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VIII.

Die beste Jahreszeit nun war's für Nathan Aronsohn, ohne scharfen Wind und nicht sommerheiß noch, der Regel nach auch die trockenste und in diesem Jahr besonders, denn Woche um Woche brachte immer gleiche Sonnenschönheit. So ging oder hinkte Nathan emsig in seinem weiten Geschäftskreis von Ort zu Ort, mit dem leeren Sack ausziehend, und erst mit dem gefüllten nach Haus kehrend. Doch hätte dessen gemeinigliches Inhaltssammelsurium einen unrichtigen Schluß auf den Betrieb und die Erwerbsquellen seines Trägers ziehen lassen. Auch der Sack umschloß keineswegs lediglich Abfall, nicht selten barg sich dazwischen allerhand billig eingehandeltes altes Gerät und Schmuckwerk, das gut aufgeputzt um Vielfaches höheren Preis wieder eintrug; nur war der Jude genügsam und unermüdlich, mißachtete nichts, sondern nahm alles mit, was anderen als vollständig wertlos erschien. Mit einem Dreier machte sich schließlich auch der jämmerlichste Fund noch bezahlt, und aus Dreiern hatte er sich anfänglich ein bißchen Geldbesitz zusammengetragen, um nicht nur im Wegwurf scharren, auch für dies und das einen Preis bieten und kaufen zu können. Mit der angeborenen Bsdürfnislosigkeit seines Volksstammes im Essen und Trinken brauchte er fast nichts für sich, und die gleiche Blutmitgift hatte ihn früh seinen Erwerb beginnen lassen. Andere Zugänge zum Leben verschloß seine Abkunft ihm, wie seit Jahrhunderten seinen Vätern, er gehörte einer fremden niedrigen Kaste an, auf die der Straßenbettler noch herabsah, der keine Ernährungsmöglichkeit, als durch den kleinen Handel offenstand. Lachen und Fingerdeuten empfingen ihn und gaben ihm Geleit, Gassenjungen trotteten schreiend hinter ihm drein, nicht selten ward er wie ein Hund von der Tür gejagt. Aber er war ein philosophischer Hund, der ruhig Spott und Schimpf auf sich regnen ließ, wenn er den Knochen erhaschte, auf den er sein Auge hielt. Er knurrte, antwortete nie, schien nichts zu hören und zu denken, als an seinen nächsten Zweck. Geduldig ging er im selben Aufzug Tag um Tag seinem Geschäft nach, nur mit sich selbst sprach er zuweilen laut am Strand und auf der Heide.

Darüber war eines Menschenlebens Dauer verflossen, und gealtert, das Bein nachschleppend, sonst unverändert, zog er heut wie im Anfang mit seinem Sack umher. Doch in seiner Behausung sah es ganz anders aus, als damals und als die Leute mutmaßen mochten, die ihm draußen auf seinen Wegen begegneten. In gewisser Weise hatte er die Fabel verwirklicht, in welcher der Eierkorb das Mädchen in lebhafter Vorstellung sich schon als Besitzerin eines Hühnerhofes, einer Viehherde, eines großen Landgutes fühlen ließ; nur war's bei ihm kein Traumbild gewesen, das mit den vom Kopf herunterfallenden und zerbrechenden Eiern wie eine zerplatzende Seifenblase weggeschwunden. Aus dem Plunder seines Sacks hatte er sich ein Haus gekauft und mehrere Stuben drin voll mit Dingen angefüllt, die besseren Gewinn abwarfen als die, welche er zuerst auf dem Rücken heimgetragen. Alles, was seit mehr als dreißig Jahren in der Stadt und weitum käuflich gewesen, hatte er eingehandelt, und es lag und hing bei ihm wieder zu Kauf, alte Schränke, Tische und Stühle, Geräte, Stoffe, Bilder, Schmuckstücke, Uhren, Teller und Gläser, Unaufzählbares. Sein Haus bildete einen Raritätentrödlerladen nach großstädtischer Weise, doch wußte er nichts von solchem Geschäftsbetrieb anderer, war aus eigener Eingebung darauf verfallen. Die Zeit fing an, alte Sachen wieder zu schätzen und begehrenswert zu finden, und Nathan war auch ein Spürhund mit guter Witterung für den neuen Geschmack, die Wünsche, Liebhabereien, Narrheiten und Prahlereien der mehr oder auch minder wohlbemittelten Leute; sein Geruchssinn war's, mit dem er Todesfälle vorausspürte, die billige Weggabe eines Nachlasses verhießen, und mit den ausdruckslosen Augen sah er Gesichtern sonst sich in geordneten und vermöglichen Umständen Befindender zeitweilige Verlegenheiten und Bedrängnis durch Schuldverpflichtungen eingeschrieben. Davon rührten Pfandscheine, daneben auch Wechsel in einer Lade her, alle gut und sicher, keiner, der etwas aufs Spiel setzte, und ebenso ohne hohen Wucherzins. Den nahm Nathan nicht, nur so viel, als billigerweise der Notlage, aus der er heraushalf, entsprach und ihm nicht etwa vor Gericht als eine übermäßige Erpressung vorgehalten werden konnte. Ein Jude, niedrigerer Kaste angehörend, war er geblieben, aber man lachte, schrie nicht mehr hinter ihm, deutete nicht mit Fingern auf ihn. Als eine jedem bekannte, langgewohnte Erscheinung und als eine anders wie früher angesehene, hinkte er am Abend durch die Straßen seinem Hause zu, sich dort nach der Tagesmühsal enthaltsam und mäßig, wie von jeher, mit der einzigen Hausbewohnerin außer ihm, seiner Tochter Miriam, an den Tisch zu setzen.

