hast Du den Zettel mit der Autonummer bei Dir?« fragte Harald.

»Ja. – Hier ist er.«

»Dann fahren wir zum Polizeipräsidium, Verkehrsabteilung. Die Verschleierte weiß nicht, daß wir die Autonummer kennen. Das ist viel wert.« –

So stellten wir fest, daß der Personenkraftwagen A 131411 dem Autoverleihinstitut Beyer u. Komp, in der Paulsborner Straße gehörte.

Eine halbe Stunde später waren wir daheim in unserem Ankleidezimmer. Die sämtlichen elektrischen Birnen brannten, und die vier hohen drehbaren Stehspiegel zeigten uns beide in der rasch vollendeten Maske zweier blondbärtiger Herren gesetzten Alters und entsprechender Kleidung.

Genau um halb zwei betraten wir das Büro von Beyer u. Komp. Harst spielte den schwedischen Großkaufmann Lörnsen mit der ganzen kühlen Würde eines kaltblütigen Stockholmers.

Herr Beyer bücklingte bis zur Erde. »Bitte, ich werde den Herren unsere eleganteren Kraftwagen sofort vorführen. Sie werden fraglos etwas Passendes finden.«

Wir fanden auch das, was uns interessierte: auf dem Hofe stand Nr. A 131411 und wurde gerade gereinigt. Harst ging auf das Auto zu.

»Das ist leider seit vorgestern vergeben, Herr Lörnsen,« beeilte sich Herr Beyer zu erklären.

»So?! Der Wagen gefällt mir.«

»Wir haben noch elegantere ...«

»Aber wohl kaum diese Marke. Mein Chauffeur und Diener ist gerade auf Hellas eingefahren. Sagen Sie mir, wer den Hellas-Wagen gemietet hat. Ich werde mich mit dem Herrn schon einigen. Ihm ist es vielleicht gleichgültig, ob er gerade einen Hellas fährt.«

Herr Beyer meinte kläglich: »Es handelt sich um eine Dame, Herr Lörnsen, um eine Frau Baronin van Koorter. Sie wohnt in der Pension Gerwing, Kurfürstendamm 458. Ich werde persönlich versuchen, sie zu bewegen, Ihnen den Hellas abzutreten. Die Dame wünscht nicht, daß ich über die Entleihung des Autos mit jemandem spreche. Ich bitte Sie daher, Herr Lörnsen, sich zu gedulden. Ich muß die Frau Baronin erst einmal anrufen.«

»Lassen Sie das. Das ist mir zu umständlich. Ich nehme dann ein anderes Auto. – Wie lange hat die Baronin den Hellas denn noch fest gemietet?«

»Vorläufig noch für drei Tage.«

»Schade! – Mit Chauffeur? Ich habe nämlich meinen Chauffeur mitgebracht.«

»Oh – die Frau Baronin auch. Sie ist sehr schön, Herr Lörnsen. Ihr Chauffeur ist so faul, daß er nicht mal den Wagen reinigt,« redete Herr Beyer ins Blaue hinein, nur um uns bei Laune zu erhalten. »Ich glaube, die Baronin hat den Hellas ohne Wissen ihres Gatten gemietet. Vielleicht eine kleine Liebesaffäre ...!« Und Beyer grinste genießerhaft.

»Das alles ist mir sehr gleichgültig,« sagte Harst-Lörnsen scheinbar grob. »Zeigen Sie mir andere Wagen.«

Wir wählten einen Opel aus, hinterlegten Sicherheit und wollten den Chauffeur schicken, sobald wir das Auto brauchten. Dann gingen wir kühl und stolz davon. Wir hatten die zehn Tausendkronenscheine auf diese Weise bei Beyer u. Komp. gut untergebracht, und Beyer hatte versprechen müssen, über das Leihgeschäft zu schweigen. »Ich fahre für gewöhnlich nicht mit entliehenen Wagen,« hatte Herr Lörnsen vollen Großkaufmannshochmuts erklärt. –

»Fein, mein Alter, wie?!« lachte Harald zufrieden, als wir den Kurfürstendamm erreicht hatten. »Nun zur Pension Gerwing, aber einzeln. Ich zuerst, Du zehn Minuten später. Bei Gerwing erkennen wir uns dann als Freunde aus Stockholm wieder, als Holzhändler en gros.«

Bei Gerwing führte mich das niedliche Stubenmädchen in den Empfangssalon. »Die Frau Geheimrat wird sofort erscheinen, mein Herr,« erklärte sie und ließ mich allein.

Frau Gerwing erschien sehr bald. Eine Frau in den Fünfzigern, mit einem goldenen Kneifer auf der spitzen Nase und der gemessenen Höflichkeit der großen Dame. »Nein, ein Zimmer ist zur Zeit nicht frei,« erklärte sie, ohne Platz zu nehmen.

Das hieß Pech haben. Was sollte ich hier noch?

Da fügte sie hinzu: »Vielleicht hat Frau Doktor Römer, die über mir wohnt, noch etwas frei. Ich habe allerdings soeben einen anderen Herrn bereits nach oben geschickt.«

Ich empfahl mich und eilte in den dritten Stock.

An der Flurtür Frau Doktor Römers hingen drei Visitenkarten. Ich läutete. Eine korpulente Dame mit freundlichem Lächeln öffnete.

Sie bedauere außerordentlich, erklärte sie, das noch freie Zimmer habe sie soeben vermietet.

So mußte ich denn auch hier unverrichteter Sache abziehen. Natürlich hatte Harald das Zimmer gemietet, und natürlich gewannen die Angaben unserer »Gräfin Södergaard« jetzt durch die Tatsache, daß über dem Pensionat wirklich noch möblierte Herren, freilich bei einer Frau Doktor, wohnten, ein ganz anderes Aussehen.

Ich schlenderte unten vor dem Hause auf und ab, bis Harald sichtbar wurde. Ich folgte ihm, als ob wir einander fremd wären. Erst in einer Seitenstraße blieb er stehen. Seinem Gesicht merkte ich sofort an, daß er Wichtiges in Erfahrung gebracht hatte.

»Mein Alter, der Fall wächst, blüht und gedeiht,« sagte er. »Fahren wir heim. Ich muß sehr bald wieder bei der Frau Doktor Römer sein. Ich bin Oskar Lörnsen aus Stockholm geblieben, hole nur meine Koffer und meinen Diener vom Bahnhof ab. Ich habe für acht Tage gemietet. Mein Diener und Chauffeur wird im Mädchenzimmer einquartiert. Die dicke Römer hat einen geradezu unverschämten Preis gefordert. Ich war mit Freuden mit allem einverstanden, denn – sperre die Ohren auf! – mein Vorgänger in dem Balkonzimmer ist seit dem 17. abends überfällig.«

»Ah – verschwunden?«

»Nicht ganz. – Auto halt ... Chauffeur, Blücherstraße 20, Schmargendorf ...!«

Das Auto glitt mit uns weiter.

»Nicht ganz verschwunden. – Zunächst aber mal das Datum, der 17te,« erklärte Harst lebhaft. »In der Nummer der Mittagspost vom 16. Mai fanden wir die Anzeige »Einverstanden, Eid. Komme.« Diese Anzeige deutet darauf hin, daß der Anwärter auf die Mitgliedschaft des Klubs der Toten demnächst an einer Klubsitzung teilnehmen wollte. Mein Vorgänger im Balkonzimmer der Römer war nun ein Herr Sergius Umanoff, ein Deutschrusse aus dem Petroleumgebiet Baku. Am 17ten abends sagte er zu Frau Römer, er würde wahrscheinlich erst vormittags heimkehren. Er sei auswärts eingeladen. Aber – er kam nicht zurück, vielmehr kam ein Telegramm am Abend des 18ten, also vorgestern, in dem Umanoff der Römer mitteilte, er sei ganz plötzlich zur Abreise gezwungen worden. Geschäfte riefen ihn nach Hamburg. Seine Koffer würde er durch einen Dienstmann abholen lassen, der auch einpacken würde, was noch in Schränken und Schubladen sich befinde. Der Dienstmann würde sich durch die Schlüssel zu den Koffern, dem Schreibtisch und dem Schrank ausweisen und auch die Miete bis zum ersten Juli bezahlen.«

Ich hörte atemlos zu. Ich übersah die Dinge bereits. »Und der Dienstmann kam?« meinte ich, Harst zum Weitersprechen ermunternd.

»Ja. Heute früh acht Uhr. Er hatte Schlüssel und Geld mit, packte alles ein und zog mit den Koffern ab. – Die Sache ist klar, denke ich.«

»Allerdings, ganz klar. Der Klub ist eine Bande von Gaunern, die harmlose Gemüter in eine Falle locken und vielleicht beseitigen. Die Depesche an die Römer kann jeder Beliebige abgeschickt haben. Der Dienstmann gehörte mit zu dem feinen Klub, und die Schlüssel hat man Umanoff eben gewaltsam abgenommen. Umanoff ist der zweite Anwärter, der die letzten beiden K.-d.-T.-Anzeigen eingerückt hat.«

»Ohne Zweifel ist er es. Nur ...«

»Nun – – nur?!«

»Wie ist die Baronin van Koorter zu dem Klubbrief vom 3. Februar gekommen?«

»Hm – das ist merkwürdig! Wenn es noch ein Brief mit Datum vom Mai gewesen wäre, dann hätte Umanoff ihn verloren haben können! Aber so ...!!«

»Und dann: im Empfangszimmer der Pension Gerwing habe ich schnell das Fremdenbuch eingesehen. Die Baronin nebst Gatten, Vorname Egbert, beheimatet in Sellin auf Rügen, wohnen seit dem 1. Februar bei der Geheimrätin, Umanoff aber bei der Römer seit dem 20. Februar. Er traf also neunzehn Tage nach Koorters ein. Ob das ein Zufall ist – trotz der neunzehn Tage Zwischenraum?«

»Kaum ...!«

»Nicht wahr, es ist kein Zufall. Zwischen Umanoff und der blonden Baronin besteht irgend eine noch dunkle Verbindung, behaupte ich.«

»Sie besteht, ohne Frage,« nickte ich eifrig.

Das Auto hielt vor Blücherstraße Nr. 20. Der Chauffeur berechnete den Fahrpreis, ein Vermögen nach Vorkriegskurs, Harst bezahlte, und wir gingen zu Fuß bis Nr. 10, bis zum Harstschen Grundstück.

In Haralds Arbeitszimmer lag auf dem Tische vor dem Klubsofa eine Depesche. Die Köchin Mathilde erklärte, der Depeschenbote sei vor fünf Minuten dagewesen.

Das Telegramm lautete:

»Harald Harst,
Blücherstraße 10, Schmargendorf,

Vor meiner Abreise nochmals dringende Bitte, Angelegenheit gründlich zu untersuchen. Weitere 10000 als Wertbrief soeben abgeschickt. Empfehle Römer, Kurfürstendamm 458, Ihrer sorgfältigen Beachtung. – Helga Södergaard.«

 

»Aha, sie fürchtet, wir könnten doch vielleicht auf Sergius Umanoff nicht aufmerksam werden. Sie unterschätzt uns! Und noch zehntausend Kronen ...!! Mein Alter, wenn die Baronin eine Liebschaft mit Umanoff gehabt hätte, wenn sie nun seines Verschwindens wegen in Sorge wäre! Sie läßt sich die Sache etwas kosten! Seit dem 17ten abends ist Umanoff überfällig, und gestern am 19 vormittags hielt das Leihauto der Baronin zum ersten Male in der Straße. Also hat vielleicht die Angst um Umanoff die Baronin schon gestern hierher getrieben. Ihr Gatte weiß nicht, daß sie das Auto seit vorgestern gemietet hat. Beyer deutete ja ebenfalls eine Liebesaffäre an. Obwohl mir diese Lösung zu alltäglich ist, insofern auch zweifelhaft, als die Baronin uns doch getrost hätte anvertrauen können, daß ein ihr bekannter Herr verschwunden sei. Sie hätte ja nicht gerade von Liebhaber sprechen brauchen. Sie muß sehr schwerwiegende Gründe für ihre Zurückhaltung gehabt haben.«

Harst wollte noch mehr hinzufügen. Draußen im Flur hatte es jedoch geläutet.

Wir hörten der Köchin Mathilde etwas keifende Stimme, dazu einen tiefen Männerbaß. Dann kam Mathilde und überreichte Harald eine Karte:

Baron Egbert van Koorter,
Gutsbesitzer,
Gut Eichenhorst, Sellin auf Rügen.

Wir sahen uns an.

»Bitten Sie den Herrn, hier Platz zu nehmen, Mathilde,« sagte Harald. »Wir wollen nur unsere Verkleidung ablegen.«

*

»Van Koorter,« stellte sich der schlanke, sonngebräunte Herr mit den unruhigen dunklen Augen vor.

Wir setzten uns um den Mitteltisch in die tiefen Klubsessel.

»Zunächst eine Frage, Herr Harst,« begann van Koorter mit künstlich gedämpfter Stimme, die so einen schläfrigen Klang bekam, die so gar nicht zu Koorters fast brutalem Gesicht paßte. Er war der Typ der Draufgänger, dem eine gewisse Art von Weibern ganz von selbst in die Krallen läuft. – »Sind Sie zur Zeit dringend mit irgend einem Fall beschäftigt?«

»Nein, Herr Baron. Dringend nicht. Nur eine alltägliche Geschichte.«

»Das freut mich. Sie sollen für mich nach Buchara reisen.«

Auch Harst war einen Moment verblüfft.

»Etwas weit und sehr teuer, Herr van Koorter,« meinte er. »Falls Sie eben an Buchara in Asien denken.«

»Allerdings – Buchara, Hauptstadt des gleichnamigen asiatischen Sultanats. Ich will Ihnen die Angelegenheit näher erklären. Auf Ihre Verschwiegenheit darf ich wohl rechnen.«

»Selbstverständlich ...«

»Ein Bekannter von mir« – er schaute zu Boden und sprach sehr bedächtig und noch leiser – »war als Ingenieur längere Zeit in Buchara. Es wurde da eine Eisenbahn von einem amerikanischen Konsortium nach neuentdeckten Erzlagern in den Westausläufern des Alai-Tagh-Gebirges gebaut. Mein Freund Müller starb dann an der Cholera. Vor zehn Tagen erhielt ich einen Brief von ihm, den er auf seinem Sterbelager geschrieben hatte. Dem Briefe lag eine Zeichnung bei. Und in dem Briefe stand zum Schluß wörtlich: »Da ich keine Angehörigen habe, sollst Du mein Erbe sein. Die beiliegende Skizze wird Dich zum reichsten Manne Europas machen. Reise nach Buchara. Dein heller Kopf wird dir mit Hilfe der Karte den Weg weisen.« – Das war alles, Herr Harst. Da ich Müller nun als einen sehr ernsten Menschen kenne, der in keiner Weise zu Uebertreibungen neigt, bin ich überzeugt, daß seine Erbschaft wirklich so wertvoll ist. Worin sie besteht, weiß ich nicht. Im Alai-Thag-Gebirge sind Gold, Edelsteine, Erze und Kohlen gefunden worden. Möglich, daß es sich um eine Goldader handelt. Ich habe nun Müllers Zeichnung hier aufs genaueste kopiert.« Er zog einen Bogen Papier aus der Tasche. »Die Originalzeichnung möchte ich nicht aus der Hand geben, Herr Harst. Sie sehen hier oben drei Bergzüge, die etwa ein Dreieck bilden, in dessen Mitte sich ein kleines Viereck mit dem Bilde eines Geschützes daneben befindet. Von dem Viereck läuft eine punktierte Linie nach Nordwest gerade auf den Berührungspunkt zweier der Bergzüge zu. Diese Linie endet in einem Kreis, neben dem das Bild einer Flasche zu erkennen ist. Eine zweite dicke Linie geht von dem Viereck nach Süden bis zum unteren Rande der Zeichnung, wo sie bei einem Vogelflügel und einer Bibel mit einem Kreuz auf dem Deckel aufhört. – Sie werden nun zugeben, Herr Harst, daß diese Geheimskizze schwer zu deuten ist. Es ist natürlich eine Landkarte. Aber – es gehört Genie dazu, das Bilderrebus zu lösen.« Er lächelte etwas gezwungen. »Sie werden es vielleicht lösen, Herr Harst. Natürlich können Sie das nur an Ort und Stelle.«

»Vielleicht,« meinte Harst achselzuckend. »Wo soll man denn zu suchen beginnen? Die Zeichnung ist sehr unklar.«

Das fand auch ich. Mit dieser Skizze war wenig anzufangen.

