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XIII.

Dietrich Alfsleben befand sich nach dem Zusammentreffen mit Gertrud Brookwald auf dem Rückweg gegen Ekenwart. Der Nachmittag hatte etwas gebracht, das seit Wochen näher und näher herangekommen war, um die beiden eines Tags zu erreichen und, eine Entscheidung fordernd, vor ihnen zu stehen. Diese Entscheidung verlangte unabweislich eine Scheidung, entweder der Gemeinsamkeit des täglich von ihnen eingeschlagenen Weges, oder – eine andere, die einen Weitergang auf diesem, auf einem neuen Weg gestattete. Den Gedanken an sie trug Alfsleben in sich, doch stumm; er konnte ihm nicht Sprache verleihen, und nie war zwischen ihnen durch ein Wort daran gerührt worden. Von Gertrud mußte ein Beginn ausgehen, und nun hatte sie plötzlich den Bann des Schweigens gebrochen, ihren festen Willen offenbart, sich von der unwürdigen Fessel ihres Lebens freizumachen.

Auch er wußte, sie hätte den Entschluß nicht gefaßt, wenn er nicht in diesem Frühling wieder in Helgerslund eingekehrt wäre. Von ihr geführt; nicht er hatte es gewollt, sie war es gewesen, die ihn dorthin zurückgebracht.

Ja, sie hatte ihn immer geliebt, von früher Jugendzeit auf, und auf ihn gehofft. Und alles Wertvollste hätte sie besessen, ihm zugebracht, für einen schönen, friedvollen Lebensgang.

Er fühlte, wie dies Bewußtsein damals klar in seiner Brust gewesen sei, wie sein Herz davon freudig beglückt geklopft habe. Aber da war ein namenloser wilder Sturm, ein Orkan in diese Brust hineingefahren, alles niederbrechend, zerschmetternd, überdonnernd – und wie der Orkan seine blinde Wut in ihm ausgetobt, lag er, einem entwurzelten Baum gleich, hingeworfen auf ödem, verwüstetem Feld –

Er? War es ihm selbst denn geschehen oder hatte er nur davon gehört? In so unendlicher Ferne hinter ihm abgesunken lag's – wie in einem anderen Leben gewesen – wie nur in einem bösen Traum.

Ja, Gertrud liebte ihn, und immer im heimlichsten der Brust hatte auch er sie geliebt. Und sie hatte seine Hand gefaßt, ihn in einem neuen Leben aus der Öde auf den schönen, friedvollen Weg zurückzuführen, der einst vor ihm gelegen. Spät war's, mit ihr auf dem Weg zu gehen, doch noch nicht zu spät. Noch Sommerneige war's, der ein warmer Herbst folgen konnte. Und nur ein böser Traum –

Langsam schritt Dietrich Alfsleben durch den Wald, der Schlag des Herzens in ihm stand im Einklang mit seiner Gangbewegung. Es klopfte von einem ruhevollen Glück, einem zweiten, das ihm dieser Frühling gebracht. Einen Sohn hatte er gefunden und jetzt die Liebe, die seit Jugendtagen unverändert am Wegrand auf sein Kommen geharrt.

Von der Seite her klang ein anderer Fußtritt; Dirk Westerholz war's, den Hut lüftend, trat er heran, auf dem Rückweg zum Schloß begriffen. Der Freiherr hätte lieber seinen Gang allein fortgesetzt, und doch auch war ihm in einer undeutlichen Empfindung ein Losgelöstwerden von den in ihm treibenden Gedanken erwünscht; so forderte er den Förster auf, ihn zu begleiten, richtete wirtschaftliche Fragen an den neben ihm Gehenden, der kurz, fast noch wortkarger als sonst, darauf erwiderte.