Denn niemals im Gange der Jahre hatte etwas anderes eine Verlockung auf Nathan Aronsohn geübt, als die Aussicht auf ein vorteilhaftes Geschäft. Ein junges Geschöpf mit blauschwarzem Haar und Kohlenaugen kam in die Stadt, als Zugehörige einer mit Affen und Bären herumziehenden Jahrmarktsbande von Seiltänzern und Possenreißern; eine Zigeunerin aus Ungarn sei's, und als solche ward sie bestaunt. Doch Nathan fühlte das verwandte Blut aus ihr heraus, sie gestand's ihm auch zu, sie sei nur eine seines Stammes, und als ihre Genossenschaft weiterzog, blieb sie bei ihm zurück, denn er hatte einen Handel mit ihr abgeschlossen. Ob er guten Einkauf damit gemacht, ließ er, wie bei allem, nicht laut werden, und ob sie rechtmäßig seine Frau gewesen sei, wußte niemand, noch fragte man viel danach. Viele Meilen weit umher gab's keinen Rabbi, um eine Ehe zwischen Juden zu schließen, und was Kreaturen taten, die nicht Christen waren, bekümmerte weder die Geistlichkeit, noch die weltliche Behörde. Auch dauerte das Zusammenleben der beiden nicht lange, denn sie starb schon nach kaum zwei Jahren. Nathan holte einen Arzt herbei und ließ durch diesen feststellen, welche Krankheit die Ursache ihres frühen Todes gewesen; dann nahm er seinen Sack auf den Rücken und ging über Land, nicht anders als sonst. Und was er ab und zu draußen halblaut vor sich hinredete, drückte nicht aus, er habe einen Verlust gehabt, der schwer wieder einzubringen sei. Im Gegenteil ließ es eher darauf schließen, daß er vorschnell gewesen, sich auf die eingehandelte Ware nicht verstanden gehabt und Zufriedenheit mit sich trage, sie durch günstigen Zufall an ihren gegenwärtigen Inhaber unentgeltlich wieder losgeworden zu sein.

Behalten aber hatte er als Hinterlassenschaft einen Sprößling der zweijährigen gemeinsamen Lebensführung, ein Mädchen, dessen Aufziehen ihm bei seiner häufigen Abwesenheit vom Hause in den ersten Jahren viel Schwierigkeit machte und obendrein Kosten bereitete. Doch er legte diese für Wartung und Aufsicht der Kleinen bei einer Nachbarfrau an; wenn er's nicht gewollt hätte, würde die Behörde ihn genötigt haben, für das Kind zu sorgen, aber davon abgesehen tat er's aus eigener Einsicht, daß man müsse machen die Einzahlungen, wenn man wolle bekommen nach Ablauf von Jahren ein Kapital aus der Sparkasse. Und zu einem solchen wuchs Miriam ihm schneller heran, als er gerechnet, zu einer brauchbaren Beihilfe seines sich erweiternden Geschäftsbetriebs. Sobald sie ordentlich laufen konnte, hielt sie sich am liebsten in den Stuben mit den zusammengebrachten, sich jährlich mehrenden Verkaufssachen auf, besah, befühlte und musterte alles, huschte, wenn Käufer eintraten, behend in einen dunklen Winkel und hockte dort geräuschlos hinter einem Möbelstück oder unter einer niederhängenden Decke wie eine sich im Versteck haltende Katze. Doch ihre schwarzgestirnten Augen lugten durch einen Spalt, sie horchte und hörte alles, was gesprochen wurde, zeigte sich klug-gelehrig und gab's durch Verständnis für Wert und Preis von Gegenständen zu erkennen, daß Nathan zuweilen sagte: »Bist ein Wunder der Welt, Miriam; es ist nicht worden angelegt, was ich habe ausgegeben für dich, für einen schlechten Schuldschein. Du bist ein Kind Salomos, und ist dir früh groß gewachsen im Kopf seine Weisheit, daß auf der Welt alles ist Ware, zu handeln damit, es kommt darauf an, welchen Preis einer will bieten dafür.« Da brachten eines Tags Leute auf einer Tragbahre Nathan Aronsohn mit dem abgeschlagenen Bein nach Haus, und das Mädchen, obwohl kaum achtjährig, begriff sofort, was not tue, versah eifrig und umsichtig allein die Pflege bei dem Verwundeten, damit er zu dem unumgänglichen kostspieligen Arzt nicht auch noch eine teure Wärterin zu nehmen brauche. Und zum erstenmal in seinem Leben mit einem gerührten Ton sagte Nathan: »Bist ein Kapital, ein Juwel Gottes, Miriam; wenn deine Mutter wäre gewesen wie du, ich hätte gerauft mir die Haare über ihre Sterbenskrankheit. Aber ich habe nicht gegriffen nach ihnen, weil sie nicht hatte genug Einsicht, zu begreifen, daß auf der Welt alles ist Ware, zu handeln damit, es kommt darauf an, welchen Preis einer will bieten dafür. Such' dir aus, Miriam, unterm Zeug im Laden etwas Feines, dir machen zu lassen davon ein Kleid auf deinen Leib, wie's dir gefällt am besten nach deinem Geschmack. Wird es doch gefallen auch den Leuten, die es sehen, daß sie finden dran auch Geschmack und sie kommen kaufen ins Geschäft. Und als du hast gesagt, wird's kommen zu stehen billiger, als eine kostspielige Wärterin, daß du trägst auf dem Leib deinen eignen ersten Verdienst, und ich lege dazu in die Lade die gute Ersparnis.«

Über diesen Beinschaden Nathans war auch wieder ein Jahrzehnt hingegangen, und schon seit langem hatte er während seiner Abwesenheit vom Haus die Besorgungen im Trödlerladen vollständig seiner Tochter überlassen. Sie wußte so genau von allem Bescheid, wie er selbst, und er konnte versichert sein, bei der Heimkunft niemals etwas ins Verlustbuch schreiben zu müssen, ward vielmehr manchmal von unverhofft über den Anschlag hinaus Eingegangenem überrascht. Dann sagte er: »Bist ein Kapital; was die Leute heißen Schönheit von einem Frauenzimmer am Gesicht und Leibeswuchs, ist ein Kapital, das jeden Tag einträgt seine Zinsen. Sie zahlen besser, als wenn ihnen präsentiert die Ware eine häßliche Urschel, und glauben, ihre Augen haben den Anblick für umsonst. Hätte deine Mutter gehabt Einsicht, vernünftig anzulegen ihr Kapital, das sie auch hatte mitbekommen, ich würde sein noch heute untröstlich über den Verlust, den ich hätte gelitten durch ihren Tod. Tut man seines Gold nicht in einen alten Beutel von Leder, dran ist Schmutz und Unrat, und nicht Kapital wie deines in einen groben Sack. Laß dir machen dafür ein schönes, ein neues Kleid, es trägt sich gut ein von den Augen, welche die Leute tragen im Kopf.«

