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VII.

Rasch erweiterte und befestigte der Frühling seine Herrschaft, ließ erkennen, sein Trachten ziele dahin, sich selbst in ein prangendes Krönungsgewand zu kleiden. Aus Gold und Blau wob er's und bestickte es rastlos mit vielfarbigen Blütensternen, schlang den Wald als hellleuchtenden Smaragdgürtel drumher. Und alles gehorchte ihm nicht nur, sondern kam bereitwillig seinem Geheiß entgegen, allein über die Heide schien er keine Macht zu besitzen. Sie weigerte sich gleichgültig-trotzig, zu seinem Schmuck beizutragen, blieb unverändert, lag da wie ein winterlich fahlbrauner Saum seines Prachtmantels. Wenigstens für den drüber hingehenden Blick; im verborgenen mochte sie dennoch gleichfalls dem großen Willen nicht Widerstand leisten können, unmerklich, ohne es selbst zu wissen, sich zum Ansetzen von Knospen für die Hochsommerzeit bereiten. Doch wenn's so geschah, entzog es sich jeder Wahrnehmung, Tag um Tag ging und ließ keinen Unterschied an ihrem Bilde erkennen.

Zwischen dem dürren Heidekraut aber suchte täglich Zea Hollesen ihren alten Lieblingsplatz auf. Ins Freie hinaus zog und trieb sie die köstliche Frühlingsluft, wie's die Wiederkehr jedes Sommerbeginns ihr getan. Doch war's in diesem Jahr anders als sonst, Tilmar begleitete sie nicht, mindestens nicht auf weiterem Gang, nur ab und zu im nahen, allen Augen sichtbaren Umkreis des Dorfes. Das hielt er für besser, und sie folgte seinem Rat; zuerst hatte sie's nicht begriffen, aber dann kam's ihr auch, er habe wohl recht damit. Ähnlich erging's ihr mit seiner Abwesenheit; anfänglich entbehrte sie ihn auf Schritt und Tritt, meinte immer, er müsse noch nachkommen, doch die Gewöhnung machte sich bald geltend, daß sie dies Gefühl verlor, nicht mehr nach ihm umschaute und auf ihn harrte. Auch begab sie sich öfter jetzt zu einer Zeit hinaus, in der er ihr doch nicht Gesellschaft leisten gekonnt hatte, sondern in der Schulstube auf dem Pult stehen mußte. Sie bedauerte ihn deshalb, denn es war draußen so schön, und sie setzte sich vor, als seine Frau wolle sie ihm im Sommer oft eine Unterrichtsstunde, die sie geben könne, abnehmen, damit er auch am Vormittag ins Freie zu kommen und Pflanzen zu suchen imstande sei.

Das aber lag noch in der Ferne, gegenwärtig konnte sie's nicht, und es wäre ohne Sinn gewesen, daß sie sich nicht am Aufwachen alles Lebens draußen freue, weil er genötigt war, im Hause zu bleiben. Des Wunsches ihres Vaters eingedenk, nahm sie die Richtung nicht nordwärts, sondern stets nach Süden, ihr selbst gefiel's von jeher dort auch mehr. Dann bog sie zur Linken ab, den junggrün von ferne winkenden Birkenwipfeln neben dem großen Findlingsblock und dem dunklen Torfstichgewässer zu. Ihre liebste Stätte auf der Heide war's, die sie als ihr angehörig behaupten, von der sie sich nicht vertreiben lassen wollte. Zum erstenmal in ihrem Leben war ihr zum Bewußtsein gekommen, daß sie einen Willen habe, war ein solcher in ihr wach geworden. Und sie lehnte sich fest dagegen auf, ihren Willen der Willkür eines anderen unterordnen zu sollen.

