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Wälder

 

I

Birubunga

Birubunga gehört zu jenen malaiischen Fürstentümern in Hinterindien, die noch nicht von der modernen Dampfwalze erreicht worden sind. Zeit und Raum gibt es hier nicht, das Land hat keine Geschichte und ist kein ausgemessenes Areal, sondern eine Ewigkeit, ein Wald, der tief und barbarisch schön ist, wie das alte Testament.

Dieses Reich gehört einem jungen Sultan. Das Land besteht, praktisch ausgedrückt, aus einem Fluß, längs dessen Ufern, vom Meer bis zu den unwegbaren Bergen hinauf, etwa zehntausend Malaien wohnen. Das Land besitzt keine eigentlichen Grenzen, es geht nach allen Seiten in unbewohnte tropische Urwälder über. Die Einwohner des Reiches setzen sich geradweise abgestuft in den Affen, Elefanten, Nashörnern und Tigern fort, die sich in den dichten Wäldern aufhalten. Hier gibt es alles, was die Mythe begehrt, Zeit in Hülle und Fülle und die innere Unendlichkeit.

Der Sultan ist unabhängig. Er schickt dem König von Siam jedes Jahr einen goldenen Baum und eine schöne Frau, im übrigen aber herrscht er unbeschränkt über sein ererbtes Reich. Die Franzosen in Cambodja haben den Engländern in Straits Settlement bis jetzt noch nicht die Erlaubnis gegeben, Birubunga zu einer viereckigen Zinnmine zu machen, und die Engländer ihrerseits verbieten den Franzosen das Land zu asphaltieren. Während so der eine Apostel der Zivilisation dem andern aus Eifersucht den Zugang verweigert, genießt Birubunga ruhig seinen obskuren Urwaldzustand weiter. Der Rest des Webervogels sitzt ungestört am Waldessaum und ist noch nicht von Telegraphenglocken verdrängt worden.

Ist dies nun ein guter oder ein bedauerlicher Zustand? Weise Kaufleute in Singapore erzählten mir, vor Entrüstung stammelnd, daß ungeheure Schätze in Birubunga verloren gingen, weil der Sultan es vorzöge, in seinem Harem zu träumen, anstatt zeitig am Morgen aufzustehen, um ihnen die Konzession zur Hebung der großen Zinnmengen zu geben, die das Land birgt. Ich gab den Kaufleuten recht, während ich mit ihnen sprach. In meinem stillen Sinn aber umfaßte ich sie mit Verachtung. Wenn doch dieser heilige und bis zum Rande gefüllte Europäer, der mit einem Nonius bewaffnet, alles gleich lang machen und überall stocktrockene Gleichheit einführen will, an den Ufern der Themse bleiben und uns das Vergnügen lassen wollte, uns in unserer Nutzlosigkeit hier in den blauen Wäldern zu tummeln. Nur in dem Fall, daß er selbst mal blühen und wachsen und etwas von sich geben würde, wollten wir aufhören, über seinen lahmen Terrorismus zu lachen, und würden ihm die Konzession zu einer kleinen Mine verehren, damit er seinen Mund hält.

Der Sultan von Birubunga verhält sich dem Eindringen der Kultur gegenüber glücklicherweise ablehnend. Nötigenfalls wird er ihr mit bewaffneter Macht entgegentreten. Er unterhält ein stehendes Heer, das immer mobil ist, es besteht aus acht Mann, die mit alten Vorladegewehren ausgerüstet sind, die jeden Monat von innen und außen mit Sand gescheuert werden. Das Klima in Birubunga ist nämlich so heiß und feucht, daß alles Eisen in weniger als acht Tagen mit einer Schicht von Rost überwachsen wird; und da nun die Gewehre der Truppen abwechselnd einrosten und mit Sand gereinigt werden, sind sie so rund geschliffen und blank, daß es eine Augenweide ist. Sie schießen dank dieser sorgfältigen Behandlung auf eine eigene Weise, nämlich spiralähnlich oder wie ein Wirbelwind, so daß sie selbst bei riesengroßen Scheiben sehr wirksam sind. Es sind darum sehr mörderische Waffen. Die Malaien, denen sie gehörten, behaupteten, daß ihre Wirkung an Zauberei grenze.

Neben dem Heer, wird die Residenz des Sultans von einer Befestigung geschützt. Auf einer Höhe, hinter den Zelten des Sultans, liegt ein halbes Dutzend holländischer Kartaunen aus dem Mittelalter, aus Bronze und ganz von Grünspan überzogen. Es sind sehr bösartige Geschütze. Vor einigen Jahren wurde eine von ihnen probiert und das kostete einundzwanzig Menschen das Leben; die Bruchteile der Kanone liegen noch im Gras verstreut. Es waren noch sechs ungeprüfte für den Fall eines Krieges da.

Die Flotte des Sultans ist von größerer Bedeutung als die Armee, jedenfalls im malerischen Sinne. Sie besteht aus vier geschnitzten und reich gemalten Hausbooten oder Galeeren, die jede von vierzig nackten Burschen gerudert werden. Mit dieser Armada macht der Sultan hin und wieder einen Streifzug flußaufwärts. In dem ersten und prächtigsten Boot sitzt er selbst ganz allein unterm Seidenzelt, in den drei anderen folgt sein Harem. Der Sultan ist ein junger Mann von reinem malaiischen Typus, mit unergründlichen Zügen und mit einem Blick, als wäre die ganze Welt ihm fremd und fern. Er sitzt wie ein Gefangener in seinem Boot, eingeschlossen und allein. Neben ihm, an der Zeltstange, hängt ein Fernrohr, das aus dem platten und schwefeligen London zu ihm gedrungen ist. Hin und wieder entlockt die Sonne, die im Zenit steht, oder der stechende Reflex der Flußwellen, dem Smaragden, den er an dem Zeigefinger seiner rechten Hand trägt, einen grünen Blitz. Hinter ihm folgen die drei anderen Galeeren, dicht von Decken verhängt. Es ertönt Gelächter und Gezwitscher von Mädchenstimmen hinter den Vorhängen, während die ziegelroten Ruderknechte mit ihren herzförmigen Rudern das Wasser längs der Bootseiten zum Schaum schaufeln. Diese lachlustigen Unsichtbaren sind die Garde des Fürsten, und niemals ist eine Flotte von einer unüberwindlicheren Schar Leichtbewaffneter bemannt gewesen. Die Malaiin legt im Kampf keinen Panzer an, dazu ist es viel zu warm, sie kämpft im Hemd und geht mutig vor, sie ist diszipliniert bis zum Tode. Niemand kann ihr widerstehen! In passender Entfernung von den bewaffneten Booten folgt eine lange Reihe gewöhnlicher Prauen, die mit dem festen Stab der Flotte an Dienern, Köchen und Mundschenken besetzt sind. Von solchen Streifzügen, die gewöhnlich vier bis fünf Tage dauern, kehrt der Sultan immer sieggekrönt heim. Er hat einen Ausfall in den Urwald landeinwärts gemacht, hat eine Anzahl scheinbar unüberwindlicher Mahlzeiten eingenommen und die schrecklichen Tage der Langweile aus dem Felde geschlagen.

Das Volk betrachtet diese Urwaldreisen mit größter Ehrerbietung. Wenn der Sultan mit seinem Gefolge langsam durch die Mitte des Flusses aufwärts gleitet, paddelt jeder loyale Malaie sein Kano so nahe wie möglich ans Ufer heran. Keiner hat jemals einen Schimmer von den Frauen des Sultans gesehen, denn teils darf der betäubende Anblick ihres bloßen Äußeren nicht dadurch, daß man sich daran gewöhnt, geschwächt werden, teils wird es als ein geheimnisvoller und unverletzbarer Staatsakt betrachtet, wenn der Sultan mit seinen Jüngsten im Urwald zu Rate sitzt. Sie sind nämlich nicht allein seine Leibgarde im Felde, sondern die Galeeren sind das schöne Parlament des Reiches in drei Kammern, die der Fürst mit sich ins Freie führt. Er wünscht unter wilden Palmen zu regieren. Er findet es zweckmäßig fürs Reich, seine feurigen Vierzehnjährigen zu isolieren, damit niemand ihren Sinn beeinflussen und Wahldruck auf sie ausüben kann. Und er hat recht. Denn er ist Muhamedaner. Er denkt als unschuldiger Malaie nur an Liebe und geht seinem Volk mit gutem Beispiel voran. Er hat keine Scham gelernt, er hat keinen ungesunden Sinn für das Komische. Er gelangt auf dem kürzesten Wege zum Glück, er hat ein angeborenes Gleichgewicht. Er hegt keine Bedenken betreffs des Lebens, er beugt sich demütig und fürstlich vor dessen Begrenzung, womit er das unabwendbare Schicksal versteht. Dieses Schicksal hat ihn seit Ewigkeit zum leben und sterben bestimmt. Damit nun das Glück von Dauer ist und nicht zur Gewohnheit wird, ist für eine tägliche Unfreiheit im Leben des Sultans und seiner Untertanen gesorgt. Der Malaie, der frei im weiten Urwald geboren wird, befindet sich, wenn er zum Bewußtsein erwacht, in einem System von strengen Paragraphen und Geboten, die mit ihm wachsen; er muß sich seinem Gott zuliebe fünfmal am Tage in Birubungas suppenwarmen Fluß waschen (das ist gut für die Haut!) ja, wenn er zur Gebetzeit nicht in der Nähe eines Wassers ist, muß er seinen Körper in heißem Staub oder Sand waschen (Ah!). Waschen muß er sich, so verlangt Muhamed, und das liegt nun wie ein schwerer Zwang auf vielen. Der Malaie darf keinen Speck essen (das Schwein verdirbt so rasch in den Tropen); nun gibt es ja Fische genug im Fluß und bei der Sandbank im Ozean, aber es ist doch unangenehm, daß es etwas gibt, was man nicht darf! Der junge Sultan ist im täglichen Leben der Sklave seiner schrecklichen Würde, und wie leidet er, weil er den Koran lesen muß, noch dazu auf arabisch, was er gar nicht versteht ... der junge Sultan, der in Wirklichkeit voll von Schelmerei und Frohsinn und Possen ist! Darum hat der Prophet in seiner Weisheit hin und wieder die Waldausflüge erlaubt oder sogar aufs strengste vorgeschrieben. Es gibt natürlich eine Schriftstelle im Koran, die dir dunkel aber mit Nachdruck verkündet, daß du in die Wälder gehen sollst, damit du dich selbst als Mensch finden kannst, und daß du deine Freundinnen mitnehmen sollst, auf daß sie Gott schauen.

Der junge ernste Sultan, der unter dem Joch der Regierung zu seufzen und innerlich von einem unheilbaren Abstandsgefühl verzehrt zu werden scheint, das ihn bei solchen Gelegenheiten zur Einsamkeit in seinem Hausboot unterm Seidenzelt verurteilt, ist in Wirklichkeit der heiterste Mann im Reiche. Wenn er glücklich mit seinem Gefolge in den Wäldern gelandet ist, legt er so viel wie möglich von seiner Würde ab, das heißt seine Kleider. Aber wehe dem, der sich vermißt, den Sultan in seiner Natürlichkeit zu belauern! Der Prophet schreibt Todesstrafe dafür vor. Nur die Frauen des Fürsten dürfen ihn in den Wäldern sehen. Die hohen Herrschaften belustigen sich auf die schuldlose und fröhliche Weise der Götter. Sie errichten Zelte im Schalten der Palmen, essen, spielen und amüsieren sich den ganzen lieben langen Tag. Bisweilen rudern sie den Fluß hinauf bis zu einem Wasserfall und dort schwimmen sie in den Wirbeln umher und amüsieren sich ganz köstlich. Sie haben eine Vorliebe für Wasserspiele, gleich ihren Stammverwandten auf den fernen Südseeinseln, denen es eine Lust ist, mit einem Brett unterm Rücken auf den langen, grünen Sturzwellen der Ozeanbrandung zu treiben. Hin und wieder belustigt der Sultan und sein Gefolge sich auch durch Reiten auf zahmen Elefanten und durch große Scheinmanöver im Walde, wobei sie sich mit Früchten bewerfen und mit Schlingen von blühenden Orchideen einfangen. Der loyale Malaie, der, die Augen auf den Boden seines Kanos gerichtet, vorbeipaddelt, hört das frohe Getümmel und glaubt, daß der Reichsrat jetzt bei einem kritischen Punkt seiner Verhandlungen angelangt ist, daß sich aber alles ordnen und zum Besten des Landes wenden werde.

Von großer Bedeutung für die Regierung des Sultans ist die Musik. Die große Trommel und die menschliche Kehle sind die natürlichen Instrumente. Es gibt nur eine Nummer, nur eine Variation, das heißt, es wird unausgesetzt auf die große teuflische Metalltrommel losgedonnert, deren mörderischer Sturmlauf gegen Luft und Himmel jedes Malaienohr wie süße Musik berührt; und dazu wird stundenlang von den jüngsten und ausdauerndsten Burschen gesungen. Gesungen ... es wird um Hilfe geschrieen, fortissimo gebrüllt; die muskulösen Sänger stoßen in den höchsten Tönen eine endlose Serie von schwärmerischen Notrufen aus! Jede Nacht ertönt diese Riesenmusik in Birubunga, und sie ist die einzige Volksbelustigung. So oft irgend ein froher Malaie ein Fest in seiner Palmenhütte gibt, ein makan besar, was große Mahlzeit bedeutet, oder wenn eine Typhonwolke in der Ferne droht, dann bearbeiten sie die Trommel mit voller Kraft vier bis fünf Stunden lang, so daß es wie eine taktfeste Anzahl von Felsensprengungen klingt, und dazu singt dann der Chor. Es liegt eine Art bestialischer Musik in diesen Kehlübungen. Man kann die Malaien im allgemeinen nicht zu den Wilden rechnen, nur wenn sie singen. Dann werden sie schwindlig vor Innigkeit, vor gefühlvoller Raserei und geben sich einer heulenden Lust hin. Indem sie aus vollem Halse schreien, scheinen sie die Finger abwechselnd auf zwei Löcher in der Kehle zu legen, so daß die Stimme beständig um einige Töne steigt oder fällt, und wenn sie sich dann mehrere Stunden lang auf den schwindelndsten Höhen der Tonleiter gehalten haben, wenn die Nacht schwarz und siedend heiß ist, und ein Typhon wie ein Nadelkissen von Blitzen in der Ferne droht, dann vermischt sich die Stimmung von Schmerz und Lebensgefahr mit dem Gefühl der höchsten Lust! Text: Ich bin wie Gott, ich sterbe!

Die Nächte in Birubunga sind schwarz und heiß, kochend voll von Zikaden, deren tausendstimmiges Nagen und Feilen sich hin und wieder wie zu einem Signal vereinigt, zu einem kreischenden Laut, als würde im selben Augenblick ein Wesen geboren.

Es gibt ein gewisses Insekt in den Tropen, das man nie sieht, sondern nur in der Nacht hört und das bisweilen einen langen, messerscharfen Laut von sich gibt, der so grausig klingt, als täte ein Ermordeter den letzten Atemzug durch seine durchschnittene Kehle.

Dieses Toteninsekt schreit ebenso wie die Zikaden, und bringt uns mit einem schneidenden Geburtsschrei das Leben in Erinnerung!

Hört ihr einige Häuser weiter fort, hört ihr diesen Riesenlärm von einer Trommel, der dem dumpfen Pulsschlag der Nacht gleicht, hört ihr den Gesang, der wie eine wilde Klage klingt, der aber nur Appetit und Vergnügen bekundet ... das ist die tropische Nacht!

 

II

Der Klippspringer

Das Land Birubunga hat nur eine Stadt gleichen Namens, die dicht an der Flußmündung liegt und die gegen die langen, langsamen Brandungen, die der Ozean an die Sandküste treibt, geschützt ist. Die meisten Häuser sind aus Bambus und geflochtenen Matten und stehen auf Palmenstämmen im Fluß. Einige der Häuser werden von Chinesen bewohnt, deren es viele in Birubunga gibt, wie überall auf der hinterindischen Halbinsel. Sie werden die Malaien über kurz oder lang von ihrem Grund und Boden vertrieben haben, weil die Chinesen sich für eine gemeinere Lebensweise eignen; aber kommt Zeit, kommt Rat. In einem der größten der chinesischen Häuser wohnte der einzige weiße Einwohner des Ortes, ein Däne, namens Boye. Die Chinesen, denen das Haus gehörte, kamen jeden Tag und stellten Räucherhölzer auf den Holzaltar. Er erlaubte es ihnen, obgleich er es ihnen ja hätte verbieten können, weil er ein wohlerzogener dänischer Mann war und weil die Gelben so demütig vor ihm im Staube krochen und so freundesverlassen aussahen. Auf diese Weise gewinnen sie schließlich die Übermacht. Eines Tages werden sie glühende Drahtfäden durch Herrn Boyes Augen ziehen, um sich daran zu ergötzen, daß es raucht und daß er so flehentlich um Schonung bittet.

Ich wohnte bei Herrn Boye, und jede Nacht wiegte sich das Haus sänftiglich auf seinen Pfählen, die vom Wasser geküßt wurden, und jede Nacht riefen sich die Gekkos unter dem Palmenblattdach Dwack, Dwack! zu, wenn sie ein fliegendes Insekt erschnappt hatten und sich etwas auf ihren Fang zugute taten.

Was mich anbetraf, so streifte ich vergnügten Sinnes durch die Dschungeln der Umgebung und schoß Tauben, Eisvögel und Leguane. Es gab viele wilde Turteltauben, die freudvoll in den warmen Hainen gurrten. Sie hatten einen kerzengeraden Flug, und wenn ich sie schoß, brach dieser Flug gleichsam mitten durch und sie stürzten wie Steine zur Erde nieder. Die Eisvögel flogen auch sehr schnell, und indem ich sie traf und der Schuß sie plötzlich aufhielt, konnten sie die Luft wie mit einem Geplätscher von Blau und Rot entzünden. Die Leguane waren friedliche, grasfressende Tiere, von drachenartigem Aussehen; ich schoß sie nur, wenn sie so schnell liefen, daß ich nichts mehr von ihnen unterscheiden konnte. Es bot sich hier mancherlei Gelegenheit für Doublet und Hagel Nr. 7 und 3. Eines Tages aber ereignete sich etwas, was mich daran gemahnte, weshalb ich nach Birubunga gekommen sei.

Eines Nachmittages, eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang, als das Licht schon ohne Kraft war, ging ich durch ein Mangrowewäldchen. Ich sehe ein schmales Tier über die Lichtung im Wäldchen davoneilen und schieße, obgleich ich es für einen Leguan hielt. Indem es aber getroffen innehielt und sich nach hinten überlegte, ganz als sei ihm in seinem eiligen Lauf etwas äußerst Wichtiges eingefallen, das es vergessen hatte, sah ich, daß es ein viel kürzeres Tier war.

Als ich näher kam, war es ein Klippspringer, und er lebte noch. Er sah mich mit seinen kleinen, schwarzen, hervorstehenden Augen an und krümmte die streichholzdünnen Beine in Todesohnmacht. Der ganze kleine Wiederkäuer war nicht größer als ein Huhn.

Die Dunkelheit brach herein, und ich versank in seltsame Betrachtungen, in Gefühle, als hätte ich endlich einmal das Mystische in seinem Lauf aufgehalten! Lag nicht etwas von der geheimsten Seele der Natur in diesem kleinen Fabeltier, das seine Augen durch die tiefe Dunkelheit auf mich gerichtet hielt? Ich erinnerte mich einer Versteinerung des Urpferdes im Newyorker Museum, das in einer fernen Weltperiode ausgestorben war und nicht viel größer als dieser Klippspringer gewesen sein mochte. Ich spürte mit Begehrlichkeit und mit halbem Entsetzen einen eigenartigen, strengen Geruch, nicht von außen, sondern in meiner innersten Erinnerung, als erlebte ich eine Stimmung der Erde aus den ewig verlorenen Urzeiten ...

Aber im selben Augenblick sehe ich, daß der Klippspringer mit großer Anstrengung und im letzten Krampf eines seiner geisterhaft feinen Beinchen hebt, indem er mir damit ein Zeichen zuzumachen scheint. Und gleichzeitig verstehe ich den Ausdruck in seinen sterbenden Augen. Er hat eine Botschaft für mich, es tut ihm leid, aber er befindet sich hier im Auftrag der Natur, ein grober Scherz vielleicht, aber es ist dringend notwendig, daß ich ihn verstehe, bevor er stirbt. Er wolle mich nur fragen, ob ich nach Birubunga gekommen sei, um Klippspringer zu jagen, ob ich tausende von Meilen gereist sei, um solche armseligen, kleinen Exemplare des edelsten Wildes des Waldes zu erlegen? Ich wurde glühend heiß vor Scham und wandte mich von dem kleinen Fabeltier ab, bis in die paläontischsten Tiefen meines Herzens getroffen.

Es hatte recht. Ich war ja nicht nach Birubunga gekommen um Turteltauben oder Zweihufer in möglichst kleinen Dimensionen zu schießen. Und jetzt erkannte ich plötzlich, in welche Gedanken ich mich eingelullt hatte, während ich in diesen »Dschungeln« – hu, hu! – umherstreifte, wo die persönliche Sicherheit eben so groß ist, wie in den Anlagen auf dem Königsneumarkt in Kopenhagen. Ich hatte mich selbst damit getröstet, daß im Laufe der Jahre so viele lebende Tiger von sterblichen Menschen geschossen würden, daß es kein Unglück sei, wenn ich hier einige Zeit in Frieden lebte, um dann nach Hause zu reisen und zu erzählen, daß ich einen Tiger erlegt hätte.

Jetzt hatte ich einen Denkzettel bekommen. Und was ich vielleicht getan hatte, solange es unbewußt geschah, das war mir jetzt ganz unmöglich geworden. Ich konnte mich selbst nicht mehr betrügen, und wen soll man sonst betrügen? Gut, es gab also keine andere Möglichkeit für mich, als dem Vorsatz, weswegen ich nach Birubunga gekommen war, treu zu bleiben: den Tiger aufzusuchen und zu töten.

 

III

Ali

Ich war nicht allein der Tigerjagd wegen nach Birubunga gekommen. Sportsleute in Singapore hatten mir von einem seltsamen Berg erzählt, dessen Fuß bis an den Birubunga-Fluß reichte und der mit seinem Gipfel fast die Grenze des ewigen Schnees erreichte. Er war noch nie von einem Europäer bestiegen worden, weil es sehr schwierig war, durch den Urwald zu dringen, der seine unteren Abhänge bedeckte. Es wimmelte dort von Wild. Der Berg wurde von den Eingeborenen Bukit alam genannt, was Berg der Welt bedeutet. Er steht mit seinem Fuß in den tropischen Sümpfen, wo die Nepentes wächst, der Kannenträger, den die Malaien den Affenbecher nennen, und er erhebt sich durch alle Zonen und Vegetationsschichten bis zu der dünnen und kalten Luftschicht hinauf, wo alles Leben aufhört. Ich hatte in Singapore, in der Abteilung der englischen geographischen Gesellschaft angekündigt, daß ich die Absicht hätte, den Bukit alam zu besteigen und zu erforschen, und die Tiger niederzuschießen, die mir in den Weg kämen. Darauf reiste ich nach Birubunga. Aber wäre die Begegnung mit dem Klippspringer nicht gewesen, hätte ich meine Mission möglicherweise ganz vergessen und hätte mich statt dessen zum Turteltaubenjäger ausgebildet.

Ich ging nach Hause und verbrannte selbst die Schiffe hinter mir, indem ich Herrn Boye mitteilte, daß ich weiter landeinwärts reisen wolle, um wilde Tiere zu jagen und um den Bukit alam zu besteigen. Wenn ich es selbst sagte, mußte es mir wohl ernst damit sein. Herr Boye verhandelte in dieser Angelegenheit in meinem Namen kaltblütig mit einigen einflußreichen Malaien. Ich verstand noch nicht viel malaiisch, aber ich hörte Herrn Boye wieder und wieder von rimau sprechen, was Tiger bedeutet, und rimau, rimau sagten die Malaien, während ich sah, wie es sie durchschauerte, wie ein unwillkürliches Frösteln ihren nackten Körper überlief, ihre Knie schwächte und ihre Zehen spreizte. Die bloße Nennung des Wortes rimau entfärbte sie am ganzen Körper, so daß ihre blanke Kupferhaut erblaßte und sie Bleiflecke im Gesicht bekamen. Sie sprachen dessenungeachtet auf Herrn Boyes Veranda sehr überlegen von rimau, obgleich keiner bereit war meine Dollars als Führer zu verdienen.

Nun wird ja niemand behaupten wollen, daß der Malaie furchtsam ist. Aber er hat Nerven.

Ich hatte eines Tages zwei junge Burschen mit auf einen Jagdausflug in die friedlichen Dschungeln bei Birubunga genommen. Und als wir uns einmal in einem dichten Gebüsch befanden, sehe ich wie der eine seine Augen auf eine bestimmte Stelle heftet, und im selben Augenblick anfängt geradezu abzusterben! Ja, er sinkt in die Knie, die ihn nicht mehr tragen wollen, Rücken und Nacken erstarren, sein ganzer nackter Körper verfärbt sich, wird graugelb anstatt kupferrot, er ertrinkt gleichsam, die Augen sinken ein, der Mund liegt schlaff um die Zähne und nur mit Mühe bewegt er die kalten Lippen und stammelt ein Wort hervor:

Sladang!

Und als der andere das Wort hört und seinen Kameraden sieht, legt er sich ohne einen Laut nieder, das Gesicht gelähmt und mit bereits kalten Gliedern. Er ist der Jüngste von beiden.

... Orang punja! sagt dann der erste und atmet erleichtert auf, belebt sich in einer Sekunde wieder, holt tief Atem, der Schweiß bricht ihm aus und er fängt an zu lachen. Der andere erhebt sich ebenfalls, schluchzt ein paar Mal, zittert sich zur Ruhe und lacht, lacht mit verliebten, noch kranken Augen ...

Sladang ist der Name des wilden Ochsen. Es ist das einzige Tier, das den Menschen überfällt, ohne vorher angegriffen zu werden; was man ja von einem Ochsen erwarten kann. So einen meinte der Malaie gesehen zu haben. (Es kommt vor, daß wilde Büffel ganz bis zur Stadt streifen.) Im selben Augenblick aber entdeckte er, daß der Ochse, den er gesehen hatte, ein orang punja war, einem Malaien gehört, das heißt, zahm ist. Das ganze hatte weniger als eine Sekunde gedauert, und in dieser Zeit hatten die Nerven der jungen Wilden so gewaltsam reagiert, wie ich eben geschildert habe. Man kann danach annehmen, daß fast alle Malaien, die von Tigern gefressen werden, mausetot sind, bevor sie von den Krallen berührt werden.

Trotzdem aber äußert sich der Malaie mit größter Furchtlosigkeit über die große Katze.

Inzwischen wurden wir eines Mannes habhaft, der seine Angst vor dem Tiger nicht verbarg; und gerade er erklärte sich bereit, mich in die Wälder zu führen, wo er hauste! Ich glaube, er war der einzige Mensch in ganz Birubunga, der den Tiger fürchtete, darum war es als ein großes Glück zu betrachten, daß ich überhaupt einen Führer bekam.

Ali hieß dieser Mann. Er wohnte eine gute Tagereise flußabwärts, wo er einen Hain von mehreren hundert Kokospalmen besaß. Er kam bisweilen in die Stadt um Herrn Boye seinen Cobra und seinen Pfeffer zu verkaufen, und bei dieser Gelegenheit leiteten wir Verhandlungen mit ihm ein und brachten einen Kontrakt zuwege. Er übernahm es, mich den Fluß hinauf und durch die Wälder bis zum Fuße des Bukit alam zu geleiten. Wenn wir so weit gekommen waren, sollte ein anderer Mann, den er kannte, Matti mit Namen, die Führerschaft bis zum Berge übernehmen, und er selbst sollte für Träger und Verpflegung sorgen. Dieser Matti war Herrn Boye vom Hörensagen bekannt, er war ein Umherstreifer und Jäger, der oben im weglosen Walde sein Wesen trieb; er war Soldat in Penang gewesen und sprach englisch. Das war mein Mann.

