Wilhelm Jensen
Dietwald Wernerkin
Wilhelm Jensen

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Erstes Kapitel

Es ist ein bedenkliches Unterfangen, ein Bild aus der Mitte des 14. Jahrhunderts vor Augen stellen zu wollen. Alles in der Zeit Vorhandene ruht auf einer Vergangenheit, aus der es geworden, und doch erscheint alles noch wie in einem ersten Anfang. Kaleidoskopisch verändert jeder Moment das an Farben und Formen tausendfältige Gemenge. Zwischen andauernden Grundlagen des Alten wächst das Überlieferte nach allen Richtungen neugestaltig aus, eine ungeheure Kraft des Werdens treibt in den Wurzeln alles Lebens. Gleichartige Abkömmlinge ihrer Väter liegen in der Wiege, aber wie ihre gemeinsame Amme, die wilde Zeit sie mit einer geheimnisvoll nährenden Milch großgesäugt, gestalten sich aus ihnen neue Menschen mit neuem Willen und neuen Gedanken. Das Herkommen zwängt sie in die alte Geistestracht hinein, doch die Nähte derselben werden ihrem kraftstrotzenden Wachstum zu eng und die wuchtigen Glieder zersprengen ihr fesselndes Gewand. Überall tritt dem Blick das Recht nur als ein Spielzeug der Macht entgegen, und das Gefühl der erwachenden Stärke treibt jeden zur Selbstwahrung seiner Lebensberechtigung an. Dieser Drang aber erweitert zugleich sein Verständnis; der einzelne erkennt sich als ohnmächtig und sucht Förderung seines Trachtens im festen Anschluß an Gleichgesinnte und Gleichgestellte. So vereinigen sich, besonders in den Städten, die getrennt Schwachen zu starker, verhafteter Gemeinschaft; die Stadt selbst, von Mauern umschirmt, stellt wiederum eine erhöhte Einheit verbündeter Genossenschaften dar. Ihre sämtlichen Bewohner werden von denselben Feinden bedroht, teilen die nämlichen Anforderungen, Bedürfnisse und Bestrebungen des Lebens. Die Befriedigung derselben wird bei der steigenden Volkszahl schwieriger und innerhalb der engen Stadtgrenzen zur Unmöglichkeit; der Handelsaustausch mit anderen Gemeinwesen, auf den schon früh die Vorväter ihr Augenmerk gerichtet, gewinnt immer mehr an Wichtigkeit, wächst zur innersten Triebkraft des in sich abgeschlossenen Organismus, zur obersten Bedingung des städtischen Emporblühens an. Weiter hinaus dehnt sich der Blick nach fremden Ländern und Küsten, deren Erzeugnisse im Umsatz reichen Gewinn verheißen; die Wege zu Lande, wo sich überhaupt solche bieten, sind langwierig, mühsam und gefahrvoll, so beschränkt sich der Handel fast ausschließlich auf die Wasserstraßen. Dadurch erlangen die an der See oder an schiffbaren Flüssen belegenen Städte einen außerordentlichen Vorsprung rascher und stolzer Entwicklung; zugleich aber auch beruht ihr höchstes Lebensinteresse auf möglichster Sicherung ihrer Meereswege. Nicht mindere Gefahren drohen auf diesen, als zu Lande. Den Untiefen und Wirbelströmungen gesellt sich die Natur mit Stürmen und Unwettern hinzu, denen die Fahrzeuge der Zeit schwer zu trotzen vermögen. Noch hält der Schiffer, wo er kann, stets folglich seinen Lauf an der Küste entlang, traut sich nur bei wolkenlosem Sommerhimmel für wenige Tage auf die offene See. Schlimmeres jedoch als von Wind und Wellen droht ihm von menschlicher Raubgier. Wie an den Landstraßen überall auf steilem Fels das Habichtsnest eines Ritters, hinter dem Busch der Strauchklepper lauert, um auf den vorüberziehenden Kaufmann herabzustoßen, so dräut jede Meerbucht und Klippe als Hinterhalt der wohlbemannten Piratenschnigge eines Seeräubers, der die Warenladung des Handelsfahrzeuges als gute Beute an sich rafft, das Schiff selbst aber mit der Bemannung in den Grund bohrt, damit keine Zungen und Zeugen von dem Überfall Kunde heimbringen. Seit einem halben Jahrtausend schon haben, ganz besonders in der Ostsee, wechselnde