Sie waren nicht weit mehr von dem Herrenhaus entfernt, als einmal hoch über ihnen aus den Buchenkronen ein heller Vogelruf wie »Milo« oder »Bülow« herabscholl. Alfsleben hatte nicht acht gegeben, doch der besonders klangvolle Ton ließ ihn fragen: »Was war's?« Sein Begleiter antwortete: »Ein Pirol – die Golddrossel.« Verstummend machte er eine Anzahl Schritte weiter, während der Vogel seinen Ruf wiederholte. Dann hielt der Förster den Fuß an und sagte:

»Herr Baron –«

»Ja – was habt Ihr, Dirk?«

»Ich erzählte Ihnen in einer Nacht drüben auf der Heide von einer Golddrossel. In einem Käfig hatte ich sie sicher eingesperrt, und er geriet in Brand mit dem Wald umher. Damals sprach ich Ihnen, mir liege nicht dran, wenn Sie zur Stadt führen, dem Richter anzuzeigen, Ihr Förster heiße Dirk Nordwalt und trage eine Brandschuld auf sich.«

Der Freiherr blickte den Sprecher an. »Ihr wißt, daß ich es nicht getan. Warum – was gibt Euch Anlaß, mir heut' wieder davon zu reden?«

»Der Vogelruf. Wenn die Golddrossel damals verbrannt wäre, müßte ihr Gesang aufgehört haben.«

»Ich verstehe Euch nicht, Dirk.«

»Sie könnte nicht mehr, nicht wieder da sein, wenn ich ein Mörder gewesen wäre. So war ich's nicht, denn gestern sah ich sie –«

Alfsleben fuhr zusammen. »Wen – wen saht Ihr?«

»Nicht dieselbe, ihr Gefieder müßte anders geworden sein. Doch eine von der gleichen Art, ihr so gleichend, daß sie von der nämlichen Brut herstammen muß. So kann die erste nicht in Flammen und Rauch umgekommen sein, und Sie sind der Pflicht enthoben, Herr Baron, zum Gericht zu fahren.«

Der Freiherr hatte die Augen von dem Gesicht des Försters abweichen lassen, fiel jetzt hastig ein: »Ich wußte, es, daß Ihr sie nicht – man kann so träumen – Ihr hattet einen bösen Traum – darum behielt ich Euch bei mir, und was Ihr gesagt, losch mir im, Ohr aus. Ihr habt gestern wieder geträumt, mit wachem Blick ein Gaukelbild gesehen, ein andermal sprecht mir davon. Ich habe Eile, im Hause etwas herzurichten, will hier den nächsten Weg – was wollt Ihr noch sagen?«

Westerholz stand ungewiß zaudernd. »Draußen auf der Heide war's, dort sah ich sie beide miteinander. Ich saß auch einmal so mit Swenna Zurhaiden, ehe der hohe Herr mich nach Schweden hinüberschickte. Das ließ mir die Golddrossel ins Haus fliegen, für das sie zu vornehmer Herkunft war. Sie trug noch mehr in sich, als was man altes Blut heißt, aber ich weiß nicht, Herr Baron, ob Sie Gefallen dran –«

Dietrich Alfsleben machte beinahe heftig eine abwehrende und abschneidende Handbewegung.

»Morgen, Dirk – ich sagte Euch, daß ich nicht Zeit habe, und Ihr scheint nicht zu wissen, was Ihr sprechen wollt. Euer Weg geht dort – ein andermal!«

Dietrich Alfsleben bog rasch in einen Fußpfad ein, merkbar aus nicht verhehlter Abneigung, den Äußerungen des Försters weiter zuzuhören. Sie waren ihm unverständlich gewesen, doch etwas aus ihnen hervorgekommen, wie ein sich in die helle, warme Sonne nach ihm aufreckender Schatten, ein frostig anrührendes Gefühl, das er mit einem Kopfruck von sich abzuwerfen suchte. So schritt er eilig fort, an dem Hügel mit den alten Eichen vorüber. War's, wie man sagte, ein Gruftmal und lag ein Toter aus ferner Vorzeit unter ihren Wurzeln? Die Märe sprach's, doch kein Auge hatte es gesehen, niemand wußte davon. Vielleicht war es nur ein Wahn, nichts drunten in der Erde, ein Wahn, einmal von einem Traum erzeugt. Was ging ein Traum den Wachenden, was ein Toter der Vorzeit die Lebenden an! Dietrich Alfsleben trat auf den freien Platz vorm Schloß hinaus, blau lag der Himmel über ihm, er hatte den kalten Schatten hinter sich zurückgelassen.