Ali war ein alter, trockener Malaie mit sauren Augen und einem mageren Körper. Seine graue Brust glich einem alten, ausgebrannten Ofenrost mit Asche zwischen den Sprossen und sein Magen war so eingetrocknet wie ein Gummiball. Nervös war dieser Mann durchaus nicht, und Furcht vor dem Tiger brauchte er wirklich nicht zu haben; es war nichts Leckeres an ihm. Im übrigen war er haji, das heißt, er hatte die große Pilgerfahrt nach Mekka gemacht und trug den heiligen Türkisring am Finger. Er prahlte mit seiner Pilgerfahrt, weil er die große Reise auf billigere Weise gemacht hatte, als je ein Malaie vor ihm. Das war eine gute Empfehlung. Und der Kontrakt, den wir mit ihm abschlossen, war auch sehr vorteilhaft für mich; er bekam täglich eine lächerlich kleine Summe, um mir Träger und was ich sonst für die Expedition nötig hatte, zu verschaffen. Ali war ein Ehrenmann und sehr brauchbar für mich. Während wir mit ihm unterhandelten, hatte er jedes Mal einen hübschen Turban auf dem Kopf und einen alten, kostbaren Khris in seiner Schärpe gehabt. An dem Tage aber, an dem er kam um mich abzuholen, hatte er einen elenden Lappen auf dem Kopf und keine Prachtwaffen im Gürtel; das machte einen guten Eindruck auf mich. Er war ein sparsamer Mann, der durch seine Sparsamkeit reich geworden war, einer von denen, die damit beginnen, eine Stecknadel von der Straße aufzunehmen und damit Wucher treiben; er würde sich sicher als der rechte Mann für mich erweisen.

Es waren drei lange Malaien im Boot, Leute, die Ali für die Expedition als Träger und Ruderknechte gemietet hatte! Alle drei waren seine Söhne! Desto besser, Ali haji! Nur keine falsche Scham!

Meine Büchsen und sonstigen Sachen wurden im Boot verstaut. Ich führte eine Matratze mit Decken und ein Moskitonetz mit mir, eine Kaffeekanne und ein Feuerzeug, für den Fall, daß meine Schwefelhölzer feucht werden sollten (das hätte ich mir sparen können, denn die Orang Utangs, die mir später auf der Expedition begegneten, brauchten Jönköping Streichhölzer). Ich hatte allerhand Konserven mit, aber nicht viel, da wir uns unsere Nahrung ja selbst schießen konnten, eine Dose Kaffee, Salz in einer Flasche, damit es nicht vor Feuchtigkeit wegfließen konnte, und dann natürlich einige Pfund hermethisch verschlossenen Tabak. Außerdem zwölf Flaschen Whisky, nicht mehr. Zu viel ist schädlich in den Tropen. Es war Royal Whisky von William Sanderson & Son in Leith, und ich kann diesen Whisky Entdeckungsreisenden aufs wärmste empfehlen.

 

IV

Im Boot

Ich konnte bei meiner Abreise leider nicht photographiert werden. Das war recht schade, denn meine Ausrüstung war sehenswert. Der Khaki-Anzug war tadellos und ohne eine Falte vom Schneider in Singapore geliefert worden, ich hatte einen Patentkorkhelm auf dem Kopf und einen Patronengürtel kreuzweise über die Brust geschnallt. Ich gelobte mir mein Haupt- und Barthaar droben in den Wäldern wachsen zu lassen, zum besten der Interviewer, wenn ich von der Besteigung des Bukit alam und mit dem Tigerfell zurückgekehrt sein würde.

Wir brachen zeitig am Vormittag auf. Ali war anfangs gesprächig, da ich aber wenig von dem verstand, was er sagte, und selbst nur einige malaiische Worte kannte, verstummte er bald. Ich hatte einen kleinen englischen Leitfaden in der malaiischen Sprache mitgenommen, den ich zu studieren begann. Außerdem hatte ich als Lektüre eine Nummer der Straits Times mit mehreren höchst interessanten Artikeln und vielen fesselnden Annoncen. Diese Zeitung hielt mich während der ganzen Expedition geistig aufrecht. Ich las die Annoncen wie Verse, skandierte sie laut und genoß sie, als wäre es vornehme Poesie, ich will nicht sagen von wem.

Die Wärme wurde bald schwer erträglich und der Reflex des nahen Wassers peinigte meinen Kopf. Ali saß auf seinen Schenkeln und hatte den breitesten Teil des Turbans zur Sonne gekehrt, er hatte sich aufs Warten eingerichtet und sah stumpf vor sich hin. Seine Söhne, die nie sprachen, denn malaiische Kinder schweigen in Gegenwart ihres Vaters, selbst wenn sie erwachsen sind, lagen auf den Knieen und ruderten, zwei im Vordersteven und einer achter im Boot. In der Mitte des schmalen Fahrzeuges saß ich und hatte mein zusammengerolltes Bett im Rücken und einen chinesischen Sonnenschirm überm Kopf. Das gefirnißte Papier wurde von der Sonne erhitzt und stank wie kochender Leim.

Während der ersten Meilen war die Landschaft zu beiden Seiten des Flusses ohne Abwechslung. Nur Kokospalmen und immer wieder Kokospalmen, da die Ufer stark bewohnt waren. Die Wärme nahm zu, die Sonne kletterte höher und höher und war nicht weit vom Zenit; es wurde so glühend heiß im Boot, daß man das Holz fast nicht anfassen konnte. Die Sonne brannte lotrecht herab, meine Füße schmerzten mich, weil ich schwarze Schaftstiefel anhatte. Ali schlief, den Kopf zwischen den Knieen. Die drei Ruderknechte aber ruderten unverdrossen, sie fuhren unentwegt fort die kurze Schaufel ihres Ruders in den Fluß zu graben; sie hatten schon längst jegliche Bekleidung, außer dem Lendengurt abgelegt; ihre hellbraunen Körper glänzten vor Schweiß in dem intensiven Licht. Plötzlich hört der eine auf zu rudern, ergreift das Schöpfgefäß, ein zusammengefaltetes Palmenblatt, und langt damit in den Fluß nach einem Trunk. Das Flußwasser war grau und warm, aber die Rippen des Burschen wölbten sich vor Gier, während er trank. Ich hätte dieses Wasser nicht anrühren mögen, denn ich führte ja sowohl Whisky, wie Kaffee mit mir. Später habe ich schlimmeres Wasser trinken gelernt, als das im Birubungafluß.

Obgleich wir gegen den Strom fuhren, kamen wir doch schnell vorwärts, das Boot war leicht und die drei Malaien an den Rudern schienen mit der Zeit immer eifriger zu werden. Sie kamen in eine Art Rausch, hatten alles um sich herum vergessen, sie ruderten wie besessen.

Der Malaie neigt dazu, in allen Dingen amok zu gehen, und hier gingen sie amok beim rudern. Das ist eine Art Berserkergang, ein Wahnsinn, bei dem sie ihrer selbst nicht mehr mächtig sind und nicht aufhören können, bevor sie umfallen. Daß beim Malaien die Form für Selbstmord ein amok gehen zwischen Freunden und Bekannten ist, die mit dem Khris nach ihnen stechen, bis er tot ist, ist eine bekannte Sache; aber ich habe beobachtet, daß der Malaie sich überhaupt bei jeder Gelegenheit über sich selbst hinaus erhitzt, wie zum Beispiel hier, wo die drei wie Wahnsinnige ruderten. Ich glaube, diese Neigung amok zu gehen, rührt von einer Erhitzung der Muskeln her, es ist eine Art Fleischrausch, eine Überhitzung der Muskulatur. Die Malaien sind das fleischigste Volk der Erde, sie sind fest wie Bulldoggen, das Fleisch drängt sich auf ihrem Körper. Ihre Lebensempfindung wird darum wahrscheinlich von dem Krafteindruck bestimmt, den sie von sich selbst empfangen; ihre Muskeln sind imstande sie zu überwältigen. Darum springt ihr Gemüt wie ein Stahlbogen und sie sind in einer Stunde unzurechnungsfähig.

Das Wasser schäumte vor dem Bug des spitzen Schiffes! Und indem ich von meinem ganzen kriegerischen Apparat umgeben dasaß, Doublet, Riffelgewehr und Revolver, und zusah, wie schnell wir, dank der drei vollständig rasenden Wilden am Ruder vorwärtskamen, wurde auch ich von einem leichten Schwindelanfall überfallen. Die Hitze war betäubend, mein Blut siedete, so daß es mir vor den Augen dunkelte. Tiger, Tiger! Ich griff in meine zusammengerollten Decken und zog die Whiskyflasche hervor.

Ah! Was diese Flasche bereits für einen zivilisierten und eigentümlichen Eindruck auf mich machte. Es war eine weiße Flasche vom besten Fabrikat, gut geblasen mit wenig Fehlern. Die Etikette war reizend in drei Farben gedruckt, ein wahres Kunstwerk. Ja, ich will mich im Urwald daran erfreuen! Europa lag weit hinter mir. Prost! Ich bin auf dem Wege nach dem Bukit alam, dem Berg der Welt, wo die wilden Tiere sich in den verschiedenen Zonen verteilen ... Tiger, Tiger!

 

V

Tigersagen

Ein Schluck Whisky beruhigt. Während wir weiterruderten, begann ich sehr gefaßt an verschiedene Tigererzählungen zu denken, die ich von Jägern in Singapore gehört hatte, Erzählungen, aus denen das Bild des Tigers so lebendig heraussprang, daß ich noch einen Schluck aus der Flasche nehmen mußte, um nüchtern zu werden.

Der Tiger, sagte ich zu mir selbst, ist eine riesengroße Katze, das vollendetste Raubtier des Waldes. Der Typus ist so vollendet, daß die Natur ihn nicht variieren konnte. Die Katze, felis tigris, bleibt dasselbe Tier, ob es spinnend im Schoß des Mädchens liegt, oder die Schlagader am Halse des Hirsches aufreißt und von dem Blutstrahl trinkt. Der Tiger benimmt sich in allen Dingen wie eine Katze, nur im vergrößerten Maßstab. Er ist ein System von Stahldrähten und Schießpulver, sein Fleisch spielt in allen Regenbogenfarben vor Elektrizität, er hat sieben Leben ...

Es sitzen vier Herren und spielen Karten auf einer Veranda, irgendwo auf einer Plantage im Innern von Sumatra, sie haben eine Lampe auf dem Tisch und einige Schritte von ihnen entfernt schläft eine riesengroße Dogge auf der Erde. Sie hören ein gewaltiges Geräusch unten im Garten, spüren einen Luftdruck und sehen wie ein Tiger mit einem Satz auf die Veranda springt, die Dogge ergreift und mit ihr im Maul wieder hinunterspringt. Gerade so würde eine Katze auf den Küchentisch springen, ein Stückchen Fleisch nehmen und wieder hinunterspringen. Gerade so würde sie rückwärts in eine Ecke kriechen und knurrend ihren Bissen bewachen. Die vier Whistspieler wurden auf diese Weise Zeuge von dem Diebstahl einer großen Miezekatze, sie hörten, wie sie sich durch den Garten trollte und knurrte und die Luft mit Vibrationen füllte, betäubend wie ein Hammerwerk! Die Veranda hat sich unter dem springenden Gewicht der gewaltigen Katze gebogen und federte wieder in die Höhe, nachdem diese mit der Dogge hinuntergesprungen war, die ein einziges Mal in einem schmerzlichen Geheul nach ihrem Herrn und Freund gerufen hatte. Das Ganze hatte nur eine Sekunde gedauert, und war wie ein häßliches Alpdrücken gewesen, wie eine einzige Flamme von Entsetzen, die alles verbrennt und nur Asche hinterläßt. Bei solchen Gelegenheiten ist es, daß einem die Kopfhaut erstarrt, so daß die Haare ihre Farbe verlieren. Es können noch andere Dinge verloren gehen.

Herr Baum, ein deutscher Herr, mit dem ich in Singapore auf die Wildschweinjagd ging, erzählte mir, wie es Herrn Lessinger, einem anderen Deutschen, seinem Freund und Jagdgefährten, ergangen war. Sie gingen häufig zusammen auf die Wildschweinjagd; Herr Lessinger war ein guter Schütze. Eines Sonntags hatten sie, wie schon oft, mit vier Kameraden eine Klappjagd veranstaltet und in einer langen Kette vor den Dschungeln Aufstellung genommen. Im Gebüsch waren ein Dutzend Treiber aufgestellt, Hindus, mitsamt den Hunden, die die Schweine aufjagen sollten. Und das Geschrei der Treiber und das Gebell der Hunde näherte sich, hier und da fiel ein Schuß in der Kette – da springt statt eines Wildschweines ein riesengroßer Tiger aus den Farren, zehn Schritt von Lessinger entfernt.

Nun muß man wissen, daß es keine Tiger mehr auf der Singapore-Insel gibt, sie sind seit etwa zehn Jahren ausgerottet worden. Aber hin und wieder kommt es vor, daß ein Tiger über die schmale Wasserstraße von Johore schwimmt, und das sind dann gewöhnlich alte und dreiste Tiere. So ein Umherschweifer war es, der wenige Schritte neben dem nichtsahnenden Lessinger aus den Dschungeln hervorbrach.

Er hatte das Glück, ein sechsläufiges Repetiergewehr bei sich zu haben, im allgemeinen jagt man Wildschweine mit Hagel. Als er den Tiger sieht, gibt er Feuer und verwundet ihn, und der Tiger geht augenblicklich zum Angriff über. Er schießt wieder, während der Tiger niesend näher kriecht. Dann springt er mit einem entsetzlichen Gebrüll auf Lessinger los, aber dieser drückt sich zur Seite und entgeht der Pfote, er feuert auf zwei Schritt Entfernung nach dem Kopf des Tigers und läuft dann einige Schritte rückwärts, während der Tiger sich besinnt, und schießt dann zum vierten und fünften Mal. Jetzt hat er nur noch eine Kugel nach. Der Tiger blutet und wankt, aber er heult vor Raserei wie ein Dampfkessel, der leck ist, und rafft sich zu einem letzten Sprung auf. Seine Glieder zucken im Todeskampf, als er sich mit einem entsetzlichen Gebrüll in die Luft erhebt; und im selben Augenblick feuert Lessinger den letzten Schuß auf seine Zunge ab. Der Tiger fiel sozusagen tot aus der Luft herab, plumpste in einer toten Masse zwei Schritt vor Lessinger nieder. Lessinger brach ohnmächtig über ihn zusammen. Als seine Gefährten einen Augenblick später kamen, fanden sie ihn bewußtlos. Sie flößten ihm Tee ein und brachten ihn wieder zu sich. Er erbrach sich, weinte bitterlich, und zitterte so stark am ganzen Körper, daß er nicht allein stehen konnte. Als er schließlich ruhiger geworden war und man ihn nach Hause gebracht hatte, war er so matt, daß er sich zu Bett legte und acht Tage liegen blieb. Die Freunde glaubten, daß er sterben würde, er glich einem Toten; und erholte sich auch nie wieder ganz. Lessinger war vor diesem Duell ein großer, breitschultriger Mensch gewesen, so recht ein athletischer Teutone, Biertrinker und unermüdlicher Geschäftsmann. Er lebte noch anderthalb Jahre nachher, ohne wieder zu Kräften kommen zu können. Er reiste nach Hause und gab all sein Geld für Nervenärzte aus, besuchte Sanatorien in der Schweiz, aber ein gebrochener Mann war und blieb er; etwas in seinem Inneren war gesprungen. Er erschoß sich.

Der Tiger, den er erlegt hatte, war so groß wie eine Kuh. Als ihm das Fell abgezogen wurde, fand man einige dreißig Projektile in seinem Rumpf eingekapselt oder übereitert. Da waren schwere, flachgedrückte Bleikugeln aus dem Vorladegewehr irgend eines Malaien, da waren nickelbekleidete Spitzkugeln aus modernen Repetiergewehren, Winchesterkugeln von diversem Kaliber, da waren Nägel und Eisensplitter aus einer Büchsenfalle, in die er mal gegangen war. Auf dem einen Bug hatte er eine alte, eiternde und faulende Wunde, die jedem anderen Säugetier den Garaus gemacht hätte, ihn aber nicht weiter zu genieren schien; er war gut genährt. Es war ein Weibchen.

Der Tiger hat ein zähes Leben. Ein Tiger brach aus seinem Käfig in Singapore aus und wurde unter einem Billardzimmer in Raffles Hotel erschossen. Ich war damals in der Stadt und sah wie er starb. Es war kein sonderlich großes oder wildes Exemplar; aber welch ein Aufruhr in Singapore von dem Augenblick, als er ausbrach, bis er gefunden wurde! Jäger durchstreiften die Insel von allen Ecken und Enden, und überall in den Wäldern wurden Fallgruben gegraben. Ich selbst hätte per Rad nach ihm suchen wollen, hatte aber das Pech, daß mein Reifen platzte. Später war ich allerdings froh darüber, denn es wäre nur Zeitverlust für mich gewesen, ihn außerhalb der Stadt zu suchen, da der Tiger die ganze Zeit unter dem Billardzimmer in Raffles Hotel gelegen hatte. Ein Marqueur entdeckte ihn dort und riet den Spielenden aufzuhören, bis der Tiger entfernt sei; sie würden sich ihre Stellungen wohl so lange merken können. Sie willigten alle ohne weiteres ein und machten inzwischen einen kleinen Spaziergang. Jetzt erschien alle Welt mit Büchsen, denn hier gab es etwas zu jagen. Der Tiger lag unter dem Billardzimmer und war dort gewiß in eine Klemme geraten. Aber es wurde ihnen sauer genug, ihm den Garaus zu machen. Nachdem er von einer explodierenden Kugel zwischen den Augen getroffen worden war, blieb er noch lange am Leben und forderte seine Gegner mit einem Gebrüll heraus, daß das ganze Haus erzittern machte. Erst nachdem das ganze Gehirn weggeschossen war, schwieg er und starb. Aber trotzdem ließ man ihn noch eine halbe Stunde in seinem Schlupfwinkel liegen; denn die Reflexbewegungen, die von seinen Gliedern ausgelöst werden können, sind stark genug, einen Mann niederzureißen.

Wie hart war der Kampf gewesen, wie ausgeschlossen jeder Gedanke an Gnade von beiden Seiten! Der Tiger war ja nicht eigentlich bösartig, denn er hatte einen ganzen Tag lang ganz still unterm Billardzimmer gelegen, wahrscheinlich angsterfüllt und ratlos. Als man aber auf ihn zu schießen begann, machte er in majestätischer Raserei Front. Er wollte nicht aus dem dunklen Winkel hervor, nicht zu seinen Feinden in den blendenden, weißen Sonnenschein hinaus, aber er sandte ihnen Blitz auf Blitz aus seinen gelben Augen, die unverwandt auf sie gerichtet waren, er zeigte seine Zähne und reduzierte sie zu Nahrung, Fleisch, das ihn quälte, das ihn stach; nichts ließ sich an dem geschmeidigsten aller Tiere beugen oder zähmen, nein. Wie bitter war es anzusehen, wie der Tiger sich drinnen auf den Vorderbeinen umherschleppte, nachdem das Hinterteil durch einen Schuß gelähmt worden war. Und wie grinste er unkenntlich und drohend mit seinem geschändeten Antlitz, als er schließlich unschädlich und tot hervorgezogen wurde.

Eine andere Erzählung von einem Holländer und einem Tiger. Eine Gesellschaft von Deutschen und Holländern befand sich eines Sonntags auf einem Ausflug mit einer steam-lunch und begegnete einer malaiischen Prau, von dessen Schiffer sie angerufen und gefragt wurden, ob sie einen Tiger kaufen wollten. Sie fuhren an die Prau heran und sahen, daß auf dem Boden derselben ein langer, schmaler Bambuskäfig lag, nicht viel größer als die wilde Bestie, die darin steckte. Der Malaie hatte das Raubtier in einer Fallgrube gefangen und es so lange mit einem Spieß gestochen, bis es in das Futteral hineingekrochen war. Dann hatte er den Käfig und den Tiger ins Boot geladen und war damit auf dem Wege nach Singapore, um ihn zu verkaufen. Na, unsere Europäer besahen das Tier. Sie überzeugten sich, daß der Bambuskäfig so schmal und mit Ratanwurzeln und anderen zähen Fasern so fest umwunden war, daß der Tiger einfach aus dem Grunde, weil er seine Kräfte in dem engen Raum nicht gebrauchen konnte, nicht auszubrechen vermochte. Einer der Europäer, ein Holländer, kaufte den Tiger und brachte ihn mit größter Vorsicht nach seinem Bungalow in Singapore. Dort tötete er den Tiger durch die Löcher in dem Futteral, worauf er sich mit Gewehr, Feldflasche und Dolch bewaffnet, den einen Fuß auf dem Kreuz des toten Tigers, photographieren ließ!

Er war ein Anfänger. Nach und nach bekommt man Übung in solchen Dingen. Man zeigte mir in Singapore einen alten Engländer und flüsterte respektvoll, daß es Indiens Champion unter den Tigerjägern sei. Es war ein großer, gespensterhaft dünner Mensch, mit einem weißen Vollbart, fast ein Greis; er sah aus wie ein Tuberkelpatient im letzten Stadium und war von der Tropensonne braungebrannt wie Teer. Aber er hatte junge blaue Augen, solche kleine flache Augäpfel, wie man sie bei Lotsen und Meisterschützen trifft. Wie jagt er nun einen Tiger?

Vor allen Dingen hat er keine andere Beschäftigung und ist reich. Er führt fünfundzwanzig Koffer mit sich auf der Reise. Er geht zum Rajah oder zum Sultan, auf dessen Gebiet er jagen will und macht ihm ein fürstliches Geschenk, mietet eine Herde Elefanten und einige Schock Eingeborene und begibt sich in die Dschungeln. Der Tiger wird umringt und hinausgetrieben, und der Alte, der eigentlich nur eine Art Philatelist in Tigerpelzen ist, schießt von der Höhe eines Elefanten herab, auf das Raubtier. Zweien oder dreien der Eingeborenen wird ein Glied oder der Kopf abgerissen; vielleicht gibt es noch eine extra Gemütserregung, indem der Tiger den Elefanten angreift und von diesem totgetreten wird. Dann notiert der Alte die Jagd in seinem Rekordbuch und kehrt nach Singapore zurück, um in dem Vestibül des Hotels mit seinen Skelettarmen umherzuschlenkern und das ehrfurchtsvolle Geflüster bei der Table d'hote um sich herum zu hören.

Oh, meine Herren Wichtigmacher und Monomanen, dachte ich, während ich in Alis Boot saß und die Mittagshitze und das Fieber und die Schnelligkeit der Reise meinen Kopf heiß gemacht hatten. Oho, ihr kleinen Seelen, hier kommt eine andere Art Tigerjäger! Mir kann es nicht wie dem Trampeltier Lessinger ergehen, dem die Nerven den Dienst versagten, weil er noch nie vorher in seinem Leben gezittert hatte. Ich komme frisch aus der Überkultur Europas, nervös und bebend wie ein Delirist – nicht vom Trinken, denn Spiritus beruhigt, Prost! – sondern, weil ich meiner selbst bewußt bin, bis in die äußersten Verzweigungen meiner Nerven hinein, während ich gleichzeitig ein blendendes Strahlenbündel heißer Einbildungskraft bin. Ich werde vollkommen kalt und ruhig vor das Angesicht des Tigers treten! Ich komme nicht herrlich auf Elefanten dahergeritten, um eine Tigersammlung anzulegen, ich bin hergekommen, um dem Tiger Gelegenheit zu geben, mit mir zu kämpfen. Ich will mich mit dem wildesten Tier der Erde an Schnelligkeit und Geistesgegenwart messen. Ich will zu zögern vergessen, oder sterben! Der Tiger ist eine Verdichtung der großen Natur, er ist die Seele des Waldes, er ist die Inkarnation des Weiblichen. Ich will mich mit ihm messen! Er ist ein Feind, dessen man sich nicht zu schämen braucht, ich will die wahre Selbstverteidigung von ihm lernen!

Ein gewaltiger Adler kam gerade auf das Boot losgeschossen, hoch oben in der Luft. Ich ergriff das Dublett, dessen Lauf von der Sonne brennend heiß war, lud und schoß. Ali fuhr aus dem Schlaf auf und sah mich verwirrt an. Der junge Vogel aber sauste herab und fiel schwer aufpatschend einige Meter vom Boot entfernt ins Wasser. Weder Ali noch seine Söhne wollten ihn anrühren, da der Adler bei den Mohammedanern als unrein gilt.

Dagegen sicherte der jüngste von Alis Söhnen sich mit Behendigkeit die leere Patronenhülle, und von dem Augenblick an folgte er mir getreulich auf den Fersen; er war und blieb Sammler. In einigen Jahren wird er die beste Kollektion von gebrauchten Patronenkapseln auf der ganzen Malakkahalbinsel besitzen ...

Da niemand meine Beute anrühren wollte, fischte ich den Adler selbst heraus und sah, daß ein Schrotkorn, das einzige das getroffen hatte, ihm durch das eine Auge gedrungen war und schräg durch den Kopf wieder heraus; er schien auf mich herabgesehen zu haben, als der Schuß fiel. Hm, dachte ich. Eigentlich hätte ich den Adler nicht schießen dürfen, weil er weit außer Schußweite war. Wenn man einen Adler mit Schrot töten will, muß er so nahe sein, daß man sein Auge erkennen kann. Ich aber hatte auf eine so große Entfernung geschossen, daß ich nicht mal den Kopf unterscheiden konnte. Aber hatte ich nicht geschossen, ohne zu zögern? Ja, und ich erinnerte mich eines anderen Tages, als ich – nachdem ich mich einen Augenblick besonnen hatte – auf einen Adler schoß, der ruhig auf einem Baum saß und so nah war, daß ich sah, wie er belustigt mit seinem gelben Auge zwinkerte, als er sich vom Ast erhob und unverletzt seines Weges flog! Ich sang mir ein Lied:

Den Adler, des Auge dir sichtbar
schießest du schändlich fehl;
und auf eine unsinnige Entfernung
triffst du den Adler ins Auge!

Dann ruderten wir weiter. Es war schon über die Mittagszeit und die Hitze war übermäßig drückend. Selbst Ali, der so trocken und geduldig war, wurde davon gepeinigt. Die drei Söhne starrten, während sie ruderten, mit Blut unterlaufenen Augen auf eine bestimmte Stelle am Flußufer hin, bei der ihnen Rast versprochen war, dem ältesten stand Schaum auf den Lippen. Ich schlief ein.

 

VI

Der zahme Affe

Das Boot lag am Ufer, und ich war allein, als ich erwachte. Wir waren bei Alis Haus angelangt. Er saß oben in seiner Hütte und aß Reis.

Es hatte sich eine ganze Schar Malaien versammelt, alte und junge, um den weißen Mann zu sehen. Da standen nickende Greise auf ihre Spieße gestützt, deren gebeugte Skelette aus der eingetrockneten Haut hervorstachen, junge Männer mit vollen, blanken Brustmuskeln, den Khris im Gürtel und Schwärme von ockerroten Jungens. Alis Söhne, die mit mir prahlten, ließen mein Fernrohr von Hand zu Hand gehen und jeder einzige, der hindurchsah, einerlei von welchem Ende, lachte sich tot vor Verwunderung.

Zwei junge Leute stiegen zu mir ins Boot hinunter und nahmen sich jeder eine Handvoll Tabak aus meiner Dose, die auf der Ruderbank stand. Es hätte sich ja für mich als Weißen und als höheres Wesen geschickt, sie aus dem Boot hinauszuweisen; aber ich wußte von meiner Kindheit her, daß es ein primitiver Ausdruck für Entgegenkommen ist, wenn man freiwillig von einem Fremden Geschenke annimmt; die beiden höflichen Malaien wollten sich mir gegenüber Gelegenheit zur Dankbarkeit geben. Hätte es ihnen einfallen können, mir Geschenke zu bieten? Wer waren sie! Ich verstand ihr Taktgefühl vollkommen und hütete mich ihnen selbst Tabak anzubieten und ›Bitte sehr‹ zu sagen, denn dadurch hätte ich ja die ganze Paradoxie und den Duft dieser Annäherung zerstört. Als sie gingen, lächelten sie mir zu, und ihr Lächeln war dann auch ganz richtig eine höfliche und kultivierte Form für Zähne zeigen: Sieh, alle meine Zähne, Freund, aber ich beiße nicht! Ich habe dir etwas genommen, aber nicht in böser Absicht, denn du gefällst mir und ich will dir gern etwas schulden. Oh, wir verstanden einander.

Die Frauen des Ortes wagten nicht näher zu kommen, sie standen im grünen Schatten zwischen den Palmenstämmen und glotzten. Ich sah große schwarze Augen durch die Ritzen der geflochtenen Wände von Alis Haus blitzen und hörte sanft entzückte Unterhaltungen; es waren Frauen des Ortes, die aus sicherem Versteck hervor das ausländische Tier zu betrachten wagten.