Das aber hätte sie vor diesem und vor sich selbst getan, wenn sie von dem Platz fortgeblieben wäre, weil auch Meinolf Alssleben seinen Kopf darauf gesetzt hatte, täglich wieder dorthin zu kommen; er mußte keinerlei Beschäftigung haben und gab müßiggängerisch einer Laune, einem spaßhaften Zeitvertreib, auf den er verfallen, nach. Zea suchte allerdings ein Zusammentreffen mit ihm zu vermeiden, es lag ihr nicht daran, ihm zu zeigen, daß sie sich nicht verdrängen lasse, sondern ihr hätte ganz genügt, lediglich vor sich selbst ihren Willen durchzusetzen. So kam sie zu verschiedener Tageszeit, wechselnd am Vormittag, am frühen oder späten Nachmittag, und schien ihre Absicht damit auch zu erreichen. In leerer Stille allemal lag der Granitstein da, daß sie sich erfreut auf ihn niederlassen konnte und mit einem inneren Siegesgefühl dasaß, durch Ausdauer das ihr streitig gemachte Eigentumsrecht behauptet zu haben. Aber regelmäßig stellte diese Zuversicht sich als verfrüht und dennoch enttäuschend heraus; stets nach Ablauf von zwei bis drei Viertelstunden erscholl hinter ihr eine Stimme und kündigte an, daß Meinolf Alfsleben doch seiner junkerhaften Laune noch nicht müde geworden, sondern geräuschlos herzugekommen sei und auf dem Heidehügel, den er sich ausgewählt, sitze. Etwas nicht Begreifliches lag in dem Zufall, der ihn immer grad' in der Stunde ihres Hierseins herbrachte; freilich kein Zufall in bezug auf sein Wegziel und seinen Zweck, denn er kam ja nur, um ihr den Aufenthalt zu verleiden. Doch zu welcher Tageszeit ihm dies gelingen werde, konnte er bei ihrem Wechseln nicht wissen, und das Merkwürdige war, daß trotzdem der Zufall ihn täglich die für seine Absicht richtige Stunde treffen ließ.

Zea schrak jedesmal bei diesem plötzlichen Stimmenklang zusammen, wenn sie sich auch beherrschte, dies durch keine körperliche Regung kundzugeben. Aber nach einigen Tagen faßte sie eine Furcht davor an; das Ungewisse, was hinter ihrem Rücken vorgehe, gerade die lautlose Stille der Einsamkeit bekam etwas Unheimliches für sie, und sie veränderte ihre hergebrachte Stellung, setzte sich in umgekehrter Richtung auf den Stein. So ging ihr Blick über die Heide bis an den Waldrand von Ekenwart, und sie konnte ihren Gegner schon in der Weite als dunklen Punkt die Richtung auf sie zu nehmen sehen, ohne daß er noch von ihr etwas zu gewahren vermochte. Dann lief es ihrem Stolz nicht zuwider, fortzugehen und ihm die leere Stätte, die sie wenigstens so lange innegehabt hatte, zu überlassen. Am Tage jedoch, an dem sie diesen neuen Plan zuerst ausführte, blieb auch er zum erstenmal aus. Nichts tauchte auf, sich vom Waldrand heranzubewegen, ihren scharf hin gerichteten Augen hätte es nicht entgehen können. Sie atmete befriedigt, die sonst stets gleichmäßige Zeit zwischen ihrer Ankunft und seinem Eintreffen mußte abgelaufen sein; da durchfuhr sie der Schreck noch stärker als sonst, denn jählings klang von der anderen Seite her hinter ihr doch seine Stimme auf. Der Zufall hatte ihn wieder zur nämlichen Zeit wie sie hergeführt, und als ob er Falkenaugen im Kopf trage, mußte er schon aus ferner Weite erkannt haben, daß sie das Gesicht dem Waldrande entgegengewendet habe. Daraus aber hatte er offenbar auch ihre Absicht hervorgelesen, davonzugehen, wenn sie sein Auftauchen wahrnehme. Ihr diesen Plan zu vereiteln, war es in verschlagener Bosheit noch eine lange Strecke nach Norden umgebogen, um so doch unbemerkt in ihren Rücken zu gelangen, und ließ ihr abermals nur die Wahl, mit ihm den Platz zu teilen oder diesen schimpflich vor ihm zu räumen. Wunsch und innerer Trieb drängten sie zu letzterem, aber darüber bäumte es sich heftiger in ihr auf, ihm solchen Triumph zu bereiten. Und so griff sie wieder nach dem Mittel, mit dem sie sich tagtäglich gegen seine herrisch-höhnische Anmaßung zur Wehr setzte. Keine Regung und kein Laut von ihr tat sein Vorhandensein für sie kund, sie saß allein in der einsamen Heidestille, unbeweglich so lange, bis er sich überwunden gab. Denn sie wußte, länger als ungefähr eine Stunde hielt er's doch nicht aus, dann verschwand er und ließ sie als Siegerin zurück.