Küstenvölker dies einträgliche Gewerbe geübt, die Kauken in ausgehöhlten Baumstämmen, die Sachsen, die Dänen und Normannen mit phantastischen Tierfratzen am Bug ihrer schnellsegelnden ›Holke‹; als Waräger, Wikinger und Seekönige haben sie die Meere des Nordens beherrscht und auf gewaltigen Freibeuterzügen Schrecken bis an die morgenländischen Küsten des Mittelmeeres getragen. Diese Periode des Seeräuberlebens ganzer Völker ist jetzt vorüber, doch am wendischen Ufer der Ostsee vor allem betreibt der einzelne Pirat noch immer in Nacht und Nebel seinen Fang und schleppt seine Beute in unzugängliche Höhlen und Mauerwerke der vielfach fast unbekannten Strandgegenden heim. Manchmal vereinigen sich die Fürsten der Küstenländer und die Handelsstädte zur gemeinsamen Jagd auf die Räuber, aber in kürzester Zeit entbrennt stets zwischen ihnen selbst eine neue Fehde, und das Freibeutertum blüht ungefährdet wie zuvor auf. Und im Grunde stellt es im Vergleich mit fürstlicher Habgier und Willkür noch das weniger gefürchtete Übel für den Seefahrer dar. Zwar erkennen Könige, Herzöge, Grafen und Herren die Vorteile, welche auch sie aus dem Handelsverkehr, teils direkt durch auferlegte Mauten und Zölle, teils indirekt durch Verwertung ihrer Landesprodukte zu ziehen vermögen, und schließen dahinzielende Verträge ab. Aber in den meisten Fällen sind die fürstlichen Siege darunter nur vorhanden, um bei jeder Aussicht auf reichhaltigeren Gewinn mit List oder Gewalt gebrochen zu werden. Dem nämlichen Ursprung verdankt, allen Bemühungen der Seestädte, der mächtigsten Landesherren, ja selbst oft wiederholter Banndrohung der Kirche zum Trotz, an vielen Küsten noch ein Überrest barbarischen Zeitalters seine Erhaltung, das Strandrecht, das mehr den Namen des Strandraubes verdient. Das Schiff, welches von dem Unfall betroffen wird, an einem Ufer, in einem Hafen zu scheitern, wo es sonst durch Verträge für seine friedlichen Zwecke geschützt sein würde, verliert alle ihm ohne jenes Unglück zustehenden Rechtsansprüche. Fahrzeug und Güter fallen dem Territorialherrn der Küste anheim, vielfach selbst die persönliche Freiheit der geretteten, zu Sklavendiensten gezwungenen Mannschaft. Um die Mitte des 13. Jahrhunderts gilt es als höchster Beweis der machtvoll angewachsenen Bedeutung der Stadt Lübeck, daß sie von England für ihre Schiffe insoweit Befreiung vom Strandrecht zugesichert erhält, als die Beschlagnahme der Güter nicht stattfinden soll, wenn ein Lebender von dem verunglückten Fahrzeuge das Ufer erreicht. Allmählich schließen da und dort auch andere Fürsten ähnliche Übereinkünfte: König Waldemar der Zweite von Dänemark macht, »dem gemeinen Kaufmann zu Nutzen«, den ersten Beginn mit der Anlage eines Seezeichens bei Falsterbo an der gefährlichen Küste von Schonen, der Südspitze Schwedens. Doch alles ist unsicher, dem guten Willen, dem Augenblick, günstigem Zufall anheimgegeben, ein Recht, das nur für denjenigen besteht, der die Macht besitzt, für seinen Bruch Vergeltung zu üben. Ob der Papst zu Rom der Christenheit das menschenfreundliche Beispiel der Bewohner der Insel Melita vorhalten mag, die den schiffbrüchigen Apostel Paulus gastlich aufgenommen, widersetzt sich noch am Ende des 13. Jahrhunderts selbst der Erzbischof von Bremen dem Andrängen eines päpstlichen Legaten, strandrechtlich geraubtes Gut herauszugeben, und läßt das Kloster Dobberan sich als Privileg »omnem proventum maris vel utilitatem in perclitatione navium« zusichern. Nicht Beihilfe und menschliche Anteilnahme am Unglück, sondern seine schonungslose Ausbeutung herrscht als oberster Grundsatz. Der Vorteil, die Stärke und die Furcht allein bedingen die Sicherung vor Gewalttat aus dem Meere wie auf dem Lande.