Das war eine Ermahnung, die eignem Antrieb Miriams entsprach, so daß sie ihr stets bereitwillig nachkam. Sie kleidete sich immer mit bedachtsamer Wahl, und es lag ihr im Blut, dies in besonderer Weise zu tun, stets farbige Zeuge zu bevorzugen. Doch keineswegs geschmacklos, grob und grell in die Augen fallend, sondern mit wirklichem Instinkt, was ihrem schwarzen Haar und den schwarzen Augen ihrer ganzen fremdländischen Schönheit am vorteilhaftesten stehe. Sie war ihrer Mutter nachgeartet, aber übertraf diese mit einem verfeinerten, geschmeidigeren Reiz; Nathan meinte einmal, sie zuerst in einer neuen Kleidung gewahrend: »Du wärst gewesen eine Blume im Garten von König Salomo, und er würde gesungen haben zum Harfenschlag auch auf dich ein Hohes Lied. Hatte er doch auch eine hohe Freude und vielen Verstand für die Schönheit, daß er tat gern auf seine Schatzlade mit Gold angefüllt, um zu vergelten, daß seine Augen sich recht konnten erlaben an ihr. Aber es hat die Welt nicht mehr einen König Salomo; wenn auch sind geblieben noch seine Augen und sein Verstand, ist doch geworden hochselten seine richtige Einschätzung einer Ware von besonderer Güte durch die Freigebigkeit seiner Hand. Wird nicht einer, der besitzt in seinem Garten eine kostbare Blume und hat Klugheit, sie bieten zu Kauf um geringfügigen Preis, aber er wird auch halten in Bedacht, daß eine Blume nicht immer blüht fort bis in den Winter hinein, sondern daß sie hat eine nicht lange Zeit, wo sie steht für den Sachkundigen am meisten im Wert, Hab' ich eingehandelt gestern um billigen Preis einen alten Gürtel, wie ihn in früherer Zeit haben getragen die Weiber um ihre Leibesmitte am Festtag, und will machen damit kein Geschäft, schenk' ihn dir, Miriam. Wenn du dir Müh' gibst, ihn sauber abzuputzen mit Schlemmkreide und einem Stück weichen Leder, wird es sein, als ob du trügst um deinen Leib sichtbar goldene Staubfäden von einer seltenen Blume drunter.«

Miriam antwortete nichts auf die erstaunliche Freigebigkeit ihres Vaters, doch es glimmerte in ihren dunklen Augen, und sie setzte sich sogleich in eine Ecke, stundenlang an dem alten Gürtel sorgfältig zu putzen. Solcher Mühe hatte sich ihre Mutter nicht unterzogen gehabt, dazu war sie zu bequem, gleichgültig an Erwerbssinn und zu einfältig gewesen. Wenn die Tochter ihr auch äußerlich nachgeschlagen, trug sie doch in sich eine Blutsmitgift von ihrem Vater.

Für Nathan Aronsohn aber war jetzt die beste Jahreszeit wiedergekommen, nicht zu kalt und nicht zu heiß, regenlos sich folgende Wochen. Vom Morgen bis zum Abend, bald nach dieser, bald nach jener Seite suchte er hinkend sein Jagdrevier mit der Weidtasche überm Rücken ab, und oft auch brachte sein Weg ihn durch den Ekenwarter Wald. Dabei gewahrte er, obwohl zu verschiedenen Tageszeiten daher kommend, jedesmal mit seinen scharfsichtigen Augen von weitem den jungen Freiherrn von Alfsleben am Waldrand stehen und durch ein ausgezogenes Taschenfernrohr westwärts nach der See hinüberschauen. Gewöhnlich setzte er dies fort, bis Nathan ihn aus dem Gesicht verlor, zweimal indes schob er das Fernglas zusammen, steckte es zu sich und ging rasch in die Heide hinein. Anfänglich achtete der Jude kaum darauf, er trug nichts im Sack, was sich dem Junker weiter zum Kauf anbieten ließ; aber dann setzte das häufige Antreffen desselben am gleichen Platz vormittags und nachmittags ihn doch in eine Verwunderung, daß er einmal vor sich hinredete: »Nach was kann er sehen aus mit dem Schiebeglas und gehen auf das dürre Land, wo nichts ist Brauchbares, was wächst? Sollt' er suchen nach dem Karfunkelstein aus dem Märchen, von dem er sich hat gewünscht, ich möcht' ihn haben im Sack? Es ist 'mal eingerichtet, daß ein junges Blut hat großen Gefallen dran, und vielleicht wird es sich erweisen hochfreigebig für den Fund. Kann man doch von nichts sagen im voraus, wie es ist und wird sein; warum sollt' er nicht einmal treffen an einen Karfunkelstein auf der Heide?«