Wenn aber seine Stimme so hinter ihr aufklang, sprach sie keinen Gruß oder etwas der Art, sondern er hub an, laut aus »Hermann und Dorothea« zu lesen, immer an der Stelle beginnend, wo er am Tage vorher aufgehört. Nur einmal hatte er anderes gesprochen, zuvor kurz geäußert: »Wenn dir's unangenehm ist, daß ich hierher komme, weil der Platz mir gut gefällt, so brauchst du's nur mit einem Wort zu sagen, dann suche ich mir eine andere Stelle.« Das war ein Spott gewesen, der ihr beinah eine bejahende Antwort über die Zunge hätte fliegen lassen. Doch sie beherrschte sich noch rechtzeitig; er war ja nicht vorhanden und zu einem Nichts konnte sie doch nicht sprechen. Dann hatte er noch hinzugefügt: »Du wunderst dich vielleicht, daß ich laut lese, aber das tue ich immer, wenn etwas mich besonders anzieht, ich verstehe es so besser.«

Zea saß stets von ihm abgekehrt, unbehindert, frei die Augen aufzuschlagen, ohne daß sie ihn sah. Doch seine Stimme mußte sie hören, das Ohr konnte sie nicht schließen, denn wenn sie ihrem Antrieb nachgegeben, die Hand darauf zu drücken, hätte sie dadurch gezeigt, daß seine Gegenwart ihr bemerkbar werde. Im übrigen gewöhnte sie sich an den unterbrechungslosen Fortgang und Klang der Worte wie an einen Naturlaut, das Plätschern eines Wassers, Lerchengetriller und Bienengesumm. Außerdem las er sehr deutlich und richtig dem Sinn nach; dann und wann einmal faßte sie den Inhalt auf, eine Stelle zog sie an, daß sie darauf hinhörte. Sie kannte das Goethesche Gedicht, doch erinnerte sich der Einzelheiten nicht, war wohl noch zu jung gewesen, als es ihr zuerst in die Hand gekommen. Indes davon abgesehen, lag offenbar etwas darin, daß manches durch lautes Lesen besser verständlich wurde, als bei stillem. Die Schönheit der Sprache und des Verses kam anders zur Geltung, ohne daß die Auffassung der Gedanken darunter litt. Denn er las langsam und gut, eigentlich schön, mußte sich viel darin geübt haben, oder vielleicht war's eine zufällige Naturmitgift, die ihm zuteil geworden. Öfter wallte es in ihr mit einer plötzlichen Empörung auf, daß er ihr gewaltsam das Buch für sich weggerungen hatte und es augenscheinlich nicht zurückgeben wollte, bis er damit zu Ende gekommen. Ganz Neues kam ihr aus der herrlichen Dichtung herauf, und sie wäre gern mit Tilmar Hellbeck zur Düne von Herdsand gerudert, sich jene dort von ihm vorlesen zu lassen; wenn sie seine Frau geworden, wollte sie ihn bitten, es täglich zu tun. Schwer begreiflich war's, daß Meinolf Alfsleben ein Interesse und Verständnis für »Hermann und Dorothea« besaß; freilich bei einigem Nachdenken stellte es sich als nicht rätselhaft, sondern natürlich heraus. Er hatte eine gelehrte Schule besucht, danach die Universität, und die Bildung, zu der jemand dadurch kam, brachte selbstverständlich auch das mit sich. Übrigens nahm er vermutlich auch gar nicht wirklich Anteil daran, tat nur so, das Buch war ihm eben zufällig als passendes Mittel in die Hände geraten, seiner Laune nachhängen zu können, sie täglich zu ärgern. Daran hatte er von klein auf Vergnügen gefunden; ihr geriet es deutlicher allmählich in Erinnerung, daß Unna früher oft davon erzählt hatte, auch daß sie selbst doch häufiger mit ihm zusammen gewesen sei. Er stand ihr wieder als Knabe vor Augen, im Grunde jetzt nur größer, sonst kaum verändert, so daß sie wahrscheinlich bei der ersten Begegnung ihn sonnenblind angesehen, da sie ihn sonst hätte erkennen müssen. Davon war ihr auch die einfältige Anrede »Sie« und »Herr Baron« in den Mund gekommen; sie schämte sich, wenn sie daran dachte, wie albern-geziert es gewesen, jetzt würde sie sich nicht mehr so abgeschmackt aufführen, sondern ebenso wie er nach alter Kinderweise »du« sagen. Doch brauchte sie dies zum Glück nicht zu tun, denn sie sprach ja nicht mit ihm, er war ja Luft; das hatte sie, als er die Unverschämtheit gehabt, sie am anderen Tag wieder hier quälen zu wollen, instinktiv höchst vernünftig angefangen, fühlte sich so befriedigt davon, daß sie ab und zu einen heimlichen Lachreiz unterdrücken mußte, wie einfach sie ihn um den erhofften Erfolg seiner schadenfrohen Absicht gebracht habe und täglich wieder bringe. Sie war außerordentlich klug gewesen, denn anstatt daß er seinen Zweck erreichte, sie zu kränken und daran sein Vergnügen zu finden, mußte er, ohne es zu ahnen, ihr eines durch sein gutes Vorlesen bereiten. Das enthielt kein ihm anzurechnendes Verdienst, verbesserte seine häßliche Gemütsart in nichts, aber es war spaßhaft; die Schadenfreude drehte sich gewissermaßen um, Zea fing an, ihm mit solcher entgegenzusehen. Einmal kam ihr ein Gedanke; sie hatte am letzten Sonntag erfahren, daß er neuerdings zuweilen nach Helgerslund gehe, und ihr schoß durch den Kopf, er solle Unna Brookwald heiraten. Das paßte sehr gut, Unna war auch von adliger Herkunft, und es brauchte ja noch nicht gleich zu sein, so daß sie erst noch etwas älter und verständiger werden konnte. Dann aber ließ sich von ihr erwarten, sie werde ihn wie ein unbändiges Pferd am Zügel nehmen und ihm seine Unarten und Anmaßungen abgewöhnen. Das bildete eine dankbare Aufgabe für eine Frau, es tat Zea fast leid, selbst bei Tilmar keine solche vor sich zu haben, da es an ihm für seine Frau nichts Eigenwilliges und Abstoßendes zu verbessern gab. Sie war so von ihren Ideen eingenommen, daß es ihr in dem Augenblick schwer fiel, bei ihrer lautlosen Stummheit zu beharren, und sie mußte die Lippen zusammendrücken, um nicht zwischen ihnen herausfahren zu lassen: »Du tätest gut, Unna Brookwald zu heiraten.«