Alis Haus stand unter turmhohen Kokospalmen, die ganz bis zum Wasser hinauswuchsen. Dort, wo die Kokospalmen weniger dicht standen, wuchsen gewaltige, grasgrüne Pisangs und dünne, schnurgerade Arekapalmen, deren Stämme Wirbelsäulen glichen. Ali hatte auch einige große Rambutanbäume und einen einzigen riesengroßen Durianbaum, der voll von jenen großen, stacheligen Früchten hing, die einigen Übelkeit und anderen höchste Entzückung verursachen und die darum wohl des Essens wert sein dürften. Ich hatte es leider noch nicht gelernt, Durian mit Verständnis zu genießen, man wird ja nicht im Handumdrehen zum Orientalen. Die Durianfrucht schmeckt wie Seife; man sagt, daß sie Liebe erzeugt. Der Malaie kennt keinen Diebstahl, nur die Durianfrucht stiehlt er, wann immer sich ihm die Gelegenheit dazu bietet. Darum sind die Bäume gewöhnlich bewacht. Sie sind immer so weit wie die Krone reicht, eingezäunt, damit Kinder nicht darunterlaufen und von den herabfallenden Früchten totgeschlagen werden können. Durian ist nichts für Kinder.

Der Urwald machte sich hier schon bemerkbar. Der hohe, wilde Wald stand keine hundert Meter hinter dem bebauten Flußufer, so daß man die Nähe der Menschen fast vergessen hätte, wenn das dichte Schlinggebüsch nicht kreuz und quer von Pfaden durchbrochen gewesen wäre. Es ist etwas Eigenes um einen Menschenpfad im Walde; man fühlt gleich, hier kannst du gehen; wenn auch mit Vorsicht. Ich hörte laute Vogelschreie droben aus dem dichten Wald, konnte aber nicht sehen, was es für Vögel waren.

Auf einer niedrigen Stange dicht bei Alis Haus, auf der Grenze zwischen den angepflanzten Palmen und dem Urwald saß ein ausgewachsener und hypervernünftiger Affe. Er war gefesselt, aber es lag viel Philosophie in der Art, wie er seine Fesseln trug. Er riß sich nicht wund, erhängte sich nicht daran; er saß nüchtern da und hielt seine Kette in der Hand, damit sie seinen Hals nicht durch ihr Gewicht drücke und verletze. Ich fühlte mich von ihm angezogen und machte Annäherungsversuche, aber er wollte sich nicht streicheln lassen. O nein, lassen Sie das nur hübsch bleiben. Er säße nicht da und habe Mitleid mit sich selbst. Er wäre wohl zahm, aber nicht zum Vergnügen für Gott und alle Welt, oder für mich, und er hätte nicht das Bedürfnis Späße zu vollführen wie ein vierfüßiger Hund. Er war ein Affe aus guter Familie; seine engstehenden, hellbraunen Augen waren verständiger und verrieten mehr Fassung als die der meisten Menschen und waren ohne moralische Bosheit oder Frivolität. Er hatte sich im Walde durch seine eigene Schwäche fangen lassen (hatte ja die Hand in einen hohlen Kürbis gesteckt, in der sich ein herrlicher Bissen befand, hatte seine Hand nicht wieder öffnen wollen, nachdem sie einmal den Leckerbissen gefaßt hielt und war auf diese Weise stecken geblieben und von den schlechten und überklugen Menschen gefangen genommen worden); jetzt aber hatte er sich in das Unvermeidliche gefügt und war seit langem mit sich und seiner Umgebung im besten Einvernehmen.

Der Affe gehörte Ali, er gebrauchte ihn um Kokosnüsse herunter zu holen. Ich wollte gern sehen, wie er das machte, und Ali löste ihn von der Kette, sagte einige Worte und zeigte auf eine der Palmen. Der Affe kletterte dort hinauf ohne sich zu übereilen und wählte zwischen den Nüssen oben in der Krone, bis er durch Alis Zurufe verstand, welche er nehmen sollte; dann drehte er die Nuß so lange um ihren Stengel, bis sie herabfiel, worauf er bedächtig zurückkehrte. Er setzte sich von selbst wieder auf seine Stange, blinkte zweimal mit den Augen und schob die langen Lippen mit einer kaum merklichen Bewegung von den Zähnen zurück. Das Wasser fing an ihm im Munde zusammenzulaufen; die hellbraunen Augen betrachteten die Nuß ...

Jetzt verstand ich, warum der Affe nicht fortlief, wenn er in die Bäume hinaufgeschickt wurde! Alis Sohn öffnete die Nuß; und das mußte ja ein wunderbarer Anblick für den großen Affen sein, der trotz seiner Hände den Kern der Kokosnuß nicht hätte erreichen können. Alis Sohn löste mit seinem Waldmesser die Schale der grünen Nuß bis er zum Kern gelangte; in diesen machte er ein dreieckiges Loch und bot ihn mir. Der schneeweiße Kern war nur einige Zentimeter dick, das Innere war mit Saft gefüllt. Nachdem ich ihn ausgetrunken hatte, spaltete Alis Sohn die Nuß ganz durch und gab sie dem Affen. Er nahm sie mit den Händen entgegen, ohne das leise Mienenspiel und das warme Licht in seinen Augen, daß Zweifel und Dank ausdrückte, verbergen zu können. Er wurde so froh. Aber er hatte nicht um den Nußkern gebeten; denn wo hätte er lernen sollen, daß er damit etwas erreichen würde?

Wie er essen konnte! Er hatte Zähne und er hatte eine Zunge, und seine Lippen waren ungeheuer empfindsam für Speise. Er konnte eine winzige Krume zwischen den beweglichen Lippen hin und herschieben um den Wohlgeschmack bis aufs letzte herauszusaugen; er konnte plötzlich gierig darauflosfressen, große Stücke zwischen den Kiefern zermalmen und mit feuchtem Blick schlucken und schmatzen. Dann entdeckte er wieder eine Krume, die er verloren hatte, er nahm sie von der Erde auf und schob sie nach genauer Untersuchung zwischen die Lippen. Nachdem er alles verzehrt hatte, faltete er die Hände auf den Knien und begann die Lippen auf alle mögliche Weise hin und herzuschieben, um möglicherweise noch eine Krume zwischen ihnen und den Zähnen zu erwischen. Er griff nach einem zusammengerollten Blatt, das auf der Erde lag, faltete es auseinander, beleckte es, obgleich er nichts darin fand und ließ es wieder fallen. Und die klaren Augen sahen alles, was um sie her vorging. Er war die ganze Zeit aufmerksam und fürsorglich gewesen, immer beherrscht und delikat, obgleich kalt in seinem Wesen, wie ein Tier, das zu genießen versteht.

So saß er hier auf der Grenze zwischen Mensch und Wald.

 

VII

Die Affenhorde

Schon am nächsten Tage, als wir weiterreisten, sah ich eine große Schar wilder Affen im Walde. Ich hatte schon oft früher einzelne Affen in den Wäldern gesehen; hier aber wurde ich Zeuge von der Wanderung einer ganzen Affenhorde.

Wir hatten Birubungas Hauptstrom verlassen und fuhren einen schmalen Nebenfluß hinauf, durch eine vollkommen wilde und tropische Landschaft. Der Wald war so hoch, daß wir wie auf dem Grunde einer Straße von New-York ruderten. Bald aber wurde das Flußbett so schmal, daß der Wald sich darüber zusammenschloß. Die Stämme der Bäume, an denen wir dicht vorbeifuhren und deren Wurzeln wie lange Körper auf dem Grund des Flusses lagen, waren klafterdick und strebten kerzengerade in die Höhe, rund und ohne einen Fehler in der Rinde, wie die Glieder griechischer Statuen. Da standen Riesenbäume frisch und gerade wie Haferhalme, die ohne Umwege und ohne Fehl in die Höhe gewachsen waren. Diese Säulen, die von Lebenskraft und üppigem Wuchs schwollen, trugen den Wald. Einige der Stämme hatten Strebepfeiler unten, wie Domkirchen, schräg und eckiggestellte Ausläufer, die mit wenig Holzmasse dem Baum die doppelte Stärke an der Wurzel gaben. Hoch oben in der Luft begannen die Zweige und wanden sich in einem Gewirr von Laubwerk durcheinander, in einem Gewebe von herabhängenden Lianen, die den Raum zwischen den Stämmen ausfüllten und sich mit dem undurchdringlichen Gebüsch von Bambus, Ratan und gierig ausgebreiteten Sträuchern vereinigten. Und hier oben, auf dem weitläufigen Zweiggehänge der Bäume kam die Affenhorde dahergezogen.

Die großen Äste schienen für sie Landstraßen zu sein, die dünneren Zweige Stege und die Lianen Brücken. Die Affenkarawane zog in einer langen, einreihigen Kette durch das luftige Terrain aus und ein, aus und ein, in einem langsamen aber unaufhörlichen Marsch. Indem man diesen Affenzug durch den Wald vorwärtsschreiten sah, mußte man unwillkürlich an die ureigentliche Entwicklung denken; es war, als sei der Zug ein für allemal in Bewegung gesetzt, es lag ein kaltes Vorwärts, ein hartes und zufriedenes wir wissen nichts anderes, als daß wir müssen, in der Selbstverständlichkeit, mit der die wandernde Reihe zusammenhing, Kopf an Schwanz, der eine dicht hinter dem anderen.

An der Spitze ging ein alter, großer Affe mit einem langen räudigen Schwanz; er marschierte gleichmäßig und flott auf allen Vieren längs der Zweige. Er besaß eine große Sicherheit, man konnte sehen, daß er den Weg kannte. Selten nur sah er sich nach den anderen um, er bewahrte ein schnelles und würdiges Tempo, und es war merkwürdig zu sehen, wie er seine Kräfte zu diesem Zweck verteilte. Er unterließ es, sich bei den leichten Passagen zu beeilen und die Schwierigkeiten nahm er so gewaltsam und forciert, daß die Durchschnittsschnelligkeit immer gewahrt blieb! Er schien einen Ehrgeiz oder Sport darin zu suchen, das Tempo auf diese Weise im Gleichgewicht zu halten. Er tat es nicht, um die anderen, die nachkamen, zu blenden, sondern um seine eigene kolossale Selbstgefälligkeit zu nähren. Es war ein Überfluß an Kraft. Er amüsierte sich damit, nach einer ungeheuren Kraftanstrengung, nach einem Todessprung, auf allen Vieren zu landen und ruhig weiterzugehen, so zu tun, als wäre nichts Besonderes geschehen, seine Atemlosigkeit zu verbergen und den leichten, bedächtigen Trab von vorher wieder aufzunehmen. Das tat er oft. Ich habe gewisse Akrobaten gesehen, die sich auf dieses Raffinement der Stärke verstanden, das darin besteht, ein gegebenes Tempo einzuhalten und mit äußerster Kraftanstrengung Gleichgültigkeit zu bewahren. Die Beherrschung ist ja nämlich die letzte und vornehmste Zueignung der Kraft.

Es war darum nicht zufällig, daß der alte, etwas räudige Affe der Führer der Horde war. Für ihn war alles Spielerei. Er schlüpfte elegant um Stämme herum, kletterte durch Zweige, rüttelte gewaltig an einem Ast, bevor er ihn betrat, um zu untersuchen, ob er sicher sei, schwang sich hier in die Höhe und ließ sich dort herab. Ihm folgten die anderen in einer langen Kette, nach und nach immer kleiner werdend. Zwischen den letzten waren die Mütter mit ihren Jungen, die sich am Fell unterm Bauch festgeklammert hielten. Sie mußten sich ernstlich beeilen, um ihren Platz zu behaupten. Ganz zuletzt kam ein ganz kleiner Affe, der aus Leibeskräften trabte, um mitzukommen und dabei immerfort schrie. Ich mußte an ein Radfahrrennen denken, bei dem es immer aussieht, als wenn der Letzte am schnellsten fährt und bei weitem der Energischste von allen zu sein scheint.

Die Affen gingen denselben Weg wie wir, wichen nicht vom Fluß ab, obgleich der Wald dicht war und sich wie eine einzige Masse von Bäumen nach allen Seiten erstreckte. Es schien sich eine alte Landstraße in den Bäumen längs des Flusses hinzuziehen. Die Horde machte fast dieselbe Reise wie wir in unserem Boot unten auf dem Wasser; sie legte den Weg mit allen Hindernissen in einem beharrlichen Marsch zurück, der einen starken Eindruck von Wanderung machte, von Triebkraft im Walde.

Wenn hin und wieder gesprungen werden mußte, setzte der alte Führer zuerst und ohne die geringsten Bedenken ab und landete immer leicht und sicher wie ein Trapezkünstler, die Hände um den Ast, den er sich ausersehen hatte. Dann ging er sofort weiter, indem er die anderen, die nacheinander sprangen, mit den Augen verfolgte. Sie zogen sich alle mehr oder weniger gut aus der Affäre; einige von den letzten, die Mütter, zögerten ängstlich und suchten vergeblich nach Auswegen, bevor sie sprangen. Der allerletzte aber wagte den Sprung nicht. Er weinte und fuchtelte mit den Armen durch die Luft, und ließ sich schließlich, als er sich verlassen sah, laut schreiend fallen, indem er alle Viere von sich streckte, um das erste beste, was sich ihm bot, zu fassen und sich daran festzuhalten; er landete in einer Laubkrone weit unten, mußte sich wieder heraufarbeiten und stürzte davon, um die anderen einzuholen, die nicht warteten und nicht zurückblickten. Dieser arme Affe war der einzige aus der Reihe, der immer Galopp lief, weil er der letzte war. Er konnte den Vorsprung nicht gewinnen. Und blieb er nur einige Affenlängen im Rückstand, dann geriet er außerhalb der Wirkungslinie jenes Mystischen und Unerbittlichen, das man die Pace nennt.

Die Affen sprachen unausgesetzt miteinander, während sie auf der Wanderung begriffen waren. Die älteren grunzten sich in tiefen Kehltönen an und die Mütter knurrten bekümmert und zänkisch vor sich hin, während sie mühevoll vorwärtseilten. Hin und wieder fanden sie aber doch Zeit auf drei Beinen zu gehen, während sie mit der vierten Hand entweder das Junge stützten das unter ihnen hing, oder ihm einen Klaps gaben, wenn es biß oder mit den Nägeln kratzte.

Den jungen Affen-Männchen fiel es schwer, sich ruhig zu verhalten, sie grunzten und bellten übermütig durcheinander; ihre Sprache klang anders als die der Alten, man hatte den Eindruck, als sprächen sie eine Art Slang, eine jugendliche und ausgelassene Mundart. Hin und wieder warfen sie einen hastigen Blick auf den Alten an der Spitze, um zu sehen, ob er seine Augen anderwärts hatte, und wenn das der Fall war, machten sie einen brutalen Abstecher von ihrem Platz, um irgend etwas zu besehen oder um eine Frucht in einem Rambutanbaum zu erhaschen. Entdeckte der Alte es, dann sprang der junge Leichtfuß mit unschuldiger Miene auf seinen Platz zurück und dann war ihm verziehen.

Aber lange nachher, wenn der Auftritt bereits vergessen war, konnte der Alte ein Kunststück aufführen das in seinem Kopf auf Umwegen mit dem vorherigen Übertritt in Verbindung stehen mochte. Er wendete sich um und machte einen fürchterlichen Sprung in die Kette hinein, landete mit allen Vieren auf einem Ast, und schüttelte ihn, schüttelte ihn mit so bestialischer Heftigkeit, daß der ganze Baum in Aufruhr geriet und der Wald wie von stählernen Saiten widerhallte. Dieser Trick, bei dem er die volle Kraft seiner Glieder anwendete und den er mit der ganzen Raserei ausführte, die er in seinem Mienenspiel zum Ausdruck bringen konnte, war von gewaltig Schrecken einflößender Wirkung auf die Horde.

Selbst auf meine Nerven wirkte er wie der Anlauf zum panischen Schrecken. Und ich weiß auch weshalb. Jeder starke Laut, der plötzlich beginnt und schnell an Stärke zunimmt, hat die Fähigkeit das Bewußtsein zu überrumpeln und es zu einer ungeheuren Übertreibung jenes elementaren Angsteindruckes zu erhitzen, die ein Laut immer ist.

Jedes Mal wenn der große Führer die Schar gelähmt hatte, indem er mit der Wucht seiner Schwere einen Ast wie zum letzten Gericht hatte ertönen lassen, wußte er sich ohne Verlust von Respekt aus der Affäre zu ziehen und zwar auf eine sehr merkwürdige Weise. Es muß ja notwendig eine Reaktion auf das große Entsetzen folgen, wenn der anschwellende Laut aufhört und das letzte Gericht ausbleibt ... aber statt des Gerichts kam er selbst! Nachdem der Affe sich und den Ast in solche Vibration gebracht hatte, daß er teils halb unsichtbar und teils von unnatürlicher Größe geworden war, hielt er plötzlich mit dem Spiel inne und ließ sich, auf allen Vieren stehend, in einer Glorie von gesträubten Haaren sehen! In dieser Stellung machte er sich schnell größer und kleiner, wie um durch Zweifel zu verwirren und schließlich legte er alle Haare nieder und stand eine Sekunde lang ohne die geringste Bewegung, wie seine eigene Verdichtung da. Die Gefährlichkeit des Blickes, die Gesichtskämme und der schreckliche Kranz von Zähnen bildeten eine Maske, die sich gegen den Hintergrund der gewaltig hochgeschobenen Schulterpartie abhob. Dieser ganze Teil des Manövers wirkte wie ein lähmendes: Ich bin es, im höchsten Grade niemand anders als ich, aber ich bin es! Und die Horde bebte.

Ein einziges Mal statuierte er ein Exempel, roh, und mit unbeschreiblicher Energie. Es war das einzige Mal, daß eine Stockung im Vorrücken eintrat. Einer der jungen Affen war zu naseweis geworden und wollte sich durch die Blicke des Führers nicht abhalten lassen, einen Abstecher in einen abseits gelegenen Baum zu machen. Da ging der Alte gegen ihn vor, schweigend und in einer Serie von blitzschnellen Sprüngen. Der Junge hatte die Dreistigkeit zu fliehen, und jetzt machte die ganze Kolonne Halt. Aber bald war er eingeholt und jetzt brach der Führer in ein fürchterliches Gebrüll aus, während er den zappelnden Gegner hielt und sich bis zum Nacken mit den Zähnen vorfühlte. Der Junge ergibt sich und fleht um Gnade, in durchdringenden, schneidenden Schreien, die im Walde widerhallen. Und als der Alte ihn losläßt, fliegt er ihm um den Hals, schmiegt sich unter zahllosen demütigen und zuckersüßen Wimmerlauten mit allen vier Gliedern an ihn und ist sehr unglücklich. Da führt der Alte ihn unter sich, körperlich gesprochen, steht auf seinen Fersen und reduziert ihn mit einer kräftigen Gebärde zum Affenweibchen, das von der Gnade des Männchens lebt, und läßt ihn dann laufen.

Die ganze Zeit, während ich die Affenkarawane verfolgte, lag ich auf dem Rücken im Boot. Und der Wald dort oben öffnete sich mir wie eine neue oder wie eine alte Welt. Ich sah in eine Perspektive hinein, die vergessen war, aber die ich kannte.

Wie luftig war es oben in diesem Land von zusammenhängenden Kronen. Es glich einer Karte in drei Dimensionen mit tausend Wegen nach allen Richtungen, hinauf und hinab zwischen Himmel und Erde.

Aber die eine Dimension war für mich verloren gegangen.

Lange nachdem die Affenhorde außer Sicht war konnte ich noch ihr Grunzen und Schwatzen in dem tiefen Wald vernehmen. Es klang fremdartig und mit einer eigenen Kälte, es kam von fern und von hoch oben her und hallte seltsam wie durch Schalllöcher in den klangvollen Wäldern wider.

 

VIII

Das Tal

Der Nebenfluß wurde enger und enger. Gleichzeitig er den Eindruck von stärkerer Geschwindigkeit, von vergrößerter Eile um ein bestimmtes Ziel im Walde zu erreichen. Selbst die großen Bäume an seinen Ufern schienen sich auf der Wanderung zu befinden und guten Mutes zu sein. Der Wald wurde immer smaragdgrüner und schöner. Es war wunderbar still hier.

Eine dicke, gesprenkelte Schlange lag in einem Ringel auf einem Ast gerade über unseren Köpfen, wir ruderten so dicht unter ihr vorbei, daß wir sie mit den Händen hätten erreichen können. Weshalb schoß ich sie nicht? Ein Sonnenreflex vom Wasserspiegel wiegte sich auf den schuppigen Windungen der Schlange. Die Luft, in der sie auf ihrem Ast lag, war dunkelgrün von dem Schatten des Laubes.

Auf den Zweigen über dem Wasser saßen große, blaue Eisvögel mit feuerrotem Schnabel, bereit, sich wie ein Lot ins Wasser plumpsen zu lassen, wenn ein Fisch vorbeikommen würde. Und indem wir uns näherten, hüpften sie ein Stückchen näher und legten den Kopf auf die Seite, um mit einem Auge zu erspähen, wer wir seien. Wären sie geflüchtet, hätte ich wahrscheinlich nach ihnen geschossen. So aber sah ich das kleine schwarze Auge, das forschend auf mich gerichtet war und betrachtete den Vogel wie einen guten Kameraden, der mir im Walde begegnete.

Leguane, mehrere Meter lang, erhoben die zackigen Köpfe aus den Pflanzen am Ufer und blickten uns kauend nach. Ich hörte die Zunge behaglich in dem langen Munde schleimen und sah die gepanzerten Nasenlöcher sich liebenswürdig auf der Schnauze öffnen. Mein Leguan, ich grüße dich im Walde!

Oben in einem Baum saßen sechs grüne Papageien Seite an Seite auf einem Ast, wie sechs alte Bürger in grünen Leibröcken mit roten Kragen; sie führten eine hyperkluge Zwiesprache, die wie irgend ein ausgestorbener Dialekt klang. Abra, cabra, dabra rief ich zu ihnen hinauf, um ihre Sprache zu sprechen und von ihnen verstanden zu werden; aber sie beachteten mich nicht in ihrem Paradies.

Grashüpfer und Zikaden feilten ununterbrochen im Walde. Das ist der ewige Laut, auf dessen Hintergrund man alle anderen Töne hört, er ist unzertrennbar von der schmelzenden Hitze unter den Baumkronen, von dem ständigen Anblick der Fruchtbarkeit, von dem weißen Treibhausdunst, der im Bambusgebüsch steht, von der Wärme, die längs der Palmenstämme zittert und von der feuchten Dämmerung im Dickicht. Diese ewige Insektenmusik ist ein Lautgebilde, das man nicht hört, außer wenn es hin und wieder, wie auf ein Zeichen vereint, sich zu einem einzigen gellenden Schrei erhebt. Jetzt gebiert sie wieder, die Ewige im Walde!

Der Nebenfluß wurde nach und nach so seicht und schmal, daß wir uns mit Stangen vorwärtsstoßen oder das Boot weiterschieben mußten, indem wir die Hände gegen die ungeheuren Stämme, die im Wasser standen, stemmten. Gleichzeitig aber wurde der Wald nach der einen Seite zu immer offener und schließlich kamen wir zu einer ziemlich großen Lichtung. Es zeigte sich jetzt, daß wir die ganze Zeit dem Lauf eines tiefen Tales gefolgt waren, auf dessen Grunde der Nebenfluß lief. Hier, wo der Wald sich öffnete und einem kleinen ebenen Terrain Platz machte, war die Aussicht frei, und es war wohltuend, den Blick über die mächtigen, bewaldeten Höhen schweifen zu lassen, die das Tal umschlossen.

Ich fragte Ali nach dem Bukit alam und er zeigte nach rückwärts. Der Berg lag also der Waldhöhe, die ich sehen konnte, gegenüber, und ich mußte über das offene Terrain gehen um ihn zu sehen. Dieses offene Stück Land war bebaut und lag wie eine nackte Stelle im Grunde des Tales, nach allen Seiten von Waldhöhen umschlossen. Hier sollte ich vorläufig bleiben, wir waren am Fuße des Bukit alam. Es wohnten etwa zehn Malaienfamilien auf dem bebauten Land, Ausmärker, und sie hatten den Talgrund in kleine viereckige Acker eingeteilt, durch niedrige Balken von einander getrennt. In allen Äckern stand Wasser, es waren Reisfelder. Hier und da sah man große Wasserbüffel im Schlamm waten. Diese unheimlichen, halbzahmen Tiere sind fast nackt am Körper und hellrosa, weil sie sich gewöhnlich in einem Schlammloch wälzen, so daß nur Augen und Nasenlöcher hervorsehen. Wenn sie sich langsam aus dem Kot erheben, sehen sie aus, als hätte die Erde sie geboren, und als wüßten sie nicht recht, ob sie sich darüber freuen sollen; sie schnaufen, werfen Kopf und Hörner zurück und glotzen finster mit ihren roten Äuglein.

Nachdem wir ungefähr eine Stunde auf den Balken zwischen den überschwemmten Äckern balanciert hatten, erreichten wir das Malaienheim, wo Ali mich schon in voraus eingemietet hatte. Von weitem glich es einem kleinen Palmenhain. Es lag frei draußen im Talgrunde, nahe dem Waldessaum, auf der entgegengesetzten Seite des Bukit alam. Es war dunkel, als wir es erreichten und höchste Zeit hinter der dicken Bambushecke, die den Platz umgab, in Sicherheit zu kommen.

 

IX

Aus dem Tagebuch

Alis Söhne führen mich in den Wald, und ich schieße jeden Tag einen ganzen Haufen Kleinwild. Es gibt Turteltauben in großen Mengen, die den Wald mit ihrem Kurren erfüllen, aber ich schieße sie nur selten, um keinen wertlosen Rekord zu erzielen. Ich habe eine spannende Jagd auf zwei Pfauen erlebt, wurde aber leider so eifrig, daß ich sie beide verfehlte. Es war ein prächtiger Anblick, als das Männchen sich zur Flucht erhob und mit seiner langen Schleppe, wie ein regenbogenfarbenes Luftschiff, hoch über den Baumwipfeln davonflog. Ich war untröstlich über mein Mißgeschick.

Gestern Abend, in der kurzen Dämmerstunde, hörte ich laute Vogelschreie aus der Krone einer Palme vor dem Hause. Es klang genau wie das Schreien eines Esels. Sollte ein Esel in dem Baum hinaufgeklettert sein? dachte ich. Was will der da? Nähren Esel sich von Kokosnüssen, die sie zu abendlicher Stunde stehlen? Ich eilte hinaus, sah ein großes Wesen oben in der Baumkrone und schoß auf dasselbe. Es war ein Vogel, er kam so rasch herunter, daß er mir fast auf den Kopf gefallen wäre, und es zeigte sich, daß es ein Nashornvogel sei, Buceros bicornis, mit einem großen hohlen und gebogenen Schnabel. Von denen hatte ich schon viele gesehen, sie flogen immer paarweise und schrieen so vergnügt oben in der Luft, als seien sie auf der Hochzeitsreise. Aber es gewährt eine gewisse Befriedigung, sich ein Tier auch mal in der Nähe zu besehen; dann verwechselt man es nicht mit anderen, fernerstehenden Arten.

Hier gibt's Tausende von Bekkasinen, die wie Blitzstrahlen über dem Wasserspiegel auf den Reisfeldern kreuzen. Sie sind so rasch, daß es mir bis jetzt nur gelungen ist, meine Hagelkörner hinter ihnen ins Wasser zu schleudern. Bei den fliegenden Hunden habe ich mehr Glück. Sie sind so rücksichtsvoll, zusammengefaltet oben in den Bäumen zu hängen, von wo ich sie zum Zeitvertreib herunterknalle.

Ich habe auf ein großes Wespennest geschossen, aber es wäre mir fast teuer zu stehen gekommen. Ich habe einen Termitenbau umgeworfen und die bewunderungswürdige Republik in ihrem Inneren mit einem Stock geneckt. Das machte mir Spaß, denn die Termiten sitzen da in ihrem Aktienunternehmen, das sie mit ihrem eigenen Mist zusammengeklebt haben, und sind so klein, daß man sie nicht sehen kann. Dennoch sind sie eine Macht durch ihre Einigkeit, durch ihr klebriges und steriles Allerweltsregiment, durch das Extrem einer kommunalen Selbstregierung, und dann komme ich in einer ledigen Stunde und werfe, weil es mich belustigt, den ganzen Bau um! So nebenher bei der Tigerjagd.