Nathan blickte dem heut' über diese Davonschreitenden nach, bis er zwischen Wachholdersträuchern und anderem Buschwerk verschwand. Hurtig ging Meinolf Alfsleben, eine halbe Stunde später plötzlich hinter dem Sitz Zea Hollesens die Stimme aufklingen zu lassen und im Lesen des Wielandschen »Oberon« fortzufahren. Das Rätsel seines stets mit ihr gleichzeitigen Hierherkommens erhellte allerdings sein Fernrohr; doch er mußte in der Tat ohne jede Beschäftigung sein, nicht wissen, wie er seinen Tag verbringen sollte, daß er immer, nach dem fernen Auftauchen des Mädchens aufblickend, sich am Waldrand aufhielt, und eine knabenhafte Schadenfreude mußte noch immer in ihm stecken, die fortgesetzt sich daran belustigte, Zea täglich durch seine Gegenwart ihren Lieblingsplatz zu verleiden. Aber sie zu irgendeiner Kundgebung zu bringen, daß er dies mit Erfolg tue, gelang ihm nicht. Stets regungslos behauptete sie ihren Sitz, zuhörend, weil sie sich das Ohr nicht schließen konnte, doch auch nicht widerwillig, Der »Oberon« war ihr fremd, und wenngleich sie an manchem, besonders an dem Schlachtgetümmel, wenig Anteil nahm, mischten sich doch oftmals auch Verse und Abschnitte ein, die durch Schönheit und melodischen Klang erfreuten. Grade heut' häuften mehrfach sich Stellen solcher Art zusammen:

Was half mir, freigeblieben
Zu sein bis in mein zweites zehntes Jahr?
Auch meine Stunde kam, mein Schicksal war,
Im Traum zum erstenmal zu lieben.

Ja, Scherasmin, nun hab' ich sie gesehn.
Sie, von den Sternen mir zur Siegerin erkoren,
Gesehen hab' ich sie, und ohne Widerstehn
Beim ersten Blick mein Herz an sie verloren.
Du sprichst, es war ein Traum? Nein, Mann, ein Hirngespinst
Kann nicht so tiefe Spuren graben!
Und wenn du tausendmal mich einen Toren nennst,
Sie lebt, ich hatte sie, und muß sie wieder haben.

Denk' dir ein Weib im reinsten Jugendlicht,
Nach einem Urbild von dort oben
Aus Rosenglut und Lilienschnee gewoben;
Gib ihrem Bau das feinste Gleichgewicht,
Ein stilles Lächeln schweb' auf ihrem Angesicht –

Zea drückte unmerklich die Lippen gegeneinander, ihr war's, als sei aus Wort und Ton des letzten Verses das Lächeln hervor auf sie zugekommen, ihr selbst an den Mund zu huschen und leis' um ihn zu spielen. Das vertrug sich nicht mit dem Ernst ihres Schweigens, der täglichen Aufgabe, die sie hierherbrachte, sie mußte der Vergeßlichkeit der Lippen mit Strenge begegnen. Beste Beihilfe dazu lieh das Denken an etwas anderes, das ihr indes auch manchmal, ohne herbeigerufen zu werden, kam. Eine Erinnerung war's, unwillkürlich ein Vergleichen mit sich führend. Wie sie's gewünscht, hatte Tilmar Hellbeck ihr auf der Düne von Herdsand aus »Hermann und Dorothea« vorgelesen, doch nur einmal, sie hatte ihn nicht gebeten, es zu wiederholen. Seine Stimme hörte sie sonst gern, aber sie wußte nicht recht, was es sei, daß sie kein Gefallen daran gefunden. Oder doch, es lag daran, daß er mit dem Rhythmus der Verse nicht zurechtkam, sie falsch und wie Prosa las; dazu gesellten sich häufig unrichtige, den Sinn der Gedanken entstellende oder völlig aufhebende Betonungen. Offenbar gelangte oftmals das Schönste in der Dichtung ihm selbst nicht zum Verständnis, freilich begreiflicherweise, da es ihm dafür wie für manches andere an der Vorbildung gefehlt. Meinolf Alfsleben hatte es leicht, die Verse richtig zu lesen und inhaltlich alles so wiederzugeben, wie's der Dichter gedacht und empfunden. Er war auf einer gelehrten Schule gewesen, wo er natürlich das Verständnis dafür empfangen, und den schönen, biegsamen Klang seiner Stimme hatte er ebenso ohne sein Zutun als Naturmitgift bekommen. Bei solcher Verschiedenheit des Vorausgegangenen ließ sich die Befähigung der beiden zum Vorlesen eines Gedichts natürlich nicht vergleichen; ebenso unbillig wär's gewesen, wie von Tilmar zu erwarten, er solle im Ausdruck und Wesen das Freie, Sichere Meinolf Alfslebens haben. Es war eben durchaus ungerecht auf der Erde zugemessen, daß jemand, der es besser verdient hätte, so benachteiligt wurde und einem anderen ohne alles Verdienst derartige Bevorzugung zuteil ward.

Ein paarmal hinkte Nathan Aronsohn auch auf dem Weg zwischen dem Ekenwarter Wald und Loagger entlang, doch ließ kein Zufall ihn dabei Zea Hollesen begegnen oder sie aus der Entfernung gewahren. Und an dem Findlingsstein führte der schmale Heidepfad zu weit seitwärts vorüber, um die Augen zu jenem hinreichen, geschweige denn das Ohr etwas von der merkwürdigen Vorliebe Meinolf Alfslebens, sich dort täglich den »Oberon« laut vorzulesen, vernehmen zu lassen.