Aus ihrem Wiederzusammenkommen mit dieser an einem Sonntag ergab sich aber, daß bereits mehr als eine Woche vergangen sein müsse, seitdem täglich die besondere Stimme hier so hinter ihrem Sitz geklungen. Oder waren es schon zwei Wochen gewesen? Möglich erschien's ihr auch, fast glaubhafter, solange gewohnt lag der Ton ihr im Ohr. Am besten hätte die Zeit sich nach der Länge von »Hermann und Dorothea« bemessen lassen, nur hatte er anfänglich größere Stücke gelesen, doch allmählich immer kürzere. Unvermutet hörte er plötzlich auf, und verschwand ohne weiteren Laut und ohne daß sie ihn davongehen sah, denn sie hatte die veränderte Stellung nur das eine Mal eingenommen, saß, da sie die Nutzlosigkeit erkannt, stets wieder in ihrer alten Weise, dem Walde den Rücken zukehrend.

Seine Absicht aber bei dem Lesen kürzerer Abschnitte lag auf der Hand, er sparte damit, weil sie ihm die beste Handhabe gaben, seinen ihr gespielten Schabernack und Unfug länger auszudehnen. Fraglos empfand er selbst, wenn das Buch zu Ende sei, werde er davon abstehen müssen, da er kein Vergnügen mehr daran finden könne, sie ohne eigene Unterhaltung eine halbe oder ganze Stunde durch seine Anwesenheit nutzlos zu belästigen. Denn daß ihre großartige Schweigsamkeit jedem Versuch von seiner Seite, sie durch irgend etwas zu erschüttern, trotzen und Siegerin auf dem Platz bleiben werde, konnte ihm nicht mehr zweifelhaft sein.