Apropos, der Tiger! Ich bin, ehrlich gestanden, all dieser kleinen Narrenstreiche müde. Mein Vorhaben zieht sich in die Länge – wo bleibt Matti?

Ali verspricht wieder und wieder, daß er seiner schon habhaft werden wolle, aber kein Matti erscheint.

Inzwischen bin ich jeden Abend wie ein Kalb mit zwei Köpfen in der Hütte ausgestellt. Alle Bewohner des Tales kommen heran, grüßen Tabe mit der Hand auf der Brust, setzen ihren Speer in eine Ecke und lassen sich auf dem Fußboden nieder. Wenn sie dann ihre Beteleinrichtung hervorgezogen haben und ihr Kopf durch ein frisches Feuer zwischen den Zähnen in vollen Schwung geraten ist, widmen sie sich ganz meiner Betrachtung. Es sind manchmal dreißig unersättlich glotzende Malaien da, zu anderen Zeiten nicht mehr als zwanzig. Ich pflege auf meinem Teppich zu sitzen und Kaffee zu kochen oder Reis zu essen, wenn ich nicht Tabak schmauche, und niemals weichen die Augen dieser ausdauernden Wilden von mir. Sie unterhalten sich gedämpft über mich und zeigen auf mich und spucken Betelspuck und schütteln in tiefer Bescheidenheit die Köpfe. Sie sitzen in einem Halbkreis um mich herum und machen mich zum Mittelpunkt in einem Hohlspiegel von Aufmerksamkeit, bis ich vor Dünnhäutigkeit, vor Einsamkeitsgefühl, Wut und Schmerz zittere. Dieses ist ein Vorgeschmack für den Ruhm, der meiner wartet, wenn ich erst den Tiger erlegt habe. Wie sehne ich mich darnach, mich an der Beachtung der großen Welt zu sättigen, während ich hier im Inneren des Malaienlandes bebend dasitze und die Süßigkeit genieße, von dem nichtsahnenden Haufen beglotzt zu werden!

Es gibt Augenblicke, in denen ich kalten Blutes meinen Revolver auf diese Leute, die es nicht böse meinen, entleeren könnte; es gibt andere Augenblicke, in denen ich mich in diesem Ring von törichten und schonungslosen Neugierigen niederlegen und weinen möchte.

Wo ich gehe und stehe, werde ich betrachtet und das ist eine Qual, die fast nicht zu ertragen ist. Ich entdecke ein Paar schwarzer Augen in einem Busch im Walde, und wenn ich näher komme, gleitet ein malaiisches Mädchen lautlos ins Gebüsch zurück und verschwindet. Allein die Tatsache, daß sie mich betrachtet hat, ist mir so qualvoll, daß ich nicht mal daran denke, daß es ein Weib war, und ich muß alle Kraft meines Bewußtseins anwenden, um mich zu beherrschen, damit ich sie nicht anschieße und ihr Haar und Gesicht durch einen Hagelschuß fortreiße.

Dies ist ein krankhafter Zustand, ich weiß es wohl. Viel natürlicher wäre es, sowohl für sie wie für mich, wenn ich die Waffen niederlegte und sie mit den bloßen Fäusten zwänge die Augen niederzuschlagen. Aber wenn ich krank bin, bediene ich mich nun einmal keines gesunden Verfahrens; es erscheint mir wichtiger, einer unerklärlichen Wut auf den Grund zu gehen, als darüber hinwegzuspringen. Einer der Gründe, weshalb ich lebe und trotze ist der, unvergängliche Standbilder von den Typen menschlicher Gemütszustände zu errichten, welcher Art sie auch sein mögen, wie gemein sie auch sein mögen, einerlei was ich dafür bekomme. Hier nützt kein freundschaftlicher Schlag auf die Schulter. Geht weg, ich arbeite!

Die ganze Nacht hindurch bleibt die Versammlung in der Hütte sitzen und schwatzt von mir, während ich unter meinem Moskitonetz liege und schnarche, mit dem Revolver zur Seite. O, ich gerate in Raserei, wenn ich des Morgens erwache und die Unermüdlichen noch auf derselben Stelle sitzen sehe.

Ich verschaffte mir neulich etwas Linderung, indem ich einen Affen tötete, weil er einem Menschen glich. Während ich im Walde ging, beugte er sich durch ein Guckloch im Laubwerk und glotzte mich an – ich schoß ihm einen Schuß Hagel gerade ins Gesicht. Jäger in Singapore hatten mich davor gewarnt Affen zu schießen, weil sie, wenn sie getroffen werden, so herzbrechend weinen und klagen, als wenn es Menschen seien. Das war nur ein Grund mehr für mich. Der Affe, den ich schoß, jammerte übrigens gar nicht und er streckte auch nicht die Arme drohend durch die Luft, sondern er taumelte mausetot durchs Laub herunter.

Ich bin nervöser als je, es sammelt sich eine fatale Spannung in mir an, während ich umhergehe und auf den großen Chok warte, der mich entweder töten oder mich über mich selbst hinaus erheben soll. Und während ich inwendig von Ungeduld verzehrt werde, vereinsame ich nach außen hin immer mehr und mehr. Natürlich, denn ich verliere jegliche Fähigkeit mich dem Augenblicke hinzugeben, weil alle meine Kräfte auf eine Zukunft gerichtet sind. Ich kann mich nicht vor dem beugen, was ist.

Darum bin ich ein Fremder hier und werde es immer bleiben, ebenso wie ich ein Fremder in Europa war. Dort konnte ich mich nie in den Farben des Tages kleiden, weil ich anderwärts in Anspruch genommen war. Das leichteste in der Welt ist schwer für mich. Und ich leide noch mehr darunter hier im Walde, weil der Sprung hier so leicht zu machen wäre, wenn ich nur könnte.

Welche Kleinigkeit wäre es zum Beispiel für mich zum Islam überzutreten, da ich so leicht auswendig lerne, und da ich mir im Handumdrehen meinen Kopf scheren lassen und einen Harem wählen könnte! Wenn ich es täte, wenn ich mich zu etwas bequemen könnte, was an und für sich eine lächerliche Form ist, dann würde man mir nicht mehr mit naiver Hartherzigkeit ein Einzelbad in einem Tümpel vor der Hütte anweisen, sondern man würde mir gestatten, mit in dem gemeinsamen, heiligen Wasserloch zu baden, wo man in ebensoviel Schlamm wie Wasser taucht, und wo man sich hinterher die Blutegel absuchen muß. Wenn ich zum Islam überträte, würden die streng enthaltsamen Mohammedaner mich nicht mehr mit Entsetzen und Widerwillen betrachten, wenn ich mir ein Glas Whisky mit Wasser mische; sie würden ein Auge zudrücken bei einem Bruder und Rechtgläubigen, der sich grob versündigt, wohl wissend, welche Strafe ihn erwartet, der dann aber doch den Rausch genossen hat. Sie würden mich nicht länger als ein unzurechnungsfähiges Tier ansehen, sondern mich als das brüllende Wunder des Stammes ausposaunen. Der alte Malaie, der mich neulich in unbezwinglicher Neugierde mit dem Finger berührte und nachher sein verunreinigtes Glied, gerade vor meinen Augen, in heiligem Wasser wusch, er würde mir seine vierzehnjährigen Töchter gegen Sonnenuntergang zuführen und mich bitten, meine Augen in Gnaden auf ihnen ruhen zu lassen.

Denn nichts öffnet den Zutritt zu einer Gesellschaft, zu einem Haufen leichter als die Bereitwilligkeit, einer Schwäche zum Opfer zu fallen. Allah ist groß, befleißige dich nur einer kleinen Gemeinheit! Ein Scherflein zur Voraussetzung unserer Existenz!

Aber mich hierin oder in einer anderen Sache zu beugen, das kann ich nicht. Ich bin nämlich augenblicklich mit dem Trotz beschäftigt, eine der Aufgaben, die ich in meinem Leben lösen will. Und ich verkaufe nicht meinen Marmor, um für den Ertrag Hammer und Meißel zu erstehen. Laßt mich in Ruh, ich arbeite!

Matti – wo bleibt er? Weshalb geht meine ganze Expedition zum Teufel, weshalb kommt Matti nicht?

Ich habe Ali haji in Verdacht, daß er mich mit Ausreden hinhält, um mehr zu verdienen. An jedem Tag, der vergeht, ohne daß die Expedition weitergeführt wird, steckt er fast die ganze Summe ein, die er täglich von mir bekommt. Er zieht mich auf alle mögliche Weise auf, verlangt unverschämte Preise für Eier und Bananen. Ich weiß, daß er drei pythis an einem Ei verdient; denn die Wirtsleute, denen ich eines Tages selbst eins abkaufte, verlangen nicht mehr als zwei pythis und Ali berechnet sich fünf für's Stück. Ein pythi ist eine Zinnmünze, die nur zwischen Malaien gangbar ist; es geht eine Schaufel davon auf einen amerikanischen Dollar. Ich habe ungefähr zwanzig Schaufeln mit; aber eine jede noch so große Summe nimmt ja schließlich ein Ende, wenn man täglich betrogen wird. Ich verteidige meine Mittel Alis Habgier gegenüber, ich passe auf wie ein Luchs, aber ich merke täglich, daß er immer neue Wege findet, um mich zu hintergehen und auszusaugen. Ich ärgere mich über den alten Feuerherd, der trotz seiner Gefräßigkeit keine Wärme mehr spendet. Er ist Sammler bis auf die Knochen, deren er so viele hat, er ist immer darauf bedacht, seine Habe zu vermehren. Wenn das Gerippe nicht damit beschäftigt ist, Gnade von oben zu sammeln, indem er ellenlange arabische Gebete zu Allah sendet, von denen er selbst kein Wort versteht, dann liegt er auf seiner Matte und berechnet und zählt und stapelt Hunderte von pythis aufeinander, die er mir durch lauter schmutzige Mittel entrissen hat. Und Matti kommt nicht.

Aber wie herrlich ist das Tal und der Abend hier zwischen den hohen Waldbergen! Ich schleiche mich oft von meinen Plagegeistern fort und setze mich auf einen der niedrigen Deiche zwischen den Reisfeldern. Einige der Eingeborenen folgen mir verwundert bis an die Bambushecke und dann nicht weiter. Nach eingetretener Dunkelheit geht der Malaie nicht aus, er fürchtet die wilden Tiere und die bösen Geister des Waldes. Wer zu Besuch kommt, bleibt des Nachts über da. Auf diese Weise ist es mir vergönnt allein zu bleiben. Ich sitze und schaue den halbwilden Wasserochsen zu, die des Nachts draußen sind; sie können sich gegen alle Feinde verteidigen. Sie bewegen sich in der tiefen Dunkelheit wie Klumpen, oder ich sehe wie sie sich aus dem Morast hervorheben, als würden sie von der Erde und der Dunkelheit geboren. Man empfindet des Abends die Wärme nur wie ein laues Bad, und die Dunkelheit erquickt. Eine versöhnliche Stimmung ist in der Natur, während das Licht schwindet. Ich sitze und sehe das gelbe Spiegellicht in den Wasserfensterscheiben der Reisfelder langsam verbleichen. Und vor diesem lautlosen Hinsterben beuge ich mich in meinem gar nicht harten Sinn. Ich rauche meine Pfeife, ich singe:

Die schwarze Gnade der Nacht
erniedrigt nicht mein Herz;
ich nehme Verzeihung vom Tabak entgegen
... und schweige.

Die Nacht ist friedlos in diesem Tal. Das Schweigen, das sich während der Dunkelheit auf die Natur herabsenkt, ist merkwürdig geladen. Die Nacht ist nur stumm, weil sie den Atem anhält. Ich empfinde die Einsamkeit um mich her, wie einen heißen Puls, wie ein Leben, das sich in wildem Wuchs türmt und sich erdrückend im Finstern auf mich herabsenkt. Hin und wieder kann die Spannung dadurch gelöst oder doch gelindert werden, daß ein Blitz sich in unendlich weiter Ferne am Himmel abzeichnet und eine Sekunde lang wie eine geschwollene Ader an der Schläfe der Nacht dasteht, oder wenn ich in den Palmen über mir den rohen Schrei des Habichts höre und fast im selben Augenblick das schwache, klägliche Piepsen eines Singvogels, der im Nest getötet wird. Die Nacht ist so üppig und so grausam.

Es wird jetzt nicht mehr ganz dunkel, der Mond ist im Zunehmen, sein Siegel liegt in wagerechter Stellung über dem Bukit alam. Den Berg selbst kann ich nicht sehen, auch nicht am Tage, denn das Tal ist so tief, daß die erste große Waldhöhe am Fuß des Berges den Berg selbst verbirgt. Ich bin noch nicht mal drüben auf dieser Waldhöhe gewesen. Dort gibt es Großwild. Aber jedes Mal wenn ich dorthin will, werden meine Führer immer gleich müde, ob es nun Alis Söhne sind oder Leute aus dem Tal. Bald müssen sie sich hinsetzen und Betel machen, bald heißt es verdrießlich: mau makan, ich bin hungrig, und das Tuch mit dem gekochten Reis wird hervorgeholt, oder sie werden plötzlich lahm und zeigen unter Schmerzen auf ihre alten Beinwunden, die sie sonst gar nicht beachten. Der Malaie ist immer höflich und läßt den weißen Mann stets vorangehen; aber wenn wir drüben am Fuß des Berges angelangt sind und uns am Eingang eines düsteren Waldpfades befinden, dann kennt ihre Artigkeit keine Grenzen; der weiße Mann möge nur ja recht weit vorausgehen, sie machen Kratzfüße und gestikulieren wie die Franzosen: Après vous, après vous!

Des Abends aber, wenn ich allein auf dem Deich sitze und zu dem waldbewachsenen Fuß des Bukit alam hinaufsehe, dann lockt er mich, dann vereinigt er alle meine Lebensgeister wie zu einer namenlosen Sehnsucht nach entschwundenen Urzeiten.

Ja. Und gleichzeitig beginne ich einen heimlichen Groll zu nähren, eine Sehnsucht ... ein Verlangen nach der Küste und dem Meere!

Bin ich so weit in die Wälder vorgedrungen, um nun mit einer schleichenden Meeressehnsucht im Herzen – dennoch nie das Innerste des Waldes zu erreichen?

 

X

Die Gewitternacht

Und das Gewitter kam.

Wir sahen vor Sonnenuntergang, daß es kommen würde; und Ali haji begann sofort mit Allah über seine persönliche Rettung zu flüstern.

Das ganze Tal war von blauschwarzen, geschwollenen Wolken umringt, die mit ihrer Basis auf einem erstickten Feuer, den fernen Blitzen, zu ruhen schienen. Sie glichen keinen Wolken mehr, es war wie eine umsichgreifende Entzündung des Himmels. Alles in der Natur war still, totenstill. Als die Dunkelheit hereingebrochen war, wurde es so warm und drückend um uns her, daß man es wie eine überhängende Lebensgefahr empfand. Und dieser Druck hielt während mehrerer Stunden an, bis der erste Blitz kam.

Allah, Allah! hörte ich die Malaien um mich herum flüstern, zum Sterben bereit, während sie die Stirn gen Mekka beugten. Ich aber hielt meinen Kopf aufrecht in der schwarzen Luft und nährte mich mit einem seligen Gefühl von Verachtung und innerer, zügelloser Brutalität, die, wenn ein Gott lebte, mich zum Satan gemacht haben würde.

Wir waren drinnen in der Hütte, wo Ali auf allen Vieren lag und einen langen, leidenschaftlichen Psalm heruntersang, als es plötzlich phosphorblau um uns her wurde und so hell, daß ich die Ameisen auf dem Bambusfußboden herumkriechen sah. Der Donnerschlag folgte unmittelbar, und der Regen kam wie die wilde Jagd dahergesaust. Blitz! Feuer über uns!

Ali schlägt die Stirn gegen den Fußboden und beschleunigt den Psalm, wie eine Feuerwerksonne, die zuerst nur für einen einzelnen Strahl rotiert hat, dann aber über und über flammt und die Umdrehung verstärkt. Die anderen liegen auf der Erde, das Gesicht dem harten Fußboden zugekehrt.

Das Wetter steht gerade über uns. Es ist ein Springtanz von Blitzen, ein ununterbrochenes Himmelsgetöse, ein strömendes Sausen von Wasser. Der Regen liegt wie ein schweres Gewicht auf dem Palmenblattdach, so daß es einige Zoll unter dem Druck nachgibt und Wasser durchzulassen beginnt. Die Blitze folgen sich Schlag auf Schlag in allen Farben, und es verbreitet sich ein Geruch in der Luft wie von Hammerschlägen auf Granit. Bei jedem Blitz sehe ich Alis ekstatisch verzerrten Züge, seine geschlossenen Augenlider, er freit um Allah, er betet laut und zungenfertig und in einem seltsam hohen Ton. Die drei elenden Pariahunde, die sich zwischen den Pfählen unter dem Fußboden der Hütte aufhalten und sich von dem ernähren, was zwischen den Bambusstangen hindurchfällt, brechen in diesem Augenblick in ein eigenes wildes Hundeweinen aus, das alle zu entsetzen scheint. Jetzt gibt es keine Rettung mehr, da selbst die Hunde verzweifeln.

Der Raum ist von einem einzigen Krachen erfüllt. Es donnert und poltert droben in den meilenweiten Hallen! Ha, da stürzen die Säulen, ich höre die hohen Marmorschafte in ihrer ganzen Länge gegen die Steinfliesen krachen und in hundert Stücke zerschellen, ich höre die Kapitäle im Fallen wie Bomben explodieren und einen Regen von Steinsplittern über den Boden des Himmels ergießen! Da stürzen Götterbilder in den innersten Tabernakeln, ich höre sie ihre Körper mit einem Gewicht von tausend Zentnern gegen den Fußboden zermalmen! Jetzt berstet die ganze Festung! Ich sehe vor Blitzen nichts mehr. Jetzt schwindet Allah und der Fußboden und die Grundfeste und alles!

Als aber das Gewitter und die elektrische Entladung ihren Höhepunkt erreicht hatte, konnte ich mich nicht länger ruhig verhalten. Meine Haare standen mir auf dem ganzen Körper zu Berge, ich wurde eiskalt und meine Hände begannen abzusterben. Ich ging vor die Hütte, in den warmen Regen hinaus, der so schwer fiel, daß mir ein Lot an der Hand zu hängen schien, wenn ich sie ausstreckte.

Es blitzte hinter dem Regen, ich stand wie in einem Rohrdickicht von Feuer, mit hohen Stengeln aus blauem und grün fließendem Metall. Ich warf die Kleider ab und nahm das Bad, wie es fiel. Es war, als flöße der Regen mir Leben ein, denn er war warm und ich zitterte so vor Kälte, daß ich mich kaum auf den Beinen zu halten vermochte. Die Blitze und die ohrenzerreißenden Donnerschläge erstarrten mich bis ins Herz hinein. Einer der Blitze kam mir so nah, daß es war, als würde die Wirbelsäule mir mit einem einzigen Ruck aus dem Rücken gerissen. Das seltsamste war, daß ich in jener Nacht trotz meiner Gleichgültigkeit nicht vor Schreck gestorben bin.

Als der Wolkenbruch vorüber war, ging ich auf die Reisfelder hinaus und sah das Wetter über dem Bukit alam stehen. Jeder Blitzstrahl beleuchtete das Tal in allen seinen Einzelheiten. Der Blitz zeigte die großen Baumgruppen auf den Waldhöhen rings umher. Und in einem dieser kurzen Blitzlichte sah ich eine Schar Elefanten über eine Lichtung am Waldessaum drüben beim Bukit alam jagen, in plumpem Galopp, die Rüssel in der kopflosen Flucht erhoben. Gleichzeitig fiel mir auf, wie fern der anscheinend so nahe Waldessaum war und wie klein die Elefanten im Verhältnis zu dem turmhohen Wald aussahen! Sie glichen Blattläusen, winzig kleinen Geschöpfen, die auf dem Waldboden davoneilten.

Nachdem ich Leben im Walde gesehen hatte, begann ich auch unwillkürlich zu hören. Und als ich lange gehorcht hatte, fing ich einen seltsam fernen Laut auf, der ganz deutlich wurde, nachdem ich seiner erst einmal habhaft geworden war. Es war das ferne und tiefe Gebrüll eines großen Tieres, das tief dröhnend durch den Wald tönte. Es klang so mystisch verzweifelt, durch die große Entfernung erstickt und vom Widerhall gebrochen, es klang so ohnmächtig rasend und drohend. Es war der Tiger!

Jetzt stand das Gewitter über ihm. Jetzt lag er einsam im Walde, alle vier Klauen tief in die Erde gegraben, seine Angst und seinen Trotz zu den blauen Blitzen hinaufbrüllend! Ich sang mir ein Lied:

Fürchtest den Blitz, du, Tiger!
Laß deinen Schmerz mich heilen!
Ich kenn' ein vortreffliches Mittel –
Die Kugel mitten durchs Herz!

 

XI

Der Kampf

Sahja mau pegi temba rimau ini hari erklärte ich Ali am nächsten Morgen aus meinem malaiischen Leitfaden heraus; ich will heute ausziehen und Tiger jagen. Ich hatte meine Büchse instand gesetzt und zwanzig Dum-Dum-Patronen in die Tasche gesteckt.

Ali, der von dem anstrengenden Psalmensingen der vergangenen Nacht erschöpft war, protestierte und versicherte, daß Matti bald käme, aber ich wollte sein Geschwätz nicht länger anhören, ich stand bis an die Zähne bewaffnet vor ihm und verlangte, auf Grund meines Kontraktes, einen Führer. Als Ali merkte, daß es mir Ernst sei, steckte er seinen Kopf mit den anderen Malaien zusammen, und das Resultat der Unterhandlung war, daß zwei Männer sich mir zur Verfügung stellten, ein junger starker Bursche und ein älterer Mann mit erfahrenen Zügen. Der Alte nahm einen schweren Speer mit, und der Bursche bewaffnete sich mit einem alten Kavalleriepallasch, der sich, Gott weiß wie, in diese Gegend verirrt hatte. Dann machten wir uns auf zum Bukit alam.

Meine Führer machten heute keine unnötigen Einwendungen, sondern schienen sich mit der Tatsache abzufinden; wir gingen quer durchs Tal und auf der anderen Seite in den Wald hinein. Nachdem wir einige Stunden gegangen waren, gelangten wir zu einer Schlucht, wo die Bäume hoch und dicht standen; solche wilde Waldgegend hatte ich noch nie durchwandert. Meine Führer gingen langsam und beugten sich häufig nieder, um nach Spuren im Waldboden zu suchen. Hierbei mußte ich ihren feinen und sicheren Instinkt bewundern; sie konnten mit einer mir unbegreiflichen Leichtigkeit eine Hirschspur im Erdmoos verfolgen, während ich völlig ratlos dabeistand. Wenn ich nicht das Geringste entdecken konnte, gingen sie mit Sicherheit vor, wendeten ein verwelktes Blatt um und deckten die Spur auf; sie sahen sich vorwärts an Dingen, die mir gar nicht ins Bewußtsein traten, lasen sich gleichsam vorwärts, ohne daß es mir möglich gewesen wäre, auch nur einen Schimmer von ihrem Alphabet zu erspähen. Ihre Sehkraft war viel schärfer als die meine. Schon bei früheren Gelegenheiten hatten meine malaiischen Führer mich auf Vögel aufmerksam gemacht, die mir erst mit Hilfe eines Fernglases sichtbar wurden. Ich bin kurzsichtig, sehe aber mit dem Kneifer ebenso gut wie Europäer im allgemeinen. Konnte ich mich aber mit den Malaien nicht messen, was Sehen und Spüren betraf, so war mein Gehör dafür desto schärfer. Etwas, was sich innerhalb des Sehkreises rührte, entdeckte ich viel früher als sie; ich hatte ja meine Sinne in großen Städten ausgebildet. Wenn ein Malaie nach London käme, würde er sehen können, wieviel die Uhr auf einem eine halbe Meile entfernten Kirchturm ist, und würde von einem Omnibus überfahren werden.

Wir folgten lange einem aufsteigenden Pfad durch die Schlucht, der sich aber zuletzt in Farrenkraut und einem Wald von Schlingpflanzen verlor, so daß wir uns mit dem Waldmesser, das der Malaie immer bei sich trägt, einen Weg bahnen mußten. Es war ein äußerst anstrengender Marsch, weil die Kluft sehr steil anstieg. Der Wald über uns war so hoch und dicht, daß wir in einem schummerigen Halbdunkel gingen, und doch war die Hitze so groß, daß mein Leinenanzug bald vollkommen durchnäßt gegen meinen Körper klatschte.

Die heiße Feuchtigkeit rann an den Stämmen hinunter, alles sah verfault und schwammig aus und war mit grünlichem Schlamm bedeckt, wie der Boden in einer Kloake. Die umgestürzten Baumstämme auf dem Sumpfboden waren schwarz wie Kohle und wenn man darauf trat, fielen sie wie geronnener Brei auseinander. Wachstum und Verwesung folgten hier rasch aufeinander. Ich sah Schlingpflanzen, die noch korkzieherartig in der Luft hingen, während der Baum, an dem sie sich hinaufgeschwungen hatten, schon lange verfault war. Der Lauf der Natur ist eine Spirale, die geradewegs aufs Ziel losgeht.

Das giftiggrüne Bambusgebüsch stand voll von schweren, weißen Gasen, die sich nicht zerteilen wollten, und die meterlangen, fleischfarbigen Schößlinge im Erdboden, die kaum mehr als eine Stunde alt sein mochten, gaben einen warmen Saftsprudel von sich, wenn man sie durch die Finger zog. Nepentes wuchsen hier in großen Mengen, überall zwischen den Farren sah ich ihre fahlen, weitgeöffneten Becher. Und es wimmelte von Dschungeligeln. Sie saugen sich mit ihrem einen Ende an einem Blatt oder an einem Halm im Farrendickicht fest und wenn ein lebendes Wesen vorbeikommt, heften sie sich mit ihrem anderen Ende daran und saugen ihm das Blut aus. Hin und wieder schabten meine Führer sie sich gegenseitig mit dem Waldmesser von den Beinen ab. Von diesen Igelbissen bekommen die Malaien ihre Beinwunden, die sie dann Zeit ihres Lebens offen halten, indem sie sie mit Kehricht von Mekka salben. Die Igel konnten nicht durch meine Kleider dringen, aber ich fand sie zwischen den Falten, wo sie sich festgesaugt hatten und warteten, daß ich mich ausziehen würde. Ich untersuchte einen von ihnen näher und sah, daß es weiche, sehr ausdehnbare Tiere waren, die jedoch die langgestreckte Form vorzuziehen schienen; Kopf und Körper gingen in eins, und sie hatten an jedem Ende einen Saugemund, dessen Lippen lang und geschmeidig waren; ihr Blick war träumerisch, und die meisten von ihnen hießen Mimmy oder Lily oder Edele ...

Halt, woran erinnerte mich die Atmosphäre hier drinnen? Dieser sauersüße, schwindelnde Geruch, der über den wachsenden und faulenden Gewächsen in dem heißen Sumpf lag ... Gedüngte Felder in der Abenddämmerung ... blühender Roggen ... Schminke und ranzige Parfüms auf dem Boulevard de Clichy ... der Schoß des Mädchens und das schwüle Bett ...

Vorwärts! Wir waten bis an die Augen in Farren und Gras, werden von wütenden, roten Ameisen gestochen, verfangen uns in den grünen Stengeln des spanischen Rohres und hauen uns mit dem Messer heraus, während wir von Schweiß triefen.

Was ist das ... große Elefantenspuren auf dem Waldboden! Der Alte zeigte sie mir und zeigte mit zusammengepreßten Lippen zu den geknickten Bäumen hinauf und auf die niedergetretenen Farrenkräuter. Ich spanne den Hahn meiner Büchse. Es war ein Mausergewehr nach modernster Konstruktion mit fünf Schüssen und explodierenden Projektilen. Außerdem hatte ich einen schweren belgischen Revolver und ein Jagdmesser im Gürtel. Wir drangen weiter vor, ohne daß sich Elefanten oder Nashorne zeigten. Was den Tiger betraf, so war wenig Wahrscheinlichkeit vorhanden, ihn in so dichtem Wald anzutreffen. Aber nachdem wir einige Stunden geschuftet und geschwitzt hatten, kamen wir aus der Schlucht heraus und gelangten auf ein Plateau, das mit Farren, Gras und zerstreutem Buschwerk, das die Aussicht versperrte, bewachsen war. In dieser Art Dschungeln pflegen sich Hirsche und Tiger aufzuhalten. Hier begann unser Jagdgebiet.