Nun begab er sich ins Haus, ordnete an, daß im oberen Stockwerk die beiden größten, ineinandergehenden Zimmer sogleich zur Aufnahme eines Gastes in Stand gesetzt werden sollten. Eine Zeitlang wohnte er der Ausführung seines Gebots bei, legte selbst da und dort Hand an, Einrichtungsstücke anders zu stellen, die Räume dadurch anheimelnder zu gestalten. Dann ging er in den Park zurück; Blütezeit der Rosen war's, und er schnitt von einem Beet eine Fülle weißer und roter, hastig, ohne der Dornen zu achten, die ihm die Hände ritzten; eine Woge süßen Duftes umgab ihn. Der berechnende Verstand sagte ihm zwar, die Eile sei unnötig; Gertruds Willenserklärung ihrem Manne gegenüber, ob mündlich oder schriftlich, erforderte Zeit, auch sie hatte einen Rückweg zu machen gehabt, im günstigsten Fall mußte noch eine Stunde vergehen, eh' sie eintreffen konnte.

Kam sie denn gewiß? Sein Herz klopfte wie das eines Jünglings, der zum erstenmal das Kommen eines geliebten Mädchens erwartete.

Eine schreckhafte Vorstellung tauchte in ihm auf. Er hätte nicht von ihr gehen, in ihrer Nähe im Helgerslunder Park bleiben sollen. Wenn ihr Mann sie nicht fortließ, gewaltsam hinderte?

Doch das gleiche hatte sie sich selbst gesagt, zweifellos nicht mit ihm geredet, sondern geschrieben. Denn ihre Entscheidung war getroffen und sie wollte und mußte kommen; nicht mit Worten nur, unverbrüchlich hatten ihre Lippen es schweigend gesprochen, als sie den Kuß erwiderte.

Nein, er war kein bedachtloser Jüngling gewesen, ein Mann, der Herrschaft über sich bewahrt. Nicht von Helgerslund entführen hatte er sie wollen, nicht, nachdem sie ihre Fessel gesprengt, allein mit ihr auf dem Weg durch den Wald gehen. Als Schutzsuchende kam sie in das Haus eines Jugendfreundes; auch hier wollte er nie mit ihr allein sein, ihr Zimmer nie betreten, bis die Scheidung gesetzlich vollzogen worden. Kein Anhauch eines Makels sollte sie berühren, sie war ihm das junge, aufblühende Mädchen aus unendlich fernen Frühlingstagen, eine erste Liebe.

Fragend sah er auf die Rosen. Sollte er die roten zu den weißen tun, nicht diese allein ihr zum Empfangsgruß auf den Tisch stellen?

Sein ergrautes Haar war in diesem Augenblick doch das eines Jünglings, fast noch eines Knaben. Eine einzige der roten Blüten wählte er aus, die allein wollte er geheim, nur leise vorschimmernd unter den weißen verbergen.

Nun wandte er sich zum Haus zurück. Es begann doch schon abendlich zu werden, die Sonne war hinter hohe Buchenkronen getreten und das Schloß lag im Schatten. Im Saal des Erdgeschosses nahm er eine Vase, den Strauß sorglich hineinzuordnen; wie er damit beschäftigt stand, sprach's fröhlichen Klanges hinter ihm: »Bist du zum Rosenfreund geworden, Vater? Wie schön sie sind, die roten besonders!«

Der Angeredete blickte um. »Du, Meinolf? Liebst du sie nicht? Für deine Jugend blühen sie doch auch – ich habe mehr, als ich brauche. Gefallen die roten dir – da, nimm sie und gib sie Unna Brookwald –«

Er stockte beim letzten Wort, bedachtlos war's ihm entflogen. Das hatte dieser Nachmittag ja zunichte gemacht, den früheren Wunsch und Plan, er konnte nicht mehr weiterbestehen. Aber das eigene neue Leben, der eigene Herzensdrang war über dem, was kaum erst einen Keim angesetzt haben mochte, und Dietrich Alfsleben fügte in Hast hinterdrein: »Nein – für dich –«

Lachend fiel Meinolf ein: »Ich behalte sie auch lieber für mich, es wäre schad' um sie, denn sie würden wohl verwelkt sein, bis ich wieder nach Helgerslund komme. Was geht droben in den Zimmern vor, Vater? Ich sah's, wie ich heim kam; erwartest du Besuch?«

»Ja, Meinolf, ein Gast hat sich bei mir angemeldet.«

»Und für ihn sind die Rosen auch?«

Verwundert klang's und noch mehr Staunen erregend die unverständlich seltsame Antwort:

»Ja – denn die Jugend, das Glück, das Leben kommt zum Besuch. Nein, nicht als Gast – um immer hier zu bleiben, Meinolf.«