Solchen Verhältnissen standen die Handelsstädte der Nord- und Ostsee um die Mitte des 14. Jahrhunderts in ihrem wichtigsten Lebensinteresse gegenüber. Die mannigfachen Gefährdungen der Wasserstraßen waren ihnen schon seit Jahrhunderten überliefert, aber mit der gewaltigen Ausbreitung der kaufmännischen Geschäfte wuchs die Notwendigkeit einer wenigstens vor menschlicher Raubgier beschirmten Schiffahrt zu immer höherer Bedeutung. Denn auf ihr beruhte der Reichtum, der Zusammenfluß des Geldes aus Ost, Nord und West in den städtischen Säckeln, und Geld war die oberste Macht der Zeit. Es warb Söldner zur Verteidigung und zum Angriff, schloß Schutz- und Trutzwehr mit mächtigen Bundesgenossen, erkaufte unschätzbare Vorrechte. Es erbaute Schiffe und feste Mauern, hochragende Kirchen und kunstvoll geschmückte Rathäuser. Die Ausdehnung, Bequemlichkeit und Sicherstellung des Lebens und Eigentums, welche aus den reichen Mitteln der großen Handelsstädte entsprangen, zogen überall die Landsassen, selbst vielfach Angehörige des Mittelstandes als Schutzbürger herzu. Draußen herrschten die Gewalt und die Willkür, nur innerhalb der Stadtmauern vermochte man auf Friedensgewähr und Recht zu bauen. Diese bisher unbekannte Bürgschaft aber war die Mutter einer neuen Zeit. Mit staunenerregender Hast entwickelte sie bis dahin kaum geahnte Fähigkeiten und Tätigkeiten des menschlichen Geistes. Die Kunst und die Wissenschaft begann sich nach jahrtausendlangem Schlafe zu regen, das Verständnis und den Trieb nach einer edleren Lebensführung zu erwecken. Neben der persönlichen Sicherheit bot die Stadt eine Sauberkeit, Behaglichkeit und mannigfache Schönheit des Daseins, von der die Adelssitze in Wäldern und Bergen kaum eine Ahnung besaßen. Der bisher mißachtete Kaufmann hub an, die Vorzüge seiner Stellung, die aus ihnen erwachsende Macht zu erkennen und zu nützen; die ›Geschlechter‹ in den Städten fühlten sich ritterbürtig, jeder einer Genossenschaft Angehörige empfand die Kraft des ganzen Verbandes in sich. Doch das alles war noch neu, erst im Werden, es glich dem Fluß eines geschmolzenen Metalles, aus dem sich erst da und dort feste Gestaltungen hervorgebildet. Gemeinsam arbeiteten die Bewohner der Städte einem Ziele entgegen, doch vielfach unbewußt: die Augen, welche das Ganze aufzufassen versuchten, konnten zu den gegensätzlichen Ergebnissen gelangen, es sei noch immer die alte, und es sei eine völlig neue Welt.

Der Maler, der ein Bild der deutschen Verhältnisse um die Mitte des 14. Jahrhunderts entrollen will, darf es nur mit wenigen großen Strichen darstellen; eine Zeichnung der zahllosen, unablässig sich verschiebenden Einzelheiten, selbst der bedeutendsten, würde das Ganze verworren-unkenntlich vor dem Blick zerwogen lassen.

Seit länger als einem halben Jahrhundert ist das Deutsche Reich ein Herd rastloser innerer Zwietracht. Die beiden einzigen wirklichen Mächte, die es einstmals besessen, das staufische Kaisertum und die sächsische Herrschaft Heinrichs des Löwen, sind längst wesenlos vergangen. Die Kreuzzüge und Italien haben Deutschlands Kraft nutzlos im Süden vergeudet; in langer Reihe treten Gegenkaiser widereinander auf, der Sieger kaum mächtiger als der Besiegte. Rom allein verstärkt durch den deutschen Zwist seine Macht. Es begünstigt die immer mehr wachsende Unabhängigkeit der Einzelfürsten des Reiches, kleiner wie großer. Das Ganze liegt in ohnmächtige Teile zersplittert, von denen jeglicher nur seinem Vorteil nachtrachtet. Krieg und Fehde, Gewalt, List und Gesetzlosigkeit überall: das Faustrecht ist kaiserlich sanktioniert; die Pest, der schwarze Tod, durchzieht ganz Europa und rafft mehr als die Hälfte aller Lebenden hin.