Aber bevor wir weitergingen, wollten meine Führer essen, und dagegen ließ sich diesmal nichts einwenden; ich war selbst hungrig. Wir machten im Schatten eines Baumes Rast. Die beiden Malaien aßen ihren harten Reisklumpen, und ich verzehrte ein gutes Omelett von Eiern, Speck und Eingemachtem, das ich mir selbst am Morgen gebacken hatte. Unterschied zwischen Herr und Diener muß sein. Das fanden die Malaien auch, die mit tiefer Verachtung das Mahl betrachteten, das ich heidnischer und niedriger Hund mir zu Gemüte führte. Meine Feldflasche war schon längst geleert, ich hatte ihren Inhalt von Kaffee und Whisky in der nassen Hölle von einem Wald, den wir durchmessen hatten, verschlungen. Mich dürstete, die Malaien dürsteten ebenfalls, wir sahen uns mit verlangenden Mienen um. Trinken mußten wir, und nachdem wir unsere Mahlzeit beendigt hatten, begaben wir uns auf die Suche nach Wasser.

Bald hatten wir das Glück ein schlammiges Loch zu finden, in dem etwas Wasser stand, das über den Rücken einer besonders großen Wabenkröte hinwegschleimte, und bei dieser Gelegenheit wäre ja für mich als Durchschnittsforscher Gelegenheit gewesen, zu meinem Kinderglauben zurückzukehren. Aber ich war vielleicht zu durstig oder nicht durstig genug, um die Konsequenzen meines Deliriums zu ziehen. Wir jagten die Kröte aus dem Loch heraus und nahmen ihre Stelle ein. Ich will nicht behaupten, daß das Wasser gut schmeckte, aber ich weiß, daß ich es ebenso gierig schlürfte, wie der junge Malaie mit seinem großen Maul. Der Alte schüttelte den Kopf und trank nicht, er hatte Selbstbeherrschung genug, den Mund nur ein paar mal zu füllen, ihn auszuspülen und das Wasser wieder auszuspucken.

Die Mittagsstunde war vorüber. Die Hitze unter dem offenen Himmel war kaum so schwer erträglich wie die Temperatur drinnen in dem dampfgesättigten Wald, wo man nicht atmen konnte. Aber dafür stach die Sonne hier draußen mit trockener Wärme und das Wasser, das ich geschluckt hatte, kochte aus allen Poren heraus.

Zwei Stunden lang ging ich nun vorwärts durch die Dschungeln, den Finger auf dem Hahn meines Gewehrs. Die Führer wollten nicht vorangehen und das war auch nicht nötig, Hauptsache war, daß sie den Rückweg wieder finden konnten; ich schritt unentwegt durch Gebüsch und Farren vorwärts. Es wimmelte oben und unten von kleineren Tieren, denen ich heute keine Beachtung schenkte, meine Absicht war, einen Tiger aufzujagen und die Folgen zu tragen.

Viel Zweck hatte es nicht mit der Büchse im Anschlag daraufloszumarschieren und zu warten, daß der Tiger wie ein Hase vor mir aufspringen würde; rationeller wäre es gewesen, eine Spur aufzusuchen und ihr zu folgen, bis ich den Tiger gefunden hätte. Aber ich konnte mich nun einmal nicht mit weniger als mit der totalen Überraschung begnügen. Eben diese entscheidende Prüfung wollte ich meinen Nerven bieten. Ich wollte den Tiger in meiner unmittelbaren Nähe aus dem Farrenkraut springen sehen, damit es sich zeigen konnte, ob ich zögern oder schießen würde, ob ich ein Mann der Tat sei oder ein Frühstück, das sich selbst dem Tiger servierte. Jetzt, da sich die Entscheidung näherte, fühlte ich, daß sie an einem Haar hing, ich sah den Augenblick voraus und begann vor Schreck gelähmt zu werden, während ich gleichzeitig so erregt war, daß mir Schatten vor den Augen tanzten. Sollten meine Nerven geprüft werden, so entzogen sie sich dieser Prüfung jedenfalls nicht, sondern machten ihre Anwesenheit alle auf einmal geltend; Stöße durchfuhren mich, ich zitterte, schlotterte vor Angst und Erregung. Hier war ich – den Finger auf dem Hahn! Ein gefährlicher Mann mit einer Büchse in der Hand!

Meine Beobachtungsgabe und meine Sinne waren bis aufs äußerste geschärft und nicht allein das, sondern sie vergrößerten auch alle Eindrücke, so daß sie schmerzlich in meinem Kopf widerklangen. Nicht ein Blatt wendete sich innerhalb meines Sehkreises, ohne daß ich es sah und es schmerzhaft empfand, nicht ein Zweig fiel herab, ohne sich meinem Gehör empfindlich einzuprägen. Jeden Augenblick schreckte ich eine grasgrüne Eidechse auf, die mit hocherhobenem Kopf zu ihrem Loch eilte und sich hineinstürzte, während eine dicke Atmosphäre von Entsetzen zwischen mir und dem kleinen Tier stand, dessen Getrippel auf dem Gras mein Ohr wie ein Getöse berührte!

Wir waren viele Stunden unterwegs gewesen und hatten uns bedeutend angestrengt; ich hatte die Müdigkeitsgrenze schon ein paarmal überschritten und zehrte jetzt von irgend einem Reservefond in meinem Körper. Aber ich wollte mich nicht ergeben. Ich empfand die Müdigkeit nicht als ein Versagen der Energie, sondern eher als eine beißende Wut, eine Verwundbarkeit der Seele. Ich sang mir ein Lied:

Müde bin ich und gereizt,
von Schmerzen umnebelt,
ich zehre von meiner Galle –
ergebe mich aber nicht, ihr Götter!

Und plötzlich ... ein gewaltsamer Ruck, Lärm von krachenden Zweigen ... der Tiger, der Tiger ... Ach nein, doch nicht! Eine Familie von Wildschweinen kam aus einem Gebüsch hervor und verschwand in einem anderen, Papa mit würdigen Hauern und Mama mit hängendem Bauch, von vier gestreiften Ferkeln umgeben! Die Gemütsbewegung, in die ich geriet, war so gewaltsam, daß sie mein Gehirn fast jeden Bewußtseins beraubte. Ich hätte mich nicht auf die Zahlenfolge besinnen können, wenn man meine Geistesgaben in diesem Augenblick geprüft hätte. Furcht aber hatte ich nicht gefühlt. Ich hatte nicht mechanisch einen Schuß abgefeuert, sondern ich hatte Selbstbeherrschung genug gehabt, den Schuß zurückzuhalten, als ich sah, daß es statt des erwarteten Tigers ein Wildschwein war.

Ich ging ruhig weiter. Nachdem ich aber ungefähr zehn Schritte gemacht hatte, verteilte sich ein Versagen der Kräfte über meinen ganzen Körper, keine Mattigkeit, sondern eine Abwesenheit jeglichen Gefühls, als wenn man sich »überhoben« hat. Nichtsdestoweniger ging ich ruhig weiter und ich glaube nicht, daß man mir irgendwelche Schwäche ansehen konnte. Kurz darauf aber stellte ich eine unbeschreibliche innere Gleichgültigkeit fest! Und das war das Resultat meiner Jagd!

Die fürchterliche Spannung war gebrochen. Mir war jetzt alles gleich. Ich wollte nach Hause. Ich ging zu den Führern zurück, die mehr und mehr zurückgeblieben waren.

Pulang! sagte ich. Wir wollen umkehren.

Sie nickten. Sie nickten befriedigt und gingen in derselben Richtung weiter.

Pulang! gebot ich auffahrend. Sie nickten wieder und zeigten geradeaus.

Was! Um nach Hause zu kommen, mußten wir doch denselben Weg zurückgehen, den wir gekommen waren? Und nach meiner Berechnung mußten wir über vier dänische Meilen gehen, um die heimatliche Hütte zu erreichen. Aber es war anzunehmen, daß meine Führer Bescheid wußten. Wir gingen in derselben Richtung weiter und entfernten uns mehr und mehr vom Tal.

Das bildete ich mir wenigstens ein. Kaum aber war eine halbe Stunde verstrichen, als die Gegend mir bekannt vorkam! Ja natürlich, und wenige Minuten später standen wir draußen im Tal! Ich sah unsere Hütte drüben an der anderen Seite in ihrer Palmeneinfriedigung liegen.

Hatten die beiden Malaien mich in einem Rundkreis geführt und nicht, wie ich die ganze Zeit angenommen hatte, geradeaus? Hatte Ali, Ali der Heilige, ihnen diesen Rat als das Gesundeste sowohl für sie wie für mich eingeblasen? Ich forschte in ihren Mienen; sie sahen fromm aus, konnten meinem Blick aber nur mit einer gewissen Ausdruckslosigkeit begegnen.

Gut. Ich war also, wie mir jetzt nur zu klar wurde, mehrere Stunden lang – für mich ein Menschenalter – in Todesängsten vorwärtsgegangen, zur Gratisbelustigung für zwei Malaien, die mir in der Verstellungskunst überlegen waren. Ich hatte mich selbst verzweiflungsvoll dem sicheren Tode ausgesetzt, während ich, mit einem Mausergewehr, einem sechsläufigen Revolver und einem fürchterlichen Messer bewaffnet, eine tigerfreie Gegend durchsuchte. Ich fühlte mich wie von höheren Mächten in den Mund genommen und wieder ausgespuckt.

Ob die beiden mich in den gefahrvollen Augenblicken beobachtet hatten, wenn ich die Schußwaffe senkte, um den Schweiß von meinen Brillengläsern zu wischen, während ich in der Zwischenzeit mit den Augen rollte, fürchtend, daß der Tiger gerade in dem verteidigungslosen Augenblick aus den Dschungeln hervorspringen würde? Ich sang mir ein Lied:

Wenig ehrenvoll ist es
fürwahr, wenn falsche Malaien
mich durch tückische Ränke
vor des Tigers Zahn bewahren!

Ich war nach dem großen Seelenkampf, den ich durchgemacht hatte, so niedergebrochen von Müdigkeit und Erschlaffung, daß ich nicht mehr imstande war, das allerletzte Stück Weges über die Reisfelder zurückzulegen; ich schlug eine Rast vor. Wir lenkten unsere Schritte zu einer Hütte hin, die diesseits des Tales in einer Gruppe von Kokospalmen lag.

Als wir uns aber der Rasthütte näherten – es war eine jener gewöhnlichen Bambusplattformen auf Pfählen, mit Scheidewänden und einem Dach darüber, wie die Malaien sie hier und dort im Walde zur freien Benutzung für jeden errichten – sah ich einen Mann dort sitzen und sorglos mit seinen braunen Beinen baumeln; in seinem Schoß lag ein altes, schwerfälliges Vorladegewehr. Kaum wurde er meiner ansichtig, als er die Büchse beiseite legte und auf mich zukam. Seine Aufmerksamkeit aber hatte gar nicht mir gegolten, sondern meinem Karabiner. Seine Augen waren wie daran festgenagelt. Er sagte gar nichts.

Es war eine Art Gespräch, das wir während des Folgenden führten: Ich reichte ihm den Karabiner, und er drehte ihn mehrmals in der Hand um, befühlte ihn und strich behutsam mit den Fingern über die Schloßteile, er knurrte und sagte in tiefer Ergriffenheit »tss, tss, tss«, mit der Zunge gegen die Zähne. Dann nahm ich die Büchse wieder und zeigte ihm deren große Schußgeschwindigkeit, indem ich die blanken und schweren Patronen in einer Kaskade hochspringen ließ; seine Augen hingen an dem Phänomen, und er lachte vor Entzücken laut auf. Zwanzig bis dreißig Meter entfernt sah ich einen Büffelschädel liegen, ich schoß und die Splitter flogen in die Luft – ha, was ich für einen Abzug hatte! – und da lachte der Mann nicht, sondern er nickte mit einer grimmig bewundernden Miene. Er war ein breitschultriger, gut gebauter Malaie, sein Kopf hatte eine hübsche, runde Form und war ganz glatt rasiert.

Apa nama? fragte ich. Wie er heiße.

Matti, antwortete er und zeigte alle seine Zähne, die feuerrot von Betel waren. Er strahlte vor Lebenslust. Seine Augen waren schwarz und gelb. Me speak english!

Plötzlich nimmt er mich näher in Augenschein, wird ernst und senkt die Stimme teilnahmsvoll:

»You be tired or sick ... you go sleep ...«

Und er klopfte gastfrei auf ein Lager von Gras, das er oben auf dem Bambusboden bereitet hatte und das sein ganzes Heim ausmachte.

Ich sah zur Seite. Ja, ich war etwas verkommen. Aber ich fühlte mich jetzt getröstet, mein Herz hüpfte vor Sehnsucht, sich dem Frohsinn hinzugeben, vor Lust zu leben. Ich kroch ins Graslager hinauf und schlief sofort ein.

 

XII

Aoaaoa und Lidih

Tags darauf. Matti und ich saßen vor der Hütte und hielten Rast. Wir hatten den ganzen Tag im Walde gearbeitet und waren müde, keiner sprach, aber jeder saß in seinen Gedanken vertieft und kaute Betel.

Es war kurz vor Sonnenuntergang. Drüben auf der anderen Seite des Tales lag die Palmengruppe in der grellen, schwindelnden Beleuchtung der untergehenden Sonne. Der Rauch aus der Hütte, in der ich gewohnt und mich im Verein mit Ali haji gelangweilt hatte, drang durch die Palmen. Ich hatte alle meine Sachen zur Rasthütte bringen lassen. Von Ali hatte ich keinen Abschied genommen; denn aus Mattis Erklärung ging hervor, daß, hätte ich ihn nicht zufällig getroffen, aus unserer Expedition nie etwas geworden wäre, da Ali ihn gar nicht benachrichtigt hatte. Aber trotzdem war ich leider noch nicht mit Ali fertig; ich mußte ihm jeden Tag eine gewisse Summe auszahlen und es genierte ihn nicht im geringsten, daß ich ihn mit Geringschätzung behandelte. Er war ein paarmal hier drüben bei meinem neuen Wohnsitz gewesen und hatte herumspioniert.

Es gewährte mir eine tiefe Befriedigung, hier auf dem Fuße des Bukit alam zu sein, zu dessen Gipfel ich jeden Abend hinaufzustarren pflegte; es gewährte mir ein eigenartiges Vergnügen, das Tal jetzt umgekehrt vor mir liegen zu sehen, ich war gleichsam in einen glücklicheren Winkel zur Vergangenheit, zur ganzen Welt und zu mir selbst gekommen.

Matti und ich waren schon fleißig gewesen. Nachdem wir eine lange Unterredung gehabt hatten, waren wir überein gekommen, daß wir erst einen oder zwei Tiger umbringen, bevor wir mit der Besteigung des Bukit alam beginnen wollten. Dies geschah auf meinen Wunsch. Matti behauptete allerdings, daß der Tiger sich keineswegs einem Vordringen durch den Wald entgegenstellen würde, ich aber hatte es mir nun einmal in den Kopf gesetzt, daß der Tod des Tigers eine Art Entrée zum Weltberg sei, und fand es nicht fair ihn zu übergehen. Dagegen war ich nach den gestrigen Begebenheiten bereit, auf eine weniger gefährliche Weise gegen ihn vorzugehen. Ich hatte mich ja nun dem Tiger ausgesetzt, zu Fuß und allein, die Ehre war also gerettet, selbst wenn ich Zeit meines Lebens nie anderen als ausgestopften Tigern begegnen würde, und ich hatte jetzt nichts dagegen, einige von der Höhe eines Baumes herab zu schießen.

Matti hatte die Sache gleich praktisch angegriffen. Wir waren in den Dschungeln gewesen, hatten eine Tigerspur ausfindig gemacht, und in nächster Nähe davon zwei große Bäume ausersehen, von denen aus wir die Spur beherrschen konnten. Einige zwanzig Meter hoch in jedem Baum hatten wir uns einen guten Platz zwischen den Zweigen eingerichtet und unten im Walde hatten wir als Lockspeise die drei Pariahunde, aus der Hütte drüben, festgekoppelt, die ich dem Besitzer gegen eine entsprechende Vergütung, acht leere Patronenkapseln, abgekauft hatte. Die drei Hunde freuten sich der Veränderung in ihrem Dasein; denn wohl stutzten sie, als wir sie so mitten im wilden Wald festbanden; als wir aber jedem von ihnen einen tüchtigen Haufen Fleisch hinlegten, begriffen sie bald, daß sie hier endlich eine feste Anstellung bekommen hatten. Sie lagen sehr zufrieden im Walde und nagten Knochen. Wenn es Nacht geworden und der Mond aufgegangen war, wollten wir unsere Plätze oben in den Bäumen einnehmen. Ich freute mich schon darauf, oben in meinem Baum zu sitzen, wo ich mir eine Art Stuhl in einer Zweiggabelung eingerichtet hatte. Es schlängelte sich ein kräftiger Lianenstengel am Baumstamm entlang, an dem ich bequem hinaufklettern konnte, und er setzte sich bis in die Krone hinein fort, was nicht zu unterschätzen war, wenn der Tiger auf den Einfall kommen würde, am Stamm hinaufzuklettern. Somit war alles aufs beste geordnet.

Und nun saßen wir wie gesagt und ruhten uns aus und spuckten Betel und erwarteten das Eintreten der Nacht. Die Sonne war noch nicht untergegangen, aber der Wald auf der anderen Seite des Tales begann in seinem Grün zu erröten. Der Sonnenuntergangswind hatte sich erhoben, er sauste tüchtig im Walde hinter uns und wir konnten sehen, wie er sich ein Stück vor uns im Tal niederlegte und die viereckigen Wasserlachen kräuselte; selbst aber merkten wir ihn nicht, wir saßen im Schutze des Waldrandes. Ich sah nach meiner Uhr, ungeduldig, weil ich die Zeit unseres Aufbruches kaum erwarten konnte.

Da wurde ich auf zwei Gestalten aufmerksam, die auf den schmalen Balken zwischen den überschwemmten Äckern balancierten, zwei Frauen. Sie kamen auf uns zu, gingen langsam auf den Deichen ein und aus und setzten die Beine mit jener zögernden Grazie, die malaiischen Frauen eigen ist; sie gehen sozusagen immer nur auf einem Bein. Bei jedem Schritt knicken sie im Rücken ein und ziehen die eine Hüfte hoch. Sie waren beide schlank und zu meiner Verwunderung trugen sie das Haar gelöst, was Malaiinnen sonst nicht tun; das Haar wurde vom Winde gehoben und wehte wie große, schwarze Mähnen hinter ihnen her. Das Überkleid der einen wehte, vom Winde aufgeblasen, wie der Klüver eines Schiffes hinter ihr her, es war aus leichtem, grünen Flor; die schrägen Sonnenstrahlen durchleuchteten es. Sie ging als Letzte, aber schon sah ich keine andere als nur sie, denn sie war die Jüngste, und so rundlich; ich sah von weitem, wie ihre Formen, die von dem leichten Baumwollenstoff im Winde dicht umschlossen wurden, voll und weich waren. Ich sang mir ein Lied:

Wer bist du, wildes Mädchen,
das so sanft des Weges wandert,
so mutig dem Wind entgegen
beim späten Sonnenschein?

Und als ich sah, wie sie sich vornüberbeugte und mit der geschmeidigen Energie eines Mädchens gegen den Wind anstrebte, als wolle sie ans Ziel, sang ich:

Gehst du so spät, o Mädchen
zum Stelldichein mit dem Winde?
Ein Durchgänger ist er! Läßt sich nicht fangen
bevor er gestürzt ist!

Sie kam unentwegt auf uns zugeschritten, wich jetzt ein Stück von der Richtung ab, aber nur um eine Wasserpfütze zu umgehen, verfolgte dann wieder einen Deich, der direkt auf mich zuführte. Ich sah sie jetzt deutlicher. O, wie waren alle Linien ihres Körpers jung und rührend leicht zu deuten, ich sang:

Der Wind streichelt zärtlich
dein dünnes Kleid überm Knie,
der Sturm zeichnet behutsam
deinen jungen, wandernden Schoß.

Dann, als sie immer näher kam, tapfer gegen den Wind ankämpfend, sang ich und lachte:

Weshalb stemmst du die Brust
dem Winde entgegen? Er will dich tragen!
Was soll dein törichtes Kämpfen ...
Der Sturm, der bin ja ich!

Im selben Augenblick kamen die wandernden Mädchen in den Schutz des Waldes, wo der Wind aufhörte. Und da gewahrte Matti sie, ob er sie nun witterte, oder ob er sie durch die Windstille, durch die sie gingen, hörte. Er erwachte aus seinen Betelgrübeleien, erhob den Kopf und sah sie. Und springt auf mit einem laut durchdringenden Huup!

Sie halten alle beide in ihrer Wanderung inne, wie Hirsche vorm Schuß, sie zittern und machen eine unwillkürliche Fluchtbewegung. Aber da sendet Matti ihnen eine lange entzückte Lachsalve entgegen, er hat entdeckt, daß es gute Bekannte sind.

Mari la! schreit er inständig und voller Freude. Kommt heran!

Und als sie ganz dicht an uns herankamen, und wir ihre züchtigen Antlitze sahen, erkannte auch ich sie. Die Jüngste, die ich mir gleich ausersehen hatte, hieß Aoaaoa, und die Älteste Lidih. Und als ich sie zuletzt gesehen hatte, saßen sie im Gefängnis von Birubunga, wo sie ihre Sünden abbüßten.

 

XIII

Das Gefängnis

Wie deutlich entsinne ich mich dieses munteren Tempels der Reue, der außerhalb Birubungas unter Palmen lag.

Es gab dort, wie's sich gehört, zwei Gefängnisse, eins für Männer und eins für Frauen. Das Männergefängnis war das größte, es bestand aus einer zehn Meter hohen Mauer, die einen rechteckigen Platz umschloß. Es war kein Dach über dieser Mauer, aber in der Mitte des Platzes war ein niedriges Verdeck von Palmenblättern errichtet, unter dem die Gefangenen Schutz gegen Sonne und Regen suchen konnten; sonst gingen sie frei innerhalb der Mauer umher. Sie saßen dort nicht wegen großer Versehen, (denn solche Verbrecher bewahrte man überhaupt nicht auf), sondern sie wurden wegen Schulden oder Beleidigungen auf Lebenszeit eingesperrt. Es waren auch einige grobe Sünder darunter, die in so milder Form Diebstahl begangen hatten, daß man ihnen nur eine Hand und einen Fuß abgehauen und dann den Rest eingesperrt hatte.

Dieses Gefängnis zeichnete sich durch eine sogenannte innere Aussicht aus. Die hohen Mauern waren rings herum in Manneshöhe und noch höher hinauf mit Zeichnungen geschmückt; an einigen Stellen konnte man sehen, daß einer auf den Schultern seines Kameraden gestanden und eine Zeichnung voll Sehnsucht auf die weißen Mauern gebannt hatte.

Es waren herrliche malaiische Prauen mit vollen Segeln gezeichnet, und darunter Linien und Striche, die in ihrer ganzen schmerzlichen Unvollkommenheit die langen Wogen vorstellten, die gegen die Küste von Birubunga spülten und die die Gefangenen hören konnten. Es waren groteske und glühend verliebte Bilder von Pfauen in blauer Kreide und schwarzer Wichse an die Wand geschmiert, die wie Explosionen aussahen. Da waren Himmelszeichen gemalt, Sonne, Mond und Sterne, da waren Blumen, Fische, Elefanten – alle Tiere der Arche, soweit man erkennen konnte, was der Zeichner gemeint hatte.

Ein Gefangener hatte durch eine feine Komposition seiner Wald- und Meeressehnsucht gleichzeitig Ausdruck zu geben versucht: er hatte einen großen, wilden Eber gezeichnet, der mit Hauern und einem borstigen Buckel in einer wildbewegten See schwamm.

Es waren Bilder von Frauen an die Mauer gebannt, die durch die Einfachheit und Kraft der Zeichnung von der unauslöschlichen Sehnsucht eines gefangenen Mannes zeugten. Ganz dieselben primitiven Zeichnungen kann man auf Häusermauern und Bretterzäunen in Europas großen Städten sehen. Wenn Gefangene sich sehnen, ach, dann beginnt die Kunst! Und darum ist die Ohnmacht das Höchste, was ein Künstler erreichen kann.

Das Gefängnis in Birubunga war mit dem ganzen Verständnis der Bosheit ausgedacht. Der blaue Himmel lag offen darüber. Und gerade hierher war ich gereist, von einer nordischen Krankheit getrieben, von der unheilbaren Sehnsucht, eine Ringmauer zu finden, innerhalb der die Söhne des Urwaldes wie Sklaven sitzen und die Gefängnismauer mit Zeichen ihrer lebenslangen Unfreiheit beschreiben!

Das Gefängnis der Frauen war mit orientalischem Verständnis des weiblichen Geschlechts sehr grausam eingerichtet, indem die Gefangenen in einem großen, offenen Käfig, wie Hühner hinter einem Gitter saßen. Isolierung ist keine Strafe für Frauen, weil sie keine Einbildungskraft haben; dagegen straft man sie entsprechend, wenn man sie einsperrt und ihnen freie Aussicht nach allen Seiten gewährt, so daß es ihnen immer gegenwärtig ist, wovon sie ausgeschlossen bleiben. Außerdem werden ihre Freundinnen so oft wie möglich vorbeigehen und sie durch das Gitter hindurch bemitleiden und das erhöht ihre Pein. Der Käfig steht unter Palmen in einem herrlich schattigen Hain, neben dem Männergefängnis, damit zwei Welten, die vereint sein müßten und dicht aneinanderstoßen, dennoch von einer Kluft getrennt werden, so breit und so ewig wie der Tod.

In diesem Käfig hatte ich Lidih und Aoaaoa sitzen sehen, wie zwei Hühner, die brüten wollten und darum zur Einsamkeit verurteilt waren.

Es kann nicht verheimlicht werden, daß sie die schönste und unverzeihlichste aller Sünden, nämlich Liebe ohne genügende Sanktion begangen hatten. Sie hatten sich in der Hütte zweier ihnen fernstehenden Malaien, bei einem nächtlichen makan besar überraschen lassen, bei dem die Trommel so lebhaft geschlagen worden war, daß sie die Schritte der Wächter des Gesetzes überhört hatten. Sie waren gleich in den Käfig gesperrt worden.

Unter der Regierung des jetzigen Sultans ist die Rechtspflege ziemlich human; denn man kann es ja nicht unmenschlich nennen, wenn ein leichtsinniges Mädchen eingesperrt wird, damit sie Gelegenheit hat, ihre Sünden in allen Einzelheiten zu durchdenken und in der Erinnerung noch einmal zu genießen. Der alte Sultan war sehr viel strenger. Obgleich er so betagt war, daß er durchaus keinen Grund hatte, sich zu ärgern, wenn etwas an seiner Nase vorbeiging, so pflegte er doch sittliche Freigebigkeit aufs grausamste zu bestrafen. Während seiner Regierung wurde ein Weib, das gesündigt hatte, nicht gegen die Bibel sondern gegen den Koran, mit beiden Beinen in die Erde gegraben und unter ihr wurde ein Schößling des rasch wachsenden Bambus gepflanzt, damit sie durch langsame Todesqualen sich ihrer Schuld bewußt werde. Diese Strafe wurde von dem jetzigen Sultan abgeschafft. Man behauptete allerdings, daß viele Sünderinnen diese Strafe durchaus nicht fürchteten, sondern daß sie im Gegenteil unter dem Eindruck wildester Zufriedenheit starben. Der junge Sultan wird darum diese Folter vielleicht aus einer Art Eifersucht abgeschafft haben.

Als nun Lidih und Aoaaoa ihre Strafe abgesessen hatten, kamen sie überein, dem bigotten und kleinlichen Birubunga für ewig den Rücken zu kehren. Sie hatten sich den Staub der Stadt von den Füßen geschüttelt, hatten ihr Haar gelöst und sich dem Urwald zugewendet, um Gegenden aufzusuchen, wo sie unbekannt waren und ohne einen Schatten von Schuldbewußtsein von vorn anfangen konnten.

In einem zusammengeknüpften Tuch, das sie in der Hand trugen, hatten sie ihre Nahrungsmittel, Früchte des Waldes, die sie unterwegs sammelten. Sie wollten sich rächen, indem sie für immer verschwanden, indem sie bis ans Ende der Welt wanderten.