»Vielleicht liegen die drei Bergzüge in der Nähe der Eisenbahn, Herr Harst, die Müller bauen half,« feuerte Koorter Haralds Geist an. »Ich glaube dies sogar bestimmt. Der Vogelflügel und die Bibel bezeichnen doch fraglos den Ort, von dem man ausgehen soll.«

Harst blickte ins Weite. »Ja – vielleicht.«

Koorter wurde ungeduldig, holte eine Brieftasche hervor und zählte ... dreitausend Dollar in Hundert-Dollarnoten auf.

»Damit kommen Sie bequem hin und zurück, Herr Harst,« sagte er mit Eifer. »Alles andere überlasse ich Ihnen. Ueber Ihr Honorar werden wir einig werden. Jedenfalls soll es ein Zehntel des Wertes der Erbschaft mindestens betragen. Das gebe ich Ihnen schriftlich. Bitte – hier habe ich alles bereits aufgesetzt.«

Harald machte eine kurze Handbewegung. »Geben Sie mir bis morgen abend oder besser bis übermorgen früh Bedenkzeit, Herr van Koorter. Wahrscheinlich werde ich den Auftrag annehmen. Ich darf meine Arbeitskraft bis morgen nicht zersplittern. Ich soll einen Deutschrussen suchen, – langweilig, aber einträglich.«

Ah – das hatte gesessen. Bei dem Worte »Deutschrussen« war Koorter zusammengezuckt, hatte rasch die scheuen Augen wieder auf den Teppich gerichtet und sagte nun scheinbar gleichgültig:

»Der Herr ist also verschwunden ... – Ich kenne viele Deutschrussen. Dürfte ich den Namen erfahren?«

»Warum nicht. Alexander Pankyr heißt der Herr. Seine Braut sorgt sich um ihn. Er lebte zuletzt in Stettin. Ist Ihnen der Name bekannt?«

Man sah, daß Koorter erleichtert aufatmete.

»Nein, ganz unbekannt, Herr Harst. – Sie geben mir dann also übermorgen früh Nachricht, nicht wahr? Bitte telephonisch – nur mir persönlich. Ich wohne in der Pension Gerwing, Kurfürstendamm 458, Amt Kurfürst, Nummer 19028. Hoffentlich sagen Sie zu ...«

»Ich glaube eher ja als nein, Herr van Koorter.«

Der Gutsbesitzer lächelte befriedigt, packte sein Geld und die Zeichnung wieder ein und verabschiedete sich, da Harald sich erhoben hatte.

Harst ging sofort ins Ankleidezimmer. Während er vor dem Spiegel wieder Herr Lörnsen aus Stockholm wurde und ich mich in den Diener und Chauffeur verwandelte, sprachen wir über Koorter und seinen Auftrag.

»Zweierlei kann vorliegen,« meinte Harald. »Entweder will Koorter, der seiner Frau nachspioniert hat und weiß, daß sie sich mit uns in Verbindung gesetzt hat, uns für Monate aus Deutschland durch seinen Auftrag, dessen Einzelheiten dann glatte Erfindungen sind, entfernen, oder die Sache mit der Skizze hat ihre Richtigkeit. Jedenfalls: er verriet, daß er Umanoff, den Deutschrussen, kennt. Und er verriet weiter, daß er fürchtete, wir sollten Umanoff suchen. – Mein Alter, der Fall wächst, blüht und gedeiht!«

»Hm – wer wirft wohl so leicht 3000 Dollar weg, um zwei Detektive auszuschalten? Offen gestanden, Harald: ich glaube, die Sache mit Müller-Buchara stimmt!«

»Ich möchte das ja auch beinahe annehmen – der Skizze wegen! Ich traue Koorter die Genialität nicht zu, den Namen Buchara durch einen Vogelflügel und eine Bibel darzustellen.«

Ich drehte mich um.

»Wie – Flügel und Bibel bedeuten ...«

»Ja, – eine Bibel ist ein Buch, und ara, das lateinische Hauptwort, ist deutsch gleich Flügel. Das lernt man in der Sexta unter den ersten lateinischen Vokabeln. Also Buch und ara ergibt Buchara. Und von Buchara soll man nach der Skizze nach Norden sich wenden, wahrscheinlich eine Karawanenstraße entlang – bis zu dem Viereck mit der Kanone, was doch wohl ein Fort, ein Grenzfort, sein soll, und dann nach Nordwest bis zu dem Kreis mit der Flasche, was einen See oder dergleichen bezeichnen dürfte, denn eine Flasche ist zur Aufnahme von Flüssigkeiten bestimmt – von Wasser.«

Ich war sprachlos.

»In dem Kreise neben der Flasche war übrigens ein Punkt, mein Alter. Das kann eine Insel sein. Und die punktierte Linie lief auch bis zu diesem Punkt hin. – Lassen wir dies alles jetzt. Erst müssen wir den Klub der Toten erledigen.«

»Zu dem vielleicht Koorter gehört ...!« sagte ich triumphierend. »Weshalb erschrak er, als Du den Deutschrussen erwähntest? Doch nur, weil er an Umanoff dachte. Er kennt also dessen Schicksal, kennt dessen ...«

»Du wirst recht haben,« fiel er mir ins Wort. »Beeile Dich. Wir dürfen nicht zu spät zu Frau Römer kommen.«

*

Herrn Lörnsens blondbärtiger Diener und Chauffeur namens Holger Lund hatte sich rasch mit Frau Römers Köchin angefreundet, da er leidlich das Deutsche beherrschte, freilich nicht so gut wie sein Herr.

Holger Lund saß um drei Uhr in der Küche und trank Kaffee. Die rotbäckige Marie kramte redefreudig alles über die Mieter von Frau Doktor aus, was sie wußte. Drei wohnten schon fast ein Jahr hier. Nur der Russe sei bloß zwei Monate geblieben.

»Das war'n merkwürdiger Mensch. Herr Lund ... – Wollen Sie noch ne Tasse voll? – So – bitte ... – Ja, ein merkwürdiger Mensch. Er ging nur abends aus, bekam nie Besuch, nie einen Brief ... das heißt, einen einzigen kriegte er doch mal. Das war – ja – das war am I7ten morgens. Ich nahm ihn dem Postboten ab. Hinten war'n Stempel drauf mit drei Buchstaben, und vorn Maschinenschrift.«

»Was für Buchstaben, Fräulein Marie?«

»Na – drei eben, ein K, ein d und ein T. Ich hätt's wohl nicht behalten, aber das erinnerte doch so an unser nächstes Kaufhaus, ans K. d. W., ans Kaufhaus des Westens.«

»So ... so – daher!« lächelte Lund.

»Aber der Umanoff war doch son Dong Schuang, Herr Lund ... Wirklich! Wenn ich reden wollte!«

»Reden Sie nur. Ich bin ganz schweigsam, Fräulein Marie. Sie erzählen so gut ...«

»Na – mit der Baronin von unten, Herr Lund, da hat er von seinem Balkon Zettel an 'nem Faden ausgetauscht.«

»Welche Baronin?«

»Ach so – Sie kennen die schöne Frau Hella ja noch nicht! Schön, aber unglücklich! Is das ne Ehe!!«

Und Marie ließ sich von mir, Holger Lund, weiter ausforschen. Leider erfuhr ich nur noch, daß der Baron keinen Abend zu Hause war, daß er furchtbar von Eifersucht geplagt wurde und seine Frau abends immer einschloß, wenn er ausging. Er hatte Sicherheitsschlösser an den Türen des Zimmers seiner Gattin anbringen lassen, die sehr viel weinte. Marie hatte fünfmal beobachtet, wie Umanoff und die Baronin von Balkon zu Balkon Zettel wechselten, stets spät abends. –

Diese Neuigkeiten mußte ich Harald sofort mitteilen. Ich entschuldigte mich bei Marie, erklärte, ich müßte einmal sehen, ob mein Herr mich brauche, und klopfte bei Harst an.

Herr Lörnsen öffnete erst, nachdem er gefragt, wer draußen sei.

Und Herr Lörnsen, Großkaufmann aus Stockholm, war in Hemdärmeln und hatte Hände wie ein Kaminkehrer. Auch das bunte Oberhemd hatte seinen Teil Ofenruß abbekommen.

Der große Eckofen, so ein Ungetüm, das nie richtig warm wird und höhnisch und zwecklos die teuren Preßkohlen frißt, hatte sich's gefallen lassen müssen, gründlich durchsucht zu werden.

Harsts Augen aber strahlten in hellem Triumph. Er deutete auf den Schreibtisch. Da lag auf einer ausgebreiteten Zeitung eine armselige, rußgeschwärzte, mit Zwirn geflickte Glanzlederbrieftasche.

Ich schaute nur flüchtig hin, legte dann ein Handtuch über den Türdrücker, so daß das Schlüsselloch mit verdeckt wurde, und flüsterte:

»Die Köchin spioniert!«

Harald nickte. »Das tun sie alle, die Küchenfeen. – Und das fand ich im Ofen – ganz oben, wo die Feuerung in die erste Windung übergeht. Ich hatte mir nicht denken können, daß dieser Umanoff auch seine Papiere dem immerhin unsicheren Gewahrsam eines Koffers anvertraut haben sollte. Im übrigen ist der Ofen auch wohl von dem falschen Dienstmann, der Umanoffs Koffer abholte, durchwühlt worden, nur nicht sorgfältig genug.«

Er begann die Brieftasche zu säubern.

»Erzähle. Die Köchin hat Dir Neues berichtet,« sagte er dabei.

Ich erzählte.

Und Harald meinte dann nachdenklich: »Die Beziehungen, die wir zwischen der Baronin und Umanoff vermuteten, sind also weit enger, als wir annehmen konnten! Und – der Baron eifersüchtig – schließt die Frau abends ein, die viel weint! Ob Sergius Umanoff vielleicht doch ihr Liebhaber ist?«

Er hatte sich inzwischen die Hände gewaschen, hatte sich an den Schreibtisch gesetzt, zog die Papiere aus der Brieftasche, die in ein Stück Oelleinwand gehüllt waren. Da war zunächst eine Quartiernachweisung des schwedischen Hilfskomitees für zurückkehrende Kriegsgefangene, lautend für den Unteroffizier der Landwehr Karl Beege aus Berlin. Da war ein Militärfahrschein aus dem Jahre 1916 auf denselben Namen ...

Da waren zwei Briefe mit Umschlägen, nach Stockholm an denselben Beege adressiert, Briefe eines gewissen Ernst Wölk, Berlin N. W., Turmstraße 204.

Die Briefe waren in sehr herzlichem Ton gehalten, enthielten tröstende Worte, Ermahnungen, das Unglück nicht zu schwer zu nehmen. Was für ein Unglück, war nicht gesagt. Die Schrift war auch zum Teil unleserlich, so, als ob reichliche Tränen die Zeilen benetzt und verwischt hätten.

Dann war da das stark bescheuerte Bild einer hübschen, üppigen Frau, Visitformat, angefertigt in Berlin von einem Berufsphotographen.

Und schließlich eine Urkunde in russischer Sprache, die Harald als Geburtsschein des Sergius Umanoff entzifferte.

Umanoff!! Also hatte die Brieftasche wirklich dem Deutschrussen gehört! –

Harst packte die Papiere wieder ein und steckte die Brieftasche zu sich.

»Hole das Auto von Beyer,« meinte er. »Ich will zu Ernst Wölk fahren.«

Um vier Uhr hielt ich vor Turmstraße 204. Harald verschwand in der verräucherten Mietskaserne. Und kam nach einer halben Stunde wieder heraus, rief mir zu:

»Tiergarten – eine stille Straße.«

Ich verstand. In der stillen Straße konnten wir über den Besuch bei Herrn Wölk reden.

In der Nähe des Schleusenhauses machte ich halt. Wir taten so, als ob am Motor etwas in Unordnung wäre. »Wölk ist Prokurist einer Getreidefirma und zur Zeit Rekonvaleszent,« berichtete Harald. »Ich spielte auch bei ihm den Schweden, erklärte, ein gewisser Karl Beege habe bei mir in Stockholm einen Tag gewohnt. Daher wüßte ich auch Wölks Adresse. Ich möchte Beege gern wiedersehen. – Die verlegene Antwort lautete: »Beege ist tot, verstorben.« – Mehr war von Wölk nicht zu erfahren. Aber er wußte mehr, weit mehr! Das merkte ich. Schließlich behauptete er sogar, keinen einzigen von Beeges Angehörigen zu kennen. – Alles Unwahrheiten! Beege ist mit Umanoff identisch, mein Alter, ist der, den der Klub der Toten an sich gelockt und vielleicht beseitigt hat. – Daß Beege-Umanoff jetzt verschwunden ist, wußte Wölk offenbar noch nicht. Ich war ihm gegenüber sehr vorsichtig. Er ist nicht im geringsten mißtrauisch geworden, daß ich etwa nicht ein Stockholmer wäre. Jedenfalls sind wir abermals einen Schritt weiter gekommen. Der Knoten entwirrt sich. Wir werden diesen Abend nun dem Baron Egbert van Koorter widmen. Daher – nach der Paulsborner Straße. Du bringst das Auto zurück. Vorläufig. Abends werden wir es wieder brauchen. Wir haben ja bis neun Uhr Zeit. Die Köchin sagte, der Baron ginge nie vor halb zehn aus.« – –

Der Fall »Klub der Toten« hatte für uns bisher nicht übermäßig viel aufregende Momente gebracht. Er war ohne Zweifel spannend, dunkel, aber dabei, was unsere Detektivarbeit betraf, harmlos und ungefährlich gewesen. Das sollte sich mit einem Schlage ändern. Die Rätsel sollten sich noch mehr häufen, und was wir bisher als geklärt erachteten, sollte als völlig haltlos und falsch in sich zusammenstürzen und ein Chaos bilden, dem nur einer gewachsen war: Harald Harst! –

Wir blieben bis halb neun Uhr abends daheim. Harald hatte Frau Römer telephonisch als Lörnsen Bescheid gegeben, daß er mit seinem Chauffeur eine längere Spazierfahrt unternehmen wollte und erst spät abends heimkehren würde.

Um neun holte ich unser Auto von Beyer. Harst wartete an der nächsten Ecke, stieg ein, und wir fuhren den Kurfürstendamm hinab, hielten zwei Häuser vor Nr. 458.

Auch unser Kraftwagen hatte hinten ein kleines Fenster. Auf dieses Fenster hatte Harald Wert gelegt. – Kurz vor halb zehn erschien der Baron im dunklen Lodenmantel, Sportmütze und Schirm.

Er ging auf die andere Seite hinüber, blieb dort stehen und schien die nicht gerade zahlreichen Fußgänger auf Herz und Nieren mit den Augen prüfen zu wollen. Sein Benehmen bewies, daß er Spione befürchtete.