Am unheilvollsten hat sich der politische Zustand im Norden Deutschlands verändert, den Heinrichs des Löwen starke Hand fast zu einem einheitlichen Körper zusammengefaßt hatte. Mit dem Verfall des großen Sachsenreiches sind auch hier zahllose und kraftlose Einzelherrschaften entstanden, uneinig und unfähig, die Grenzen des Reiches gegen die nordischen Völkerschaften zu behüten. Noch unablässiger als im oberen Deutschland tobt an der unteren Weser, Elbe und Oder, der Trave und Eider das Kriegsgetümmel, doch kaum erfährt man davon jenseits der thüringischen Berge. Kaiser und Reich sind anders beschäftigt und liegen fernab. Wenige Wege führen vom Niederland zum Oberland, der Handel bedient sich ihrer nicht, denn sie sind für Wagen fast so unbenutzbar, wie gefahrvoll durch das an jeder Biegung lauernde Raubritter- und Raubfürstentum; kaum besteht eine Verbindung zwischen den beiden Hälften des Reiches, als durch erfolglose Verordnungen und Drohungen des Kaisers und des Papstes. Nach außen und innen ist der Norden auf sich selbst gewiesen; es ist die allgemeine Lösung für alle und jeden: Hilf dir selbst! So hat seit dem Sturz Heinrichs des Löwen ein lockeres Zusammenhalten der am meisten in ihrer Existenz Bedrohten begonnen, der anwachsenden Städte. Besonders diejenigen des Rheines, Westfalens und der Niederlande mit Mainz, Köln, Soest, Dortmund und Brügge an der Spitze haben zur Sicherung ihres Handels Bündnisse gegen Raub und Überfall auf Land- und Wasserstraßen geschlossen. Allmählich streckt dieser Verband seine Fäden weiter gegen Nordost nach Bremen, Hamburg, Lübeck. Doch es ist kein wirklicher Zusammenschluß der Städte zu Schutz und Trutz, nur eine kaufmännische Übereinkunft im alleinigen Interesse des Handels, und hin und her schwankend knüpfen sich die ungewissen Vereinigungen an und zerfallen.

Diesem Auseinanderbruch des großen Deutschen Reiches steht im Norden eine kleine, doch in sich gefestigtere und von der Natur stark gesicherte Macht gegenüber. Das Königreich Dänemark besitzt nur ein geringes, aus einigen Inseln und der größtenteils unfruchtbaren jütischen Landzunge zusammengefügtes Gebiet, seine Einwohnerschaft übersteigt kaum eine Million Köpfe. Bis vor kurzem ist es fast aus der Zahl der selbständigen Staaten ausgelöscht, jahrzehntelang unter der Botmäßigkeit des Grafen von Holstein und der Herzoge von Schleswig gewesen. Doch der 1. April des Jahres 1340 hat eine, anfänglich wenig merkliche, dann rasch vorschreitende Umänderung dieser Verhältnisse herbeigeführt. An dem genannten Tage ist der holsteinische Graf Geerdt, der sich den Beinamen des Großen erworben, der tatsächliche Beherrscher Dänemarks, in der Stadt Randers von einem jütischen Edlen, Niels Ebbeson, ermordet worden und infolge dieser Gewalttat der jüngste Sohn des vormaligen dänischen Scheinkönigs Christoph als König Waldemar der Vierte auf den Thron seiner Vorväter gelangt.