Vorläufig waren sie nun aber Matti und mir in die Arme gelaufen.

 

XIV

Der Sündenfall

Aoaaoa sitzt vor mir im Gras. Wir sind uns selbst überlassen worden, denn Matti und Lidih sind auf die andere Seite der Hütte gegangen, von wo aus wir sie sprechen hören. Das heißt, Matti spricht, Lidihs Stimme ist nicht zu hören. Auch Aoaaoa ist nicht gesprächig. Aber sie betrachtet mich unverwandt, oder richtiger, sie lebt mit den Augen auf mich gerichtet. Was soll ich ihr sagen? Die Sprache ist so arm, und ich bin ihrer nicht einmal mächtig. Darum sitze auch ich und sehe Aoaaoa unverwandt an.

Noch ist es hell, aber die Sonne ist untergegangen und die Dunkelheit wird schnell hereinbrechen. Zwei große, schwarze Vögel stiegen eilig über die Palmenkronen, den Schein des Sonnenunterganges auf der Brust; sie verfolgen die Sonne. Der Wind hat sich gelegt, nur ein schwaches Atmen ist noch aus dem tiefen Walde zu hören.

Da ist es, als müsse ich in dem schwindenden Tageslicht Aoaaoa mit einem Blick umfassen, der ihr Bild durch die Dunkelheit tragen kann, Aoaaoa, die ein ganz gewöhnliches Malaienmädchen ist, ohne besondere Tugenden und gar nicht ungewöhnlich hübsch. Ihre Züge nehmen nicht für sie ein, die Nase ist aufgestülpt und macht sich in großen Flügeln mit weitgeöffneten Riechlöchern breit und der Mund ist eine Schnauze ohne persönliche Form. Aber dieses Gesicht von niedrigem Typus ist wie aus Farben geschaffen, aus dunklen und wunderbaren Tönen.

Die Grundfarbe ist ein glühendes Braun, wie reines Kupfer, das sich im Schatten der Nase und um die Augenlider wie Bronze und Zinn austönt, und die großen Lippen sind hell schieferfarbig. Die Zähne sind von Betel rot wie Feuer. Aus diesen Farben, die in ihrer Reinheit und in ihrem Licht vollkommen sind, tritt Aoaaoas Blick aus schwarzbraunen Augen mit einer Weiße hervor, die in ihrer Frische fast so blau wirkt wie der Himmel. Hinter den violetten Ohren und an dem vollen, ziegelfarbigen Hals hinab fließt das dicke kohlschwarze Haar. Sie sitzt auf ihrer einen Lende, die Füße hochgezogen, harte, trockene Wanderfüße, und an der einen braunen Zehe trägt sie einen silbernen Ring, mit einem grünen Stein. Der Sarong der ihre langen, schönen Hüften einhüllt und fest über dem schmalen Leib schließt, ist von einfachem, grüngeblümtem Kattun, und der Oberkörper mit der starken Brust wird von einer schwefelgelben Schärpe bedeckt.

So sitzt sie in der schnell hereinbrechenden Dunkelheit vor mir. Und um mich besser sehen zu können, reckt sie den Hals und nähert ihr Gesicht dem meinen; sie schielt etwas, denn sie hat sich selbst vergessen.

Sobald die schönen und blendenden Farben meines Mädchens von der Dunkelheit verschlungen sein würden, werde ich sie selbst besitzen, das fühlte ich. Und mit und durch sie würde ich die entschwundenen Zeiten, die ich beweint hatte, zurückerhalten, die sonnenroten Töchter Ägyptens, die messingfarbenen Jungfrauen der Bibel, die blauen Mädchen von Palmyra!

Aoaaoa, nun küsse ich dich, dachte ich; als ich mich ihr aber näherte, verstand sie mich nicht. Statt dessen legte sie ihre Nase mit einem leichten Druck gegen meine und ließ sie dort ruhen. Und als ich verwundert und erwartungsvoll stillhielt, umschlang sie mich mit beiden Armen und begann mit großen, pulsierenden Nasenlöchern und weitgeöffnetem Mund zu schnüffeln und die Luft zu trinken; da verstand ich sie, und auch ich atmete und saugte den sanften Wildgeruch ihres Gesichtes, ihres Haares und ihres ganzen Körpers ein.

Sie duftete ganz schwach nach Moschus, nein, sie duftete wie alte Bauerngärten, nach Wermut, »Ambra«, Holunder und Mohn, ja, und wie die Betten der Alten, wie die Federbetten in meiner Kindheit und wie der Pferdestall und wie die Wanne, in der die Schafe gewaschen wurden ... Aoaaoa ... du duftest wie das verlorene Paradies meiner Kindheit, wie meine dunkelsten Träume vom Glück!

Und zusammen mit deiner Seele, die mir als Duft deiner Haut, deines Mundes und deiner Kehle entgegenströmt, atme ich die ureigentliche tiefe Dunkelheit, die aus dem Wald über deine Schultern gleitet, gesättigt von dem Duft der wilden Bäume und dem Tauduft des Abends, und die uns bei der Vorstellung vom Schlaf tröstet und beim Gedanken an ein Nichtwiedererwachen ängstigt ... Aoaaoa!

Still! Aoaaoa sitzt auf den Knieen vor mir im Gras und löst das Tuch, worin sie ihre Früchte hat. Ihre schönen Augen, die nichts anderes sagen, als das sie sehen, ruhen auf mir und sind jetzt so vertrauensvoll geworden.

Es sind viele schöne Dinge im Tuch, Rambutan, Mangostinen und goldgelbe Bananen; aber von ganz unten holt Aoaaoa mit Vorsicht eine große stachelige Durianfrucht hervor, die in zwei Hälften geteilt und wieder zusammengelegt ist. Sie nimmt sie auseinander und legt beide Hälften zwischen unsere Kniee auf die Erde. Ein seifenartiger Geruch steigt aus dem weißen und mehligen Innern der reifen Frucht zu uns auf.

Auf den Knieen liegend streicht Aoaaoa ihr Haar aus ihren keuschen Augen und reicht mir gerade in dem Augenblick die Frucht, als der Mond sich strahlend wie ein goldenes Schild über den Waldgipfeln auf der anderen Seite des Tales erhebt.

 

XV

Makan besar

Auf die Tigerjagd gingen wir in jener Mondscheinnacht nicht mehr. Tags darauf begaben Matti und ich uns zur Mittagszeit in den Wald, um nach den Fallen zu sehen. Sie waren unberührt, insofern hatten wir also nichts versäumt. Aber die Hunde gaben ihre Unzufriedenheit deutlich zu erkennen; sie waren im Begriff zu streiken, denn sie hatten nichts mehr zu fressen. Wir schossen ihnen einige Vögel, wonach ihnen der Glaube an geordnete Zustände im Lande wiederkehrte.

Auf dem Rückwege sahen wir eine Hirschspur und folgten ihr während drei bis vier Stunden ohne Erfolg, und erst gegen Abend kehrten wir zur Hütte zurück.

Schon von weitem konnten wir sowohl sehen wie hören, daß sich etwas während unserer Abwesenheit ereignet hatte. Unsere Frauen saßen draußen auf dem offenen Bambusboden und begrüßten uns mit lautem, frohem und befreitem Geschrei, was einem respektvollen Malaienmädchen durchaus nicht ähnlich sieht. Als wir aber näher kamen, wagten sie ihren Sitz nicht zu verlassen, sondern gingen zu unglücklichen und zärtlichen Rufen über, so daß wir uns beeilten ihnen zu Hilfe zu kommen.

Aoaaoa schlang ihre Arme stürmisch um meinen Hals, und weinte und lachte zu gleicher Zeit. Sie bebte am ganzen Körper, bebte so stark, daß ich sie mit aller Kraft festhalten mußte, damit sie mir nicht aus den Armen hüpfte. Was war geschehen? Ich sah, daß Lidih wie im Todeskrampf an Mattis Halse hing.

Aoaaoas Zähne klapperten wie ein Totentanz. Ich bog ihren Kopf zurück und sah, daß ihre Pupillen sich fast bis zum äußersten Rand der Netzhaut erweitert hatten. Und im selben Augenblick fiel mein Blick auf die Kaffeekanne, meine Kaffeekanne, die auf der Erde, zwischen den Resten eines kleinen Feuers stand.

Aha! Während wir fort waren, hatten Aoaaoa und Lidih einen Kaffeeklatsch abgehalten! Oh, sie hatten es sich natürlich, als wir glücklich fort waren, gemütlich gemacht, ungewaschen wie sie waren, mit Grashalmen im Haar, und waren über Matti und mich hergezogen! Hatten uns wohl ordentlich durchgehechelt bei dem Kaffeegelage! Aber dann hatten sie nach Weiberart nicht Maß halten können, hatten sich das eine Blechmaß nach dem anderen zu Gemüte geführt, erhitzt von all dem, was sie sich gegenseitig über uns Ungeheuer anvertrauten. Und was noch schlimmer war, ihre wilden Nerven hatten den Kaffee nicht vertragen können und sie waren plötzlich von Kaffeeangst ergriffen worden, meinten in die Luft zu fliegen und klammerten sich in tödlicher Überreizung mit beiden Händen an den Bambusboden, um nicht vor Schwindel im Raum zu vergehen! So saßen sie, als wir kamen, und Gott mag wissen, wie lange sie da schon gesessen und auf diese gefährliche Weise durch die Luft geflogen waren!

Alles dies erfaßte ich blitzschnell. Erst beruhigte ich Matti, der Lidih noch immer in den Armen hielt, in dem Glauben, daß sie im Begriff sei das Zeitliche zu segnen. Seine Lage schien ihn übrigens zu langweilen. Es erleichterte ihn sehr, daß nichts Schlimmes geschehen war, und er setzte Lidih wieder nieder, die sich mit beiden Händen an den Bambusboden festklammerte, um nicht wegzufliegen. Sie lächelte schief und glücklich und schielte schrecklich mit beiden Augen, während Aoaaoa mich krampfhaft mit beiden Händen auf dem Rücken gepackt hielt, als wolle sie mich wenigstens mit in die Wolken hinaufnehmen.

Was war da zu machen? Überhitzte Nerven ... Whisky natürlich! Ich ging zu meiner Whiskykiste (die ich mit Rücksicht auf die Gefühle der gänzlich enthaltsamen Malaien immer verschloß) und nahm eine Flasche heraus. Als ich sie aber aufgezogen hatte und mein Blick zufällig auf Matti fiel, stutzte ich über den Ausdruck in seinen Augen.

Ich sah, daß er Muhamedaner war, aber in Penang als Soldat gedient hatte! Ich sah, daß in seinem Blick Erinnerungen an Sünden aufflammten, bestialisch und köstlich, weil sie im geheimen und unter dem Gefühl schändlicher Übertretung begangen worden waren. Es lag ein dreifaches Begehren in Mattis Augen, das mir mit der Gewalt einer Offenbarung die Bedeutung aller Religionen klar machte. Man spricht von großen, mystischen Wendepunkten im menschlichen Leben, von Augenblicken, in denen die Seele in das innerste Wesen der Dinge blickt, jene Erleuchtung des Augenblickes, von der Muhameds und die Geschichte fast aller Religionsstifter berichtet; diesen Wendepunkt erlebte ich jetzt. Das war also das unsterbliche Verdienst des Islams, daß er einem höheren Lebensgenuß die Tür öffnete, indem er das primitive Begehren mit diesen drei großen und bedeutungsvollen Beilagen der Wollust schmückte, die ich jetzt in Mattis schwarzen und gelben Augen glühen sah. Matti liebte es augenscheinlich, das Verbotene zu tun, weil es befreit, er zog es vor, es im geheimen zu tun, um sich nicht mit anderen gemein zu machen, indem die große Menge sich auch in Befreiung badete, und er wurde von der Sünde angezogen, gerade weil er ein Gefühl des Widerwillens dagegen hatte; dieses zu überwinden war ja nämlich auch ein Sieg!

Oh, dachte ich, während die Glorie des Verstehens mein Haupt umschwebte, der Prophet war klug! Aber, o Muhamed, wie ist es schwer, deine Offenbarung zu verstehen, da ihre Kraft gerade darin besteht, daß man sie nicht durchschaut; denn was ist ein Verbot, wenn es erlaubt ist? Muhamed ... ich werde dich nicht verraten! Sondern ich werde von jetzt ab den Islam mit meinem Schwert verbreiten helfen! Ich bitte um etwas mehr Islam! Die anderen Religionen sind auch nicht übel, ich bekenne mich zu allen! Nur immer mehr Verbote! Ich habe Visionen ganz nach Europa hin! Ich muß eine Rede halten ... die Sache fängt an festlich zu werden.

Es kamen mir viele neue Gedanken, während ich Whisky in einen Blechbecher goß, um ihn Aoaaoa und Lidih als Gegengift für den Kaffee zu verabreichen. Ich zögerte ... ich hielt inne. Warum diesem Fieber Einhalt tun? Waren Aoaaoa und Lidih nicht gewissermaßen über sich selbst hinausgehoben worden – wenn auch mit Angst und Beben – weshalb sie auf törichte Ärztemanier wieder zur Erde zurückführen? Was bedeutete es, daß sie krank waren? Das bedeutete, daß sie sich in einer Entwickelungskrise, auf dem Wege zu einem neuen Genußmittel befanden – ebenso wie ich selbst neulich, als ich nach dem Genuß von Betel einen Sternennebel im Kopf zu haben meinte. Es war zweifellos, daß sie, dank dieser Vergiftung, die jetzt ihr Nervensystem beunruhigte, meilenweit in der Kultur fortgeschritten waren.

Aoaaoa war im Begriff eine ganz andere zu werden. Sonst war sie in meiner Gegenwart fast stumm gewesen vor Respekt, mit feuchten Blicken wie ein frommes Tier. Und das mochte ja ganz gut sein. Es war mir recht, daß sie aus Ehrfurcht vor mir die Wärme verbarg, mit der sie sich hingab, wenn ich sie nur trotzdem fühlte, denn auf diese Weise konnte ich ihre hübsche Zurückhaltung noch mitgenießen. Aber die moralische Rücksichtslosigkeit, die eine höhere Kultur verleiht, die fehlte Aoaaoa allerdings ganz und gar. Und als sie jetzt in ihrem Kaffeerausch mich anzulachen wagte, wenn auch schief und verzerrt, und auch auf andere Weise Selbständigkeit als Weib an den Tag legte, sollte ich mich jetzt mit der ganzen Kraft eines Gegengiftes auf diese ihre erwachende Befreiung werfen? Das wäre wohl kaum im Sinne des Propheten gewesen.

Ich sah fragend zu Matti hin. Der Tag ging zur Neige. Er betrachtete die zitternden Mädchen, die Flasche und die langen Schatten im Tal ...

Makan besar? fragte ich und machte eine wilde Armbewegung. Große Mahlzeit?

Matti brach in ein befreites Gelächter aus. Ja, Fest! Und im nächsten Augenblick saugte er sich mit solcher Hingebung an dem Hals der Flasche fest, daß die Luft darin zurückstieß, nachdem er getrunken hatte.

Ich schürte das Feuer unter der Kaffeekanne und braute ein neues Getränk, um die Weiber während der Nacht auf der Höhe ihres Entwickelungsstadiums zu halten. Augenblicklich bedurften sie keiner neuen Dosis, sie brannten beide wie Feuer über den ganzen Körper.

Aoaaoa ließ den Bambusboden los und machte sich mit Gebrüll auf einen Luftflug gefaßt, und sie wäre wie ein Stein zur Erde gefallen, wenn ich sie nicht in meinen Armen aufgefangen hätte. Ich fühlte ihr Herz wie einen Schnellzug pulsieren.

Es wurde ein Dionysosfest, das sich mit den besten klassischen Vorbildern messen konnte. Der Whisky wirkte derartig auf Matti und mich, daß wir zu der niedrigen Stufe, auf der Aoaaoa und Lidih sich befanden, herabstiegen, und der Kaffee hob sie zu uns empor; wir begegneten uns in einer Stimmung, die gewissermaßen nicht unsere eigene und darum neu für beide Teile war. Wir wechselten sozusagen das Geschlecht, und das war recht angenehm.

Ich wage von mir zu behaupten, daß ich mich als Europäer und gebildeter Mensch dem Schwung des Festes hinzugeben verstand, während ich mit klarem Kopf einer passenden Verteilung der Gnadenmittel der Zivilisation vorstand. Wir waren ja keine Alkoholisten, die eine Krankheit im Fleische nährten, wir waren Leute mit Appetit, die alles mitzunehmen wünschten, nach den Katzenjammer des Rausches und der Reue, und ... aber davon morgen!

Mattis Lebensfreude kannte keine Grenzen. Er war köstlich im ersten Stadium, als der Rausch sich noch nicht durch seine gestaltenden Geistesfähigkeiten gefressen hatte, er erzählte Geschichten, die, soweit ich das Malaiische verstehen und seine Gebärden deuten konnte, von einer riesenhaften Unzüchtigkeit waren. Viele dieser Erzählungen hatte ich fast gleichlautend von Bauernburschen in Jütland erzählen hören und das läßt auf eine große Verbreitung der primitiven Ideen der Verpflanzung schließen.

Aber es dauerte nicht lange, bis Mattis Lebensfreude so überquoll, daß er sich durch Tumult Luft machen mußte, ich sah es seinen Augen an, daß er sich Lärm, Gepolter und Gebrüll verschaffen oder die Welt fressen mußte. Er war nahe daran, amok zu gehen, das Fleisch erhob sich wie Kämme auf seinem ganzen Körper ... und plötzlich fährt er wie ein toller Waldteufel aus der Hütte, und wir hören ihn davonstürzen, vor überquellender Freude brüllend ... und kaum zehn Minuten später ist er wieder da, und wirft vier große Durianfrüchte auf den Fußboden und schwingt eine blanke Kupfertrommel über seinem Kopf. Bang!

Allah, il Allah! Er hat die Kirchentrommel aus der Moschee im nahgelegenen Hain gestohlen! Er hat einen Durianbaum, der für den Priester bestimmt war, geplündert! Aber, o Muhamed, war das nicht just deine Meinung ... nein, nur ruhig, ich werde meinen Mund halten!

Bang, bang, bang ...

Matti läßt Schwingungen seines Athletenarmes auf die Trommel niederhageln, Salven von gewaltigen Schlägen, und jetzt kräht er, jetzt öffnet sich seine Kehle dem schneidenden Gekreisch der Lebenslust, einem unaufhörlichen Durchzug von Schreien, bei dem Druck der sich unermüdlich von neuem füllenden Brust!

Und als ich schließlich den Lärm und die Vibration nicht mehr aushalten kann und aufspringe und mir die Ohren mit einem verzweifelten Fluch zuhalte, ach, da lächelt Matti und betrachtet mich von der Höhe herab, auf der er sich während seines Gesanges befindet, und als erfahrener Mann reicht er mir die Trommel und den Klöpfel – und ist es Zauberei? – wie ich selbst mit aller Kraft auf die Trommel loshämmere, kann ich nicht allein den Lärm vertragen, sondern ich finde die Musik wundervoll und werde von einem inneren gewaltigen Takt ergriffen, den ich der Trommel mitteile ... und nun haben wir uns zusammen eingespielt, Bang, bang, hämmerte ich, und Hyh – schreit Matti ... und auf dem Boden kauern Aoaaoa und Lidih, schütteln ihre Haare und sind damit beschäftigt, die neuen Durianfrüchte zu öffnen!

Im Laufe der Nacht brach dann plötzlich das ganze Fundament meines Glückes zusammen und zwar gründlich.

Das kam so:

Aoaaoa und ich hatten uns jetzt in vollkommenem Einverständnis zusammeneingelebt, wir waren so glücklich gewesen, wie man sich nur denken kann, wir waren so froh miteinander, daß jede andere Glücksmöglichkeit ausgeschlossen schien, und da fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen, und ich sah, daß sie gar nicht die Rechte war. Nicht Aoaaoa war für mich bestimmt.

Ich weiß nicht wie es zuging, daß ich in rasendem Unverstand meine Augen auf Aoaaoa warf und nur auf sie. Doch, ich weiß es ganz gut, es war der erste brutale Appetit, der meinen Geschmack verflachte. Weil sie jung war! Ha, Jugend und Nichts! Weil ihre Bewegungen die Halbheit der jungen Kuh hatten und weil ihr bloßer Anblick alles versprach, was Zartheit und Süßigkeit der Haut anbelangt. Ein fettes Mädchen war Aoaaoa, eine wohlgenährte Sechzehnjährige, gut und gesund und vollblütig ... fort mit ihr!

Ich flüstere mir zu, nein, Lidih hätte ich besitzen müssen, Lidih, die ich bis jetzt gar nicht gesehen habe, weil ich mit den hervorquellenden Augen eines Vielfraßes geglotzt und die Welt voller Aoaaoaen gesehen habe, Lidih, die ich nie in die Arme schließen werde, nein es ist zu spät, es gibt kein Glück mehr für mich!

Lidih ist nicht jung, oh nein, sie ist nicht diese ewigen sechzehn Jahre, die mich zu Tode langweilen, wiegt nicht hundertundzwanzig Pfund, totes Gewicht von kerngesundem Schweinefett, sie ist grau und flüchtend und furchtsam, mager und zart, und ihre Augen sind erfüllt von einer brennenden Schwermut, erfüllt von der Zeit die Zeit, die vergeht, und von der Allwissenheit, die sie zurückläßt.

Dein Haar, Lidih, ist graugestreift wie das Meer, wenn es stürmt, und die Schaumstreifen sich durch die schwarzen Wellen ziehen. Ja, wie die stürmende Nordsee bist du, und ich sehne mich nach dem Meer, nach dem tiefen Ozean. Ich ersticke im Dunst des Waldes! Lidih, deine dünnen Füße rühren mich, du hast dir die wertlose Unmäßigkeit der Jugend abgetreten, ich liebe deine Augen, deren Blick von Grenzen sprechen, auf die du gestoßen bist, und von einem verfeinerten Ersatz. Ich liebe dich, grau und alternd wie du bist und verständig und sehnsuchtsvoll und mutig und mager und geschmeidig wie eine Klapperschlange!

Jetzt erkenne ich es ... ich, der ich mich daheim im Norden wie ein Sklave nach den Wäldern und nach dem ewigen Sommer sehnte, nach dem Süden, nach Aoaaoa, ich verlange jetzt nach dem Norden zurück, nach dir, Lidih, nach dem herbstlichen Farbenspiel deines Wesens!

Lidih, Lidih, ich liebe den Herbst in deinem Wesen, das bunte Laub deiner Seele, denn die Tropensonne, die in einem ewigen Einerlei mein Herz verbrennt, macht mich krank. Ich sehne mich fort von Aoaaoas hohlen Immergrün, ich sehne mich nach dem Meere und nach einem nordischen, verfeinerten Klima! Steig' mit mir auf den Bukit alam, in die kühlen Zonen hinauf, wo wir dem Schnee nah sind, folge mir zum Septembergürtel des Berges, Lidih, wo die Aussicht weit ist und wehmütig wie der Blick deiner Augen, folge mir in den » indianischen Sommer« hinein, der schöner ist als jegliche Waldentfaltung am Äquator, weil er der Sommer selbst ist, der sich erinnert! Ach Lidih, wir wollen in dem blutenden Septembertag hoch hinaufsteigen, wir wollen uns in dem güldenen Welken der Natur verlieren, wie Stäubchen in der durchsichtigen Luft auf der Berghöhe, wir wollen über Sumpfwälder und verzehrender Trockenheit Atem schöpfen und die Brust mit unseren kühlen und klaren Erinnerungen weiten ... Lidih! Wir wollen leben und zusammen gelebt haben, Lidih, wir wollen lieben mit dem ewigen Schnee des Berges über unserem Haupte, mit dem nahen Winter, der seine Gletscher auf uns herabsenkt, wir wollen nach den Wolken und den zeitigen Sonnenuntergängen ausschauen und seufzen und die wundervolle Welt segnen! Wir wollen uns vertiefen, wir wollen zum Abschied lächeln und unseren eigenen Gedanken nachhängen, die zwischen Vergangenheit und Zukunft schwanken, wie der Monat September!

... Lidih, dein glühendes Verwelken, das tiefe und wilde Kränkeln deiner Seele stimmen just mit meiner Sehnsucht überein! Ich will dich lieben, du Lauschende, weil du lange gelebt hast, weil du von Demut strahlst und dich mit größerer Kraft sehnst als alle rohen Sommer! Wir wollen lachen und eilen, Geliebte, wir wollen dort oben den Weingeruch des verklärten Himmels einatmen und unsere Atemnot voreinander verbergen! Wir wollen schwärmerisch und beklommen dem Herbst entgegensteigen, und dort sollst du den Frühling erleben, wie der Tropenwald und deine Jugend ihn dich nie gelehrt haben ... während wir zusammen von der heimlichen Winterweisheit schweigen, die unsere Herzen durchbebt!

Du aber hängst an diesem Matti, an einem aufrechtstehenden Brüllaffen, der grinsend auf die Trommel losschlägt, die ich im bitteren Schmerz von mir geschoben habe, zu ihm schaust du auf, als gäbe es keinen andern, zum Herrscher geborenen, heulenden Liebesgegenstand, im ganzen unendlichen Wald, als ihn! Das Glück ist unerreichbar für mich! Nein, nein! Ich bin der ewigen Sehnsucht wie ein Sklave verkauft worden.

Aber Matti ... er müßte einen Uriasposten haben! Man müßte ihn dem Tiger ausliefern, ihm einen trüben Abend bereiten, Matti, der, während ich trank, um meine Wut zu bändigen, in fortgesetztem Entzücken auf die Trommel losdonnerte und den Kopf bald auf die eine bald auf die andere Seite legte, während er zärtliche und wilde Lieder sang.

Aber Tod und Teufel ... wo hat er seine Augen, wem gelten die langen Blicke, die fast schüchtern sind von neuer und bewegter Liebe? Wem zu Ehren singt er und wen bezaubert er mit dem betäubenden Klang der Trommel? Aoaaoa!

Meine erste mörderische Eingebung war, mich auf ihn zu stürzen und mit ihm zu kämpfen, ihn zu erdrosseln; meine nächste war, mich heimlich einer der Büchsen zu bemächtigen und ihn niederzuschießen. Aber was ich tue ist ganz europäisch und viel schlimmer. Ich erhebe mich und trete ruhig vor ihn hin:

Stop that noise! befehle ich und sehe ihn an, wie ein weißer Mann einen Kuli betrachtet. Er hält augenblicklich inne und senkt das Haupt; alle Züge seines Antlitzes erschlaffen vor Untertänigkeit. Im selben Augenblick aber bereue ich meine Kälte. Denn was will ich hier, wenn ich nicht innerhalb seiner Voraussetzungen leben kann? Ich bin ja weder ein Kolonieverwalter, noch ein General oder Heizer, der nach dem Osten gekommen ist, um den Farbigen Fußtritte zu versetzen.

Matti, sage ich offen und nicke ihm zu und werde wieder froh, als ein Lächeln auf seinem Antlitz erscheint – Matti, you love Aoaaoa?

Yes, flüstert er und lacht mühsam; seine Augen glänzen. Und er fügt mit einer unsicheren Hoffnung in der Stimme hinzu;

We change ...? You take Lidih?

Ich sang mir ein Lied:

Reizvoll war Aoaaoa.
Ach, aber ich liebte Lidih!
Zur Bürde ward mir das Leben.
Tju, jetzt bekomm' ich sie beide!

 

XVI

Tiger

Ich erwache dadurch, daß meine Augen mir wie Bleigewichte im Kopf liegen, ich habe die Empfindung, daß ich fort möchte, ich glaube zu gehen, ich taumele in den Wald hinein, mein Gehirn ist bewußtlos, mit Ausnahme einer Stelle, wo ich unnatürlich klardenkend bin.

Der Mond hält sich in einem Dunst verborgen mit einem seltsam allwissenden Lächeln auf dem gelben Totengesicht. Der Raum zwischen ihm und der schwarzen, faulenden Erde ist von einem eigentümlich rötlichen Schein erfüllt.

Im Walde ist es fast dunkel. Hin und wieder aber blitzt es. Und in jedem lautlosen Lichtschein sehe ich die gallengrünen Büsche sich wie die Kiemen eines Sumpffisches, der Übelkeitsanfälle im Licht bekommt, verziehen. Ich gehe geradeswegs durch das Gehölz, ohne jemals mit den Zweigen in Berührung zu kommen, und sind die Bäume zu hoch, schreite ich über sie hinweg und auf der anderen Seite wieder hinunter.