Schließlich indes mußte auch ungeachtet des Hinausschiebens das Gedicht bis zur letzten Seite kommen; sie rückte unverkennbar näher, und Zea wartete mit einer gewissen Spannung diesem Ende entgegen. Zufällig wußte sie die beiden, ihr von früher im Gedächtnis gebliebenen Schlußverse auswendig, und unwillkürlich sprach sie sich dieselben in ihrer Stube ab und zu vor. Nun war's wieder ein später Nachmittag, an dem sie hinausgegangen, wie damals, als sie die erste widerwärtige Begegnung hier mit Meinolf Alfsleben gehabt; – ebenso schräg fielen die Sonnenstrahlen über die Heide von der See her, nur wärmer, denn aus dem April war beinah Maimitte geworden. Sie saß und hörte dem Leser zu, doch nicht recht, wenigstens dachte sie gegenwärtig nicht an das Ende der Dichtung, ihre Gedanken gingen unbestimmt ins Weite. Da tönte es plötzlich einmal hinter ihr:

»Und gedächte jeder wieder wie ich, so stünde die Macht auf gegen die Macht und wir erfreuten uns alle des Friedens.«

Ein Klang scholl hinter dem letzten Wort drein, wie vom Zuschließen eines Buches, danach ward es lautlos still. Die Schlußverse von »Hermann und Dorothea« waren es gewesen und Zea vollständig überraschend gekommen; sie zitterten durch das Schweigen umher in der Luft und eigentümlich ebenso auch wie in ihr selbst nach. Das letztere rührte offenbar davon her, daß sie nicht darauf vorbereitet gewesen; etwas Unerwartetes, ein Windstoß, ein Vogelruf konnte solche täuschende Empfindung eines inneren körperlichen Mitschwingens hervorrufen.

Zea horchte auf, ob sie irgendwie Geräusch hinter ihrem Rücken vernehme, doch nicht das leiseste. Oder vielmehr so lautlos war's und blieb's, daß sie eine ganze Zeitlang das Surren einer verspäteten, vorübergeflogenen Biene noch aus der Ferne hörte. Es trieb sie, aufzustehen, und hielt sie doch zugleich wie unter einem Banne fest. Eine Vorstellung bemächtigte sich ihrer, Meinolf Alfsleben sei nicht wie sonst fortgegangen, sondern sitze noch regungslos da und warte, daß sie sich umwende, um dann mit einem spöttischen Lachen auf ihre Bewegung zu erwidern. Die Vorstellung wuchs zu einer Furcht in ihr an, die ihr das Herz hörbar klopfen ließ; so blieb sie wohl noch eine Viertelstunde in der gleichen Haltung. Aber nichts änderte sich und die Stille nahm mehr und mehr etwas Unheimliches, ihr den Atem Versetzendes an; zuletzt ertrug sie's nicht länger, drehte langsam, Linie um Linie anhaltend und weitergehend, den Kopf. Da war der Platz hinter ihr leer und alles drumher, nur oben auf einer Heidebulte lag das Buch.

Ein paar Augenblicke sah sie wieder unbeweglich darauf hin. Im Gefühl war's ihr, als wache sie nicht, sondern habe geträumt, daß sie täglich hier gesessen und auch heute hier sitze. Aber dann schnellte sie sich jählings mit einem Sprung auf, nach dem Buch hin, das sie ergriff, als ob es von etwas gehalten werde, dem sie's mit Gewalt fortreiße. Es gehörte ihr, sie hatte ihr Eigentum wieder, sich zurückgerungen in einem Kampfe, aus dem sie als Siegerin hervorgegangen. Aus dem Blick, den sie umherwarf, sprach, auch der Platz sei wieder ihr Eigentum, sie stehe auf ihm gleichfalls als Siegerin. Ihr Widersacher hatte ihn vor ihrer hartnäckigen Ausdauer geräumt, war zum letzten Male hier gewesen und kam nicht mehr. Den Kopf hebend, sah sie ihn als einen dunklen Punkt sich zum Waldrand zu bewegen; hoch Befriedigendes lag darin, einem geschlagenen Gegner nachzublicken, sie tat's, bis er unter den Bäumen verschwand.