Der junge Mann wollte mit einer Frage antworten, doch das Geräusch eines schnellen Fußtrittes auf dem Schloßflur ließ ihn den Kopf nach der offenstehenden Saaltür umdrehen. Und im nächsten Augenblick sagte er mit einem Ton der Überraschung: »Ich glaube, Frau von Brookwald –« doch unmittelbar darauf rief er aus: »Was ist Ihnen –?«

Auch Dietrich Alfslebens Kopf fuhr herum, und ein Jubelruf flog ihm vom Mund: »Gertrud! Du bist's schon!«

Sie war's, sichtlich von überschnellem Gang oder Lauf erschöpft, noch vergeblich nach Atem ringend. So stand sie auf der Schwelle, mit der einen Hand sich am Türpfosten stützend, doch nicht dem Leben gleichend, das der Schloßherr zu Gast erwartete, sondern mit einem Angesicht weiß wie der Tod. Ihre andere Hand hielt ein von rüttelndem Zittern des Arms hin und her schwankendes Papierblatt, und nun rang sie ein Wort von den Lippen, aus der Brust herauf, einen Schrei:

»Judas!«

Der, dem sie den Ruf entgegenwarf, fuhr zurück und starrte sie sinnbetäubt an. Da hatte sie den Atem erlangt, mehr als das eine Wort hervorzustoßen, doch wiederholte sie es nochmals:

»Mit einem Judaskuß betrogst du mich – du hast ihn getötet – gemordet!«

Man sah, sie sprach und handelte ohne Besinnung. Ihre Hand schleuderte das Blatt vor seine Füße hin, sie schrie noch einmal auf: »Ein Mörder!« Dann stand die Türöffnung leer und wie eine gespenstische Traumerscheinung weniger Augenblicke war Gertrud Brookwald vor dem Gesicht Meinolfs verschwunden. Ein Stoß gegen den Tisch hatte die Vase herabgestürzt, zwischen deren Scherben die weißen Rosen über den Boden geflogen; auf einen Sessel niedergetaumelt lag Dietrich Alfsleben, seinen abgewandten Kopf in das Polster vergrabend. Die Hand des Sohnes griff ihm nach der Schulter: »Vater – was war – was ist dir –,?«

Eine Weile vergeblich, er regte sich nicht, doch dann hub er langsam den Kopf und drehte ihn der Tür zu. Nun rang ein schwerer Atemzug aus ihm auf, wie er nichts mehr in jener gewahrte und er murmelte: »Der böse Traum.« Aber seine Augen senkten sich zum Boden herab, gingen über die Rosen hin nach dem Blatt, auf dem sie starrblickend haften blieben. Ein leerer, bewußtloser Ausdruck lag in ihnen, sein Mund öffnete und schloß sich wieder, eh' er flüsternden Tones hervorbrachte:

»Was ist das?«

»Willst du's?« Meinolfs Kopf war unfähig, sich irgendein Verständnis zu gestalten; er trat vor, hob das Blatt auf und reichte es seinem Vater dar. Der streckte die Hand danach, doch fast zugleich mit der Bewegung stieß er einen Angstschrei aus: »Nein – es ist rot – wovon? Weg – weg!« Und wie von einem Stoß aus dem Boden herauf in die Höh' geschnellt, warf er, emporspringend, Meinolf von sich zurück und war, bevor dieser seine Sinne gesammelt, aus dem Saal verschwunden.


Hinter den Buchen, über die Heide ging die Sonne zur See hinunter, doch es ward nicht dunkel, nur die Art des Lichtes verwandelte sich. Harrend stand schon seit geraumer Zeit der beinah völlig gerundete Mond im Osten aufgestiegen, und gleichmäßig wie die Abendrothelle langsam hinlosch, nahm sein Glanz zu. Dann war er der allein Herrschende, doch nicht nur in der Luft und durch seine Strahlenkraft. Auch drunten auf der Erde übte er seine alte, geheime Macht. Zwar nicht an ihrer festen Rinde, aber an der immer hierhin und dorthin spielend-beweglichen. Die Flut trat ein, und obwohl kein Wind sie trieb, rauschte sie doch mit stärkerer Wucht als sonst auf den Strand, ließ den weißschäumenden Brandungsgürtel draußen höher aufschwellen, das Brausen seines Übersturzes deutlicher und weiter vernehmen. Die silberglänzende Himmelsscheibe hob sich die Nordsee entgegen, denn sie schritt zum Vollmond vor, dem mit unsichtbarer Kraft den Wellen Gebietenden.