Er spannte den Schirm schließlich auf und ging langsam in die Knesebeckstraße hinein. Harst saß schon im Auto. Wir folgten dem Baron. Plötzlich machte er kurz kehrt und blieb wieder stehen. Ich fuhr an ihm vorüber. Er beachtete das Auto nicht. Sein Mißtrauen galt nur Fußgängern.

Es würde zu weit führen, wollte ich hier alle Tricks des Barons aufzählen, die er anwendete, um festzustellen, ob er beobachtet würde.

Erst gegen zehn Uhr nahm er an der Gedächtniskirche eine Droschke und fuhr die Passauer Straße hinab.

Harst war zu mir auf den Vordersitz geklettert.

Die Verfolgung ging bis zum westlichen Vorort Dahlem. Hier stieg Koorter aus und ging zu Fuß weiter. In der Dorfstraße in Dahlem, wo es noch so viele kleine behagliche Häuschen gibt, blieb Harald allein hinter ihm. Ich wartete vor einer kleinen Kneipe mit dem Auto, wartete zehn Minuten – fünfzehn Minuten.

Dann hörte ich durch den alle Geräusche dämpfenden Regen von Westen her, von den Feldern, den schwachen Knall von Schüssen, von Pistolenschüssen ...

Angst packte mich. Ich kannte ja Haralds vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber jeder Gefahr. Ich wußte auch, daß der Fall K. d. T. jetzt sein ganzes Denken erfüllte. Wer so lange wie ich mit Harald Harst zusammengearbeitet hat, versteht es, all die kleinen Besonderheiten seines Benehmens zu deuten.

Angst packte mich, und dennoch konnte ich das Auto nicht allein lassen. Gewiß, hin und wieder kamen Menschen vorüber. Aber wem durfte ich den Kraftwagen anvertrauen?

Da – eine Radfahrerpatrouille der grünen Polizei, zwei Mann ...

Die konnte ich vielleicht bitten, das Auto eine Weile zu beaufsichtigen.

Ich ging ihnen entgegen ...

»He – Lund!!« Scharf und befehlend dieser Anruf hinter mir ...

Harst – Harst – – endlich!

Ich kehrte um, lief auf ihn zu.

Die beiden Beamten waren schon neben uns, sprangen von den Rädern.

»Wir hörten da Schüsse,« sagte der eine, mißtrauisch uns musternd.

Harald war außer Atem. Das Licht der nahen Laterne fiel auf seine völlig mit feuchter Erde bedeckten Stiefel. Die Wachtmeister hatten die Augen überall.

»Woher kamen Sie?« fragte der eine Harst und deutete auf dessen Schuhe. »Sie waren auf dem Felde draußen.«

Harald ließ sich mit der Antwort Zeit.

»Es wird doch am besten sein, ich gebe mich zu erkennen,« meinte er dann. Und er nahm den regenfeuchten Filzhut ab und holte aus dem Futter des Hutes seinen mit Lichtbild versehenen Ausweis hervor. »Ich bin Harald Harst. Hier bitte – mein Ausweis.«

Der eine Beamte überlas das Papier flüchtig.

»Können wir Ihnen irgendwie helfen?« fragte er darauf sehr höflich. »Ist dort auf dem Felde etwas geschehen, Herr Harst?«

»Ja – ein Mann ist erschossen worden. Hören Sie mal genau hin. Es darf auf keinen Fall an die Öffentlichkeit gelangen, daß mein Schraut und ich heute hier in Dahlem waren. Wir sind Verbrechern auf der Spur, die uns ohne Zweifel entschlüpfen, wenn bekannt wird, daß wir beide uns hier eingemischt haben. Schraut und ich verfolgten einen Herrn bis hierher, gegen den bisher nichts Belastendes vorliegt. Wir hatten ihn lediglich im Verdacht, an einem Verbrechen beteiligt zu sein. Er kam mit einer Droschke bis hierher, ging dann zu Fuß bis zu dem Hause Dorfstraße Nr. 104. Neben diesem Hause steht ein Stück von der Straße zurück eines der ältesten Bauernhäuschen Dahlems hinter einer hohen Mauer. Man sieht nur das mit Schilf gedeckte Dach über die Mauer hinwegragen.«

»Kennen wir, Herr Harst,« nickte der Beamte. »Es gehört dem uralten Gärtner Rüdiger.«

»Der Herr, dem ich nachgeschlichen war, betrat nun Nr. 104. Er hatte einen Hausschlüssel. Ich wollte gern sehen, wo ein Fenster im Hause hell wurde. Vorn blieb alles dunkel. Ich umging daher das freistehende Haus und gelangte an den Hofzaun. Während ich noch die Rückfront musterte, kamen von den Büschen eines Feldraines her zwei Männer tief gebückt daher. Sie wollten an mir vorüber, bemerkten mich, schraken zurück und liefen wieder den Büschen zu. Ich hielt sie für Felddiebe und schaute ihnen nach. Erst die vier Schüsse, die ich aus derselben Richtung vernahm, in der die Männer entflohen waren, veranlaßten mich, nun ebenfalls an dem Feldrain entlang ihnen nachzueilen. Zweihundert Meter nach Westen zu etwa stieß ich dann auf einen Mann, der halb in dem Graben des Feldraines lag. Der Mann hatte eine ganz frische Stirnschußwunde. Es war einer der beiden Felddiebe, – falls es solche waren. Der Herr, auf den wir es abgesehen hatten, steht zu diesem Totschlag in keinerlei Beziehung. Sie können ja so tun, als ob Sie infolge der Schüsse das Feld absuchen. Den Toten werden Sie leicht finden. Schweigen Sie jedenfalls vorläufig darüber, daß ich es war, der Sie auf den Toten aufmerksam machte. Sie können es auf meine Verantwortung hin. Ich werde der Polizei nachher schon rechtzeitig die nötigen Aufschlüsse geben.«

»Gut – auf Ihre Verantwortung, Herr Harst,« erklärte der Beamte.

»Sie dürfen in Ihrer Meldung also nur erwähnen, daß Sie durch die Schüsse auf das Feld geführt wurden und dann den Toten entdeckten,« erinnerte Harald nochmals.

»Wird geschehen ...« – Und die beiden Wachtmeister radelten weiter Nr. 104 zu.

Es regnete stärker.

Harst blickte ihnen nach, klappte den Mantelkragen hoch und meinte:

»Glaube nicht, daß ich die beiden angelogen habe, mein Alter. Was ich ihnen mitteilte, stimmt Wort für Wort. Nur zwei kleine Korrekturen der Wahrheit flocht ich ein ...«

»Und die sind?«

Er sah mich sonderbar an.

»Der Tote ist Umanoff-Beege, und der Baron van Koorter kann vielleicht der Mörder sein – vielleicht. – Jetzt – hinein ins Auto und nach unserem Pensionat. Ich muß die Baronin sprechen.«

*

Er setzte sich wieder neben mich auf den Vordersitz. Das Auto glitt weiter.

Ich schaute nach rechts.

»Da ist das Grundstück des Gärtners,« sagte Harald.

Ich sah nur eine rote Ziegelmauer mit einer Verlängerung von Eisenstangen und eng gespannten Stacheldrähten, dahinter ein spitzes Schilfdach mit dickem weißen Schornstein.

Der Kraftwagen bog in die nächste Villenstraße ein.

»Schneller!« meinte Harald. »Es gibt noch vieles zu tun für uns in dieser Nacht. –«

Ich brachte das Auto zu Beyer. Harst war vorher ausgestiegen, hatte noch im Innern des Kraftwagens den dunklen Bart und die Brille entfernt und war wieder Herr Lörnsen aus Stockholm geworden.

Wir trafen uns auf dem Kurfürstendamm. Um halb zwölf waren wir oben in Haralds Balkonzimmer bei Frau Doktor Römer.

Draußen goß es in Strömen. Harald warf nur den Gummimantel ab, schaltete das Licht im Zimmer wieder aus und sagte leise: »Oeffne den Koffer Nummer zwei. Dort habe ich die beiden Strickleitern eingepackt. Nimm Deine Taschenlampe als Leuchte.«

Er trat dann auf den Balkon hinaus, kam nach einer Weile wieder ins Zimmer.

»Unten im Pensionat ist alles dunkel,« flüsterte er. »Her mit der Strickleiter. Wir werden auf den unteren Balkon klettern und Frau Hella van Koorter wecken. Ihr Zimmer liegt ja gerade ...«

Es hatte an die Tür gepocht. Harst schwieg.

Es klopfte nochmals.

Harald öffnete die Tür ein wenig. »Sie wünschen?«

Es war die korpulente Frau Doktor. »Ein Brief ist für Sie abgegeben worden, Herr Lörnsen. Bitte ...«

»Vielen Dank ... – Gute Nacht.« –

Der Brief war versiegelt. Die Adresse hatte Haralds Mutter geschrieben. Sie kannte ja unsere hiesige Wohnung und unsere schwedischen Namen.

Frau Harst schrieb, daß der Baron van Koorter um fünf Uhr nachmittags angerufen und erklärt hätte, er wolle die Reisekosten auf 5000 Dollar erhöhen und uns auch amerikanische Pässe besorgen.

Harald verbrannte den Brief, schüttelte den Kopf. »Unglaublich! Die Sache mit Buchara muß einen tatsächlichen Hintergrund haben. Fünftausend Dollar. Rechne Dir das mal in Mark um, mein Alter! Ein nettes Sümmchen! – Jetzt aber mal erst die Baronin!«

Die Eisenhaken der Strickleiter krallten sich um das Geländer des Balkons. Unten der Kurfürstendamm mit seinen vier Baumreihen war wie ausgefegt, – nur Autos sausten über den regenfeuchten, im Laternenschein glänzenden Asphalt hinweg.

Harst kletterte nach unten. Dann auch ich. Wir duckten uns vor der Flügeltür des Balkonzimmers der Baronin zusammen. Dann klopfte Harald – klopfte nochmals ...

Und kaum fünf Sekunden darauf ging die Tür auf.

Wir erkannten eine dunkelhaarige schlanke Dame in seidenem Kimono ...

»Harst!« flüsterte mein Freund ...

Mit leisem Schrei wich die Frau zurück. Wir traten schnell ein. Ich schloß die Tür, ließ die Vorhänge zufallen. Haralds Taschenlampe blitzte über die Frau hin. Nun sahen wir die schöne Baronin Hella van Koorter zum ersten Male ohne Schleier – und ohne die blonde Perücke, die sie als Gräfin Södergaard vormittags getragen.

»Sie ... Sie haben mich doch gefunden!« hauchte sie stockend.

»Das war nicht schwer, Frau Baronin. – Können wir hier belauscht werden?«

»Nein ...! Nur ... sprechen Sie leise.«

»Nur ein paar Fragen gestatten Sie mir. Zunächst: wen erwarteten Sie hier? Sie sind völlig angekleidet, haben den Kimono über das Kleid gezogen. Sie öffneten die Balkontür so rasch, daß ich nur annehmen kann, Sie rechneten mit einem nächtlichen Besuch. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätten Sie wohl kaum als Frau so ohne weiteres die Balkontür ...«

»Ich bin nicht feige.« Sie richtete sich auf. »Ich erwartete niemand, Herr Harst.«

»Auch – – Sergius Umanoff nicht?«

»Mein Gott ... – Sie wissen ...?!« Sie glitt langsam auf den Diwan, der neben dem Bett stand, senkte den Kopf und flüsterte: »Wo ist Umanoff? Sagen Sie es mir, Herr Harst ...!« Sie hob den Kopf wieder und schaute Harst an.

»Frau Baronin, Sie müssen jetzt ganz offen sein,« bat Harst eindringlich. »Ist Umanoff Ihr Geliebter? Vor einem Detektiv darf es keine Geheimnisse geben, selbst die zartesten nicht. Sie kennen meinen Ruf. Ich bin verschwiegen.«

Ihr Blick änderte die Richtung nicht. »Umanoff ist nicht mein Geliebter, Herr Harst. Ich schwöre es Ihnen!!« erklärte sie fest.

»Dann will ich Ihnen eine traurige Mitteilung machen. Umanoff ist tot.«

Sie war wie erstarrt. Zwei Tränen stahlen sich aus den verschleierten Augen.

»Wie ... wie fand er denn den Tod?« fragte die Baronin scheu und tupfte die Tränen ab.

»Darüber möchte ich später sprechen,« erwiderte Harald langsam. Er überlegte wohl, wie er das Verhör fortsetzen sollte. »Kannten Sie Umanoff nur unter diesem Namen, Frau Baronin?«

»Nein ...«

»Er hieß in Wahrheit Karl Beege, nicht wahr?«

»Ja ...«

»Wissen Sie, daß er dem Klub der Toten beigetreten ist?«

Sie nickte nur.

»Und Sie fürchteten, er könnte dort im Klub festgehalten worden sein? Kamen Sie deshalb zu mir? Sollte ich deshalb diesem seltsamen Klub nachspüren?«

»So ist's, Herr Harst.«

»Weshalb wagten Sie sich nicht offen zu mir?«

»Weil ... weil mein Mann sehr eifersüchtig ist. Ich muß sehr vorsichtig sein.«

»Bitte, antworten Sie rascher, Frau Baronin. Wir dürfen nicht zu lange bei Ihnen bleiben. Ihr Gatte kann zurückkehren. – Wo fanden Sie den Brief des Klubs, den Sie mir einhändigten? Wirklich auf der Treppe? Beege-Umanoff kann ihn nicht verloren haben. Beege hat erst vor ein paar Tagen mit dem Klub Verbindung erhalten.«

Da sank ihr Kopf wieder matt auf die Brust. Ein Seufzer. Und:

»Darüber darf ich nicht sprechen,« flüsterte sie. »Ich darf es nicht ...!« Sie weinte leise. Aber man hörte diesem letzten »Ich darf es nicht!« deutlich an, daß sie keine Macht der Welt dazu bewegen würde, uns zu verraten, wie sie in Besitz des Briefes gelangt war.

Harald wartete, bis ihr lautloses Schluchzen aufhörte. »Sie haben mir also nichts weiter zu sagen, Frau Baronin?« fragte er nun, indem er sich halb über sie beugte.

»Nein ...!« Sie hatte sich bereits wieder gefaßt. »Nur – nur wissen möchte ich, wie Beege starb?«

»Bedauere. Das muß vorläufig geheim bleiben. – Kennen Sie die Bibel und den Flügel, Frau Baronin?«

Das wirkte nicht im geringsten. Sie schaute nur erstaunt auf.

»Bibel und Flügel? Was meinen Sie damit?«

»Es genügt mir, daß Sie beides nicht kennen. – Wünschen Sie, daß ich mich noch weiter mit dem Klub beschäftige?«

»Ja – ja, natürlich ...! Nur darf mein Mann nie erfahren, daß ich Sie beauftragt hatte, diese Nachforschungen anzustellen.«

»Hm – sollte ich nicht vielleicht Beege befreien,« meinte Harald noch eindringlicher. »Oder wollten Sie nur über Beeges Verschwinden Aufschluß erhalten?«

»Das Letztere, Herr Harst. Denn – befreien?! Ich wußte ja nicht, was aus ihm geworden.«

»Da Beege nun tot ist, und da ich dennoch meine Arbeit weiter widmen soll, muß es noch einen Mann geben, der Ihrer Ansicht nach durch den Klub verschwunden ist, Frau Baronin. Und dieser Mann wird den Brief des Klubs vom 3. Februar dieses Jahres erhalten haben.«

Frau Hella blieb stumm. Wieder ein Seufzer ...