Dieser Waldemar stellt eine der interessantesten Erscheinungen der Menschengeschichte, jedenfalls die eigenartigste und bedeutendste Persönlichkeit seiner Zeitepoche dar. Landflüchtig, wächst er als junger Prinz am Hofe seines Schwagers, des Markgrafen Ludwig von Brandenburg, vielleicht eine Zeitlang auch an dem des deutschen Kaisers auf. Er tummelt sich in Turnieren und Ritterfehden, erwirbt seine Sporen als Führer markgräflicher Heerhaufen. Die Machthaber auf der cimbrischen Halbinsel beachten ihn nicht; er führt den Titel eines Herzogs von Esthland, gleich denen der Bischöfe, deren Bistümer in partibus infidelium belegen sind. Doch er selbst nennt sich als halber Knabe »wahrer Erbe des Reiches Dänemark«, und Genossen umgeben ihn, die ihm den Königstitel beilegen.

Da fällt Graf Gerhard der Große unter Mörderhand, und die Uneinigkeit seiner Söhne, der holsteinischen und schleswigschen Fürsten, führt zu dem Ergebnis, daß sie Waldemar den Sitz auf dem dänischen Thron einräumen. Sie kennen ihn nicht und wissen alle nicht, was sie damit vollbringen. Jeder von ihnen glaubt, den jungen König als Spielball und Handhabe für seine Pläne benutzen zu können.

Und zunächst findet er, mit deutschen Herren und Knechten, Märkern, Bayern und Schwaben gen Norden aufbrechend, ein Reich vor, von dem ihm kaum etwas wirklich gehört. Unablässige Kriege haben Dänemark verheert, seine frühere Kraft gebrochen, die wertvollsten Teile von ihm abgerissen, das übrige dem Sonderwillen eines trotzigen Adels anheimgegeben. Niemand ist bereit, eine Königsherrschaft weiter als dem Namen nach anzuerkennen: er erscheint auch hier als ein Fürst in partibus infidelium.

Aber dann ist noch kein Jahrzehnt vergangen, wie sich ringsum den staunenden Blicken im Norden ein völlig verwandeltes Bild darstellt. König Waldemar hat sich als ein ›wahrer Erbe‹ der alten Dänenherrscher bewährt, eine doppelte Mitgift von ihnen empfangen, mit der er an die Türen und Herzen seines Reiches gepocht: einen unbeugsamen Willen und einen Zauberspruch von magischer Kraft. Der erste hat mit dem Schwert die widerspenstigen Burgen des Adels geöffnet, der andere bis in jede Hütte hinein verkündigt, daß der junge König gekommen sei, die Grenzen, die Macht, den Ruhm des alten Dänenreiches wieder herzustellen. Und was er gewollt, ist ihm gelungen, nicht plötzlich, doch Schritt um Schritt. Nach einem Wort, das er als Wahlspruch im Munde führt: »Morgen ist wieder ein Tag«, hat ihm das Volk den Namen Waldemar Atterdag beigelegt; so heißt er im ganzen Norden Europas. Das Wort besagt, daß man nicht an einem Tage sein Ziel erreiche, sondern mit beharrlicher Ausdauer Tag um Tag. Kein Mißerfolg hat ihn geschreckt, keine Gefahr ihn entmutigt. Aus der Summe wiederkehrender Tage sind Jahre geworden, in denen er alle Besitzhaber dänischer Lande mit Klugheit und Waffengewalt langsam zurückgedrängt, das alte Reich vollständig erneuert hat. Seiner überlegenen Politik ist es gelungen, die Fürsten Schwedens, Norwegens, Schleswigs, Holsteins und der deutschen Ostseeländer voneinander zu trennen und über die Vereinzelten den Sieg zu gewinnen. Um die Mitte des Jahrhunderts ist Waldemar Atterdag der Erbe Waldemars des Siegers, der unumschränkte Beherrscher Dänemarks; er ist mehr, der mächtigste Gebieter des Nordens. Riesenhaft aufgewachsen steht er da, der unbeirrbare Wille eines einzelnen vielköpfiger Unentschlossenheit und Uneinigkeit entgegen. Kurze Zeit hat ein Blatt der Völkergeschichte umgewendet; diejenigen, welche ihn als ein Werkzeug ihrer Absichten auf den Thron zu setzen geglaubt, sind fast Spielzeuge seiner Laune geworden und fürchten ihn.