Bis nach Ekenwart drang das Rauschen nicht, dort lag alles in tiefer Stille der Sommernacht. Den Angehörigen des Gutes und den Schloßbewohnern brachte sie nach heißem Arbeitstag erwünschte Ruhe, doch nicht allen; Meinolf Alfsleben schlief nicht. Er hatte die Schrift auf dem Blatt, das die Hand seines Vaters nicht berühren gewollt, gelesen; Manches darin war ihm unverständlich geblieben, aber eines, im Zusammenhalt mit dem plötzlichen Erscheinen der Frau von Brookwald, ihren besinnungslos ausgestoßenen Worten, ihm allmählich klar und zweifellos geworden. Mit einem jähen Schreck faßte diese Erkenntnis ihn an; sie warf ihm ein aufhellendes Licht zurück über Dunkles, Unbegriffenes seiner Jugendzeit im Vaterhause bis zu diesem Frühling hin. Stundenlang ging er in seinem Zimmer auf und ab, suchte sich das wie durch einen Nebel aus dem Brief Anblickende zu deutlicher Vorstellung zu entwirren und zu gestalten. Und mehr und mehr nach dem ersten Schaudergefühl überwältigte ihn ein tiefes Mitleid mit dem unglücklichen Manne, der fast zwanzig Jahre lang, verschlossen in der Brust, Entsetzliches in sich getragen. Entsetzliches, von blinder Leidenschaft und verstörten Sinnen Erzeugtes, doch nicht Ehrloses. Und dieser unglückliche, jählings heut' von einem Rätsel, diesem Blatt, hilflos, gebrochen zu Boden geworfene Mann war sein Vater, der ihn immer heimlich geliebt hatte, doch von dem Bewußtsein jener Tat scheu zurückgeschreckt worden, seine Liebe zu offenbaren. Nein, nicht Abscheuerweckendes war's – nur ein Verhängnis, ein furchtbares tragisches Geschick.

Meinolf empfand alles mehr, als daß er es fest in Gedanken zusammenzufassen vermochte. Aber diese Empfindung drängte ihn unwiderstehlich zum Zimmer seines Vaters hinüber. Er klopfte; es kam keine Antwort; seine Hand suchte die Tür zu öffnen, doch sie war verriegelt. Nun klopfte er wieder und rief mit bittender Stimme: »Vater, laß mich zu dir!« Wiederum umsonst, aber dann klang's einmal von drinnen: »Geh' und schlafe – morgen.«

Er kannte seinen Vater, daß weiteres Bitten aussichtslos sei, und er begab sich in seine Stube zurück. Fast taghell lag das Mondlicht drin, Glanz rann und rieselte draußen von allem Gezweig. Eine Nacht war's, wie die erste nach seiner Ankunft auf Ekenwart, nur aus dem Frühling Sommer geworden; wie damals legte er sich ins offene Fenster. Ab und zu schlug die Schloßuhr; dann hob sich einmal ein anderer Klang durch die Stille, ein heller, köstlicher, jubelnder. Die Nachtigall sang noch; ihre Zeit war eigentlich vorüber, aber die zauberische Nacht trieb sie noch zum Singen.

Über Meinolfs Sinne und Seele floß aus ihren Tönen etwas wundersam Beschwichtigendes. Er fühlte noch das gleiche, tiefe, schmerzliche Mitleid mit seinem Vater, doch dem Herzschlag in ihm, seinem eigenen Leben war nichts Unwiederbringliches verlorengegangen. Eigensüchtig war's, aber es klopfte plötzlich jubelnd in ihm, wie der Schlag der Nachtigall. Vor ihm verwandelte sich der Park und der weiße Mondglanz, sie schwanden fort, und statt ihrer lag vor seinen Augen Goldsonnenlicht über der blühenden Heide.

War es nur eigensüchtig? Nein, auch das nicht, freudig antwortete es sein Herz jetzt. Sein Mitleid war nicht ohnmächtig, eine Fee hatte es mit einer Wunderkraft begabt, einem Heilmittel auch für das wunde Gemüt des Unglücklichen. Morgen – das von diesem gesprochene Wort gewann Meinolf eine andere Deutung – ja, morgen ging er hinaus, seinem Vater von der Heide jene Fee selbst ins Haus zu bringen, den Frühling, die Jugend, ein neues Leben.