Und dann – schnellte sie vom Diwan hoch ...

»Mein Mann!!«

Im Nu waren wir auf dem Balkon. Die Tür schloß sich wieder. Die Vorhänge fielen zu.

Die Fenster des Nebenzimmers wurden hell. Ueber die gelben Sonnenstores glitt ein Schatten.

Die Situation war ungemütlich. wenn es dem Baron einfiel, aus dem Zimmer seiner Gattin auf den Balkon hinauszutreten, waren wir entdeckt, da wir es jetzt nicht wagen durften, nach oben zurückzukehren.

Wir kauerten tief gebückt nebeneinander, dicht an der Balkontür.

Und hörten nun die Baronin rufen:

»Ich öffne nicht!! Ich habe Dir schon oft genug erklärt, daß Du nachts keinen Zutritt mehr bei mir hast!«

Des Barons Worte verstanden wir nicht. Nur wieder ihre Stimme:

»Nein! Niemals! Es muß Dir genügen, daß ich nicht länger Dein Weib sein kann! Gib mich endlich frei!«

Ein Auflachen folgte.

Dann Stille ... – Fünf Minuten drauf wurden Koorters Fenster dunkel. Wir kletterten wieder auf unseren Balkon zurück, waren in Harsts Zimmer, im Dunkeln. Harald griff nach seinem Gummimantel.

»Jetzt erst mal zu Beyer,« meinte er.

Wir verließen den großen Mietspalast.

Zwei Angestellte des Auto-Verleihgeschäfts waren noch auf dem Hofe. Harst zeigte ihnen seine Legitimation. »Sie werden schweigen!« sagte er kurz. »Sie könnten sonst mit der Polizei Unannehmlichkeiten haben. – Kennen Sie den Chauffeur der Baronin van Koorter? Wie heißt der Mann?«

Er hieß Friedrich Uhrich und wohnte Kleiststraße 54, Gartenhaus.

Wir bestiegen das Auto und fuhren nach der Kleiststraße. Ein Schließer öffnete uns das Haus, nachdem Harst sich legitimiert hatte.

Im Gartenhause rechts zwei Treppen ein großes Porzellanschild:

Friedrich Uhrich,
Privatdetektiv.

Die Ueberraschung war nicht gering. Die Baronin hatte also bereits einen Kollegen vor uns in ihre Dienste genommen.

Uhrich war daheim. Er hatte sich rasch einen Mantel übergezogen. Wir saßen in einer bescheiden möblierten Stube, und der Kollege gab uns nach einigem Zögern folgende Auskunft.

Die Baronin hatte ihn bereits vor drei Wochen beauftragt, in aller Stille und ohne sonst jemand einzuweihen zu ermitteln, was es mit dem Klub der Toten auf sich hätte. Sie hatte ihm auch den Klubbrief gezeigt und ihm etwa dasselbe über die Art, wie sie zu dem Brief gelangt war, gesagt wie uns. Auch ihm verschwieg sie alles weitere. Dann hatte er für sie in den letzten Tagen Chauffeur spielen müssen. Zweimal war sie nach der Turmstraße in Moabit gefahren, dort aber zu Fuß noch weitergegangen. Da Uhrich nichts über den Klub herauszubringen vermochte, hatte er selbst ihr geraten, Harst hinzuzuziehen. Sie gab ihm zunächst zur Antwort, Harst sei nicht der rechte Mann für diese Angelegenheit.

»Ich hatte dabei das Gefühl, Herr Harst,« erklärte Uhrich offen, »daß die Baronin fürchtete, Sie könnten zu viel von ihren Geheimnissen aufdecken. Ihr lag ja offenbar nur daran, zu erfahren, wo der Klub tagte. Sie ließ ja auch mich über alles Nähere völlig im Unklaren. – Dann aber schien sie sich's doch anders überlegt zu haben, und wir verabredeten, daß sie als Gräfin Södergaard mit Ihnen in Verbindung treten sollte. Wie, das wissen Sie ja, Herr Harst. – Das ist alles, was ich weiß. Ich halte mit nichts zurück.«

»Dann wollen wir Sie nicht länger in Ihrer Nachtruhe stören, Herr Uhrich. Besten Dank.«

*

Der Schließer hatte derweil auf das Auto achtgegeben, erhielt nun ein Trinkgeld und konnte damit zufrieden sein. Wir fuhren nach Dahlem hinaus. Harst saß neben mir. Er saß da, als ob er überhaupt nicht vorhanden wäre: stumm, regungslos.

»Hat Dich des Kollegen Auskunft so sehr enttäuscht?« fragte ich nach einer geraumen Weile.

»Ich weiß immer noch nicht, was mit diesem Klub eigentlich los ist,« meinte er, weiter geradeaus starrend. »Ich hatte angenommen, dieser Klub sei vielleicht nur ein Phantasiegebilde, geschaffen von dem Baron van Koorter und einigen anderen dunklen Ehrenmännern, um gewisse Leute in eine Falle zu locken. Denn daß Koorter mit beteiligt ist, zeigte uns ja sein Zusammenschrecken, als ich davon sprach, daß ich einen Deutschrussen suche. Wir haben aber nun soeben von dem Kollegen Uhrich erfahren, daß außer Karl Beege und dem anderen Manne, über den die Baronin sich nicht äußern wollte und der fraglos den Brief vom 3. Februar erhalten hat, mindestens noch zwei andere Leute Mitglieder geworden sind, da ja deren ›Eid‹ am 2. und 8. Mai im Berliner Anzeiger gestanden hat. Wahrscheinlich werden wir bei Durchsicht aller in Berlin erscheinenden Zeitungen noch mehr dieser K.-d.-T.-Anzeigen finden. Und man kann doch unmöglich glauben, daß Koorter und Genossen außer Beege und dem zweiten Manne, den wir vorläufig den ›noch Unbekannten‹ nennen wollen, noch mehr Leute dort in Dahlem gefangen halten, nachdem sie dieselben in Rüdigers Gärtnerei, in das Klubhaus gelockt haben.«

Ich hielt vor Ueberraschung den Atem an. – Rüdigers Gärtnerei – Klubhaus!! Woher wußte Harst denn das?

Da fügte er auch schon hinzu, stets so bedächtig redend, als spürten seine Gedanken den gesprochenen Worten weit voraus: »Ich sagte Dir ja in Dahlem, daß Koorter der Mörder Beeges sein könnte. Ich habe dies der Polizei verschwiegen, genau so, daß ich den Toten als Karl Beege erkannt habe. Ich muß Koorter aus folgenden Gründen für den Mörder halten: Als ich das Haus Nr. 104, in das er eingetreten war, nach links umgangen hatte, schlüpfte er gerade durch eine Pforte des Hofzauns und schloß sie hinter sich ab, lief dann am Rande eines hohen Müllberges bis zur Mauer des Gärtnergrundstücks hin und öffnete dort eine kleine Tür, hinter der er verschwand. Das Haus Nr. 104 ist für ihn also nur ein Durchgang. Kaum war er verschwunden, als die beiden Männer vom Feldrain her auftauchten, auf mich zukamen, kehrt machten und davonrannten. Wie ich ihnen noch nachschaute, erschienen von rechts, also von der Mauertür her, zwei andere Männer und jagten den beiden ersten nach. Einer von diesen Verfolgern hinkte und blieb zurück. Ob der andere der Baron gewesen ist, könnte ich nicht beschwören. Ich sah die Gestalten im Regen ja nur wie Schatten. Der Hinkende ging wieder auf die Mauertür zu. Die Verfolgten und der Verfolger wurden von den Regenschleiern verschluckt. Ich durfte nicht hinterdrein, um meine Anwesenheit dem Hinkenden nicht zu verraten. Dann fielen die Schüsse. Der Hinkende lief wieder ein Stück von der Mauer weg ins Feld. Der andere Verfolger, offenbar doch der Mörder Beeges, kehrte nicht zurück. Da schlich ich im Schatten des Zaunes davon, in großem Bogen der Gegend zu, wo die Schüsse gefallen waren. Ich fand den Toten. Es war niemand anders mehr in der Nähe. Ich eilte auf die Straße zurück, und – alles übrige ist Dir bekannt.«

Durch diese lückenlose Wiedergabe seiner Beobachtungen hatte Harald mir auch die inneren Zusammenhänge der Geschichte geklärt.

»Die Verfolgten waren also Beege und der noch Unbekannte, die in dem Schilfdachhäuschen gefangen gehalten und dann entflohen waren,« meinte ich. »Ihre Flucht war bemerkt worden. Koorter kam gerade hinzu, als der Hinkende die Entflohenen suchte. Der Baron erreichte Beege, feuerte und traf. Dann mag er dem noch Unbekannten weiter nachgesetzt sein.«

»Ganz meine Ansicht, mein Alter. Ich möchte noch erwähnen, daß der eine der Verfolgten sehr unsicher lief – wie ein Kranker oder Geschwächter. Das dürfte der noch Unbekannte gewesen sein, der ja bereits seit Mitte Februar gefangen saß, wenn all unsere Kombinationen stimmen. Den Umständen nach muß man wohl annehmen, daß Beege den noch Unbekannten vor dem nahenden Verfolger schützen und ihm die Flucht ermöglichen wollte. Er hat die Kugel in die Stirn, von vorn erhalten. Mithin hatte er sich dem Verfolger zugewandt. Er wurde niedergeknallt als Beschützer des durch die Gefangenschaft Kraftlosen, er wurde also ermordet – kaltblütig, ein Wehrloser von dem bewaffneten Verfolger! Dies möchte ich besonders betonen. Hat Koorter den Schuß auf Beege abgegeben, ist er also ein Mörder.«

»Und der noch Unbekannte ist der Geliebte der Baronin,« fügte ich hinzu, um das Bild der Geschehnisse zu vervollständigen. »Auf seine Befreiung kam es ihr an. Koorter aber hat den Nebenbuhler mit Hilfe des Klubs in seine Gewalt gebracht. Beege wieder, ein Freund der Baronin, ließ sich nachher nur deshalb in den Klub aufnehmen, um den anderen zur Flucht zu verhelfen.«

»Es scheint so zu sein,« meinte Harald vorsichtig. »Es scheint so. Vielleicht ist es auch falsch. Bedenke, daß die Baronin offenbar keine Ahnung davon hat, daß ihr Gatte mit zu dem merkwürdigen Klub gehört hat. Sie hat ja Uhrich gesagt, ihr Mann wisse nichts von der Existenz dieses Klubs. Dies ist sehr auffallend. Sollte eine Frau, die einen Menschen so heiß liebt wie die Baronin doch fraglos den noch Unbekannten, nicht zuerst gegen den eigenen Gatten den Verdacht hegen, daß dieser den Nebenbuhler heimlich verschwinden ließ?! – Und – diesen Verdacht hat sie doch offenbar nicht! Sie hätte dann doch Uhrich zu allererst auf ihres Gatten Spur gehetzt, um den Geliebten zu finden und zu befreien.«

»Allerdings!« nickte ich sehr kleinlaut. »Das hätte sie wohl getan.«

»Wir sind von der Wahrheit also vielleicht noch weiter entfernt, als wir glauben,« sagte Harst sinnend. »Man könnte zum Beispiel auch annehmen, daß der Baron bei einem der beiden Gefangenen die Rebusskizze gefunden hat. Vielleicht dreht sich für ihn alles um die Reichtümer, die diese Skizze verspricht. – Doch – das sind bisher ganz fundamentlose Vermutungen. Schalten wir sie vorläufig aus. Da ist auch schon das Rathaus von Alt-Schmargendorf. Noch zehn Minuten und wir sind wieder an der Mauer des Gärtnergrundstücks, des Klubhauses. Dieses harmlose Häuschen, bewohnt von einem uralten Manne, wie der Wachtmeister sagte, eignet sich so recht für dunkle Zwecke.« –

Wir saßen dann nebeneinander auf einem Müllhaufen, umgeben von Disteln, Sonnenblumen und Riesennesseln. Harst zog die Taschenuhr. Schwach grüngelb schimmerte das Leuchtzifferblatt. Ein Viertel drei war's.

»Vorwärts!«

Wir erhoben uns, schlichen der kleinen Pforte zu.

Harald schob den Dietrich ins Schloß. Ohne jedes Geräusch ging die Tür auf.

Und dann zwischen Fliederbüschen hindurch auf das Häuschen zu. Es sah so harmlos aus mit seinem hellen Anstrich, seinen winzigen Fenstern und dem uralten teilweise mit Moospolstern bedeckten Schilfdach. So harmlos wie eine Bauernkate auf dem Lande, wo Mensch und Tier in selben Raume hausen und den Eintretenden scharfer Stallduft empfängt.

Hier empfing uns etwas anderes, als wir kaum die Hintertür geöffnet hatten. Lautlos war auch sie aufgegangen. Aber – da drinnen im Hause begann sofort eine elektrische Alarmglocke irgendwo zu schrillen.

Einen Moment standen wir wie gelähmt. Es war, als ob der Klöppel der Glocke uns auf den Schädel hämmerte. Und hinter uns, vom Garten her das wütende Aufheulen großer Hunde.

Im Dunkeln standen wir – auf der Schwelle ...

Harsts Taschenlampe leuchtete für den Bruchteil einer Sekunde in den Flur hinein.

Links eine nur angelehnte Tür ...

»Hinein – – die Küche!« flüsterte Harald.

Das – das war ja Wahnsinn! Wir mußten ja entdeckt werden ...!

Harst zog mich vorwärts. »Angsthase!!« fauchte er.

Wieder ein Blitz der Taschenlampe.

Es war die Küche. Rechts eine Tür darin, ein Vorhang davor ... Wir klemmten uns hinter den Vorhang, hörten im Flur das Klappern von Holzpantoffeln, sahen durch die Spalte der Küchentür einen Menschen mit einer Laterne, mit einem Gewehr in der Hand.

Haralds Hand tastete nach dem Drücker der Tür, an der wir lehnten.

Der Mann mit der Laterne hatte die Hintertür offen gefunden, war auf den Hof hinausgetreten.

Harsts Dietrich kratzte im Schloß. Dann gab die Tür nach. Wir traten ein ...

Dunkelheit – Stille ...

Und Harald schloß hinter uns ab.

Auch hier ein dicker Vorhang an Messingstangen.

Unserer Taschenlampen gleißende weiße Lichtkegel zerschnitten die Finsternis. Wir standen in einer der Vorderstuben ...

Wir hatten – – das Klubzimmer gefunden ...!!

*

Es war das Klubzimmer.

In der Mitte ein großer Fichtentisch, mit einer schwarzen Decke belegt. Um den Tisch acht hohe Eichenstühle. Und, in dem einen Stuhl an der linken Schmalseite des Tisches saß ein ... Skelett, kerzengerade, den einen Arm auf den Tisch gelegt, den anderen halb ausgestreckt. Die Wände waren schwarz gestrichen, ebenso die Decke, an der eine große Gaslampe mit dunkelgrüner Glocke herabhing.

»Setzen wir uns,« flüsterte Harst. »Drüben an den Tisch, damit wir die Tür im Auge behalten können. Und die Clement heraus! Ich hoffe zwar, daß der Hinkende, denn das war der mit der Laterne, annehmen wird, die Eindringlinge seien durch die Alarmglocke verscheucht worden. Die Hunde haben sich beruhigt.«

Wir setzten uns, hatten in der Linken die wieder ausgeschalteten Taschenlampen, in der Rechten die entsicherten Repetierpistolen. Hinter uns tickte die alte Standuhr. Draußen blieb es still. Dann klappernde Geräusche vor dem Hause: die Holzpantinen des Hinkenden, der wohl den Vorgarten absuchte. Das Klappern verstummte, lebte wieder auf – im Flur. Eine Tür wurde zugeworfen. Eine Stimme rief:

»Es ist nichts, Großvater! Die Kerle sind ausgekniffen. Schlaf' nur ruhig weiter.«

Abermals fiel eine Tür zu. Und dann blieb es still.