Nun begab sie sich auf den Heimweg; der Maiabend war von einer weichen Schönheit, wie sie kaum eine gleiche im Gedächtnis trug. Doch sie fühlte, der errungene Triumph, der ihr noch das Herz laut klopfen ließ, nur nicht mehr schreckhaft, sondern freudig, komme hinzu, Himmel und Erde zu so zauberischem Einklang zu verweben. Ihr wachte Erinnerung an ein ihr im Traume gekommenes Verlangen auf, im Helgerslunder Park einmal wieder die Nachtigall zu hören, heut nacht mußte sie köstlich schlagen. Wie Zea am Strand entlang gegen das Dorf zuschritt, begann es leise zu dämmern, indes war's noch so hell, deutlich auf ziemliche Entfernung gewahren zu lassen, daß eine ihr entgegenkommende Gestalt Tilmar Hellbeck sei. Auch ihre Augen hielten sich ihm zugekehrt und sahen ihn, doch nur mit einem äußeren Auffassen, sie erkannte ihn erst, wie er sie freudig anrief. Da zuckten ihr die Wimpern, sie erwiderte: »Du bist's? Ja, du bist es ja, Tilmar,« und sie fügte rasch nach: »Das trifft sich gut, ich wollte morgen zu dir, dich zu bitten, mit mir nach Herdsand zu fahren.« Er entgegnete mit beglücktem Aufglanz der Augen: »O wie gern, Zea – glaubst du, daß wir gut daran tun?« Sie fiel ein: »Warum nicht? Du weißt – – Ach so – Du bist zu ängstlich! Wir sehen uns ja so wenig mehr, und ich möchte gern, daß du mir auf der Düne aus dem Buch hier vorläsest.«

Ihm ging's über die Kraft, zu widerstehen, er antwortete: »Gewiß – dann erwarte ich dich.« Wie sie nebeneinander fortschritten, faßte er nach ihrer Hand, so gingen sie redend auf Loagger zu. Von Meinolf Alfsleben sprach Zea nicht mit ihm, wie sie's auch zu Hause nicht tat; sie hatte sich vorgenommen, darüber zu schweigen, aus mancherlei Gründen, sie wußte nicht alle mehr. Hauptsächlich weil ihr Vater und Tilmar sich ängstigen möchten, der von Knabenzeit her als unbändig und unvorsichtig Bekannte könne ihr irgend etwas Übles zufügen, sie ins Wasser stoßen, oder dergleichen; das hätte ganz unnötige Besorgnis, ähnlich wie mit den Ottern, gegeben, denn davor hegte sie nicht die geringste Furcht mehr, nur am ersten Tage war's ihr so vom Mund geflogen. Der junge Lehrer redete mehr als sie; wie ihr vorhin etwas vor den Augen gelegen, ihn nicht von weitem zu erkennen, so lag's ihr auch im Ohr, daß sie manches nicht deutlich hörte. Vom morgigen Tag sprach er, der Fahrt und vom Aufenthalt auf der Insel, dem Lerchengesang dort über ihnen, dem Glück, neben ihr zu sitzen. Das mußte ihr zum Verständnis kommen und sie sich auch darauf freuen, denn ihre Hand, die bisher unbeweglich in seiner gelegen, hub an, sich leise zu regen und spielend die Finger um die seinigen zu schlingen; ein süßes Schauergefühl durchfloß ihn davon. Doch er war besonnen, sie kamen dem Dorf zu nahe, konnten gesehen werden, und er zog seine Hand aus der ihrigen. Sie schrak zusammen wie jemand, der aus einem Halbtraum fährt; ihr kam von den Lippen: »Was – du bist's – du sagtest – ja so, wir sind schon hier – du hast recht, es ist besser, daß du nicht weiter mitgehst. Gute Nacht, Tilmar.«