Und sie haben Grund genug dazu. Sie fürchten nicht nur den rastlos an Macht wachsenden, eroberungssüchtig sein Reich vergrößernden und klug berechnenden König, sondern fast mehr noch den unberechenbaren, rätselvoll-unheimlichen Menschen. Er trägt den Namen Atterdag noch mit einem anderen Recht, mit dem, daß er morgen nie vergessen haben wird, was heute geschehen. Größere Widersprüche hat die Natur selten in einem lebenden Wesen zusammengehäuft. Sie hat ihn mit allen Vorzügen eines Menschen begabt, mit gewaltiger Leibeskraft, Tapferkeit, unerschrockenstem Mut. Er besitzt hinreißenden Zauber an Körper und Geist, kein Mann und kein Weib widersteht ihm, wenn er sie gewinnen will. Oft legt er hohen ritterlichen Sinn, zuweilen selbst weiches Gemüt an den Tag; prunkliebend und dem Genuß ergeben, kann er die härtesten Entbehrungen stoisch ertragen. Doch auf dem Grunde der Seele des kalt politischen Rechenkünstlers gärt wildunbändige Leidenschaftlichkeit. Maßloser Fürstenstolz läßt ihn auf alles unter sich mit unbegrenzter Verachtung niederblicken; Hohe und Niedrige, Völker wie Einzelne sind ihm nur ein Spielball launenhafter Willkür. Rachsüchtig im tiefsten Innern, vergißt er keine Feindschaft, keine leichteste Kränkung, und wartet geduldig den Tag der Befriedigung seines dürstenden Hasses ab. Wo sein Vorteil in Frage steht, sein Zorn auflodert, ist er hinterlistig, falsch, treulos und grausam. Sein Eidschwur vor dem Altar reicht nicht aus, um ihn im Glauben seines eigenen Volkes vor dem Verdacht zu reinigen, daß er die Schuld an der Ermordung dreier, seine Pläne durchkreuzender jütischer Edlen trägt. Aber trotz allem folgt sein Volk ihm willenlos, fürchtet ihn und liebt ihn, denn er macht Dänemark groß. Er ist ein großer König und ein rauher, wilder, widerspruchsvoller Sohn seiner Zeit. Nur er besitzt ein Recht und einen Willen, niemand außer ihm; so weit seine Macht reicht, ist er die Welt. Auf eine Banndrohung des Papstes antwortete er: »König Waldemar dem Papste seinen Gruß! Die Natur haben wir von Gott, das Reich von den Bewohnern, den Reichtum von den Eltern, den Glauben von deinen Vorfahren. Gönnst du uns denselben nicht, so schicken wir ihn dir hiermit zurück. Lebe wohl!« So läßt er oftmals hochfahrend, wo sein Stolz gekränkt ist, die Klugheit außer acht; besonnene Mäßigung ist seiner innersten Art fremd, nur ein Zwang, den Gewinnsucht auf ihn ausübt. Aber ein Bild ist nicht ablösbar von dem Rahmen, den seine Zeit um ihn schlingt. Er ist das Ergebnis unablässigen Ringens und Kämpfens, das dänische Reich immer machtvoller, gebieterischer im Norden emporzuheben. Ihn selbst und das Reich, denn er ist Dänemark.

Vermählt ist Waldemar der Vierte mit der schleswigschen Herzogstochter Heilwig, doch er liebt sie nicht, obwohl der Ehe sechs Kinder entsprossen sind. Auch in seinen Liebesneigungen beweist er sich rasch wechselnd, treulos, vom Augenblick und leidenschaftlicher Aufwallung beherrscht. Nur ›die kleine Tove‹, ein Mädchen von der Insel Rügen und entfernte Anverwandte der dortigen Herren von Puttbus, hat er bis zu ihrer frühen Todesstunde geliebt, so glühend, daß er selbst von ihrer Leiche nicht ablassen wollte. Alle um ihn vermochten sich die Heftigkeit und Andauer dieser Leidenschaft nur durch einen Zauber zu erklären, und als ›die kleine Tove‹ gestorben, suchte ein Diener bei der Toten nach einem Liebesamulett und warf ein Kreuzchen, das sie um den Hals trug, bei Helsingör in den Sund. Da wandte geheimnisvoll sich die Neigung König Waldemars auf diesen Fleck an der See und er erbaute dort am Ufer das Schloß Gurre, das er fortan zu seinem Lieblingsaufenthalt erwählte. So erzählt die Sage grauer Zeit.