Harst bewegte sich, flüsterte:

»Herr Lörnsen aus Stockholm wird eine Zigarette im Klubzimmer der Toten rauchen. Auch eine gefällig?«

Es hatte bisher doch noch wie ein Bann auf mir gelastet. Die Zigarette verscheuchte das Gefühl, daß jeden Moment irgend etwas sich ereignen müßte.

»Nach zehn Minuten werden wir den Schrank durchsuchen,« meinte Harald leise. Seine Zigarette bewegte sich wie ein Glühwürmchen in der Finsternis. »In dem Schranke werden die Klubakten liegen. Wir haben Glück gehabt. Nachher verschwinden wir durch eins der Fenster.«

Die zehn Minuten waren um. Unsere Taschenlampen leuchteten auf. Harald reckte sich über den Tisch, drehte den Hahn der Lampe auf und zündete das Gas an. »Jetzt werden wir uns erst noch vor Ueberraschungen sichern,« sagte er gutgelaunt mit halber Stimme. »Die Türen schlagen nach innen. Wir stellen Stühle davor. Dann kann niemand herein.« –

Auch das war gemacht. Nun kam der Riesenschrank heran. Der Schlüssel steckte im Schloß. In dem Schranke hingen sieben schwarze Mäntel mit Kapuzen, vorn mit weißen Totenköpfen aus Seide benäht. Auf dem Bordbrett oben im Schranke standen Zigarrenkisten, Aschbecher, Weingläser, Zigarettenschachteln. Das war alles.

»Sollten hier wirklich keinerlei Papiere vorhanden sein?« meinte Harst unzufrieden.

Er drückte die Schranktür zu. Auch die beiden Schiebladen des Tisches waren leer. Aber – die alte Standuhr hatte in ihrem Holzgehäuse unten ein Schränkchen. Und – hier fanden wir mancherlei: eine Schreibmaschine, weißes Papier, Briefumschläge und drei dicke große Bücher.

Die Bücher hatten weiße Schilder. Auf dem einen war mit Rundschrift verzeichnet:

Klub der Toten.
Abrechnungen. Beiträge, Unterstützungen.

Der andere Band enthielt: Geschichte des Klubs.

Der dritte: Sitzungsprotokolle.

Harst schlug Band zwei auf: Geschichte des Klubs. Neugierig beugten wir uns über die erste Seite.

 

Die Geschichte des Klubs der Toten.

Der Blutrausch zog über die Erde hin. Menschen wurden zu Bestien, zu Massenmördern. Aus stieren Augen, fahlen Gesichtern leuchteten Todesangst und Mordgier. Das gellende Jammergeschrei von Millionen drang zum Himmel empor, von Millionen von zerfetzten Leibern stiegen die Verwesungsdünste anklagend zu den Wolken, über denen ein Gott thronen sollte.

Gott tat dem Morden keinen Einhalt.

Jahre währte der Blutrausch.

Tausende schmachteten in heißen Sandwüsten, Tausende in der grimmen Kälte. Die Gedanken aller weilten daheim. Sehnsucht zerfraß ihre Seelen. Freiheit war ihr ganzes Denken.

Und Tausende siechten hin, fern der Heimat. Die Kugel hatte sie verschont. Die Seuche fraß sie.

Bis der Tag der Freiheit kam.

Endlose Eisenbahnfahrten – endlose Wanderungen, der Freiheit entgegen – der Heimat! Und all die Wege umgeben von neuen Gräbern derer, die das Ziel nicht mehr erreichen sollten.

Bis den Rest der Sieger über Seuchen und Erschöpfung das gütige Volk aufnahm mit freundlichen Worten, Speise, Trank, einem menschenwürdigen Lager.

Da wurden sie wieder Menschen. Und fragten nach diesem und jenem, erfuhren so manches.

Aber von denen, die dort in den gastfreien Städten zu Menschen geworden, starben wieder etliche.

Starben nicht durch die Kugel, die Seuche, die Erschöpfung, – starben freiwillig, strichen sich selbst aus der Liste der Lebenden, verwischten ihre Spur, vernichteten, was an sie erinnerte, wurden zu Toten und lebten doch. –

Brüder, Schicksalsgenossen, – Ihr wißt, weshalb wir uns den Tod gaben und doch weiterlebten.

Wir waren mit unter den ersten, die in der Hitze der Steppen, in dem Eiseshauch der Schneewüsten alle Leiden durchkosteten. Wir waren viele Jahre von allem getrennt gewesen, was wir geliebt hatten. Wir waren die Vorsichtigen, Mißtrauischen. Wir schrieben von den gastfreien Städten ebenso vorsichtige Briefe.

Und die Antworten kamen.

Die haben uns gemordet! Die Antworten!!

Ihr wißt es, Brüder!

Ihr wißt, was in uns vorging, als wir unser Todesurteil lasen.

Genug davon! Hier sollen nicht Wunden aufgerissen werden, die nie ganz vernarben können, die stets schmerzen werden.

Lernt vergessen, Brüder!!

Ihr starbt freiwillig, Ihr feiertet Eure Auferstehung. Ihr wolltet weiterleben und doch tot sein.

Als Tote kamt Ihr in die Heimat, – scheu, angstvoll wie Verbrecher. Ihr mußtet Euch verkriechen – vor der Vergangenheit! Ihr waret einsam, Ausgestoßene, Ihr trugt Euer Leid in Eurer Brust, in Euren Gesichtern, in denen niemand die Wahrheit lesen durfte.

Bis ein Zufall am 16. September 1922 einen der Unseren mit dem Manne zusammenführte, dessen Name gepriesen sei!

Ihr kennt den Namen!

An der Küste der waldumrauschten Insel der Ostsee ward unser Klub geboren, im Hirn eines Mannes, der ein Wohltäter an uns Toten wurde.

Er sammelte die Namen derer, die sich in den gastfreien Städten jenseits des Meeres aus der Liste der Lebenden gestrichen hatten. Er fuhr selbst dorthin, er hielt Nachfrage, sah Listen durch, kehrte zurück, befragte die Freunde der Toten in aller Stille.

Und ermittelte einen nach dem andern.

Nicht alle! Wie sollte er auch? Wir hatten ja dafür gesorgt, daß man uns nicht fände.

Und er kam hier nach Berlin, der Wohltäter, schuf uns dieses Heim.

Sieben sind wir jetzt hier in Berlin, und weitere sechs auswärts.

Jeder Beruf ist unter uns vertreten. Die meisten von uns darbten. Der Wohltäter half. Wir halfen uns gegenseitig.

Jede Woche zweimal versammeln wir uns hier. Niemand weiß etwas von dem Klub der Toten außer uns Brüdern, nur der Wohltäter.

Wir sind nicht mehr einsam.

Hier unter uns dürfen wir die Vergangenheit aufleben lassen. Hier sind wir die, die wir waren.

Das Sinnbild der Vergänglichkeit haben wir zu unserem Vorsitzenden erwählt:

ein stummes Skelett!

Denn auch wir sind ja Tote, müssen stumm sein.

Wir müßten nur Schwarz tragen, die Totenfarbe, die Farbe der Trauer.

Hier tun wir es.

Und sind hier auch glücklich, soweit wir es sein können. Hier ist unsere wahre Heimat!

Mag sie uns erhalten bleiben!!

Berlin, den 19. Mai 1923.
Alfons Niemand.

 

Als ich diese seltsame, in verschnörkelter großer Rundschrift wie gestochen geschriebene Geschichte des Klubs der Toten zugleich mit Harald gelesen hatte, wollte ich auch sofort die nächsten Seiten mit der Ueberschrift »Einzelheiten über Vorgänge nach der Gründung des Klubs« überfliegen. Aber Harst klappte das Buch rasch zu und meinte leise:

»Halt, besprechen wir erst einmal diese scheinbar so unverständlichen, einer gewissen tragischen Poesie nicht entbehrenden Aufzeichnungen. Was hältst Du davon, mein Alter?«

»Nun, ich denke, die Aufzeichnungen sind durchaus nicht unverständlich, auch nicht einmal scheinbar unverständlich. Die Mitglieder dürften deutsche Deserteure sein, die von deutschen Kriegsgerichten während des Völkerringens in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden sind und dies noch rechtzeitig nach Beendigung des Krieges erfuhren, daher ihre Namen wechselten und irgendwie ihren Tod vortäuschten. Es mögen auch deutsche Spione sein, jedenfalls Leute, die ...«

Harald hatte den Kopf geschüttelt. »Da bist Du auf ganz falscher Fährte, mein Alter.«

»Unmöglich!!«

»Deserteure vor dem Feinde und Spione sind jämmerliches Gesindel. Die Klubmitglieder aber sind Unglückliche, Bedauernswerte.«

»So?! Da bin ich wirklich gespannt! Unglückliche welcher Art?« – Ich war überzeugt, daß meine Ansicht richtig war, und deshalb erlaubte ich mir einen recht ironischen Ton.

Harst blickte mich fest an. »Die Ironie wird Dir vergehen, wenn Du erst weißt, was diese Leute an Schicksalsschlägen erfahren haben! Ich hätte Dich sofort aufgeklärt. Jetzt kannst Du warten, bis wir einen Schurken vollends entlarvt haben.«

»Wie, Du bist verletzt, beleidigt, Harald?« – Er war doch sonst nie so empfindlich! Ich begriff ihn nicht.

»Nein, das bin ich nicht. Du hast nur diese Leute geschmäht. Und das verdienen sie nicht, – wenigstens nicht alle. Doch zu etwas anderem. Der Wohltäter, dessen Name gepriesen sei, wie Alfons Niemand schreibt, ist kein anderer als der Baron Egbert van Koorter. – Du brauchst mich nicht so anzuschaun, als ob ich übergeschnappt wäre. Es ist Koorter. Die waldumrauschte Insel der Ostsee, an deren Küsten der Klub geboren wurde, kann nur Rügen sein. Koorters Gut liegt in der Nähe des Rügenbades Sellin. Außerdem geht Koorter hier im Klubhause ein und aus, obwohl er nicht Klubmitglied ist.«

»Und Koorter, der Mörder Beeges, soll ein Wohltäter der Menschen sein?! Wie reimt sich das zusammen?«

»Er wurde zum Wohltäter aus Selbstsucht, in eigenem Interesse. Er ist ein Schurke von nicht alltäglichen Fähigkeiten. Er gründete den Klub, um einen Menschen verschwinden zu lassen, den er haßte und fürchtete.«

Ich schwieg. Haralds Phantasie arbeitete für meinen Geschmack jetzt doch zu lebhaft. – Harst fuhr dann fort: »Der Tag wird kommen, an dem Du das alles verstehst, – alles, wie ich jetzt bereits alles überschaue. Nur etwas bleibt mir halbwegs unklar: woher die Rebusskizze stammt! Vorläufig behaupte ich weiter: Koorter hat sie entweder Beege oder dem noch Unbekannten abgenommen. Und dieser noch Unbekannte ist der Mann, den er haßt und fürchtet.«

Ich schwieg noch immer.

Er zuckte leicht die Achseln und schlug das Buch wieder auf ...

 

Einzelheiten über Vorgänge nach der Gründung des Klubs.

(Ich führe hier nur das an, was für unser Abenteuer in Betracht kommt).

Die Art und Weise, wie wir die nicht durch den Wohltäter persönlich zum Eintritt in den Klub veranlaßten Mitglieder von der Existenz unserer geheimen Vereinigung in Kenntnis setzten, hat sich zumeist aufs beste bewährt.

Der erste Brief, den die Leidensgenossen erhalten, ist so abgefaßt, daß sie sofort verstehen müssen, um was es sich handelt. Trotzdem sind wir vorsichtig.«

Auch die weiteren Verhandlungen mit den Anwärtern erledigen wir durch Briefe und Anzeigen in verschiedenen Blättern. Sobald der Anwärter durch den Wortlaut einer von ihm eingerückten Anzeige den verlangten Eid geschworen hat, unverbrüchliches Stillschweigen zu bewahren, bestellen wir ihn hier nach Dahlem an den Rand des Grunewaldforstes zu später Stunde und führen ihn durch eins der Mitglieder in der Dunkelheit nach allerlei Umwegen hieher, so daß er zunächst nicht weiß, welches Haus er betritt, da wir ja auch verlangen, daß er die letzte Strecke mit verbundenen Augen zurücklegt. Hat er dann erst einer Sitzung beigewohnt, sind wir seiner sicher.

Diese von dem Wohltäter erdachten Maßregeln sind durchaus nicht übertrieben, denn bereits in zwei Fällen sind Anwärter trotz des Eides zur bestimmten Stunde nicht erschienen. Der Klub hat sich um diese beiden nicht weiter gekümmert. Sie haben Berlin außerdem verlassen, wie der Wohltäter festgestellt hat.

 

(Es folgten hier noch seitenlange Aufzeichnungen, die jedoch nichts Bemerkenswertes enthielten).

Harst legte das Buch weg.

»Nun?« fragte er kurz.

Ich war beschämt. »Du hast recht,« meinte ich kleinlaut. »Die beiden nicht Erschienenen sind der noch Unbekannte und Karl Beege, die der Baron durch einen Vertrauten oder gar selbst vom Waldrande abgeholt und dann gefangen gesetzt hat.«

»Du bist bekehrt, mein Alter. Das freut mich. – Er hat sie gefangen gesetzt, und in dieser Nacht sind sie ihm entflohen. Beege wollte den anderen schützen, ihm das Entkommen ermöglichen, und wurde von Koorter niedergeknallt. Ich müßte nun eigentlich der Kriminalpolizei melden, was ich über Beeges Tod weiß. Und doch werde ich es vorläufig nicht tun. Ich möchte den Klub nicht verraten. Er soll bestehen bleiben. Meine wärmste Sympathie gehört diesen Bedauernswerten, diesen Toten ...«

»Weshalb aber bedauernswert, weshalb strichen sie selbst sich aus der Reihe der Lebenden?«

»Warte ab. Auch das wirst Du erfahren. Jedenfalls: was wir auch gegen den Baron noch unternehmen müssen, dieses Haus und der Klub bleibt unser Geheimnis, lieber Alter! Richte Dich danach!«

Ich wollte etwas erwidern.

Ein anderer nahm mir das Wort vom Munde weg.

Vom Schranke her eine Stimme:

»Ich danke Ihnen im Namen des Klubs, Herr Harst.«

Es war eine müde, zerbrochene Stimme.

Wir schauten auf – mit jäher Kopfbewegung.

In der halb geöffneten Tür des Riesenschrankes stand ein Mann von etwa vierzig Jahren mit hagerem braunen Gesicht, blondem Schnurrbart und zahllosen Falten um Mund und Augen, deren schwermütiger Ausdruck so ganz zu der matten, farblosen Stimme paßte. Der Mann hatte eine brennende Laterne vor der Brust befestigt und trug in der Linken eine doppelläufige Schrotflinte.

Er löschte jetzt die Laterne aus und kam vollends aus dem Schranke heraus, machte eine Art Verbeugung und schaute Harst ernst an.

»Ich danke Ihnen, Herr Harst,« sagte er nochmals. »Ich habe alles gehört.«

»Nehmen Sie Platz,« meinte Harald freundlich. »Wir werden einiges zu besprechen haben.«

Der Mann hinkte, als er bis zum Tische kam und sich setzte. Er legte die Flinte weg und stellte die Laterne auf die Tischdecke.