Ein Tun ließ ihn halb unbewußt den Kopf umwenden. War noch eine Tür im Schloß gegangen? Er horchte kurz, doch mußte er sich getäuscht haben, alles war lautlos, und er lehnte sich ins offene Fenster zurück.

Aber dann klang drunten im Park ein leises Knirschen, wie von einem behutsam sich auf dem Kiessand fortbewegenden Fußtritt. Das Mondlicht lag hell, doch zugleich auch silberne Schleier webend über dem Schloßplatz; unwillkürlich strengte Meinolf seine Sehkraft an, und einen Augenblick bedünkte es ihn, als unterscheide er dort, von woher der knirschende Ton aufscholl, eine schattenhafte Gestalt. Dann zerging sie, wenn ihn nicht überhaupt nur etwas getäuscht. Aber danach war's ihm wieder, als sei sie doch und von der Größe und dem Umriß seines Vaters gewesen. Das Ungewisse brachte seine in der letzten Stunde ruhiger gewordenen Nerven wieder in Erregung – wenn es sein Vater war, wohin und was wollte er in der Mitternacht? Er mußte sich Gewißheit verschaffen, schnell handelnd ging er in den Park hinunter, der Richtung nach, in der er sich die Schattengestalt fortbewegen zu sehen geglaubt. Und da tauchte sie wieder vor ihm auf, jetzt zweifellose Wirklichkeit und nun unverkennbar die seines Vaters, der etwas in der Hand trug, woraus der Mond wie aus einem Spiegel ein Strahlengefunkel zurückwarf. Meinolf sann vergeblich, was es sei, doch dann erkannte er's bei einer Drehung, die Fläche eines Spatens war's; geräuschlos den Fuß aufsetzend, folgte er mit unnötiger Vorsicht nach, denn das Ohr Dietrich Alfslebens gab auf nichts acht. Offenbar hatte er ein Ziel im Sinne, dem er zuschritt, dem Hünengrab mit den alten Eichen; hier hielt er an, stieß den Spaten in den Boden und begann, Erde aufwerfend, ein Loch zu graben. Dann zog er etwas unter seinem Rock hervor, das er in die Höhlung hineinsenkte; Meinolf war dicht hinter ihn hinangetreten, legte ihm jetzt sanft die Hand auf die Schulter und sagte liebevollen Tones: »Lieber Vater, was tust du?«

Der Angesprochene drehte den Kopf um, doch nicht überrascht, noch erschreckt. Heimlich raunend erwiderte er: »Du bist mein Sohn, ich kenne dich. Willst du mir helfen? Das ist gut – aber wir müssen still sein, das Loch ist noch nicht groß genug, es muß tiefer hinein.«

Er bückte sich, hob den Gegenstand wieder aus der Erde und sagte: »Halte sie so lang', bis ich tiefer gegraben.« Etwas Kaltes, Metallenes berührte Meinolfs Hand, ein Schauer überlief ihn, eine Pistole war's, und das Licht ließ erkennen, die alte Pistole, die Nathan Aronsohn aus dem Strandsand herausgeklaubt und die er jenem abgekauft, um sie seinem Vater für die Waffensammlung zu bringen. Und zugleich durchfuhr's ihn mit einer Erinnerung an den Abend, die Nacht, wie er noch einmal in den Saal herabgekommen und die Pistole dort nicht mehr auf dem Tisch gelegen, obwohl sein Vater sie geringschätzig zurückgeschoben und beim Hinaufgang ins Schlafzimmer nicht mit sich genommen hatte. Dietrich Alfsleben aber ließ das Grabscheit, mit dem er einige Stiche gemacht, wieder rasten, und sprach vorsichtig gedämpft:

»Anhänglichkeit war's von ihr, ich stieß sie weg, aber sie ist aus dem Wasser zu mir zurückgekommen. Darum will ich ihr ein gutes Bett richten, nur muß sie drin schlafen, fest schlafen. Sie war allein dabei und weiß es, sonst niemand, gar niemand – und wenn sie schläft und schweigt, da kann ich der anderen sagen – der mit dem weißen Gesicht: ›Nichts weißt du, gar nichts. Du lügst! Grab' den ganzen Hügel um, ob etwas drin ist – ein Toter, ein Schädel, Knochen – nichts ist drin, nichts – nur ein Wahn, eine Mär sagt davon. Die hat einmal jemand geträumt, aber das geht uns nicht an, sie und mich nicht.‹ Wir legen die Rosen drauf, erst die weißen und dann die roten, und decken's damit zu – ganz dicht –«