Die lang abgerissenen Fäden der altfreundschaftlichen Beziehungen zwischen Ekenwart und Helgerslund hatten sich neu geknüpft, und fast täglich schlug Dietrich Alfsleben den Weg zum letzteren ein. Es zog ihn dorthin; seitdem er, was ihm nicht erreichbar erschienen, die Liebe seines Sohnes entdeckt und gewonnen, lag die Welt verändert um ihn, und freier hob er die Stirn ins freudige Licht des schönen Frühlings auf. Und seit dem Tage, an dem er den Fuß über das schweigsame Gewässer gesetzt, das unsichtbar zwischen ihm und Gertrud Brookwald geflossen, hatten beide die Scheu, die sie bei der ersten Wiederbegegnung überkommen, von sich abgetan. Die Sonne warf über alles ihre Strahlen so hell und warm, daß auch die Schatten das Gefühl nicht frostig anrührten, vor den Augen ihre dunkle Färbung verbleichen ließen; so verschwand das Gedenken an lang' Vergangenes unter der wohltätigen Wirkung der zu neuem Leben erweckenden Gegenwart, des gemeinsamen Trachtens für die Zukunft. Von diesem ward in Anwesenheit Fritz Brookwalds nicht geredet, doch daß er mit dem Wunsch, eine eheliche Verbindung zwischen Unna und Meinolf herbeizuführen, einverstanden sei, wußte Alfsleben durch Gertrud. Sie hatte ihm, gegen die Ermahnung ihres Mannes zur Behutsamkeit, aus ihrer schon lange im stillen gehegten Hoffnung kein Hehl gemacht, aber wechselseitig jeder beim anderen den gleichen Gedanken empfunden, sie diesen nur zuerst ausgesprochen. Nun bildete er den Hauptgegenstand ihres Gesprächs, wenn sie allein miteinander gingen, täglich manchmal stundenlang, auf Feld- und Waldwegen. Der Austausch ihrer Worte war für das Glück der beiden bedacht, doch zuweilen schritten sie ein Weilchen verstummt, und dann webte es sich zwischen ihnen sonderbar wie von einem wortlosen, nicht für das Ohr hörbaren Klang. Wohl nicht mehr in Jugendblüte stehend, aber ein noch schönes Menschenpaar war's: wer sie sah, mußte denken, sie seien füreinander geschaffen und sich angehörig. Wunderlich kreiste die Empfindung in Gertrud, sie verlor die Furcht, durch etwas zu verraten, daß die Liebe für Dietrich Alfsleben noch ungealtert in ihr fortlebe. Ungesprochen kam's von ihm zu ihr herüber, daß er sich nicht wieder abkehren, das Band zwischen ihnen aufs neue zertrennen würde, wenn unbewacht ein Blick oder Ton ihm den Schlag ihres Herzens kundgäbe. Von Tag zu Tag trug sie sogar deutlicher ein Gefühl in sich, es brauche gar nicht zu geschehen, er wisse, sehe und höre es. Und doch kam er, ward nicht dadurch zurückgescheucht, obwohl sie jetzt die Frau eines anderen war. Warum denn hatte ei damals sich so jäh von ihr gewandt, als sie frei gewesen, so endlose Zeitlang jede Annäherung und Wiederanknüpfung der Jugendfreundschaft abwehrend? Das Rätsel hüllte sich in ein neues, doch unerhellbares Dunkel, aber Gertrud suchte nicht nach der Lösung. Sie war beglückt von der Gegenwart, der zweifellosen Wandlung, daß er ein anderer geworden. Die Natur gab jedem Weibe mit, ohne einen äußeren Anhalt zu empfinden, was einen Mann zu solcher täglichen Wiederkehr bewog; eine Mitgift ihres Geschlechts war es, unabhängig von Stand, Bildung und Lebensalter, jede Geringste besaß sie, wie die Vornehmste. Und sie ließ Gertrud nicht Zweifel, daß es Dietrich Alfsleben innerlich treibe, danach verlange, mit ihr zusammen zu sein, nicht nur wegen des gemeinsamen Planes bezüglich der Kinder, sondern mehr noch um seiner selbst willen. Kaum halb verschleiert sprach er es einmal auf stillem Waldweg: »Ja, ein schöner Gedanke ist's, Gertrud, dahin zu trachten, daß die Kinder ihr Leben in Liebe vereinigen. Wir hatten niemand, der uns geleitet hätte, das Glück zu finden. Auch wir hätten's wohl gekonnt, auch ich; es stand am Wege und wartete auf mich. Aber meine Augen waren geblendet, daß sie es nicht sahen. Zu spät erst, als ich achtlos an ihm vorübergegangen, da lag es fern hinter mir und nicht mehr erreichbar, kein Weg führte zu ihm zurück.«

Schweigend, klopfenden Herzens hörte Gertrud Brookwald das sich kaum verhüllende Geheimnis; Reue und tiefe Wehmut zitterte aus den Worten. Zu spät war's, und Unabänderliches stand zwischen ihnen, an dem sich nicht rütteln ließ; auch der Gedanke tat's nicht, weder hier noch dort. Doch beglückend war das, was noch sein konnte, so zusammenzugehen, unter dem Austausch der Lippen über die Zukunft der Kinder, die stumm hin und wieder bebenden Schwingungen zu fühlen, die nicht dem wachen Leben angehören. Von Gebilden und Wünschen nur einer Traumwelt geregt, glichen sie dem Wellenspiel der Sonnenluft über den aufblühenden Wiesen.