Nachdem ich aber ein Stück im Walde gegangen bin, tritt der Mond aus seinem Nebel hervor und scheint mit seinem Licht, so daß es weiß und bläulich um mich her wird. Es ist nicht Tag, aber ich sehe sehr gut. Ich sehe wie die hohen Riesenbäume sich vom Waldgrunde abheben, dunkel vom Keller bis zum Dach; an einigen Stellen oben auf den Bäumen wird das bleiche Mondlicht von einer vereinzelten Fensterscheibe aufgefangen. Ich sehe die Lianen in großen Bündeln von Dach zu Dach über die Straßen des Waldes hängen. Ich stolpere über Kabel und Wurzeln auf der Erde. Aus dem Erdboden steigt ein Geruch von Eisenwasser und Kohlen. Ein reuevoller Geruch, denn was verbrannt ist, ist verbrannt. Aber sind hier keine Tiere, gibt es hier nichts, wovor man sich fürchten muß?

Dieser Gedanke mag mir gekommen sein, weil ich auf etwas aufmerksam wurde. Nicht weit von mir sehe ich einen großen Waldmenschen aufrechten Ganges daherkommen. Sein Kopf scheint zu einer hohen zylindrischen Spitze verlängert zu sein, und diese merkwürdige Kopfform verleiht ihm den Ausdruck von fabelhafter Gehirnfähigkeit und großer Gefährlichkeit. Er ist mit feinen Baumrinden bekleidet und die Zehen verbirgt er in Lederfutteralen. Das Gesicht ist nackt; die Züge verheimlichen verfeinerte Brutalität. Er trägt Hüllen an den Händen. Es gibt keine noch so schmutzige Handlung im Walde, ohne daß er sich ihrer mit anscheinend reinlichen Händen entledigt. Ich verberge mich rasch, gehe in einen Baum hinauf, denn der Semnopitek ist mir bekannt, es ist ein Journalist und Operettendichter, der den Wald schon seit langem unsicher macht; ich wünsche keine Begegnung mit ihm, ich bin augenblicklich außer Übung.

Ich mache keinen Mondscheinsspaziergang im Walde, um mich mit Affen zu messen, ich weiß wohl, was ich zur Nachtzeit auf der Promenade suche.

Glühwürmchen im Gras ... nein, es sind Glasfacetten im Trottoir, durch die das Licht aus den Kellern unter den Bäumen hervordringt, es ist eine Druckerei, die so spät noch arbeitet, ich höre metallische Tropfen unten in den unterirdischen Höhlen. Flog dort nicht ein leuchtendes Insekt vorbei, oder war es ein Tabaksfunken vom Dach eines Omnibusses?

Hier ist der Baum, in den ich hinauf will. Ich klettere Stufe um Stufe an der Liane empor, ... was, ist es noch dunkel auf der Bühne? So, jetzt werden die Rampenlichter angezündet! Und ich lehne mich behaglich in meinen Fauteuil zurück, lege den Karabiner auf den Knieen bereit und warte. Der Ochsenfrosch unten im Gebüsch läßt eine Brüllsalve nach der anderen ertönen, und die Zikaden kreischen wie auf Feilen. Der Wald gibt einen siedenden Laut von sich, wie von zahlreichen, starken Bogenlampen.

Plötzlich wirft der Mond einen langen Lichtstreifen quer über den Wald und über den blauen Dunst unterm Himmel, wo alte, staubige Wolken einen Augenblick sichtbar werden, der Lichtkegel flackert hin und her durch den Wald und bleibt schließlich stehen. Und in dem runden intensiven Lichtkreis unten auf dem Waldboden zeigt sich das Gesicht des Tigers!

Eine Tigerin ... da steht sie, und in derselben Sekunde erhebe ich den Karabiner, richte ihn zwischen ihre diamantklaren Augen und drücke ab. Ich zögere also nicht! Es zeigt sich, daß ich ein Mann der Tat bin. Aber zu meinem unbeschreiblichen Kummer schieße ich vorbei! Ich habe gut gezielt und gut geschossen, getroffen aber habe ich nicht! Nein, denn das Tigertier hat nicht den geringsten Schaden genommen. Sie lächelt und rührt sich nicht von der Stelle. Aber ich sehe, daß sie mich entdeckt hat, sie hält die Augen auf mich gerichtet. Und da ziele ich zum zweiten Mal und schieße. Sie zuckt nicht einmal mit den Augenlidern! Ha, ich hoffte, daß sie einen Splitter ins Auge bekommen hätte und gezwungen wäre die Augen niederzuschlagen. Aber es scheint, daß sie unverwundbar ist. Ich werde sie nie dazu bringen, die Augen niederzuschlagen ... Oh, jetzt kommt sie näher, sie sieht mich an und lacht. Es juckt ihr in den Pfoten. Jetzt steht sie unten am Fuße des Baumes, legt den Kopf in den Nacken und sieht zu mir herauf, lang und schmalrückig, und wedelt gedankenvoll mit dem Schwanz. Sie sieht satt aus. Während sie da steht und wahrscheinlich an ganz andere Dinge als an mich denkt, will ich ihr eine dritte Ladung verabreichen. Ich gebe Feuer und da ich scheinbar wieder vorbeigeschossen habe, verliere ich den Mut.

Im selben Augenblick schlägt die Tigerin ihre Vorderpfoten in den Baum und prüft die Rinde mit ihren Klauen, sie reckt sich, um ihren Körper zu spannen. Sie gähnt, und dann beginnt sie auf den Baum hinaufzuklettern!

Jetzt gilt es Kaltblütigkeit zu bewahren. Ich richte eine ganze Salve von totsicher berechneten Schüssen auf den Kopf, der immer näher kommt. Die Augen sind unverwandt auf mich gerichtet und jetzt blicken sie bösartig. Hin und wieder blinzelt sie; aber aus Energie. Sie begehrt mich zum Nachtmahl. Sie rückt immer näher und als sie kaum um Meterlänge von mir entfernt ist, sehe ich, daß meine Schüsse doch nicht so übel waren, sie hat mehrere Schußlöcher davon im Kopf. Aber da sie ihr nicht zu schaden scheinen, bleibt mir nichts anderes übrig, als meinen Fauteuil zu räumen.

Ich klettere an der Liane hinauf und fasse weiter oben unter dem Dach des Baumes Posto. Aber sie folgt mir. Ich ziehe mich auf die billigsten Plätze der Gallerie zurück. Sie nähert sich langsam und unabwendbar. Da lasse ich mich fallen! Oh, ich falle tief und kann keine Luft bekommen ...

Und jetzt packt sie mich an der Kehle! Meine letzte Stunde ist gekommen. Sie beißt mir sehr vorsichtig ein Loch in den Hals, es tut nicht sonderlich weh, sie trinkt ein wenig und läßt mich los ... steht dann eine Weile und blickt angelegentlich auf etwas, daß sie zu interessieren scheint. Sie vergißt mich wirklich und mit unsagbar frohen Gefühlen schleiche ich mich unter ihrem Kinn hervor und krieche auf Händen und Füßen hinter einem Busch davon.

Ach, aber sie hat nur so getan, als wenn sie in Gedanken sei ... Hopp, da packt sie mich mit ihrer Klaue! Und jetzt nimmt sie mich ins Maul, rüttelt mich tüchtig und legt mich schließlich ins Gras. Sitzt dann da und heftet ihre gelben Augen sehr nachdenklich auf eine Stelle vor sich. Und die Sache zieht sich in die Länge, sie sitzt lange, lange, und schließlich fängt sie in großer Behaglichkeit an zu spinnen. Sie spinnt – wie das Schwungrad einer großen Dampfmaschine – und sie blinzelt zum Mond in die Kulissen hinauf und bewegt sanft die Ohren.

Da sehe ich zu meiner Zufriedenheit, daß eine nagelneue Maximkanone wenige Schritte von mir entfernt im Gras steht! Ich erhebe mich, ohne daß sie es merkt, und krieche zur Kanone hin, während das Blut an mir herabströmt. Als ich sie erreicht habe, sehe ich, daß die gelben Augen noch immer wie geistesabwesend auf mir ruhen – aber die Tigerin beobachtet mich trotzdem ganz genau! Ich entlade jetzt die ganze Maximkanone auf sie. Und als ich fertig bin, gähnt sie gelangweilt und entfernt sich, schlendert zwischen den Büschen davon.

Hah! Hah! Ich blute stark. Aber nun bin ich gerettet und es ist wohl das beste nach Hause zu gehen. Ich setze mich in Bewegung ... und bin glücklich um die nächste Ecke gekommen, als ich einen leichten Sprung höre und mich zu Boden geschlagen fühle! Sie ist es. Diesmal knappert sie ein wenig an meinem Hinterkopf, kann aber kein Loch hineinbeißen und gibt es auf.

Jetzt glaube ich ihr aber nicht mehr. Und als sie sich wieder entfernt, ergreife ich nicht die Flucht, sondern stelle eine Batterie Kruppscher Kanonen hinter dem Gebüsch auf. Als sie kurz darauf mit einer zerstreuten Miene angetrabt kommt, als habe sie etwas vergessen, lasse ich sechs explodierende Shrapnells gegen ihren weichen Rücken los.

Sie zieht mich mit der Klaue zu sich heran und ist nicht böse. Sie setzt sich auf ihren Schwanz und bleibt sinnend mit mir im Maul sitzen.

Es soll mir nun doch gelingen, das weibliche Prinzip in der Natur zu überwinden, denke ich trotzig, während ich zwischen ihren Zähnen hänge. Unter allen Umständen soll es eine riesenhafte Niederlage sein, die ich erleide, oh, eine so vernichtende, ungeheure Niederlage, wie die Weltgeschichte sie noch nicht erlebt hat!

Sie laßt mich mittlerweile fallen, gähnt recht herzhaft und kratzt sich dann träge mit der Pfote hinterm Ohr. Ich schleppe mich mühsam fort und mache Vorbereitungen zur Entzündung einer unterirdischen Mine, mit Hilfe eines elektrischen Leitungsdrahtes. Die Fleischfetzen an meiner Halswunde gehen mit meinen Atemzügen ein und aus, und aus derselben Wunde dringen meine Schreie heraus, als sie sich meiner jetzt wieder bemächtigt, nachdem ich sie in die Luft gesprengt hatte, und sie wieder auf die Pfoten gefallen ist.

Der Himmelsflug hat ihr Appetit gemacht, und jetzt macht sie sich, in aller Bescheidenheit, daran meinen rechten Fuß zu fressen. Aber während ich daliege und höre, wie meine Knochen zwischen ihren Zähnen knacken, wird es mir klar, daß mein Verfahren von Anfang an verfehlt gewesen ist; sie muß natürlich nicht mit dem ganzen Höllenmaterial der modernen Kriegsführung bearbeitet werden, sondern man muß sie mit Güte zu nehmen versuchen. Ihr Fell verbirgt ja eine edle Jungfrau, ein Mägdelein, das nur auf den richtigen Instinkt des Jünglings wartet, um erlöst zu werden. Und schon mit dem Todesnebel vor den Augen richte ich mich noch einmal in eine knieende Stellung auf, lege die Arme um ihren Hals und küsse sie auf ihre blutige Schnauze.

Sie aber fällt keineswegs aus der Rolle. Sie schneidet eine Grimasse ... was ist das? Soll sie sich vielleicht von ihrer Mahlzeit liebkosen lassen? Aber sie ist gut gelaunt und leckt wieder, fährt mir mit der Zunge übers Gesicht und leckt mir dabei mein eines Auge aus.

Da schreie ich, wie nur ein Einäugiger schreien kann, und jetzt soll sie das Messer fühlen, jetzt will ich ihr persönlich ihre sieben Leben aus dem Leibe schlachten. Jetzt wollen wir unsere Kräfte messen! In demselben Augenblick als sie, mit mir im Maul, vom Parkett auf die Bühne springt, durchschneide ich ihre Kehle und schlitze ihren Bauch auf, gleichzeitig aber wirft sie mich hoch in die Luft und fängt mich elegant mit dem Maul wieder auf. Während ich bis zu den Hüften in ihrem Maul stecke, grabe ich das Messer in ihre Flanken.

Sie steht mitten auf der Bühne mit mir, wir bilden jetzt die Apotheose, während das Reflektorlicht des Mondes uns sucht und uns zum Mittelpunkt in einen blendenden Zirkel macht.

Hier sind wir. Sie hat mich halb verschlungen und hält mich kokett im Munde, ich krümme mich in die Höhe und schlinge den einen Arm um ihren Hals, während ich mit dem anderen in einer letzten Todeswut ihr Fleisch mit dem Messer zerfetzte. Kentaurische Liebe! Unsterblichkeit! Der Krieg!

Und während sie sich verneigt und dem Publikum zulächelt und ich mit einem Meer von Blut vor den Augen aus ihrem Maul heraushänge, erhebt sich ein donnernder Applaus, Stöcke werden gegen den Fußboden gestoßen, Beifallsalven, Tusch und Trommelwirbel!

 

XVII

Tags darauf

Ali haji weckte uns am Nachmittage des nächsten Tages. Nicht, daß er ganz zu uns herankam, nein, er stand in sicherer Entfernung und rief uns mit trockener Stimme an. Er wollte sich keiner Ansteckung aussetzen, indem er sich der Hütte näherte, wo wir zwischen den Spuren unseres ruchlosen Gelages schliefen. Und als er sah, daß ich wach war, setzte er die Tonschüssel mit der Portion Reis, die er täglich zu liefern hatte, ins Gras, zeigte darauf und ging fort. Er betrachtete uns mit einer Miene, als sei aller Speichel in seinem Munde eingetrocknet; seine Züge drückten ehrliches Leid aus.

Weder Matti noch Aoaaoa und Lidih waren durch Rütteln zu erwecken. Mein Kopf war in einer miserablen Verfassung dank des vereinigten Genusses von Whisky, Durian, Betel und Tabak. Ich versuchte mich zu erheben, konnte aber die aufrechte Stellung nicht vertragen und ließ mich wieder schwer zurückfallen.

Ich will mich nicht, wie so viele andere Forschungsreisende, bei den Einzelheiten meiner Krankheit aufhalten. Es muß hier genügen, daß die Strapazen der Reise mich aufs Krankenlager geworfen hatten.

Indem ich meine Gedanken zu sammeln versuchte, fiel mir die Fieberphantasie der Nacht ein, der schreckliche Tigertraum, den ich gehabt hatte und in der haltlosen Gemütsstimmung, in der ich mich befand, erkannte ich diese Gauklerei als das endgültige Resultat meiner Reise.

Es war mir ungefähr wie Thor in Udgaard ergangen, ich hatte mich an der Katze überhoben. Anstatt in Wirklichkeit einen Tiger zu schießen, hatte ich mich damit begnügen müssen, im Traum als Spielzeug eines Tigers zu dienen und von ihm gefressen zu werden. Gut. Aber bekam ich nicht Entschädigung dafür?

Ja, freilich. O ja, dachte ich und reckte mich und leckte mir die Lippen. Es war ja im Grunde nicht so übel, daß Aoaaoa und Lidih kamen und unsere kostbare Zeit in Anspruch nahmen, so daß wir die große Jagd so gründlich aufschieben mußten, nicht wahr?

Mein Kopf war trotz der Ermattung oder vielleicht gerade deshalb überraschend klar. Nicht ein Nerv rührte sich in meinen Eingeweiden, und was ich dabei fühlte, war wahre Todesverachtung. Nicht eine Spur von Herz fühlte ich mehr! Meine Einbildungskraft flatterte nicht umher, ich dachte geordnet und ohne Bilder, sehr überzeugend für mich selbst ...

Auf diese Weise hatte ich mir die einzig gültige Jagdlaune erkämpft; denn nun hatte ich ehrlich gestanden keine Lust mehr! Jetzt war ich ruhig, jetzt, wo ich das Ganze im Stich ließ. Hatte mir das nicht schon vorgeschwebt, während ich in Birubungas Koloniegärten Turteltauben schoß? Daß die große Ruhe auffallende Ähnlichkeit mit der Gemütsstimmung hat, die mit der Abwesenheit des Tigers verbunden ist? Jetzt blieb mir nur noch übrig meine Büchse zu verkaufen und ein Tigerfell für den Ertrag zu erstehen.

Ich fühlte den ganzen Überdruß, der die Erreichung eines Zieles zu begleiten pflegt. Alles war alt, ausprobiert und verbraucht. Etwas so Alltägliches wie einen Tiger zu schießen! Wenn es sich wenigstens um eine Handelsniederlassung zur Umbringung von Tigern gehandelt hätte, um einen rotierenden Urwald mit einem Tiger in jeder Sekunde, den man von einem gepanzerten Automobil aus mit allen Bequemlichkeiten der Neuzeit beschießen konnte! Kellner, eine Flasche Selters!

... Da lagen Aoaaoa und Lidih und schnarchten, flach, während ihnen der grüne Atem aus dem Hals dampfte! Es war ein süßer Gedanke, daß ich diese beiden Negermädchen heiß geliebt hatte! Hu! Wenn ich mal wieder so tief sinke, möchte ich wenigstens ein Rohmaterial von einigen hundert Weibern in allen Farben haben, die in das eine Ende einer Maschine hineingestopft werden, eine Art Liebes-Viktoriapresse, die sie verarbeitet, sie Klavier spielen lehrt, sie abbrüht und schabt und sie am anderen Ende fertig für mich niederlegt, zehn in der Minute.

Oh, oh, wie war ich krank! Es war wirklich nicht nur lauter Vergnügen, Forschungsreisender im Innern des schauerlichen Urwaldes zu sein. Ich machte große Entdeckungen in bezug auf Übelkeit. Ich bereute mit ungeahnter Stärke, mit mehreren Pferdekräften. Ich nahm mir vor, dieses Gefühl später zugunsten der Leserwelt zu beschreiben.

Das Schlimmste aber war das Gefühl von Flachheit, das meine Lebensanschauung verwüstete, dieses gähnende Loch in der Phantasie, diese Luftleere wie nach einem faulen Witz, die Das allerurbedeutungsvollste Schweigen im Walde ist.

Da lag ich nun mit einem Katzenjammer nach meiner romantischen Trunkenheit! Welch übler Geschmack im Munde! Was habt ihr mir zu fressen gegeben? Bin ich ein Koprophag, oder dampfen mir die schmutzigen Lügen einiger Jahrhunderte aus der Kehle?

Wo hatte ich doch diesen fürchterlichen Gestank aus meinem eigenen Innern schon mal gespürt, war es nicht in Cadiz gewesen? Ja gewiß. Da lag ich mit schlaffen Segeln inmitten eines Meeressturmes und erfreute mich an dem Parfüm einer verendeten Lebensanschauung und einer unglücklichen Liebe, deren Modergeruch mir aus dem Munde roch.

Ich ergebe mich! Verzeihung alle miteinander! Oh ... jetzt reißen sie das alte Haus in meinem elenden Kopf ein! Wie sie mit dem Brecheisen arbeiten! Still ... ich glaube, sie sind schon dabei ein neues Haus zu zimmern ... Au, au, jetzt rammen sie einen Mastbaum in den Grund ... jetzt nieten sie Nägel, so daß die Feilspäne auf den Eisenbalken in einem ganzen tanzenden System spielen! Einen hübschen Wolkenkratzer errichten sie da drinnen, ein neues Höllenhaus mit einem Fahrstuhl durch alle zwanzig Etagen, Stempelgestampf im Keller und hängenden Gärten auf dem Dach! Aber verflucht weh tut es.

Hier gab's keine andere Hilfe, als möglichst schnell durch den Schlaf Rettung zu suchen. Ich legte mich aufs Graslager zurück, das bereits in Gärung übergegangen war und unter mir brannte. Der bloße Gedanke an Kühle, der Wunsch, nur ein einziges Mal im Leben wieder Hände zu haben, die nicht vor Hitze kochten, steigerte sich bis zum Wahnsinn, so daß ich ihn nicht zu denken wagte. Ich schloß die Augen, wollte schlafen ...

Aber Tod und Teufel – die Hunde! Die hatten wir ja von den Bäumen aus mit einem Regen von Blei gegen den Tiger verteidigen wollen ... nun waren sie höchstwahrscheinlich gefressen worden! Auch gut. Dann würden sie wenigstens nicht mehr bellen und das nächtliche Drama, das sich abgespielt hatte, würde für einige Zeiten begraben bleiben.

[leer]

 

XVIII

Korra

Ali kam gegen Abend. Wir waren alle wach, aber er würdigte seine drei abtrünnigen Glaubensgenossen keines Blickes. Nur mit mir Christenhund hätte er zu tun. Er wolle mir eine Rechnung vorlegen.

Er hatte seit mehreren Tagen kein Geld bekommen, darum war die Summe angewachsen. Und es war unglaublich, was er mir alles vorrechnete, Kleinigkeiten, die nicht der Rede wert waren, die aber ein erkleckliches Ganzes bildeten. Also heraus mit der Totalsumme, damit ich zahlen kann!

Ich ging zu meinem Sack, indem ich pythis hatte ... und entdeckte, daß nicht mehr als höchstens eine halbe Schaufel darin war! Aoaaoa und Lidih hatten natürlich ihr Teil bekommen. Es war nicht einmal genug da, um die Rechnung zu bezahlen. Ich gab Ali, was ich hatte, und sagte, daß ich ihm den Rest schuldig bleiben müsse, er könnte das Geld später bekommen.

»Schuldig bleiben ... später Geld bekommen ... tida tuan, nein, mein Herr,« sagte Ali und setzte seinen Kopf in schwingende Bewegung. Und er blieb mit ausgestreckter Hand stehen und wollte nicht gehen, bevor er den Rest seines Guthabens bekommen hätte. Ich stieß hervor, daß ich so viel Dollars in Birubunga hätte, daß ich Wagenladungen von pythis damit erstehen könne. Davon aber könne er jetzt nicht leben, sagte Ali kaltblütig. Sofort Geld!

Was sollte nun aus der Bergbesteigung werden!

Aber ich konnte mich noch nicht entschließen, das Unglück in seinem ganzen Umfang zu fassen, haßte außerdem den Gedanken, von Ali hilflos abhängig zu sein. Ich schob das Ganze von mir.

Geh' weg, sagte ich sehr unehrerbietig zu Ali haji. »Wir werden uns schon selbst zu helfen wissen, verschwinde und laß uns in Ruh!« Ali wurde nicht durch meine Grobheiten verletzt, er ging nur prompt seines Weges mit meinem letzten pythis.

In derselben Nacht aber verdufteten Aoaaoa und Lidih! Als Matti und ich des Morgens erwachten, hatten sie sich auf dem Gras davongeschlichen und waren verschwunden. Dagegen ließ sich nichts sagen. Leider hatten sie meinen ganzen Salzvorrat mitgenommen. Er war in einer Flasche, und die konnte ich nirgends finden. Das war eine sehr üble Sache. Reis bekamen wir an diesem Morgen nicht von Ali geliefert; Matti und ich aßen ein Paar Tauben, die wir geschossen und gebraten hatten; aber ohne Salz war es eine jämmerliche Mahlzeit. Und ohne Geld Salz aufzutreiben war eine Unmöglichkeit. Ich sah in einer Perspektive alle Qualen des Salzhungers vor mir, an dem mehrere Forschungsreisende gelitten hatten, und der viel schlimmer ist als Skorbut. Es sah nicht sehr rosig aus für die Expedition.

Nachmittags kam Ali wieder und überreichte mir die Rechnung des Betrages, den ich ihm schuldete, einige zwanzig pythis. Wo sollte ich sie hernehmen, da ich sie doch nicht hatte? Ich versuchte ihn in meiner Ratlosigkeit loszuwerden, indem ich meine eigene Identität stark bezweifelte. Woher wolle er wissen, daß ich es sei, den er mahnte? Ich wüßte es selbst nicht einmal genau. Ich hätte in der letzten Zeit, trotzdem ich Führer einer Expedition im Innern der Bergwälder sei, so starke Sehnsucht gehabt nach dem Meere und nach Gegenden auf einer ganz anderen Seite der Erdkugel, daß es sehr unwahrscheinlich sei, daß ich es wäre, der sich hier aufhielt. Außerdem hätte ich die ganze Zeit, während der ich in den Wäldern wohnte, keinen Spiegel gehabt, in dem ich mich hätte sehen können, wer also konnte wissen, ob ich es überhaupt sei? Es sähe mir gar nicht ähnlich, einem Wucherer von einem Malaien zahlungsunfähig gegenüberzustehen! Es konnte ja ebensogut jemand anders sein, ein Mr. Wilson oder ein Herr Nebelkopf oder sonst jemand; er schulde mir den juristisch vollgütigen Beweis, daß ich es sei, den er ausgesaugt habe, und nicht ein ganz anderer Mann, dessen Schulden ich doch unmöglich bezahlen könne. Was mich anbeträfe, so behauptete ich, bis es widerlegt würde, daß ich gar nicht in den Wäldern oder in Birubunga gewesen sei, sondern daß es nur eine Frucht meiner tropischen Phantasie wäre, der ich daheim in Europa eine Form gegeben hatte, die sich als Lektüre für den Familienkreis eignete. Leben aber müsse ich auch während der Zeit, in der meine Identität ungewiß sei, und ob Ali mir darum etwas Salz borgen wolle.

Ali antwortete gar nicht auf diese meine Rede, die ich mit Matti als Dolmetsch zum besten gab. Aber er überlegte. Und schließlich setzte er Matti etwas auseinander, das dieser mir mit sehr ernstem Gesicht übersetzte. Es handelte sich um nichts Geringeres, als daß Ali es in seiner Macht habe, mich verhaften und im Gefängnis von Birubunga einsperren zu lassen, bis die Schuld bezahlt sei!

Hm. Dabei würde es sich dann bald zeigen, daß ich es sei und kein anderer, der ins Schuldgefängnis wanderte.

Aha! Also Ali haji wollte mich verhaften lassen! Konsequent war er, das ließ sich nicht leugnen!

Ich sah ihn genau an, er kam mir bekannt vor. Wo hatte ich doch schon früher dieses Abbild der gewinnenden Ohnmacht und der greisenhaften Unwiderstehlichkeit gesehen? War er es nicht, den ich immer zu guter Letzt traf, wenn meine wilde Jugend mich ans Ende der Welt geführt hatte? War er es nicht, der immer auf der Bildfläche erschien und mir die Rechnung der ganzen Reise überreichte, wenn ich so weit gekommen war, wie man überhaupt kommen kann?

... Ali haji, dein Name ist Korra, und jetzt habe ich wieder für dich gearbeitet! Du hast mich gefesselt durch die Wälder geführt und die Zinsen meiner Einbildungskraft erhoben! Du hast mich auf die Tigerjagd und zum Sturmlauf gegen das Unerreichbare geführt, um ganz sachte den Strom meiner pythis in deine bodenlosen Taschen zu leiten. Du großer Schmarotzer, solange noch ein pythis bei mir zu finden war, hast du mich ausgeplündert, und jetzt willst du mich einkerkern lassen, damit ich meine Schulden absühnen soll, meine Schulden dir gegenüber ... ich, der ich dein Gefangener gewesen bin, seit mein törichtes Herz alle Energie nutzlos verschwendete ... und dabei bist du es, der mir alles schuldet!

Aber ich will dir etwas sagen, Ali haji – und hier gingen meine Gedanken in Worte über – ich will dir etwas sagen. Du hast mir einen Sack Geld entwendet, zwanzig Schaufeln voll Zinnmünzen, durch alle möglichen Kniffe, durch die schlauesten Einfälle, und mich hast du nie wegen Schlauheit im Verdacht gehabt – jetzt aber sollst du wissen, daß jede einzige dieser zahllosen Zinnmünzen, jede einzige pythis falsch war!

Oh Korra ... also du wolltest mich isolieren, bis ich zu Kreuze kriechen und für dich schuften würde, du Sklavenaufseher!

Streichele und empfehle du deine Eigenen, deine ganze aufgestapelte Niederlage von hilflosen Bettlern, die hungrig genug waren, sich Kost und Logis in deinen Gefängnissen zu erbetteln; aber ich warne dich ernstlich, mit mir Wucher zu treiben!