»Sie haben Ihrem Großvater nur zum Schein die beruhigenden Worte zugerufen,« begann Harald. »Sie ahnten, daß wir hier in dieses Zimmer eingedrungen waren. Sie wollten uns sicher machen.«

»Ja, Herr Harst.«

»Wie heißen Sie?«

Ein müdes Lächeln, ein qualvoller Blick zur Stubendecke empor – zum Himmel:

»Ich bin einer der Toten, Herr Harst. Jetzt heiße ich Paul Rüdiger. Mein wahrer Name kommt nur in den Klubsitzungen über meine Lippen. Ich gelte hier als Enkel des alten Rüdiger, bin Gärtnerbursche.«

Harst lehnte sich in dem hohen Eichenstuhl zurück.

»Wenn Sie alles gehört haben, Herr Rüdiger, werden Sie sich zu verteidigen haben. Ich sah Sie ebenfalls hinter Beege und dem anderen Manne dreinlaufen.«

Der Tote schüttelte den Kopf. »Also Beege hieß der eine. – Ich brauche mich nicht zu verteidigen, Herr Harst. Was ich hier als Lauscher Ihrem Gespräch entnahm, hat mir leider, leider bestätigt, daß der Baron van Koorter den Klub schändlich hintergangen hat.«

»Sie wußten nichts davon, daß hier zwei Leute gefangen gehalten wurden?«

»Nichts! Ich habe mir nur so meine Gedanken über des Barons Benehmen gemacht, Herr Harst, – schon lange.«

»Zunächst – woher wissen Sie, daß ich Harst bin? Mein Freund hat mich nie mit Harst hier angeredet.«

»Aber mit Harald. – Ich lese Ihres Freundes sämtliche Bücher, Herr Harst, Ihre Detektivabenteuer. Und daher ist mir wohlvertraut, daß Sie Herrn Schraut zumeist ›mein Alter‹ oder ›lieber Alter‹ nennen. Ihr Vorname Harald ist ja auch nicht gerade alltäglich.«

»Gut – also daher, Herr Rüdiger! – Wollen Sie uns nun berichten, was Ihnen an dem Benehmen des Barons aufgefallen ist und was sich heute hier um Mitternacht abgespielt hat.«

»Das tue ich gern, Herr Harst. Komme ich doch dadurch aus den schweren Gewissensbedenken heraus, die mich seit Stunden quälen. – Ich will mich ganz kurz fassen. Etwa gegen elf Uhr abends wollte ich die beiden Hunde aus ihrer Box in den Gemüsegarten lassen. Ich tue dies sonst früher. Ich hatte jedoch ein spannendes Werk über die neuesten ägyptischen Ausgrabungen bei Sikara ...«

Harst hatte eine heftige Handbewegung gemacht. Daher schwieg Rüdiger.

»Und dann kam der Baron durch die Mauerpforte herein. Sie teilten ihm mit, daß Sie die beiden Leute bemerkt hatten ...«

»Und der Baron fluchte – fluchte und rannte ebenfalls hinaus ...«

»Dann hörten Sie die Schüsse ...«

»Ja, – und da wurde mir klar, daß mein Verdacht doch wohl richtig gewesen, daß der Baron in dem anderen Häuschen jemand verborgen gehabt hätte ...«

»Von dem Gebäude nachher. – Sie ahnten also, daß Koorter die beiden verfolgte. Kehrte er hierher zurück?«

»Nein. Ich habe ihn nicht mehr gesehen. Nur die Polizei habe ich beobachtet, wie sie auf dem Felde nach Spuren suchte, auch mit einem Polizeihund. Der Regen hatte jedoch jede Fährte weggewaschen. Dann beobachtete ich, wie ein Toter nach der Straße getragen wurde.«

»Hat die Polizei hier Einlaß verlangt?«

»Nein, Herr Harst.«

»Und dann?«

»Besprach ich mit dem alten Rüdiger alles. Nachher legte ich mich zu Bett, ohne einschlafen zu können.«

»Führen Sie uns nun zu dem Häuschen am Ende des Gemüsegartens, Herr Rüdiger,« bat Harald. »Was hatte es mit dem Häuschen für eine Bewandtnis?«

»Der Baron kam am ersten Februar wieder einmal von seinem Gute nach Berlin. Am folgenden Tage befahl er mir und dem alten Manne, um das Häuschen einen Bretterzaun zu errichten und eine Tür einzufügen. Das Häuschen lehnt sich mit der Rückseite an die Westmauer des Gartens. Es ist eigentlich nur ein massiver Geräteschuppen mit zwei Räumen und einem großen Keller, in dem früher mal Champignons gezüchtet wurden. – Er befahl uns weiter, die Arbeit sehr zu beschleunigen und, wenn der Zaun fertig sei, das Häuschen nicht mehr zu betreten. Er selbst hat dann die Zauntür mit einem Schloß versehen und fand sich hier seit dem 17. Februar täglich zweimal ein, stets mit einem Paket, verschwand in dem Häuschen und erschien nach einer Viertelstunde wieder. Einem Manne wie dem Baron, Herr Harst, der an uns Toten wirklich wie ein selbstloser Wohltäter gehandelt hat, traute ich nichts Schlechtes zu, obwohl doch immer wieder der ungewisse Verdacht in mir aufstieg, er müßte in dem Häuschen jemand verborgen halten. Nun weiß ich, was Koorter in Wahrheit ist: ein Schurke! Ich habe Sie beide ja belauscht, Herr Harst. Ich bin ganz Ihrer Ansicht: nur Koorter kann die beiden Klubanwärter, die sich zur vereinbarten Zeit angeblich nicht einfanden, irgendwie in das Häuschen geschleppt haben, denn er war es, der sie vom Waldrande abholen wollte und der dann hier im Klubzimmer erschien und erklärte, die Leute hätten sich nicht eingefunden. So hat er es an den beiden Abenden gemacht, am 17. Februar und am 17. Mai.«

»Ihre Angaben sind überaus wichtig. Koorter hatte also keinen Helfershelfer hier. – Noch eine Frage: ist hier bei einer Klubsitzung mal über eine Skizze gesprochen worden, auf der eine Bibel und ein Vogelflügel abgebildet waren?«

Der Tote, der sich jetzt Rüdiger nannte und doch ganz anders einst geheißen hatte, zögerte mit der Antwort, schaute sinnend vor sich hin und meinte schließlich:

»Ich darf dem Wortlaut meines Klubeides nach nichts verraten, was in den Sitzungen verhandelt wurde, obwohl wir Toten nie etwas irgendwie Strafwürdiges unter uns besprechen. In diesem Falle aber, Herr Harst, glaube ich mit gutem Gewissen eine Ausnahme machen zu können. Ja – der Baron war's, der die Zeichnung von Hand zu Hand gehen ließ. Wir haben zwei sehr intelligente Köpfe unter uns. Aber auch die konnten die Skizze nicht deuten.«

»Wann zeigte Koorter sie den Klubmitgliedern?«

»Das kann wohl Ende Februar gewesen sein.«

»Sagte er, wie er in ihren Besitz gelangt sei?«

»Nein. Es fragte ihn auch niemand. Der Baron nimmt unter uns eine besondere Stellung ein. Gerade mir geht es sehr nahe, daß er nun als Schurke entlarvt ist, denn ich bin es ja, der zuerst seine scheinbare Güte und Mildtätigkeit kennen lernte, ich bin der, dem er, als ich als Erntearbeiter bei ihm mein Brot verdiente, den gebildeten Mann anmerkte und den er zu bestimmen wußte, ihm die Tragik meines Lebens zu erzählen. Durch mich kam er auf den Gedanken, den Klub zu gründen ...«

»Was er nur tat, um den noch Unbekannten in seine Gewalt zu bekommen!« fügte Harst leicht erregt hinzu. »Nur deshalb diese Gründung! Fürwahr – der Mann besitzt verbrecherische Phantasie! Noch nie dürften, um einen Menschen einzufangen, so umständliche und so schlaue Vorbereitungen getroffen worden sein. Vielleicht hatte er es auch sofort auf den noch Unbekannten und auf Karl Beege, der sich Umanoff nannte, abgesehen, obwohl ich glaube, daß des Barons ganzer Haß sich nur gegen den noch Unbekannten richtete, dessen Namen Sie ja wissen müssen, Herr Rüdiger.«

»Ja – ich weiß ihn, ich weiß sogar beide Namen des Mannes: als Lebender hieß er Hektor Müller und als Toter nannte er sich Helmut Schneider.« –

Ich hatte wohl selten einer Unterredung Harsts mit einem anderen Menschen so gespannt gelauscht wie hier in dem Klubzimmer dieser Vereinigung von Männern, deren tragisches Geheimnis, das sie aus der Reihe der Lebenden verdrängt, ich noch immer nicht kannte und über dessen Art ich mir nichts auch nur annähernd richtig Erscheinendes zusammenreimen konnte.

Nun kannten wir den Namen des ersten Opfers des Barons: Hektor Müller – Helmut Schneider!

Und halblaut sprach Harst nochmals nachdenklich den einen Namen aus.

»Hektor ... Müller ...!«

Und da fiel mir plötzlich ein, daß der Baron uns gegenüber behauptet hatte, sein an der Cholera in Buchara verstorbener Freund habe Müller geheißen!

Kein Zweifel also: Koorter hatte Müller die Skizze geraubt, dem von ihm gefangen gehaltenen Müller! Denn erst nach dessen Verschwinden hatte er die Skizze hier im Klub vorgezeigt, damit eines der Mitglieder sie ihm deute! Und dann – dann war er schließlich mit der Skizze zu uns gekommen, zu Harst, dem berühmten Rätselrater! –

»Gehen wir!« sagte Harald und erhob sich.

*

Der Morgen dämmerte bereits herauf, als wir durch eines der Gewächshäuser in den Garten kamen.

Dann standen wir vor der Tür des Bretterzaunes. Harst brach das Schloß auf. Das des Häuschens öffnete er mit dem Dietrich.

Ich will mich hier mit Einzelheiten nicht weiter aufhalten. Wir fanden in diesem verpesteten feuchten Gewölbe die handgreiflichen Beweise dafür, daß hier zwei Menschen tatsächlich gefangen gehalten worden waren! Wir fanden Ketten mit eisernen Hand- und Fußschellen an den Wänden, fanden Haufen von Unrat, fanden aber auch die beiden Stahlfeilen, mit denen die Gefangenen sich befreit hatten.

Harst sprach hier unten kein Wort. Aber sein Gesicht war wie erstarrt vor innerem Grimm über diesen gefühllosen Schurken, der hier ein mittelalterliches Burgverließ mit allen Schrecken und Grausamkeiten geschaffen hatte.

Wir stiegen wieder nach oben.

Harald schritt durch den Garten der Mauerpforte zu. Wir folgten. An der Pforte verabschiedeten wir uns.

»Leben Sie wohl, Herr Rüdiger,« sagte Harst herzlich. »Ich werde den Klub nicht verraten. Ich kenne ja Ihr und Ihrer Leidengenossen Geheimnis.«

Des Toten, der einst ein Gelehrter gewesen und nun den Gärtnergehilfen spielte, – dieses toten Mannes gramvolle Augen ruhten zweifelnd auf meines Freundes mitleidigem Gesicht.

»Kennen Sie es wirklich, Herr Harst?« meinte er traurig.

Harald zog ihn beiseite, flüsterte ihm etwas zu.

Und – da rannen über des Gestorbenen gebräunte Wangen zwei Tränen.

Er wandte sich ab, preßte die Hände vor das Gesicht.

Wir gingen durch die Pforte rasch auf das Feld hinaus – in den düsteren, regnerischen Maimorgen hinaus.

Das war mein Abschied von dem Klubhaus der Toten. Wir holten unser Auto, fuhren nach Berlin zurück. Wir hatten das Auto bei Beyer abgeliefert, hatten uns zu unserer Frau Römer zurückbegeben, saßen in Haralds Balkonzimmer.

Und Harald rauchte stumm drei Zigaretten, stumm, mit halb geschlossenen Augen.

Seine Wangenmuskeln spielten. Auf der Stirn lagen dick die Falten.

Dann schaute er mich an.

»Was nun?«

Ich hatte in einer Art Halbschlaf im Sessel gelegen. Die Abspannung, die Müdigkeit hatten mich überwältigt. Harsts Frage machte mich munter. Ich zuckte die Achseln.

»Die bequemste Antwort,« sagte er etwas gereizt. »Ich möchte am liebsten nochmals zu der Baronin hinab.«

»Sie fragen, ob Hektor Müller ihr Geliebter ist?«

»Er ist es nicht, das weiß ich jetzt.«

»Weshalb haßt ihn Koorter so über alle Maßen?«

Schweigen ...

Harst drückte die Zigarette im Aschbecher aus und stand auf.

»Wir dürfen Koorter nicht entkommen lassen. Gehen wir hinab. Ich muß ihn in Gegenwart seiner Gattin sprechen. Bleibe hier.«

Er verließ das Zimmer, schlich durch den Flur. Ganz leise klappte die Flurtür.

Und fünf Minuten drauf war Harald bei mir.

»Auch die Baronin ist fort, mein Alter. Sie hat alles zurückgelassen, nur ein Mantel fehlt und ihre goldene Handtasche und ihr Schmuck. Der Baron ist um zwei Uhr etwa mit einer Reisetasche angeblich nach dem Stettiner Bahnhof gefahren. Der Hausdiener mußte ihm ein Auto holen. Die Baronin war zu der Zeit noch in ihrem Schlafzimmer.«

Harald erklärte dann, ich solle nur zu Bett gehen. Er würde sich ebenfalls niederlegen.

Als ich um zehn Uhr schweißgebadet erwachte, als ich eine Viertelstunde drauf bei Harald anklopfte, saß mein Herr und Gebieter bereits beim Frühstück.

»Holen Sie das Auto, Lund, sobald Sie Kaffee getrunken haben,« befahl er. »Beeilen Sie sich!«

»Sehr wohl, Herr Lörnsen.«

Ich ging zu Marie in die Küche. Ich war wütend und hungrig.

»Ihr Herr is'n feiner Bummler,« sagte Marie grinsend. »Er ist erst eben nach Hause gekommen.«

Das hatte ich schon geahnt.

»Wo haben Sie denn eigentlich geschlafen, Fräulein?« fragte ich ablenkend. »Ihr Zimmer ist doch nun von mir belegt.«

»Oh – in dem Zimmer am Treppenflur, Herr Lund. – So, hier haben Sie Kaffee und frische Brötchen ... – Herr Lund, wenn ich reden wollte – – ach!! Ich sag's ja immer: die feinen Damen, das is ne Bande!«

»So ... so! – Haben Sie wieder was beobachtet?«

»Und ob!«

»Etwa was von der Baronin?«

»Und ob! – Herr Lund, es hat jemand kurz vor drei gepfiffen ...«

»Gepfiffen?!«

»Ja – unten auf der Straße. Immerzu dasselbe. Es war der Anfang von's Lied ›Komm' herab, o Madonna Theresa ...!‹ Und – sie ging auch, die Madonna, die Baronin nämlich.«

Mir blieb der Bissen im Halse stecken.

»Und das haben Sie gesehen, Fräulein?«

»Und ob!! Genau gesehen. Bei die Pfeiferei mußte man ja schließlich munter werden, Herr Lund.«

»Was war's denn für'n Herr, Fräulein Mariechen?« – Die Nachricht war ein »Mariechen« schon wert.