Allein legte sie im einfallenden Dunkel das letzte Stück zum Pfarrhaus zurück. Sie fühlte sich so leicht, als ob sie nicht auf den Boden trete, sondern darüber schwebe, und ebenso froh war's ihr zu Sinn. Nur besann sie sich vergeblich den Abend hindurch auf etwas, das in ihr vorhanden war, aber sich versteckt hatte. Erst als sie in ihrer Stube zum Schlafen gegangen, kam's ihr plötzlich, das eigentümliche Zusammenstimmen der beiden Schlußverse von »Hermann und Dorothea«, mit ihrem Erlebnis der letzten Wochen auf der Heide war's gewesen. Das Gedicht meinte zwar anderes, Großes mit ihnen, aber sie ließen sich auch auf den kleinen Vorgang draußen anwenden. Macht war dort gegen Macht, Wille gegen Wille aufgestanden, einen sonderbaren Krieg zu führen, und nun erfreute die Siegerin sich des Friedens. Das stimmte völlig überein, daher rührte ihr Leichtgefühl und Frohsinn; sie empfand jetzt, daß sie sich täglich mit Gewalt zu dem Weg habe zwingen müssen, er war ihr sehr unangenehm gewesen, so daß sie mehrmals fast dazu gekommen, den Kampf aufzugeben. Doch glücklicherweise hatte sie sich fest gezeigt, der Streitsüchtige davor weichen müssen, und den Lohn dafür trug sie heut' abend in sich. Denn ohne den Sieg hätte sie sich des Friedens nicht erfreuen können.

Sie schlief vortrefflich die Nacht durch, ohne zu träumen, wenigstens bewahrte sie keine Erinnerung daran. Doch mußten Gedanken sich in ihrem Kopf fortgesponnen haben, denn mit dem Aufwachen stand der Entschluß vor ihr, sogleich auf die Heide hinauszugehen, um von ihrem wiedergewonnenen Eigentum feierlich Besitz zu nehmen. Am Nachmittag hatte sie ja mit Tilmar nach Herdsand zu fahren verabredet, das mochte mitgewirkt haben, ihr im Schlaf den Vorsatz einzugeben. Es geschah manchmal so, schon öfter hatte sie's erfahren, daß etwas während der Nacht unbewußt im Kopf vorgehen konnte, woran sie beim Zubettgehen nicht gedacht. Doch beim Aufwachen stand es fertig da, ließ sich nicht abschütteln, übte einen Zwang aus.

Der Morgen war wundervoll, sie flog mehr am Strand entlang, als daß sie ging, die Leichtigkeit von gestern lag noch erhöht in ihr; schneller als je kam sie an ihr Ziel. In solcher Frühe war sie noch niemals hier gewesen, alles sah sie vertraut und doch auch fremd an. Die Schatten fielen anders, Tautropfen blitzten diamantenhaft an den Heidekrautzweigen, jeder Atemzug der noch ein wenig herben Luft regte das Blut zu einer kräftig vom Herzen ausströmenden Welle. Das kleine dunkle Wasser lag noch verschattet und reglos, aber wie das Mädchen, auf dem Stein sitzend, darauf hinblickte, glitten allmählich die Sonnenstrahlen über den Rand und weckten das zitternde Spiel auf der ruhigen Oberfläche. Einer um den anderen begannen die winzigen Käfer sich, glitzernden Weberschiffchen ähnlich, hin und her zu schnellen, wie an dem Nachmittag, als Zea zum erstenmal nach dem Winter hierhergekommen. Nur hatten die Ränder des Abstichs sich jetzt dicht mit herabhängenden Pflanzen aller Art grün überrankt, so daß kaum noch etwas von dem Braun des Torfes durchschimmerte; daraus ging hervor, es müsse mancher Tag vergangen sein, an dem Blatt um Blatt in der Stille so habe hervorwachsen können. Fast unglaubhaft erschien's ihr, großblickend ruhten ihre Augen darauf. Aber alles gehörte jetzt wieder unbestritten ihr an, in sicherem Frieden saß sie hier. Durch die Luft kam etwas getanzt, als habe sich ein ganz winziges Stückchen Himmelsblau abgelöst, zur Erde herunterzuflattern. Ein Schmetterling war's, doch kein Zitronenfalter mehr, ein kleiner Bläuling. Das sagte auch gleiches wie das grüne Blättergewirr: der Frühling neigte sich schon zum Sommeranfang hin, denn mit dem kamen die kleinen, blauen Falter. Die Augen Zeas gingen seinem vorübergaukelnden Flugspiel nach; noch ein anderer gesellte sich ihm hinzu und miteinander stiegen sie schwebend auf und nieder, umkreisten, haschten und ließen sich, doch immer zurückkehrend. Seltsame Täuschung wob's vor dem Blick, als seien es nicht zwei, sondern zunehmend immer mehr, unzählbar, die ganze Luft über dem Heidegrund ward zu einem blauen Geflatter.