Fritz Brookwalds unvermerkt beobachtenden Augen entging die wachsende neue Vertraulichkeit zwischen seiner Frau und Alfsleben nicht; aber er bekümmerte sich nicht darum, er war nicht eifersüchtig, drängte sich ihnen nie als Begleiter auf. Der Heiratsplan hatte seine volle Zustimmung gefunden, und um den handelte es sich jedenfalls hauptsächlich; was sie sonst auf ihren einsamen Gängen reden mochten, galt ihm durchaus gleich. Vermutlich ging es nicht über sentimentale Worte hinaus, doch wenn auch, er war kein empfindsamer, sondern ein praktischer Mann, der nicht mit Dingen von inhaltslosem Wert rechnete. Dagegen hatte er sich mit dem neuen Förster von Ekenwart auf einen guten, beinah freundschaftlichen Fuß gestellt, suchte ihn fast täglich auf, wenn Dietrich Alfsleben sich mit Gertrud zusammen befand. Dirk Westerholz war ihm schon beim ersten Sehen als ein Mann erschienen, von dem er Nutzen ziehen könne; das sprach er auch in seiner offenen Art unverhohlen aus: »Ich möchte mancherlei von Ihnen profitieren, ein Ratgeber wie Sie hat mir immer auf Helgerslund gefehlt.« So zog er nach vielen Richtungen die Meinung des wirtschaftlich erfahrenen Försters ein, begleitete ihn hierhin und dorthin, unterhielt sich merkbar außerordentlich gern mit ihm. Dabei trug sein Benehmen keinen Zug von Herablassung an sich, einem tüchtigen Mann schien er sich gleichzustellen. Es konnte vielleicht ein wenig den Eindruck erregen, als wünsche er ihn seiner Stellung auf Ekenwart abwendig zu machen, um selbst ihn für sich zu gewinnen, doch ausgesprochen war nie davon die Rede. Ebenso zeigte er sein Taktgefühl, ihm von Westerholz zuteil gewordene gute Ratschläge und kleine Dienstleistungen nicht mit Geld zu belohnen, sondern in aufmerksamer Weise entschädigte er ihn einmal für seine Bemühungen durch das Geschenk einer hübsch gearbeiteten Doppelflinte aus der Helgerslunder Jagdgerätsammlung. Bei der Überreichung sagte er: »Wenn Sie einmal Zeit haben, lieber Freund, täten Sie mir einen Gefallen, den Zwilling am Strande zu probieren und mir einen Blaumantel damit aus der Luft herunterzupaffen. Für meine Treffkünste ist das Geschäft zu schwierig, Sie verstehen sich jedenfalls viel besser drauf; ich möchte mir schon lange gern eine Silbermöwe ausstopfen lassen, um sie über meinem Schreibtisch aufzuhängen. Paßt's Ihnen vielleicht morgen früh, so hole ich Sie mit meinem Wagen ab.«

Dieser Wunsch Brookwalds, dem zu willfahren der Förster natürlich nicht umhin konnte, brachte mit sich, daß der Kirchenpatronatsherr von Loagger einmal an einem Nichtsonntag im Pfarrhause vorsprach. Er äußerte auf dem Rückweg zu seinem Begleiter, daß er nicht gut vorüberfahren könne, ohne wenigstens einen kurzen Besuch bei dem Pastor abzuhalten. So stiegen beide vor der Tür Hollesens ab. Dieser empfing den Gutsherrn in der stets gleichmäßig von ihm beobachteten, förmlich gemessenen Weise; der ihm unbekannte Förster, der noch nie bis ins Dorf herübergekommen, ward ihm vorgestellt, »Nur zu einer Stippvisite, lieber Pastor«, hatte Fritz Brookwald beim Eintreten gesagt, doch er ließ sich nieder, erzählte vom Zweck und gewünschten Erfolg der Ausfahrt, erkundigte sich nach allerhand auf die Kirchenverwaltung bezüglichen Dingen und vergaß darüber augenscheinlich seine Absicht nur flüchtigen Vorkehrens. Westerholz lag noch eine vormittägige Besichtigung ob, so daß er sich erlaubte, einmal durch eine Bemerkung an das Vorrücken der Zeit zu erinnern. Dazu nickte Brookwald: »Ja, wie ein Windhund rennt sie, wir wollen gleich fahren, lieber Freund, sobald als möglich,« und lachend fügte er nach: »Sie scheinen auf Kohlen zu sitzen, das ist ja gerade kein übermäßig angenehmes Polster, aber es gibt auch noch schlimmere Notlagen auf der Welt, von denen Sie in Ihrem ganzen Leben nichts kennen gelernt haben. Das ist, wenn man als Familienvater von Frau und Tochter kommandiert wird und sich zu Haus nicht wieder sehen lassen darf, ohne daß man die Aufträge, die einem eingeknotet worden sind, ausgerichtet hat. Da sitzt« – der Sprecher zog sein Taschentuch heraus – »ein Knoten mit einem eigenmündig zu bestellenden Gruß von meiner Frau an die Ihrige, lieber Pastor, und da einer ebenso von Unna an Ihre Zea. Ist keine von ihnen zu Haus? Wenn Sie mich heute noch wieder los werden wollen, müssen Sie mir beihelfen, daß ich mich ohne Angst vor einer gehörigen Prügelsuppe am Mittag zu Tisch setzen kann.«

Christian Hollesens Miene drückte aus, daß er kein Verständnis mit der Gewissenhaftigkeit des Gutsherrn, die ihm aufgetragenen Grüße selbst zu bestellen, verbinde, doch er schickte die Magd, nachzusehen, ob die beiden Frauen im Hause seien. Das war der Fall, und sie kamen, Mathilde Hollesen zuerst und Zea gleich danach. Das Hereintreten der letzteren mußte den Förster jäh überraschen und aus abwesenden Gedanken auffahren lassen, denn ihm ging plötzlich ein Ruck durch den ganzen Körper und er blickte das Mädchen mit starr aufgeweiteten Augen an. Doch achtete niemand im Zimmer darauf außer Fritz Brookwald, der das Gesicht nach ihm hingewandt gehalten, sich jetzt schnell seiner Aufträge entledigte und danach lachte: »So, lieber Westerholz, nun sollen Sie von Ihren Kohlen loskommen, und ich will den Gäulen ein bißchen Frühstück mit der Peitschenschnur auftischen, damit Sie Ihre verlorene Zeit wieder einbringen. Mir wird's jetzt gottlob zu Haus auch schmecken, ein gutes Gewissen ist der beste Koch.« Er nahm Abschied, schwang sich auf den Jagdwagen und der Förster folgte ihm. Der Pastor sah verwundert und unwillkürlich leicht mit dem Kopf schüttelnd dem eilig fortrollenden Gefährt nach. Er wußte sich keinen Reim darauf zu machen, daß der Helgerslunder Schloßherr in der Tat nichts anderes beabsichtigt habe, als die Grüße seiner Frau und Tochter mit eigenem Munde auszurichten.