 

XIX

Der Eisvogel

Ali hajis Verräterei zwang mich, die Expedition zu verschieben. Aufgeben aber wollte ich sie wahrlich nicht. Ich hatte durchaus nicht die Absicht, mich von dem alten Menschenfreund aufs Trockene setzen zu lassen, und deshalb reifte ich, nachdem er mir das Messer an die Kehle gesetzt hatte, mit Matti nach Birubunga, um einige Bootladungen Geld zu holen. Es mußte doch eine Möglichkeit geben, das alte, kalte Tier von einem Sammler zu sprengen. Wenn ich alles was pythis hieß vor ihm auftürmte, konnte man doch annehmen, daß es seinen Wert als Ware für ihn verlieren würde, indem dadurch die Nachfrage von selbst aufhörte. Dann konnte er den ganzen stock für sich behalten, während wir andern ganz neue Werte, von denen er keine Ahnung hatte, auf den Markt brachten. Er konnte eine Reiterstatue von sich selbst aus all dem wertlosen Metall errichten und sich in Museen als Versteinerung ausstellen lassen, während wir anderen den süßen Duft der Opferfeuer in der ganzen Welt einatmen, wohin wir jetzt mit unserem Appetit ziehen.

Natürlich wollte ich den Bukit alam besteigen. Aber die Reise flußabwärts gestaltete sich unleugbar wie ein heimlicher Triumphzug. Ich würde das Meer wiedersehen? Jedes Mal, wenn ich an die offene, gewaltige See dachte, schwoll mir die Brust. Vielleicht würde ich wie Odysseus den Rauch eines fernen Dampfers zu sehen bekommen ... eines Dampfers, der mit Aalburger Aquavit und Lagerbier auf dem Tischtuch der Kajüte, sich mit seinem hinteren Korkzieher erst südwärts und dann nach Westen und Norden, gen Dänemark bohrte und bohrte! Kellner ... Hm!

Bei dieser Gelegenheit will ich vom Eisvogel erzählen. Ich hatte eines Tages im Walde einen hübschen Eisvogel flügellahm geschossen, und da ihm nichts weiter fehlte, als daß er nicht fliegen konnte, hatte ich ihn in einen Käfig gesetzt, um ihn zu behalten. Der Käfig war ganz klein, Matti hatte ihn aus Schilf geflochten. Ich nahm ihn mit nach Birubunga, und während der ganzen Reise saß er in seinem Käfig auf dem Vorderdeck des Bootes und starrte unverwandt zu den Wäldern zurück, woher er stammte. Und als er sie nicht mehr sehen konnte, fuhr er fort in die Richtung der Wälder zurückzublicken; er hatte Talent, er war scheinbar auf dem besten Wege zu einem Geistesleben.

Die Brust des Eisvogels ist blau und hat einen täuschenden Schimmer von dickem, durchsichtigem Eis. Er saß da wie ein frischer und funkelnder Eisklumpen aus dem Fure See oder aus dem Absinthglas in einem Café, er saß da wie die Verdichtung der Kälte und schwieg und starrte mit den kleinen eingefrorenen Augen zu seinen Wäldern zurück.

Der lange, rote Schnabel zeigte wie ein Kompaß nach der Heimat, wie ein blutiges Messer der Sehnsucht, das aus dem standhaften Kopf herausgedrungen war. Und mit seinem borstigen Nackenhaar sah er so recht aus wie die Jammergestalt eines verhungerten Poeten, der in einem der kleinen, entlegenen Küsterämter, die hoch oben unterm Nordstern die Rechte der Nation vertreten, an die Wand gedrängt worden ist.

Während der ganzen Reise weigerte er sich, Nahrung zu sich zu nehmen, er schien nicht leben zu wollen, er saß nur mit steifem Nacken da, ohne viel Aufhebens zu machen, den kleinen bereiften Scheitel gegen die Decke des Bauers gepreßt, und starrte nach dem verlorenen Tal. Es war ein armseliges Vergnügen, den Finger zu ihm hineinzustecken, um an seinem Selbsterhaltungstrieb zu rütteln, er hackte wohl aus Gewohnheit nach dem Finger, aber der Schnabel hatte keine Kraft; wenn er biß, glich es mehr einer wehmütigen Liebkosung. Er schloß die Augen, wenn er hackte, und das ist ein schlechtes Zeichen.

Als ich in Birubunga angekommen war, sah ich ein, daß der Eisvogel sich nicht zähmen ließe. Es würde nie etwas Vernünftiges bei solcher Sehnsucht herauskommen. Und es war zu wenig, um eine Heilsarmee oder eine Nordpolexpedition damit auszurüsten. Also gab ich meinem Vogel die Freiheit.

Ich tat es mit gemischten Gefühlen, denn seine Flügel waren ja unbrauchbar, und was sollte aus ihm werden, wenn er jetzt ins Ungewisse hinauskäme? Im Käfig hatte er sich allerdings nicht dem Wohlleben ergeben wollen, vor den Gefahren der großen Welt aber war er dort geschützt gewesen.

Ich gab dem Vogel unten am Flußufer die Freiheit und wartete eine Weile, um zu sehen, was er sich vornehmen würde. Er schlug augenblicklich den Weg nach den Wäldern ein, ohne ein einziges Mal zurückzublicken, er machte sich augenblicklich nach der Heimat auf – zu Fuß! Ja, das tat er. Es war zum Heulen, und ich hätte auch geweint, wenn ich es vor Lachen gekonnt hätte.

Er schritt auf seinen kleinen, roten Beinchen längs des Flußufers tüchtig aus, rechts, links, mit jedem Schritt kam er zwei Zoll vorwärts und dabei wackelte er so energisch mit seinem Schwanz, als wolle er sein unsinniges Vorhaben niemals aufgeben!

Als er etwa zehn Meter gegangen war, wendete er den Kopf und sah sich um, in dem sicheren Gefühl außer Sehweite zu sein und darauf begann er seine Wanderung von neuem und verschlang mit großer Hingebung Zoll um Zoll des Heimweges. Das konnte man Glauben nennen!

Er wollte nach Hause! Und da er wirklich einen Meter in der Minute zurücklegte, mußte er ja sechzig in der Stunde gehen oder einen kleinen Büchsenschuß am Tage. Er wird ein alter Vogel werden, bevor er nach Hause kommt, er wird, fürchte ich, unterwegs sterben und einen Traum vom Tal hier oben mit sich ins Grab nehmen.

Ach, mein Eisvogel, alle Tiere des Waldes werden über dich lachen, wenn du so auf Schusters Rappen dahergegangen kommst! Sie werden vergessen, dich zu verzehren, denn du bist eine Kuriosität, aber du wirst zur Zielscheibe ihres Witzes und ihres Mitleides werden. Ich sehe den Tiger lächeln, so daß die Sonne in den bösen Schnurrhaaren knistert, ich stelle mir das Gebrüll des Elefanten vor und das Ritsch-Ratsch-Rutsch sämtlicher Affen, wenn du mit deinen staubigen Zehen und mit deinen unaufgetauten Augen erscheinst. Das Nashorn wird noch einen Leichdorn mehr im Gesicht bekommen vor Lachen. Die Fische, für die du sonst eine Gefahr warst, werden naseweis aus dem Wasser hüpfen. Die Eule aber wird weinen. Ja, und das Krokodil wird mit der Schere schnappen und echte Tränen vergießen.

Mein Eisvogel – ohoi – ich habe vergessen, dir etwas zu sagen. Alles ist verfehlt, du bist zu früh heimwärts gewandert, denn du sehnst dich ja noch! Und Heimweh ist kein Grund, um nach Hause zu reisen, merk dir das! Kehr lieber gleich in deinen Käfig zurück, wenn du aus Sehnsucht deinen Schnabel heimwärts gewandt hast, mein Eisvogel!

 

XX

Credo

Die Besteigung des Bukit alam verwirklichte sich niemals. Es erging mir damit wie mit all meinen Unternehmungen; augenblickliche Geldverlegenheit auf Grund anderweitiger Konzentrierung meines Kapitals zwangen mich die Reise aufzugeben.

Ich hatte mir viel von dieser Entdeckungsreise versprochen. In nebelhaften Formen hatte ich mir Hoffnung gemacht, die Geschichte des ganzen Menschengeschlechtes noch einmal durchzuleben, von der Zeit, als es aus den Sumpfwäldern am Äquator auswanderte, bis es bei der Schneegrenze endigte, nachdem es die temperierten Zonen durchwandert hatte. Ich hatte mich darauf gefreut, all den Tieren zu begegnen, die der Mensch im Laufe der Zeiten gezähmt hat, um auf diesem Wege die Instinkte wiederzufinden, die der Mensch auf seiner Wanderung hinterlassen und vergessen hat. Alles mit dem einen Ziel vor Augen, neue Möglichkeiten für einen gesteigerten und differenzierteren Lebensgenuß zu finden.

Wie man aber gesehen hat, habe ich diese Möglichkeiten auf einem ganz anderen Wege gefunden, nämlich durch die Religion. Insofern war die Forschungsreise überflüssig geworden. Der tiefere Zweck der Expedition war eigentlich in dem Augenblick erreicht, als ich wie in einer Art Verzückung das innere Wesen des Islams erkennen lernte, wie früher berichtet. Und es waren ja nicht die toten Buchstaben des Korans, in die ich mich vertieft hatte, bis ich blau im Gesicht wurde, es war der lebendige Glaube, zu dem ich mich bekannte, es war die persönliche Teilnahme an den Mysterien des Islams, denen ich mich hingegeben, nachdem der Prophet mir ins Ohr geflüstert und ich ihn verstanden und gelacht hatte.

Mein ganzer Durchbruch war sehr natürlich vorsichgegangen, ich hatte mit einem gewissen Durst angefangen und hatte meine Religion auf dem Fundament einer großen Festmahlzeit, eines Opfers errichtet. Jede Religion hat ihren Ursprung in einer Ausdehnung des Appetits, ebenso wie alle Gebote ihre Entstehung naturgemäß von Ereignissen herleiten, bei denen man sie massenweise gekränkt hat. Ich kann wohl sagen, daß mein Lebensgefühl erst nachdem ich zum Islam übergetreten war, die richtige, behagliche Abrundung bekommen hatte, indem ich jetzt frohen Sinnes meinem täglichen Verbrauch eine Welt von Sünden, die ich sonst nicht gekannt hatte, hinzufügen konnte.

Im übrigen standen meine Weckung und die Betrachtungen, die ich in dieser Angelegenheit anstellte, bereits im besten Sinne mystisch vor mir; ich hatte höchst unklare Vorstellungen von dem, was sich bei unserem nächtlichen makan besar zugetragen hatte.

Eines war indessen klar, daß der tiefere Beweggrund meiner Forschungsreise aufgehört hatte zu existieren. (Daß äußere Schwierigkeiten sich der Expedition in den Weg gestellt hatten, schien nicht zufällig zu sein; es ist häufig beobachtet worden, daß eine Religion sich gerade dann einfindet, wenn sich einer Wanderung Hindernisse entgegenstellen.)

Ich sah ein, daß es eine Kraftverschwendung sei, in die Welt hinauszureisen, um die Urinstinkte der Menschen zu suchen, wenn sie ihrer strahlenden und so gut wie neuen Barbarei in den Religionssystemen daheim in Europa aufbewahrt werden. Weshalb das Affenleben im Urwald studieren, solange des daheim Gelegenheit genug gibt, den höheren Kynokephalus zu beobachten, wie er in seiner Glorie auf dem Betschemel meckert und von eins bis zwei Uhr in seiner Privatwohnung die Zähne zeigt?

Weshalb den Wald nach den ersten Entwicklungsstufen des Menschen durchstöbern, nach den verlassenen Seitenlinien, wenn es in Europa genug hungrige Hylobaten gibt, die schreiend an den äußersten Zweigenden des Baumes der Erkenntnis hängen, unfähig, sich zu dem der Poesie hinüberzuschwingen?

Überhaupt, als ich Europa im Zorn verlassen hatte, war der eigentliche Grund der, daß ich meiner Zeit nicht an Bosheit und Gemeinheit gewachsen war. Ich war den Parasiten als reinlicher Heide offen gegenübergetreten, anstatt mich wie andere Leute in eine unappetitliche Religion zu kleiden. Nein, wie werden sie sich alle ärgern und Respekt bekommen, wenn ich nun als Muselmann zurückkehre und sie sehen werden, daß der Platz besetzt ist, ... hier wird nichts an der Tür gegeben, denn hier wohnt selbst ein Bettler, hier hallen neun Zimmer von sämtlichen Religionen in allen Sprachen der Welt wieder! Es konnte mir nicht einfallen, mehr Kapital in innere Forschungsreisen zu stecken, jetzt, da ich eben so klug wie ein Mensch geworden war!

Und doch bin ich überzeugt, daß ich durch viele Beobachtungen, durch Prüfungen, denen ich mich hätte aussetzen können, die Grenze der guten Dinge in der Welt erweitert hätte. Da ist nun zum Beispiel der Kannibalismus, der niemals gründlich von Kulturmenschen erprobt worden ist – ausgenommen von einigen ungebildeten Matrosen, die teils unter einem moralischen Druck handelten, der den Geschmack niemals entwickelt, teils sich in schiffbrüchigen Böten auf dem Meere verzehrten, wo ihnen die Hilfsmittel einer modernen Küche nicht zur Verfügung standen. Wenn ich den Bukit alam erstiegen hätte, würde ich ohne Zweifel Antropophagen getroffen haben – und ich hätte es mir nicht nehmen lassen, ihre Kochkunst zu probieren.

Ich habe nie den fast wilden Abscheu, den der Europäer zeigt, wenn vom Verspeisen von Menschenfleisch die Rede ist, begreifen können. Ich bin selbst Menschenfresser und nehme nur ausnahmsweise mit dem Fleisch anderer Tiere fürlieb. Ich bin der Ansicht, daß, wenn fast alle Forschungsreisenden die feierlichsten Worte anwenden, um ihren Abscheu gegen Menschenopferung auszudrücken, dieses lediglich auf Erinnerungen an Situationen beruht, in denen sie selbst in Gefahr geschwebt haben, bei dem Mittagessen eine für sie selbst allzu schmerzliche Rolle zu spielen. Ihr Urteil ist also von einer Subjektivität getrübt, mit der gerechnet werden muß. Der Appetit ist vorhanden gewesen, nur nicht auf ihrer Seite. Selbst wenn man einen Forschungsreisenden wie Stanley gegen mich ins Feld führt, wage ich ihn wegen persönlicher Gründe im Verdacht zu haben, wenn er seinem Widerwillen gegen den Kannibalismus so starken Ausdruck gibt, wie er es getan hat. Die wilden Menschenfresser in Afrika haben sicher ihre guten Gründe gehabt, Stanley nicht allzu reichlich zu bewirten; denn sie hätten ja Gefahr laufen können, ihn Zeit seines Lebens durchfüttern zu müssen; man kann mit einer gewissen Berechtigung annehmen, daß die Kannibalen dem berühmten Forschungsreisenden ein sehniges Stück von einem alten Weib vorgesetzt haben. So ein Chok kann oft bestimmend auf den Geschmack und die Lebensanschauung eines Menschen für den Rest seines Lebens einwirken.

Ich hatte gehofft, diese Sache endgültig klarzustellen, wenn die Expedition geglückt wäre. Es ahnte mir, daß ich zu einem Resultat gekommen wäre, ähnlich dem, das ich erreichte, als ich den Islam durchschaute: daß nämlich die Religion ein Plus mehr im Leben der Menschheit sei und ihr darum nur zum Segen gereichen könne. Denn es ist ja bekannt, daß der Kannibalismus mit religiösen Vorstellungen und Zeremonien verbunden ist, deren Gebräuche der zivilisierten Menschheit in ihrem Entwicklungsgang abhanden gekommen sind; ich hatte mich darauf gefreut, daß es mein Verdienst werden würde, als Forscher und Entdecker diese verlorengegangenen, religiösen Tischgebräuche wiederzufinden und sie der Kultur zurückzugeben.

Nachdem aber meine Aufmerksamkeit darauf hingelenkt worden war, daß die Religion der Träger aller barbarischen Überlieferungen sei, sah ich ein, daß selbst diese Aufgabe illusorisch war; das Christentum hatte ja gerade durch eine tausendjährige Tradition der Jetztzeit die allerältesten antropophagen Symbole überliefert. Meine Arbeit war mithin überflüssig, obgleich ich vielleicht, indem ich die Überlieferungen auffrischte, dazu beitragen könnte, diesen christlichen Symbolen ihre richtige Deutung zu geben und sie dem praktischen Leben wieder nutzbar zu machen.

Während ich mich auf diese Weise innerlich nicht weiter über das Aufgeben der Expedition enttäuscht fühlte, versöhnte ich mich auch bald mit dem Verlust der äußeren Genugtuungen, die eine Forschungsreise ihrem Mann bieten kann. Ich verzichtete leichten Herzens darauf, auf die Weltkarte für ewig einen bestimmenden Eindruck zu machen, indem ich etwas so Imaginäres, wie die Lage eines Berggipfels feststellte. Ich verzichtete auf das Vergnügen, alle Vorsprünge des Terrains und alle Zeltplätze, die meinen Weg bezeichneten, nach Freunden und Vertrauten in Europa zu benennen; diese Punkte mochten darauf warten, nach anderen Narren und von einem anderen Toren benannt zu werden.

Und jetzt freute ich mich darauf, barbiert zu werden und in einen so lächerlich europäischen Anzug wie möglich mich zwischen dem Durchschnitt der Menschen zu verbergen.

 

XXI

Der Rekord

Während ich in Birubunga war, um Geld zu holen, bekam ich zwei starke Eindrücke, die den Nebel vor meinen Augen zerrissen.

Erstens sah ich mich selbst nach langer Zeit wieder im Spiegel und mußte gezwungen bekennen, daß ich es war, der der Führer der Reise gewesen, deren Komik ebenso lebensgefährlich gewesen war, wie ein Spiel mit dem Boomerang. Ich hatte mich bis zuletzt der Hoffnung hingegeben, daß ich jemand anderes sei, entweder ein lebensmüder Engländer, der zwei Pferdekräfte bei der Besteigung eines Berges entwickelte, oder auch ein Ballon von einem Deutschen, mit Tiefe gefüllt, der zwischen den Nutzbäumen umherstöberte und nach dem Urwald suchte, ohne ihn zu finden. Mich selbst hoffte ich in Sicherheit gebracht zu haben. Der Spiegel aber sagte mir, daß ich es sei und kein anderer, der sein Wesen im Walde getrieben, und mich selbst von allem, was ich besaß, entblößt hatte.

Gut, aber dann schnitt ich eine Grimasse wie der Affe im Walde, also ich war es, im allerhöchsten Grad kein anderer als ich, aber ich!

Zweitens sah ich in Birubunga zwei Europäer, zwei Weiße. Der Küstendampfer von Singapore schaukelte sich nämlich auf den grünen Wogen vor der Flußmündung, und als Herr Boye und ich aufs Schiff kamen, um mit dem Kapitän zu Mittag zu essen, waren zwei Passagiere an Bord. Die beiden Weißen waren Ingenieure und wollten hier in Birubunga an Land gehen, um eine Konzession auszunützen, die sie endlich vom Sultan erhalten hatten. Es handelte sich um eine größere Zinnmine, die sie auf moderne Weise bearbeiten wollten. (O weh, Ali haji, dann geht deine Zinnsammlung auf Null herab!)

Die beiden Ingenieure sprachen nicht, während wir in der Kajüte saßen und aßen, und weshalb sollten sie sich auch in die Ungelegenheit einer Unterhaltung stürzen? Ich aber betrachtete sie und machte eine Entdeckung hinsichtlich ihrer Köpfe. Es waren europäische Durchschnittsschädel, deren innere Sprengkraft sich äußerlich durch vollkommene Ruhe der Gesichtszüge kundgab. Sie glichen Bomben. Und daß diese beiden Männer nicht viel sagten und kein Lächeln übrig hatten, nicht einmal ihre Umgebung zu beobachten schienen, das bewies mir, daß sie aus einer Kultur kamen, wo eine so elementare Sache wie Menschlichkeit an und für sich ein längst überwundener Standpunkt ist.

Und hier saß ich und hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als ein paradiesisches Leben mit malaiischen Rundköpfen zu führen, die unter denselben primitiven Verhältnissen lebten, wie in dem entschwundenen Atlanta; hier lebte ich sorglos dahin, einzig und allein mit den allerersten Anfangsgründen beschäftigt, mit Jagd und Liebe; ich hatte es soweit gebracht, die Hosen abzulegen und mich mit dem Sarong zu bekleiden wie die anderen Menschen um mich her, die sich zum Islam bekannten! Ich schämte mich vor den beiden Weißen, schämte mich wie ein christlicher Hund wegen meines orientalischen Kostüms.

Wie alt war ich eigentlich, wie lange meinte ich, daß das Leben dauern würde? War es nicht Zeit für mich, in der Großstadt an die Arbeit zu gehen? Es gab Sport genug für ein mittelmäßiges Championtalent auf dem Raubtierpfad der Kultur! Wer weiß! Ein unermüdlicher Globetrotter konnte vielleicht schon beim Marschieren auf der Stelle außer Atem kommen, indem er bemüht war, seinen Platz auf den Rolltrottoirs der Kulturzentren zu behaupten.

Die beiden Ingenieure mit den Bombenköpfen zogen am selben Tage in Birubunga ein, an dem ich abreiste. Meine Mission war zu Ende. Oder mit anderen Worten, die, die nach mir kamen, genossen den Profit, während ich alles zugesetzt hatte.

Als ich Matti Lebewohl sagte und ihm meinen Karabiner gab (der nie fehlgeschossen hatte), fühlte ich, daß es meine Jugend war, von der ich Abschied nahm. Aber ich bedauerte es nicht, ich sehnte mich nach einer kräftigeren und klareren Lebensanschauung, die mir keine Aufgaben vorgaukelte, an denen ich mich zerschellt haben würde, wenn sie überhaupt existiert hätten. Ich sehnte mich nach einer Verdichtung meiner Traumnebel, sehnte mich die Borsten abzulegen und als der, der ich war, hervorzutreten, nicht anders, aber in meiner vollen Kraft.

Ich richtete meinen Blick auf die Ideale des Mannesalters, auf Ordnung, Zucht und Komfort. Ich sehnte mich, mich den Legionen der Gesellschaft als Glied der Gemeinschaft einzuverleiben.

Einige Wochen später war ich in Schanghai, und mit einem neuen und geläuterten Gefühl der Zusammengehörigkeit streckte ich mich befrackt und gesalbt im Schaukelstuhl, in einem guteingerichteten, sauberen und renommierten Hotel, mit »Onkel Toms Hütte« auf dem Salontisch- und dinner-gekleideten Amerikanerinnen am Flügel, mit Badezimmer, elektrischem Licht und weißen Betten.

Ich hütete mich aber wohl, mich blenden zu lassen, was nahegelegen hätte, da der Kontrast so groß war. Ich hatte ein für alle Mal gelernt, daß Überschätzung das gefährlichste Prinzip im Handel ist. Es ist viel klüger, alles was man wünscht zu unterschätzen. Darum will ich auch keine Lobrede über die munteren Feen auf Nummer 12 in Schanghai halten. Daß sie so hoch im Kurs standen, war die natürliche Folge davon, daß sie vereinzelt an einem Platz auftraten, der fern von der Kultur liegt, und wo die Cholera heimisch ist. In Wirklichkeit waren sie nichts als bildschöne Achtzehnjährige erster Güte, aus der zweiten Klasse, bei denen alle höheren Gefühle durch die Übung ersetzt werden, die der Umgang mit allen Nationalitäten mit sich bringt.

Ich hatte die größte Lust zu platzen und einen Lavastrom von Lyrik zum Besten der ganzen Footschow Road in Schanghai loszulassen! Aber meine neue sauererworbene Lebensauffassung verbot es mir. Es zeugt von schlechtem Geschmack, wenn du dir dein Begehren anmerken läßt; und du treibst die Waren in die Höhe, über deine Kauffähigkeit hinaus, wenn du es tust. Denke gering von allem, dann bekommst du es, und von allen, dann kommen sie. Setz dich irgendwo hin und unterbiete die ganze Menschheit, tue es lange genug und die Leute werden von selbst zu dir kommen und sagen, daß sie keinen Absatz finden; dann erwirbst du sie für einen Spottpreis. Breitest du aber deine Arme dem Haufen entgegen, weil du ihn liebst, dann wird es bald leer um dich herum werden. Der Haufe ist ein weibliches Ding. Und der Haufe hat recht. Das Volk im allgemeinen zieht Prügel und Brot deinen Wechseln auf ewige Zärtlichkeit vor. Es sind nämlich zu viel falsche Papiere von der Sorte im Umlauf, will ich dir sagen.

Vorsicht! Schaff dir keinen Schmarotzer auf den Hals, indem du einen Überfluß an Kraft, eine Vorliebe verrätst.

Ich wußte jetzt Bescheid. Darum konnte man mich auch nicht laut vor Wonne heulen hören, als ich in Spreckels Café saß und Austern aß, fünfte Etage im Call Building in San Francisco mit Aussicht auf das goldenste aller Tore, daß vom Pacifikozean bis zu den Vereinigten Staaten hineinführt. Weshalb in aller Welt sollte ich jetzt ein Seidel Bier überschätzen, kalt und mit Schaum, weil ich mich kürzlich mit einer Wabenkröte um das warme und verfaulte Wasser in einem gärenden Schlammloch, inmitten der heißen, indischen Wälder gestritten hatte? Ruhig. Ruhig! Ich saß und betrachtete das Publikum um mich herum, das mit dem Kinn auf Panzerkragen ruhend, sehr viel aß, aber mit so widerstrebenden Mienen, daß der Kellner froh war, daß es dem Etablissement glückte, ihnen überhaupt etwas einzuflößen. Sollte ich mich jetzt durch Kundgebung einer unmäßigen Dankbarkeit der Gefahr aussetzen für sie alle bezahlen zu müssen?

Nein, ich hielt mich im Zaum, verbreitete mit Fleiß eine tödliche Kälte um mich herum, saß wie eine Säule von Geringschätzung an meinem Tisch, ohne mehr von meinem Inneren preiszugeben, als man durch Schießscharten sehen kann. Aber dieser Kampf zur Aufrechterhaltung des Verteidigungszustandes erforderte fast eine größere Kraftanstrengung als ich auf der ganzen Reise nötig gehabt hatte. Meine Seele war ja voller Freude ich feierte einen Festtag, einen freien Tag, einen privaten Wundertag!

Auf der Reise über den großen Ozean hatten wir nämlich einen Tag gewonnen, indem wir gen Osten fuhren, und den feierte ich jetzt. Die anderen Passagiere des Schiffes verbrauchten ihren Extratag gleich – wir hatten an Bord zwei Montage in einer Woche – betrachteten ihn als Zulage zur Langeweile und als eine Gelegenheit zum kränkeln und zum grauwerden; ich aber verschob meinen blauen Montag bis ich an Land kam. Ich nahm mir außerdem vor, ihn nicht gleich zu verprassen, sondern den größten Teil davon als Fond zurückzulegen, als einen permanenten Vorsprung, so daß ich nie mehr im Leben Privatbesitz von Zeit zu entbehren brauchte. Nun war ich lange genug, was Geschmack und Instinkt anbetraf, hinter meiner Zeit zurückgeblieben, jetzt legte ich mich ins Zeug und überholte die Pace, und es blieb ihre Sache, Vorsprung zu gewinnen, wenn sie es vermochte. Es kam mir auf einen Rekord an und ich wartete nicht auf die Masse.

Nachdem ich aber mit gewaltigem und sehr gut verhülltem Appetit in Spreckels Café gespeist hatte, ging ich fort und kaufte mir ein altes, furchteinflößendes Exemplar von einem schnelllaufenden Fahrrad. Und mit dem Gefühl, daß jede Entfernung, die ich zwischen mir und dem Paradiestal zurücklegte, im besten Sinne Rekord sei, raste ich wie der Wind durch die Market Street, durchmaß die verkehrsdonnernde Straße in vier Meilen Fahrt, raste an den großen, spiegelleuchtenden Läden vorbei und den schwarzen Menschenscharen der Fußsteige, die meinesgleichen waren und denen es nicht einfiel, mich aus dem Gleichgewicht zu starren, radelte darauflos unter den elektrischen Leitungs- und Kabelnetzen des Straßenhimmels, ging unter dem Druck von wohlriechender Stadtluft wie ein Flieger auf der Erdoberfläche dahin, machte scharfe Kurven um die Straßenbahnen herum ...

Hastete im äußersten Augenblicke bei einer Eisenbahnüberfahrt gerade vor der Lokomotive hinüber, hatte einen kläffenden Köter im kritischsten Augenblick am Pedal hängen, natürlich, und so – ach, des Hundes eine Pfote wurde vom Zuge zerquetscht, her mit einem Holzbein! – sauste ich in die Welt hinein in der ich zu Hause bin, in die donnernden Wälder der Zivilisation aus Eisen und Stein!

 

Ende

 


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