Da klang es plötzlich hinter ihr: »Warum gehst du nicht mehr barfuß, wie damals, als ich dich zuerst hier traf?«

Das konnte keine Wirklichkeit sein, sie mußte mit offenen Augen träumen und im Traum die Stimme zu hören glauben. Aber nur für eines Atemzuges Dauer war diese verstummt, dann tönte sie abermals:

»Ich habe über Nacht Lust bekommen, den Oberon von Wieland zu lesen. Wenn es dich stört, sag' es mir, da suche ich einen anderen Platz auf.«

Wirklichkeit war's, unfaßbar und ungeheuerlich; wie windgewirbelte Blätter kreisten die Gedanken durch den Kopf Zeas. Unfaßbar, daß er in dieser frühen Morgenstunde sie hier vermutet habe, zu einer Zeit, in der sie noch niemals hergekommen. Ungeheuerlich, daß er dennoch wieder hier war, ihr Sieg, ihr Triumph, der schöne Frieden, dessen sie sich erfreuen zu können geglaubt, Täuschung gewesen. Dazwischen klang seine erste Anrede ihr im Ohr nach, trieb eine hastige Welle der Empfindung in ihr auf. Um nichts in der Welt würde sie wie beim ersten Male dasitzen und ihm ermöglichen, ihre bloßen Füße zur Zielscheibe seiner Spottlust zu machen. Um so boshafter war sein Hohn darüber gewesen, als er seinen Ton verstellt, die Worte geklungen hatten, wie wenn er ein aufrichtiges Bedauern damit ausdrücke, daß sie sich um seinetwillen den Zwang, Schuhe zu tragen, antue.

Doch aus diesem Gedankengedränge trat eines im Nu deutlich erkannt vor sie hin. Der Kampf war also nicht beendet, sie mußte ihn noch weiterführen. Aber ihr bangte nicht davor, nur ein erster Schreck der Überraschung hatte sie durchfahren. Auch von ihrem Herzschlag ging eine Kraftwelle aus, sie bis in die Spitzen der Finger hinein durchflutend. Noch nie hatte sie sich so stark, so mutvoll, so siegesgewiß gefühlt; da es nicht anders war, freute sie sich sogar auf die Erneuerung des sonderbaren Zweikampfes. Macht stand gegen Macht auf, das hieß, ihre Macht setzte der seinigen die unerschütterliche, gleichmäßige Ruhe des Behauptens ihres Sitzes entgegen. Nichts auf der Erde, und wenn die Sonne herunterfiele, konnte sie dahin bringen, durch eine Bewegung, einen Laut kundzugeben, daß sie ihn höre oder sehe, daß er um sie vorhanden sei. Kein Zug ihres Gesichts, ihrer Haltung hatte sich verändert, allein saß sie da auf dem alten Findlingsstein in der Heide, und hinter ihrem Rücken erklang's laut durch die Morgenluft:

Noch einmal sattelt mir den Hippogryphen, ihr Musen,
Zum Ritt ins alte romantische Land!
Wie lieblich in meinem entfesselten Busen
Der holde Wahnsinn spielt! Wer schlang das magische Band
Um meine Stirn? Wer treibt vor meinen Augen den Nebel,
Der auf der Vorwelt Wundern liegt?

Meinolf Alfsleben hielt kurz an und sprach dazwischen: »Wenn es dich langweilt, Zea Hollesen, so sag's, dann höre ich auf.« Doch ein Nichts konnte nicht sprechen und nicht Antwort bekommen, und so las er weiter.


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