Der Wagen geriet auf den sandigen Boden der Heide, Dirk Westerholz saß wortlos, vor sich in die Weite hinausblickend, so daß Brookwald, die Pferde zu langsamerem Schritt zügelnd, fragte: »Ist Ihnen etwas über die Leber gelaufen?«

Der Förster fuhr zusammen, »Mir? Was sollte – nichts.«

»Ich glaube, Sie sind ein in Wolle gefärbter Weiberfeind, Westerholz, und maulen mit mir, daß ich Sie genötigt habe, ein Kompliment vor der Pastorin und ihrer Tochter zu machen. Freilich, krumm haben Sie den Rücken just nicht gebogen. Mir kam's vor, besonders vor der Jungen mißfiel's Ihnen gründlich, Sie machten ihr Augen, als möchten Sie sie am liebsten auffressen. Na, mich geht's nichts an, denn wie eine Vogelscheuche sieht sie doch nicht aus.«

Dirk Westerholz sprach vor sich hin: »Eine unglaubliche Ähnlichkeit –«

Da er nicht fortfuhr, wiederholte der neben ihm Sitzende: »Ähnlichkeit? Mit wem?«

Nun rüttelte der Förster etwas wie einen halb abwesenden Geisteszustand von sich und entgegnete schnell:

»Mit einer anderen, die ich einmal gesehen. Der Zufall überraschte mich, wie sie plötzlich dastand. Ist das Mädchen die Tochter des Pastors?«

»Eine angenommene, oder richtiger angeschwommene.« Fritz Brookwald holte hoch mit der Peitsche aus und ließ sie pfeifend auf die Pferde niederklatschen.

»Wollt ihr Satansgezücht uns hier im Sand stecken lassen? Ich hab' euch guten Hafer versprochen!« Und er hieb wieder auf sie ein, die er eben vorher selbst zu verlangsamtem Gang angehalten, daß sie vorsprangen und trotz dem mahlenden Sandweg hurtig den Wagen fortrissen.

Der bewegte sich nordwärts von Loagger über die Heide, und südlich vom Dorf ging Zea Hollesen auf ihrem täglichen Weg. Sie hatte dies vorgehabt, als sie zu den Gästen in die Stube ihres Vaters gerufen worden, und die Zeit reichte noch hin, daß sie zum Mittag zurückkommen konnte. Ein besonderes Verlangen zog sie heut' nach ihrem Sitz, allerdings ohne sich mehr mit der Hoffnung zu verbinden, daß sie dort allein sein werde. Diese wochenlang ihr von jedem Tag erneuerte Zuversicht hatte sie allgemach und eigentlich vollständig verloren; es lag nicht in ihrer Kraft, Meinolf Alfsleben von dem Platz zu verdrängen, und ebenso wenig, ihren Gang dorthin zu anderer Tageszeit als er anzutreten. Er mußte von irgendeiner geheimnisvollen Macht unterrichtet werden, mit einem Kobold im Bunde stehen, der ihn immer sich zur nämlichen Stunde mit ihr auf den Weg machen ließ. Das war freilich eine Vorstellung, über die verständige Leute mit Recht gelacht hätten, denn es gab keine Kobolde, und Zeas eigene Lippen zeigten sich auch verständig, begleiteten diese Schöpfung der Phantasie mit einem leicht um den Mund spielenden Lächeln. Aber ohne einen Grund konnte das Unerklärbare sich doch nicht täglich so wiederholen, und wenn er von dem vernunftmäßigen Denken sich nicht ausfindig machen ließ, verfiel zuletzt die Einbildung auf allerhand märchenhaftes Gaukelspiel. Auch die der Dichter tat's, der Elfenkönig Oberon war ja gleichfalls nichts anderes.

Zumal jedoch heut' geschah es leicht, die Luft selbst übte eine einbildnerische Wirkung. Mit tausend kleinen zitternden Wellen flimmerte sie über der Heide hin und her, lautlos still und doch auch, wie wenn lauter goldene Fäden leis' tönend aneinander schwängen. Zum erstenmal war es heiß, nicht Frühling mehr, sondern junihaft. Aber darin lag nicht das Besondere, so ward's gegen Ende des Mai in jedem Jahr. Nur konnte das Mädchen sich nicht erinnern, daß alles hier um sie her ihr je so märchenhaft, wie verzaubert, vorgekommen, als sei die Heide eine große lebendige Brust der Erde, die den Atem anhaltend, auf ein mittägiges Elfenwunder warte.

Natürlich befand sich, wie stets, bei der Ankunft Zeas niemand auf dem Platz, sie hätte auch wie immer glauben können, diesen heut' allein zu behalten. Doch sie wußte, unfehlbar werde ungefähr nach einer halben Stunde plötzlich die Stimme hinter ihr aufklingen, so daß sie sich länger ihrer Einsamkeit und Herrschaft nicht erfreuen konnte. Nur mußte sie darauf bedacht sein, ihre gewohnte Haltung schon daraufhin einzunehmen und zu bewahren. Die Luft hatte heut' so sonderbar schmeichelnd Umstrickendes, als lege sie's darauf an, die Sinne und Seele in einen traumartigen Zustand einzuwiegen. Das durfte ihr nicht gelingen, denn dann ward ein sichtbares Zusammenfahren bei dem aufschreckenden Ton der Stimme fast unvermeidlich, und noch nie war Zea so unverbrüchlich entschlossen gewesen, durch keine Regung kundzugeben, daß etwas für ihr Gehör vorhanden sei. Grad' heute um keinen Preis; sie wehrte alles, was von außen und aus ihr selbst gaukelnd an sie heranzukommen suchte, gewaltsam von sich ab, fast wartend, wie die atemlose Heide. Nur nicht auf ein Elfenwunder, sondern auf den schweigsamen Wettkampf mit ihrem Widersacher.

Und da kam's und klang's hinter ihr, so bekannt, als ob sie's schon seit Kindertagen täglich gehört hätte:

»Wenn du's anhören willst, setz' dich dorthin zu mir!«

Das war nicht aus dem »Oberon«, sondern eine Anrede, unverständlich, oder vielmehr doch nur eine einzige Auslegung zulassend, Zea mußte einen unwillkürlichen Lachreiz bekämpfen, daß er denke, sie auf so lächerlich einfache Weise zu einem Abweichen von ihrer unerschütterlichen Haltung zu bringen. Er war eigentlich ein eigensinnig-ungebärdiger, drolliger großer Junge.