Im Süden der cimbrischen Halbinsel hat Graf Geerdt der Große zwei Söhne hinterlassen, die Grafen Heinrich und Klaus von Holstein. Sie bilden die Rendsburger Linie ihres Hauses, daneben besitzt Graf Johann als Haupt der Plöner Linie gesonderte Herrschaft. Doch das kleine Landgebiet zwischen der Eider, Elbe und Trave zerteilt sich noch weiter. Im Westen sind die Dithmarschen beinahe völlig unabhängig, im Stormarnschen Südosten sitzt auf zahlreichen wasserumgürteten Burgen ein unbotmäßiger räuberischer Adel, der sich unausgesetzt gegen seine Landesherren auflehnt und mit ihren Gegnern verbündet. Die Ostseeküste Holsteins bildet noch eine Kette von schwer zugänglichen, fast unbekannten Schlupfwinkeln wendischer Piraten. So liegt das kleine Land, das unter Graf Gerhards kraftvoller Hand Dänemark und den Norden beherrscht hat, vielfältigst zerspalten, in winzige und eigensüchtige Einzelbestrebungen aufgelöst. Friede und Sicherheit sind unbekannt, kein Tag vergeht ohne List und Gewalt. Unbedeutende Heerhaufen streifen überall umher, belagern und plündern. »Rauben, Stehlen und Überfall wurden eine gemeine Landplage, Städte und Land verarmten sehr,« meldet der Chronist. Besonders richten die adligen Räuber ihr Augenmerk auf die Handels-Verbindungsstraßen der reichen Städte Lübeck und Hamburg, suchen die Trave, Alster und Steckenitz durch Dammbauten für die Schiffahrt unbrauchbar zu machen, um die reisenden Kaufleute auf dem Landwege sicherer überfallen zu können.

Aus diesem kleinlichen Getümmel wendet der junge Graf Heinrich von Holstein sich in ferne Länder hinaus und erwirbt sich in fremdem Kriegsdienst am Mittelmeergestade und im Morgenlande durch Glück, Mut und Tapferkeit den Namen des ›Eisernen‹. König Waldemar ist dergestalt von dem gefährlichsten, ihm am meisten ebenbürtigen seiner Widersacher befreit, denn nur die unentschlossen schwankenden Grafen Klaus und Johann und die erst halb erwachsene Schwester Heinrichs, Elisabeth, bleiben zurück. Sonst hat Waldemar Atterdag unter den Herren der nordalbingischen Lande einzig noch mit dem Herzog Waldemar von Schleswig zu rechnen. Aber dieser ist schwach an Mut und Macht; der Dänenkönig hat ihm zum Wiedergewinn seines Thrones verholfen und sein Gebiet mit rücksichtslosen Anforderungen immer kleiner beschränkt. Herzog Waldemar ist kaum mehr als eine Puppe in den Händen seines herrischen Vetters, der offen und im geheimen überall den noch verbliebenen kargen Rest selbständiger Bedeutung der Fürsten auf der cimbrischen Halbinsel untergräbt.