Die Worte und ihr Ton faßten Meinolf mit einem unheimlichen Gefühl an, er ergriff eine Hand des Sprechers und bat: »Komm, lieber Vater – du gehst und sprichst im Traum – ruh' dich aus.« Eine Bank stand unweit, zu der zog er ihn mit sich, darauf nieder und saß, seine Hand festhaltend, neben ihm; so sagte er nach kurzem Schweigen!

»Ich weiß, was dich quält – du hast Meinolf Rhade im Zweikampf erschossen – deinen liebsten Freund – mit der Waffe da, die ich dir ahnungslos wiederbringen mußte. Ein Verhängnis war's, das über Euch gekommen, das sein Leben nahm – so hätte es auch deines nehmen können, und er trüge heut' deine Last.«

»Er? Glaubst du's? Ich wollte, er tät's. Mir fehlte – ich hatte keinen Sekundanten. Willst du mein Sekundant sein?«

Irre Rede war's; der Hörer sann und suchte nach dem richtigen beschwichtigenden und erlösenden Wort. Das gradeste deuchte ihm das beste, und er versetzte, die Hand in der seinigen mit festem Druck umschließend:

»Ja, sein Tod liegt auf dir, du hast ihn getötet. Aber seiner Schwester Gram häufte Unrecht auf dich, ich, dein Sohn, nehme es von dir. Nicht gemordet hast du ihn – besinne dich – du bist kein Mörder, Vater.«

Dietrich Alfsleben duckte sich zusammen. »Sagst du's? Du mußt es wissen – du bist mein Sohn und mein Sekundant. Komm –«

Sein Arm machte eine Bewegung, als ziehe er Meinolf mit sich. »Da ist das Boot – das andere ist schon voraus, draußen, weit draußen. Nun kommen wir nach – du weißt, wie die Abrede ist. Nebeneinander segeln wir, dann trennen wir uns und kommen zurück, und dann –«

Da dreht er aus dem Wind und hält und spricht. Was sagt er? Unsere Freundschaft von Kindheit auf – ich soll auf ihn zielen, er wird's nicht tun – seine Hand traf mich, nicht sein Herz. Weh tut's ihm, daß ich leide – nicht er hat's gewollt, ihr die Wahl freigegeben – und Eduv hat gewählt –

Der Name – er ist über seinen blauen Augen, die mich ansehen. Meine Hand schleudert ihm zu: »Fort!« Aber er bleibt, sein Mund spricht noch einmal. Sie kann seit gestern nicht nochmals wählen, ist nicht mehr seine Braut. Sie gehört ihm, ist sein Weib –

Wird die See schwarz? Was noch länger! Hier! Jetzt! Du bist ein Räuber – wehr' dich! Der Lauf fährt in meiner Hand auf, gegen ihn. Erbarmen! Reißt mir den Arm herunter! Wenn er nicht lebt, ist sie nicht sein Weib –

Er sieht's in meinen Augen und greift auch nach seiner Waffe – da –

Seine Hand losreißend, von der Bank aufspringend, stieß Meinolf einen Schrei aus:

»Vater –!«

Dietrich Alfsleben hob langsam einen irren Blick zu ihm empor, fuhr mit flüsternder Stimme fort:

»Du mußt es wissen – du bist mein Sekundant, Konnte er sich schon wehren, mein Leben für seines nehmen? Er wollte es jetzt, um ihretwillen, um seines Weibes willen. Oder krachte mein Schuß um einen Augenblick früher, eh' er's konnte? War er noch nicht bereit – und ich – um – einen – Augenblick – ?«

Geisterhaften Ausdrucks sah der Sprecher in das Gesicht Meinolfs, der sich jählings vor ihm auf die Knie warf, seine beiden Hände ergriff, sie rüttelte und stammelte:

»Vater – wach' auf! Du träumst, du bist – nimm zurück, was du gesagt! Besinne dich – es war nicht so –«