Doch während sie dies dachte, ereignete sich noch etwas anderes, Unerwartetes und völlig Neues. Zum erstenmal spielte das sich täglich Wiederholende nicht allein hinter ihrem Rücken, so daß nicht nur ihr Ohr zum Anhören genötigt ward, sondern auch ihre Augen mußten daran teilnehmen. Sie hätte diese allerdings zumachen können, als ob sie schon mit geschlossenen Lidern gesessen habe, aber sie vergaß die Möglichkeit ganz. Denn was ihr vor den Blick geriet, war so rätselhaft, unerwartet und unbegreiflich, daß sie nur starr darauf hinsah. Im ersten Augenblick unterschied sie seitwärtsher kaum mehr, als ein buntes Farbengemenge, wie von einer aus dem Heideboden aufwachsenden großen, fremden Blume.

Doch dann bewegte diese sich auf Füßen weiter vorwärts, jetzt an das Schillern einer grünen Eidechse erinnernd, indes einer etwa fünf Fuß hohen, aufrechtgehenden, die blitzende Sonnenstrahlen um sich geringelt zu haben schien. Und nun ward's deutlich zu einem weiblichen Kleid mit einem goldig flimmernden Gürtel um die Mitte, und drüber war schwarzblaues Haar, ein funkelndes Augenpaar und ein weißer Zahnglanz zwischen halblachenden Lippen. Neben dieser, wie von einem tollen Traum heraufgeborenen Erscheinung aber ging Meinolf Alfsleben, die bisherigen Rollen des täglichen Auftritts auf der kleinen Heideschaubühne vertauschend, denn er benahm sich, als ob seine Augen über den alten Stein durch leere Luft wegsähen und er von dem Vorhandensein einer Zuschauerin gar keine Ahnung habe. Mit der Hand deutend, sagte er:

»So setz' dich da neben den Heidekrautbusch,« und ließ sich, als die Angesprochene dem Geheiß nachkam, an ihrer Seite nieder. Dazu schlug er den »Oberon« auf: »Gib also gut acht, es liest sich sehr hübsch hier« und zugleich legte er den einen Arm um den Nacken und die Schulter der neben ihm Sitzenden.

Das alles war zweifellos in Wirklichkeit so geschehen, nur wußte Zea Hollesen nicht, ob eine halbe Minute oder eine Stunde darüber vergangen. Auch was das Bild da vor ihren Augen bedeute, wußte sie nicht, hatte überhaupt keinen Gedanken, als nur, daß sie hier einmal gesessen und den unerschütterlichen Vorsatz gefaßt habe, ihren Lieblingssitz zu behaupten. Nichts auf der Erde, und wenn die Sonne herunterfiele, könne sie dazu bringen, durch eine Bewegung, einen Laut kundzugeben, daß sie etwas höre oder sehe.

Plötzlich, ohne ihr Wissen, fuhr der Kopf Zeas in die Höhe. Ihr war's, als müsse die Sonne eben im Begriff stehen, vom Himmel herunterzufallen. Das geschah auch, sie fühlte es mehr, als sie's sah, und mit einem jähen Ruck schnellte sie sich auf. So stand sie einen Augenblick, wie betäubt auf den Niedersturz wartend, dann verließ sie, langsam fortgehend, den Platz. Aber nach wenigen Schritten beschleunigte sich ihr Gang, immer rascher, zu atemlosem Laufen, als ob ein mittägiges Heidegespenst hinter ihr dreinjage.

Meinolf Alfsleben sah ihr nach, bis sie von Buschwerk verdeckt ward; er hatte den Arm von der Schulter seiner Platzteilhaberin abgleiten lassen und sagte fröhlich lachenden Tons:

»Es ist heut' doch nichts mit dem Lesen, die Sonne sticht zu heiß hier. Hab' Dank für deine gute Gesellschaft, Miriam; wenn du öfter auf der Heide spazieren gehst, begegnen wir uns wohl einmal wieder. Sonst komme ich gelegentlich in euren Laden, nachzusehen, ob dein Vater den Karfunkelstein gefunden hat, von dem ich früher glaubte, er müsse ihn im Sack tragen. Es soll kein Schaden für euch sein, daß du mich bis hierher begleitet und die Zeit im Geschäft verloren hast. Den Weg nach Haus findest du wohl selbst, komm' gut hin.«

Er stand auf und verschwand. Der junge adlige Herr war's, dem es Spaß gemacht, das von ihm auf der Heide angetroffene Judenmädchen bis an den Platz hier mitzunehmen, und der sich jetzt nicht mehr zu weiterer Unterhaltung mit ihr in der Laune befand. Nathan Aronsohn hatte geglaubt, es sei vielleicht der Karfunkelstein, nach dem der Junker zugreifen werde; doch schien's, Meinolf Alfsleben mache sich von jenem eine andere Vorstellung und habe die ihm passend in den Weg Gekommene nur als ein Stück buntes Glas betrachtet, sich die Dinge dadurch einmal in eine außergewöhnliche Lichtwirkung zu versetzen und es danach Nathan wieder in seinen Sack zurückzutun. Verdutzt glimmerte Miriam ihm mit den dunklen Augensteinen nach. Zwischen ihrer Hierherkunft mit ihm und seinem Weggange hatte so kurze Zeit gelegen, daß ihr nicht klar geworden, was eigentlich vorgegangen sei. Von weitem gesehen, konnte ihr blauschwarz aus dem Heidekraut abstechendes Haar den Blick täuschen, denn es glich in der Farbe genau der vom Volk »Höllennatter« genannten schwarzen Spielart der Kreuzotter. Und auch für das Ohr bot sie in der Nähe eine Ähnlichkeit, da zwischen ihren weißen Zähnen ein leis' zischender Ton hervorkam.


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