»N' Herr?!« meinte sie verachtungsvoll. »Das – das war'n Strolch! Unjlaublich sah der Kerl aus! Stoppelbart und ne Kluft wie aus ne Mottenkiste!«

Ich hatte es plötzlich sehr eilig, meine Brötchen zu vertilgen.

»Wenn Sie nur nicht geträumt haben, Fräulein Mariechen,« sagte ich trotzdem.

»Aber Herr Lund! Geträumt! Ich träum' immer von was anderes.« Sie errötete schämig. Und wenn sie errötete, wurde ihr gesundes rotes Gesicht beängstigend blaurot. »Ich hab' mich gewundert, wie die Baronin den stoppelbärtigen Kerl mit dem zerknittertem Filz begrüßte – grad' so als ob's ihr Herzensschatz wär'. Und das war doch der Umanoff. Beide Hände streckte sie so dem Kerl hin, ... so, als wär' sie ihm am liebsten um den Hals gefallen.«

Ich würgte das dritte Brötchen hinunter, spülte mit Kaffee nach und stand auf. Der Stoppelbärtige war natürlich Müller gewesen!

»Entschuldigen Sie, Fräulein Mariechen. Ich muß weg. Ich habe zu tun.«

Und ging zu Herrn Lörnsen hinein, machte die Tür fest zu, pflanzte mich vor ihm auf.

»Ich weiß was, von der Marie!« flüsterte ich.

»So?!«

»Besser – durch die Marie von der schönen Baronin! Der Hektor Müller ist doch ihr Geliebter!«

Harald lächelte. »Bedauere. Das stimmt wirklich nicht!«

»Oho! Es stimmt, hör' mal zu ...«

Harst zeigte ein sehr mäßiges Interesse für meinen Bericht.

»Du erzählst mir da nichts Neues,« meinte er. »Ich war um fünf Uhr morgens in der Turmstraße, wo doch Beeges Freund Wölk wohnt. Der Schließer, der auch Nr. 204 bewacht, wollte gerade heimgehen. Er verriet mir, daß eine verschleierte Dame und ein heruntergekommenes ›Individjum‹´ gegen halb vier in einem Auto vor Nr. 204 gehalten hätten. Die Frau bat ihn, das Haus zu öffnen. Sie wollten zu Herrn Wölk. Der Schließer öffnete, ging aber mit nach oben, da er den beiden nicht traute. Wölk ließ sie jedoch sofort ein. Um vier Uhr, als der Schließer auf dem Rundgang wieder in der Nähe von Nr. 204 war, traf er die Dame und das ›Individjum‹ abermals. Aber letzterer sah nun ganz anders aus, war rasiert, hatte einen fein gebügelten Anzug, Schirm, Handkoffer und eine Brille. Die beiden gingen nach dem Kriminalgericht zu davon.«

Harald reichte mir die Hand. »Mach' kein so enttäuschtes Gesicht, mein Alter! Ich rechnete damit, daß Müller sich irgendwie mit der Baronin in Verbindung setzen und sich zu Wölk begeben würde. Das lag doch so nahe. – Ich war auch noch anderswo – auf dem Anhalter Bahnhof.«

»Weshalb gerade dort?«

»Weil man von da nach Wien fährt, und weil von Wien der Orientexpreß nach Konstantinopel abgeht, und – weil man von Konstantinopel zu Schiff nach ...«

»Ah – Buchara!!«

»Nun, zu Schiff nicht gerade nach Buchara. Immerhin: es ist ein Weg nach Buchara. – Ich war nicht umsonst bis acht Uhr dort auf dem Bahnhof. Um acht Uhr dampfte der Wohltäter in einer Verkleidung ab, die recht gut gewählt war.«

»Und Du ließest ihn ...?«

»Abdampfen? Natürlich! Ich weiß ja, wo ich ihn finde. In Buchara. Ich denke, dorthin wird sich auch das Pärchen wenden, Müller und die Baronin.«

»Ist Müller etwa ein Bruder der Baronin?«

»Nein. Auch das nicht. – Hole jetzt das Auto. Wir ...«

Es hatte sehr kräftig geklopft, und die Tür war sofort aufgeflogen ...

Zwei Herren in Zivil traten ein. Hinter ihnen wurde Frau Doktor Römers feistes Gesicht durch ein keineswegs freundliches Lächeln verschönert.

Der eine Herr hielt uns eine Medaille hin.

»Kriminalpolizei,« sagte er scharf. »Ihre Wirtin hat in der Nacht beobachtet, daß Sie beide mit einer Strickleiter auf den unteren Balkon hinabgeklettert sind. Außerdem sind Sie wiederholt nachts weggegangen und wiedergekommen.«

»Das ist alles richtig,« sagte Harald und nahm seinen Ausweis aus dem Hutfutter. »Bitte ...«

Der Beamte las, stutzte und schlug Frau Römer die Tür vor der Nase zu.

»Herr Harst, das konnte ich nicht ahnen,« meinte der Beamte höflich. »Immerhin – gestatten Sie die Frage, was Sie ...«

»... dort unten auf dem Balkon wollten? Nichts als eine Klientin sprechen, die Baronin van Koorter, die von ihrem sehr eifersüchtigen Gatten nachts stets eingeschlossen wurde. Die Baronin und ihr Mann sind bereits abgereist, und meinetwegen mag Frau Doktor Römer getrost erfahren, wer die zweifelhaften schwedischen Gäste in Wahrheit sind. Ich verlasse dieses Haus ohnehin. Meine Rolle als Lörnsen hat ihre Schuldigkeit getan.« –

Eine halbe Stunde drauf verabschiedete Harst sich von Frau Römer. Ich wartete unten mit dem Auto. Wir fuhren nach Hause.

*

Daheim fanden wir zweierlei vor.

Erstens einen Rohrpostbrief Koorters. Der Brief war vor einer halben Stunde eingetroffen und lautete:

 

Berlin, den 21. Mai 1923.

Sehr geehrter Herr Harst,

ich habe den Gedanken, mich mit Buchara näher zu beschäftigen, fallen gelassen. Die Sache wird mir doch zu kostspielig. Ich gestatte mir, Ihnen als Honorar für meinen Besuch zehn Dollar beizufügen.

Ergebenst
van Koorter.

 

Die beiden blauen Fünfdollarscheine lagen wirklich bei. »Nun denkt er, wir legen die Sache ebenfalls ad akta,« meinte Harald. »Und gestern erklärte er noch telephonisch, er würde die Reisekosten auf 5000 Dollar erhöhen. Ihm ist jetzt der Boden in Deutschland zu heiß geworden – vorläufig. Er fürchtet, durch einen Zufall könnte doch herauskommen, daß er den Mann am Dahlemer Feldrain erschossen hat. Daß wir hinter ihm her waren, ahnt er nicht. Davon bin ich überzeugt. Er wird nach Buchara fahren und dort Müller erwarten, dem er die Skizze abgenommen hat. Er nimmt natürlich an, daß Müller sich ebenfalls, da die Skizze und deren wertvolles Geheimnis für Müller in Gefahr ist, sich dorthin begeben wird. Seine Gattin ist ihm jetzt gleichgültig. Ihm liegt nur etwas an Müller und dem Geheimnis der Skizze. Möglich auch, daß er sogar beobachtet hat, wie das Paar sich unten auf der Straße traf und zu Wölk eilte. – Ich halte die Sachlage für ziemlich klar.«

»Ich auch,« nickte ich ehrlich. »Und wir?«

Harst schnitt den zweiten Brief auf, einen Wertbrief über 100 000 »Mark«, der die zehntausend Kronen der Baronin enthielt – die zweiten zehntausend. Haralds Mutter hatte den Empfang quittiert.

»Wir beide richten uns nach der Sachlage. Wir haben die Pflicht, Müller und die Baronin zu schützen, die vielleicht ahnungslos in Buchara dem Baron ins Netz gehen. Ich glaube bestimmt, daß sie zusammenreisen werden, dieses Paar. Müller läßt die schöne Frau Hella sicherlich nicht hier allein zurück. – Packen wir unsere Koffer für den Orient – für den ... Orient!«

Er hatte immer langsamer gesprochen, reckte die Arme hoch, dehnte sich kraftvoll ...

»Mein Alter, schon das eine Wort elektrisiert. Die Heimat ist schön – für Monate! Aber bei solchen Globetrottern wie wir es sind stellt sich doch bald wieder hier im Häusermeer Berlins die Sehnsucht nach der heiteren Natur farbenprächtiger Landstriche der heißen Zone ein. Und – Buchara kennen wir beide nicht. Etwas weiter südlicher in Afghanistan, waren wir bereits. Und weiter südlich sind wir geradezu zu Hause – in Indien! – Packen wir!«

Wer meine anspruchslosen Harald Harst-Erzählungen, die Schilderungen unserer Abenteuer unter dem Sammelnamen »Der Detektiv« kennt, weiß genau, daß Indien sozusagen unsere zweite Heimat ist, daß wir wirklich Globetrotter sind, Globetrotter, die freilich stets ein Ziel im Auge haben: die Lösung irgend eines dunklen Problems! –

Wir packten. Und mitten in der Arbeit, als die halb gefüllten Koffer auf Stühlen in Haralds Arbeitszimmer standen, schrillte das Telephon.

Harst ging zum Schreibtisch, nahm den Hörer:

»Hier Harald Harst ... Ah, Herr Plettin ... Morgen, wie geht's ... – So – ein Mord auf Dahlemer Feldmark? – Der Tote hatte nicht das geringste bei sich – unbekannt? – Habe leider keine Zeit, bin auf dem Sprunge für etwa sechs Wochen zu verreisen. Mein Zug geht um ein Uhr. Tut mir wirklich leid. Nach meiner Rückkehr kann ich Ihnen alles erklären. – Was? Nun über den Mord. – Ja – ich bin dem Mörder auf der Spur. Sie können Ihre Nachforschungen einstellen. Der Mann ist ins Ausland geflohen. Das darf aber auf keinen Fall bekannt werden. Verlassen Sie sich ganz auf mich. – Morgen – – Wiedersehen in sechs Wochen ...«

Er legte den Hörer weg. »Plettin bat mich, ihm ein wenig zu helfen, mein Alter. Da gibt's nichts mehr zu helfen. Da gilt es nur den Klub vor dem Bekanntwerden zu schützen. Die Unglücklichen, die sich da im Schilfhäuschen zusammenfinden, sollen nicht gestört werden.«

Wieder – die Unglücklichen! Worin bestand ihr Unglück – ihre Lebenstragik? Ich wußte es noch immer nicht.

Und – war ärgerlich darüber, warf ein Fernglas in den Koffer, mit etwas zu deutlichem Grimm.

Da lachte Harald leise, flüsterte leise zwei Worte, die wie »Noch warten!« klangen.

»So – also noch warten!« meinte ich gereizt.

»Du hast falsch verstanden,« sagte er mit Betonung. »Es fehlt ein e, es ist ein w zuviel, und statt t muß d stehen! – Wenn Du es jetzt nicht errätst, mußt Du wirklich bis Buchara warten.«

Ich grübelte – grübelte! Wie wollte er mir durch ein e, ein überflüssiges w und ein d statt t die Tragik dieser Toten klarmachen?

Ich grübelte natürlich umsonst. –

Um halb zwölf fuhren wir mit unseren Koffern als Harst und Schraut nach herzlichem Abschied von Haralds Mutter und der alten treuen Mathilde zum Autoverleih Beyer u. Komp., stellten uns als Lörnsen und Lund in wirklicher Gestalt vor, beglichen die Rechnung, erhielten die »Sicherheit« zurück, nahmen einen Chauffeur mit und läuteten um zwölf Uhr an Ernst Wölks Flurtür. Als Harst dem blassen Herrn Wölk seinen Namen nannte, fuhr der Prokurist erschrocken zurück, konnte nur ein ängstliches »Sie wünschen?« hervorstammeln und wagte keine Widerrede, als Harst ihn sanft beiseite drängte und den Wohnungsflur betrat.

Wölk nötigte uns dann sehr beklommen in sein Herrenzimmer.

»Ich habe ein paar Fragen an Sie zu richten, Herr Wölk,« sagte Harald, ohne des Prokuristen Bitte, Platz zu nehmen, zu beachten. »Ich bitte Sie jedoch, mit der Wahrheit nicht zurückzuhalten. Sie haben auch keinen Grund, sich irgendwie aufzuregen.«

Wölk hatte sich an den Schreibtisch gelehnt. Harst schob ihm einen Stuhl hin. »Setzen Sie sich bitte. Wir beide, Schraut und ich, haben nicht lange Zeit. – So – nun regen Sie sich über unsern Besuch wirklich nicht weiter auf. Ich werde den Klub der Toten und seine Geheimnisse nicht verraten.«

Wölk trocknete die Schweißperlen von der Stirn ...

»Ich habe ein reines Gewissen,« sagte er leise. »Was ich tat, war Freundespflicht.«

»Das weiß ich, lieber Herr Wölk. – Die Baronin und Hektor Müller waren heute in aller Frühe bei Ihnen?«

Wieder zuckte Wölk zusammen, nickte dann matt.

»Wohin haben die beiden sich gewandt?« fragte Harald weiter.

Wölk blickte zu ihm auf. »Sie wollten ins Ausland reisen. Die Baronin hatte ja bereits Pässe besorgt. – Wohin sie wollen, entzieht sich meiner Kenntnis. Sie haben es mir absichtlich nicht mitgeteilt, damit ich im Falle polizeilicher Nachforschungen nicht zu lügen brauchte. Der Tod meines Freundes Beege dürfte ja ...«

»Beeges Tod wird Ihnen keinerlei Ungelegenheiten bringen, Herr Wölk. – Ich möchte noch folgendes wissen: hat Beege als Umanoff sich mit der Baronin in Hektor Müllers Interesse in Verbindung gesetzt? Wollte er sich in den Klub aufnehmen lassen, um Müller zu befreien?«

Wölk nickte wieder. »Ja, Herr Harst. Ich will Ihnen alles kurz und übersichtlich schildern. Im Dezember des Vorjahres waren Koorters ebenfalls in Berlin. Eines Tages begegnete die Baronin zufällig Hektor Müller, ihrem ...«

Harst fiel ihm ins Wort. »Sie begegnete also Müller auf der Straße, erkannte ihn und sprach ihn an ...«

»Nein, sie fiel in Ohnmacht, und Müller trug sie in ein gerade vorbeifahrendes leeres Auto.«

»Gut, – und sie sahen sich dann häufiger?«

»Nein, denn Koorters kehrten schon am nächsten Tage nach ihrem Gute zurück, nach Rügen. Die Baronin wollte jedoch Müller heimlich schreiben, wann sie wieder nach Berlin kämen. Dann wollte sie ihn wenigstens noch ein einziges Mal sprechen.«

»Und am 1. Februar trafen Koorters in Berlin ein. Was geschah dann?«

»Die Baronin hatte Müller, der ja jetzt Helmut Schneider heißt, für den 18. Februar zu einer Unterredung in ein Caffee bestellt. Müller erschien nicht. Da kam die Baronin zu mir und schickte mich nach Müllers Wohnung. Die Zimmervermieterin, Müllers Wirtin, kannte mich schon. Ich bin ja auch Müllers Freund und der einzige außer der Baronin und den Klubmitgliedern, der weiß, daß er noch lebte. In Müllers Schreibtisch fand ich den Klubbrief vom 3. Februar, dazu zwei andere Schreiben des Klubs, von dessen Existenz ich bis dahin nicht das geringste ahnte. – Müller blieb verschwunden. Um alles Aufsehen im Interesse der Baronin zu vermeiden, sagte ich der Wirtin nach drei Tagen, Müller sei plötzlich nach Amerika gereist, zahlte noch für einen Monat die Miete und nahm Müllers Sachen zu mir in meine Wohnung. Wir, die Baronin, Beege und ich, haben dann alles versucht, Müllers Verschwinden aufzuklären.«