»Still! Sie hat's gesehen und getan, darum kam sie aus der See wieder zu mir. Nur um einen Augenblick zu früh – was ist ein Augenblick? Sie muß in die Erde, dann weiß es niemand; war's ein ehrlicher Kampf? Er wollte mein Leben, und ich war schneller und nahm seines. Nur der Augenblick – hilf mir, sie einscharren, und ich bin kein Judas und kein Mörder –«

Noch die letzten Worte des Irrsinnigen klangen ins Leere, denn Meinolf war in die Höh' gesprungen und davon gestürzt. Auch ihn hatte die klare Besinnung verlassen, nur ein dumpf wogendes Gefühl kreiste in ihm. Ziellos lief er gradaus vorwärts durch die Mondnacht; hinter ihm drein kam etwas, dem er entfliehen mußte. Ein Schatten, unhörbar und doch mit einer Stimme, denn aus dem irrklopfenden Herzen Meinolfs hervor rief sie: »Haltet ihn – den Sohn des Mörders!«

Spät war's, und außer ihm gab's wohl in weitem Umkreis nur noch wenige, über die der Schlaf nicht Herr geworden, zumeist nach ältestem Erdenbrauch von Last und Leid Beschwerte, denn zu aller Zeit waren Glück und Freude auch hold geschäftig, Lider mit süßer Ermüdung zu schließen, doch der Gram hielt in bitterer Starre die Wimpern auseinander. Er tat's auf Helgerslund, wo Gertrud Brookwald noch mit glanzlosen Augen ins Leere blickend saß. Nicht jugendlich mehr, um viele Jahre schien sie in Stunden gealtert, eine lebensmüde, und doch schlaflose Frau, über ihr hatte Pandora den Sack Nathan Aronsohns geöffnet, und unter dem, was sie ausgeschüttet, lag zerschmettert der noch einmal glückvoll aufgewachte Herzschlag der Jugend, die Liebe, die Hoffnung eines neuen Lebens. Ein Trug nur waren sie gewesen, zergangen wie ein Traum, und vor dem starren Blick Gertrud Brookwalds war nichts geblieben, als die Erkenntnis, warum Dietrich Alfsleben fast zwanzig Jahre lang nicht mehr nach Helgerslund gekommen. Gleich einem Toten – nun war er's. Heute war er es für sie geworden.

Drüben auf der kleinen Insel Herdsand war eine andere Gabe herabgekommen, und nicht Pandora, Flora schien sie aus ihrem Blütenfüllhorn niedergeschüttet zu haben. Von Tilmar Hellbeck ins Pfarrhaus zu Loagger gebracht, hatte sie dort ungewöhnlich lang bis tief in die Nacht alle Augen geöffnet erhalten. Noch nicht mit Leid, mit einem märchengleichen Wunder, das nach sprachlosem Staunen, vielstündigem Reden und vergeblichem Sinnen über die Lösung des Rätsels süßbetäubenden Mohn auf die Lider Zea Hollesens – Zeas von Rhade – gelegt. Sie schlief; nur der Pastor und seine Frau wachten noch. Unerklärbares enthielten die Schriftstücke der aus dem Sand heraufgekommenen Flasche, doch Unanzweifelhaftes; Christian Hollesen konnte es noch nicht entwirren und deuten, aber als letztes vor dem Schlafengehen sagte er zu seiner Frau: »Das hat Fritz Brookwald gewußt.«

Dann wachte nur ein einziger mehr in Loagger. Im kleinen Schulhause in der Kammer neben der Schulstube saß noch bei einer Talgkerze der junge Lehrer Hellbeck. Sein Fenster stand offen, und er hörte auf die Wellen hinaus, die von der Mondflut an den Strand rauschten. Was sagten sie?

»Morgen – morgen!«

Der Himmel hatte das leuchtende Wunder in seine Hand gelegt, und manchmal kam es wie ein Aufglanz in seine Augen. Aber was die Wellen weiter sprachen, verstand er nicht.

Nun streckte er die Hand nach dem Sims aus, nahm ein Buch herab, über das er sich bückte. Glück schloß ihm nicht die Augen, und nicht Leid hielt sie ihm geöffnet, aber doch konnte er nicht schlafen. Und er las nochmals wieder den Bericht Jasper Simmerlunds von dem Kinde, das Henning Wittkop einst aus dem Untergang der »Thetis« und der »Providentia« rettend aus seinen Armen an den Dorfstrand hierher in diese Stube getragen.


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