»Halt. – Daß der Baron als Urheber hinter den Klubbriefen steckte, vermuteten Sie nicht?«

»Nein, in keiner Weise. Erst heute durch Müllers geglückte Flucht kam alles an den Tag. Auch die Baronin hatte ja geglaubt, ihr Gatte wüßte nicht, daß Müller noch lebte. – All unsere Bemühungen waren umsonst. Wir konnten weder Müllers Verbleib aufklären noch dem Klub der Toten auf die Spur kommen, argwöhnten jedoch, daß Müller durch den Klub beseitigt worden sei. Dann erhielt mein Freund Beege, der als Umanoff bei Frau Doktor Römer über der Baronin wohnte, einen ebensolchen Klubbrief, eine Einladung zum Eintritt also. Er wurde an den Waldrand nordwestlich von Dahlem an einen großen Grenzstein bestellt, nahm in seine Kleider eingenäht zwei Stahlfeilen, einen kleinen Dolch, eine kleine Stahlsäge und ...«

»Gut, danke, Herr Wölk. – Und er ging allein hin?«

»Ja. Ich wollte ihm von fern folgen, aber er lehnte es ab. Wir sahen denn auch ihn nicht wieder. Nun riet der Privatdetektiv Uhrich, den die Baronin ...«

»Danke, das wissen wir. Und – jetzt wissen auch Sie und die Baronin, Herr Wölk, daß der Baron sehr wohl davon Kenntnis hatte, daß Müller lebte. Die Gründung des Klubs ist sein Werk. Die Mitglieder sind jedoch in des Barons dunkle Pläne nicht eingeweiht gewesen. Koorter hat Müller gefangen gehalten, nachdem er ihn wahrscheinlich am Waldrande niedergeschlagen hat. Er wurde dann auf Umanoff-Beege aufmerksam, der ja unter demselben Unglück genau so schwer zu tragen hatte wie Müller. Auch Beege wollte er stumm machen, lockte ihn an den Waldrand. Der arme Beege befreite dann sich und Müller, wurde aber durch Koorter auf dem Felde niedergeschossen. – Wollten die Baronin und Müller Koorters Täterschaft nun geheim halten, Herr Wölk?«

Wölk zögerte. »Ja, Herr Harst. Sie kennen ja nun die tragischen Verhältnisse dieser ...«

»Ja, die kenne ich, und daher kann ich es auch verstehen, daß die beiden schweigen wollten. – Noch eins, Herr Wölk: wissen Sie etwas über eine Skizze mit Bibel und Vogelflügel?«

Des Prokuristen erstauntes Gesicht genügte.

»Sie wissen also nichts. – Leben Sie wohl, Herr Wölk. Ich hoffe die Baronin und Müller von Ihnen grüßen zu können. –

Unser Auto hielt unten vor dem Hause. – »Anhalter Bahnhof,« befahl Harst.

Pech hatten wir: im Tiergarten gab es eine Panne, und als wir dann mit einem Taxameterauto weiterfuhren, kamen wir um drei Minuten zu spät zum Bahnhof.

Der nächste Zug ging nachmittags fünf Uhr.

Pech heftete sich an unsere Fersen: in Wien war der Orientzug vor drei Stunden abgedampft. So mußten wir mit anderer Verbindung nach Konstantinopel, verloren kostbare achtzehn Stunden.

Wir hatten schon in Konstantinopel Namen und Nationalität, Aussehen und Sprache geändert. Wir waren jetzt zwei amerikanische Ingenieure namens Smith und Shennon mit tadellosen Ausweispapieren, mit tadellosen Empfehlungen an alle Behörden.

Wir hatten während der Reise uns hier und dort nach einem Paar erkundigt, Herr und Dame, Europäern. Erst in Merw, wo wir einen halben Tag Aufenthalt hatten, war etwas zu erfahren: am Tage vorher hatten die beiden in dem Hotel neben dem Bahnhof zu Mittag gespeist, ältere, grauhaarige Leute, die Frau schwarz verschleiert. Also auch Müller und die Baronin reisten verkleidet.

Und nun Buchara, oder besser Bochara ...

*

Nun mitten in Asien, mitten in einem Lande, das von europäischer Kultur nur wenig kennt. – Eingebettet in die fruchtbare Oase Serafschan liegt die Hauptstadt des Landes mit ihrer uralten dicken Mauer und den elf riesigen Befestigungstürmen, mit ihren dreihundertsechzig Moscheen, dem großartigen, durch eine Zitadelle geschützten Palaste des Fürsten und der Unmenge von Basaren und Karawansereien, ihrem einzigen europäischen Hotel, das immerhin einige Bequemlichkeiten bot. Am 9. Juni abends zehn Uhr langten wir im Hotel an. Es war überfüllt. Wir erhielten nur noch ein kleines Zimmer im zweiten Stock. Englische und französische Kaufleute, Ingenieure und Agenten hatten sich hier eingenistet, machten sich wie überall Konkurrenz und suchten das Land auszubeuten, das früher ganz unter russischem Einfluß gestanden hatte.

Wir ließen uns das Abendessen auf unser Zimmer bringen. Unten im Speisesaal konzertierte eine Wiener Kapelle. Wir durften uns dort nicht sehen lassen. Vielleicht war Koorter ebenfalls hier abgestiegen.

Der Kellner, ein Schweizer, war ein heller Bursche, kaum zwanzig. All diese Kellner kehren ja aus dem Orient als wohlhabende Leute zurück.

Ob es ein Fremdenbuch hier gab, fragte Harst-Smith. Jawohl – es gab eins. Nicht der Polizei wegen, sondern der Ordnung halber.

Der Kellner brachte es.

Des Barons Handschrift kannten wir.

Die fünftletzte Eintragung – das war er:

James Kottengray,
Kaufmann aus London.

Dahinter stand vermerkt: »Zimmer Nr. 21«. Und wir hatten Nr. 24.

Dann die drittletzte Eintragung:

Doktor Edward Morlin nebst Schwester aus Boston,
Zimmer 19 und 20.

Das waren Müller und die Baronin! Also unsere Nachbarn hier im Hotel! –

Der Kellner nahm das Buch wieder mit, nachdem wir uns darin ebenfalls verewigt hatten.

Dann holte er gegen zwölf Uhr das Geschirr, wünschte uns gute Nacht und verschwand.

Wir waren schon vorhin auf den Balkon hinausgetreten, der sich die ganze Hotelbreite entlangzog. Durch hohe Holzwände waren für jedes Zimmer von dem Balkon ein Stück abgegrenzt.

Harald schaltete das Licht aus. Das Hotel hat eigene Kraftanlage.

»Leise!« und er zog mich auf den Balkon.

Harst blickte nach links um die Holzwand herum. Dort lag das Zimmer Nr. 20.

»Dunkel!« flüsterte er. »Wagen wir's!«

»Wozu?!«

»Die beiden warnen. Es gibt auch allerlei zu besprechen. Er schwang sich hinüber. Ich folgte.

Die Balkontür von Nr. 20 war nur angelehnt.

Und wieder schob Harst den Kopf um die Holzwand.

»Licht in Nr. 19. – Stimmen,« meldete er.

Und schlüpfte durch die Tür ins Zimmer hinein.

Hier wohnte die Baronin. Haralds Taschenlampe beleuchtete einen offenen Koffer: Frauenkleider – duftige Wäsche!

Rechts eine Verbindungstür nach Nr. 19, ein Vorhang davor. Harst schob ihn beiseite, lauschte ...

Erregte Stimmen von drüben – ein höhnisches Lachen. »Koorter!!« Und Harald preßte meinen Arm ...

Mein Herz schlug rascher. Ich ahnte, daß ich jetzt endlich das Geheimnis der Klubmitglieder erfahren würde. Koorter war in Müllers Zimmer – bei dem Manne, den er haßte! Und die schöne Frau Hella war ohne Zweifel auch dort.

Harst legte die Hand auf den Türdrücker.

Millimeter für Millimeter bewegte der Drücker sich.

Dann – ein Ruck, Harst zog die Tür auf.

Sie hatte nicht geknarrt. Geräuschlos war sie aufgegangen. Drüben ebenfalls ein Vorhang. Und nun die Stimmen hinter dem Vorhang, nur schwach gedämpft, jedes Wort zu verstehen, und deutsche Worte ...

»Mord, Mord?!« höhnte der Baron. »Also darauf haben Sie es abgesehen. Darauf, mein Herr Müller!! Sie sind im Irrtum. Beege drang auf mich ein. Es war Notwehr. Er hatte einen Dolch in der Hand – diesen Dolch! Und deshalb wird auch kein Gericht mich von Hella scheiden! Wäre ich ein Mörder – dann ja! Dann stimmte Ihre Rechnung! Dann könnten Sie dieses Weib da zum zweiten Male heiraten, die verwitwete Müller!« Er lachte abermals schrill auf.

Und – jetzt wußte ich, worin die ungeheure Tragik im Leben dieser Unglücklichen, dieser Toten bestand: sie waren im Kriege von ihren Truppenteilen irrtümlich als gefallen gemeldet oder als Vermißte für tot erklärt worden, während man sie in Wahrheit als Gefangene nach Sibirien geschleppt hatte – irgendwohin, wo es keine Möglichkeit gab, mit den Lieben daheim in Verbindung zu treten, die sie als tot beweinten! Verheiratet waren diese Männer gewesen, waren dann nach Friedensschluß über Schweden in die Heimat zurückgekehrt, hatten jedoch schon in Schweden erfahren, daß kein liebendes Weib sie erwartete, daß – ihre Frauen eine neue Ehe geschlossen hatten! –

»Enoch Arden!« flüsterte Harst mir ins Ohr.

Ja – Enoch Arden! Jetzt verstand ich, was ich daheim in Berlin falsch verstanden. Nicht »noch warten« hatte Harald damals gemurmelt, sondern »Enoch Arden«, den Titel des berühmten Epos von dem nordischen Fischer, der nach Jahren als Totgeglaubter heimkehrt und sein Weib als Gattin eines andern vorfindet.

Und dieselbe Tragik war das Geheimnis Hektor Müllers, Karl Beeges, des hinkenden und all der anderen Unglücklichen, die schon in Schweden Kunde von der Wiederverheiratung ihrer Gattinnen erhalten und sich daher freiwillig aus der Liste der Lebenden für immer gestrichen hatten! –

Eine ungeheure Tragik!! Jeder – jeder wird das zugeben, selbst der Gefühlloseste! Man denke: endlich nach jahrelanger Gefangenschaft die Freiheit! Und dann die Kunde: »Du hast keine Familie mehr! Dein Weib gehört einem andern! Für Deine Kinder sorgt ein anderer! Ja – alles Seltsame an diesem Klub war mit »Enoch Arden« erklärt – alles! –

Und dort – von uns durch den Vorhang getrennt, nun der Kampf um das Weib, das beide Männer liebten, jeder auf seine Art! Koorter mit der Liebe des brutalen verbrecherischen Charakters; Müller mit der Innigkeit dessen, dem diese Frau zuerst Eheweib gewesen. – Das Schluchzen Frau Hellas mischte sich in des Barons schrilles Hohngelächter. Dann ihre Stimme, leidenschaftlich aufbegehrend:

»Schweig', schweig'! Ich bin nicht mehr Dein! Ich war es nicht mehr, seit ich Hektor wiedergesehen hatte! Schweig'! Denke an all das, was Du getan, um mich, die sich Witwe glaubte, die mit Sorgen kämpfte, deren kranke Mutter dem Verhungern nahe war, zu gewinnen. Meine Sorgen hast Du durch bestochene Kreaturen noch vergrößert! Kein Mittel war Dir zu schlecht, zu gemein! Deine Gier sollte befriedigt werden – um jeden Preis! Längst hatte ich Dich durchschaut – längst! Die deutschen Gerichte sind gerecht! Sie werden mich von Dir befreien! Und selbst wenn Du Beege in der Notwehr erschossen hättest: Du hast Hektor und Beege wie Verbrecher gefangen gehalten, hast sie niedergeschlagen, hast ...«

Dann ein gellender Schrei ...

Ein entsetztes: »Er mordet Dich ...! Hektor – er ...« Da hatte Harald den Vorhang weggerissen. War mit einem Satz im Zimmer ... Hatte mit einem Fausthieb dem Baron den Revolver aus der Hand geschlagen ... Die Waffe entlud sich dabei. Die Kugel fuhr in die Spiegeltür des Schrankes. Der Baron war gegen die Balkontür getaumelt.

»Wer – wer sind Sie?!« keuchte er, schien sich auf Harald stürzen zu wollen.

»Nur Harst aus Berlin, Herr Baron! Und – das eben hier war ein Mordversuch, Herr Baron van Koorter! Das macht Sie zum Verbrecher, abgesehen von allem anderen!«

Was dann geschah, spielte sich in Sekunden ab.

Koorter öffnete blitzschnell die Balkontür, stürmte hinaus, kletterte über das Gitter, wollte sich über die Holzwand schwingen ... Packte eine morsche Stelle des Holzes, taumelte, verlor das Gleichgewicht und ... stürzte hinab auf den Platz der heiligen Moschee Mirgharab – stürzte nicht auf das elende Pflaster, sondern in die Lanzenspitze eines gerade vorüberreitenden Turkmenen hinein, der eine Schar Pferde zum Markte brachte ... Spießte sich die Lanze seitwärts durch die Brust, sank verröchelnd auf das Pflaster ...

*

Der englische Polizeichef der Hauptstadt Buchara vernahm uns vier Deutsche zu Protokoll.

Harst beschwor, daß der Baron auf den ersten Gatten seiner Frau einen Mordanschlag versucht hatte und dann aus dem Zimmer geflohen war. Die zersplitterte Spiegelscheibe, der Revolver und der Tod Koorters bestätigten dies. Die Angelegenheit war damit für die Polizei erledigt. –

Ich kann ebenfalls mit dem »Klub der Toten« zum Schluß kommen. Nur noch einige Angaben: das Ehepaar Müller blieb in Buchara, da Hektor Müller die Goldader, die er als Kriegsgefangener auf der Insel in dem Schanbidar-See im Serafschan-Gebirge entdeckt hatte, nunmehr in Ruhe ausbeuten wollte. – Wir beide blieben ebenfalls noch drei Wochen im Lande der Turkmenen und haben mit Müllers zusammen auch den Schanbidar-See besucht. Haralds Deutung der Rebusskizze stimmte ganz genau: Kreis und Flasche waren der See, das Viereck mit der Kanone das einstige Grenzfort Petrosinkst. Daß die Skizze auf die Gegend von Buchara sich bezog, hatte der Baron nur dadurch erfahren, daß er seine beiden Gefangenen einmal im Champignonkeller der Gärtnerei belauscht hatte. – Nun zum Schluß noch einen guten Rat für den Leser: er mag nicht in Dahlem nach dem Schilfdachhäuschen suchen! Es existiert zwar, aber nicht in Dahlem!

Genau so wie ich hier die Namen der Beteiligten geändert habe, ebenso mußte ich im Interesse des Klubs der Toten die Gärtnerei in einen anderen Vorort verlegen, damit der Klub weiter in stiller Abgeschiedenheit seinen Mitgliedern eine Zufluchtsstätte zu gegenseitiger Aussprache über des Schicksals grausamste Tücke bleibt – über die Tragik dieser Unglücklichen, die ein Weib und eine Familie hatten und nun einsam sind – einsame Wanderer unter angenommenen Namen – Gestorbene!

 

Ende.

 


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