Und in gleicher Weise bewährt er ruhlose Tätigkeit gegen Norden, die halb vereinigten, halb getrennten skandinavischen Reiche. Dort herrscht König Magnus von Schweden, doch kaum mehr als dem Namen nach. Schauervoll düstere Taten, die seinen Vater und Oheim aus dem Wege geräumt, haben ihn als dreijährigen Knaben auf den Thron gebracht, ihm die Doppelkrone aufs Haupt gesetzt. Doch zum Mann erwachsen, zeigt er sich durchaus unfähig, die Geschicke eines Volkes zu lenken. Dieses hat ihm den Spottnamen Magnus Smek, ›der Schmatzer‹, gegeben. Er ist träg, genußsüchtig, stets wankelmütig und verräterisch. Seine leichtfertige Gemahlin, Blanca von Namur, und der Günstling der letzteren, der Ritter Bengt Altgotson, zum Herzog von Schonen erhoben, beherrschen ihn völlig. Um seiner Kraft- und Würdelosigkeit willen haben die Reichsräte seine beiden jungen Söhne Erich und Hakon zu Mitregenten ernannt, den ersteren zum König von Schweden, den anderen zum König von Norwegen. Aber »weil niemand den Magnus mehr ehrte,« sagt der zeitgenössische Chronist, »weil er sah, daß er verachtet und verspottet werde, während sein trefflicher Sohn (Erich) allen lieb und angenehm war und ihm alle anhingen, verband er sich mit dem fremden Könige (Waldemar) gegen den eigenen Sohn«. Dann stirbt der junge König Erich plötzlichen Todes zugleich mit seiner Gemahlin, und in der öffentlichen Meinung besteht kein Zweifel, daß seine eigenen Eltern beide vergiftet haben. Dem Namen nach ist Magnus Smek wieder alleiniger Herr in Schweden, doch in Wirklichkeit nur eine bedeutungslose Puppe, mit der abwechselnd die schwedischen Reichsräte und Waldemar Atterdag spielen, die er ebenso wechselnd zu gewinnen und zu betrügen sucht. Einen weitausblickenden Vorteil aber hat die Politik Waldemars davongetragen, indem es ihm gelungen, ein Verlöbnis seiner noch im Kindesalter stehenden Tochter Margarete mit dem jungen König Hakon von Norwegen zu bewirken.

Fast erscheint es, als ob Waldemar der Vierte sich von seiner ungeliebten Gattin nur deshalb mit Töchtern begaben läßt, um durch Vergebung ihrer Hand mächtige Bundesgenossen zu erwerben. Auch dem Herzog Heinrich von Mecklenburg hat er eine seiner Töchter als Kind verlobt, und wie diese bald darauf gestorben, die Zusage für ihre Schwester Ingeborg erneuert. Neigung und Abneigung eines Mädchenherzens kommen für seine Pläne nicht in Betracht, doch unterscheidet er sich darin kaum von den übrigen Fürsten der Zeit. Ihre Töchter und Schwestern sind insgesamt nur willenlose Werkzeuge ihrer Politik.

So steht Waldemar Atterdag als Übermacht in der nordischen Welt. Überall an den Ostseeküsten, von Esthland im äußersten Osten bis hin zu den Niederlanden im Westen, ist offen und heimlich seine Hand. Alles fühlt ihre Schwere, aber in zahllosen Kämpfen hat er nacheinander mit Klugheit und Waffengewalt die Fürsten von Pommern, von Stettin, Rügen, Brandenburg, Sachsen, Lüneburg und weiter überwunden und mit den meisten von ihnen Bündnisse geschlossen. Wo er dies letztere nicht erreicht hat, empfinden die kleinen Landesherren nicht die Kraft in sich zum Widerstand gegen seine Pläne, Kaiser und Reich liegen weitab, sehen stumpfsinnig-teilnahmslos den Vorgängen im Norden zu. Die Pläne Waldemars Atterdag aber, ihr gewaltiges Ziel treten durch zerrinnende Schleier immer deutlicher vor die Augen aller, die seine Geierfittiche über sich rauschen hören, das Anpacken seiner Krallen in ihrem Fleische spüren. Sein letztes Ziel ist, die skandinavischen Reiche, Nordalbingien, die Ostsee, die gesamte nordische Welt unter seinem Zepter zu vereinigen.

Dessenungeachtet begegnet seinem geräuschlos lauernden Vorwärtskriechen, seinem plötzlichen Raubtieraufsprung nirgendwo eine geschlossene Abwehr. Jeder weiß sich bedroht, doch jeder denkt nur an sich, denn mehr als den gemeinsamen Bedräuer fürchtet jeder noch, zu einer Machtvergrößerung des Nachbars beizutragen. Es ist die überlieferte Signatur des Mittelalters in allen größeren und kleineren Herrschaftsgebieten des sogenannten Deutschen Reiches.

Am meisten aber, und zwar im innersten Kern ihrer neuen Entwicklung von der täglich steigenden Übermacht Dänemarks bedroht fühlen sich die Handelsstädte der Ostsee, denn das Meer ist das Blut ihres Lebens und die Freiheit desselben die Nährluft ihres Wachstums. Mit Ausnahme der ›hochgefreit‹ aus den Wirrnissen des letzten Jahrhunderts hervorgegangenen ›Reichsstadt‹ Lübeck befinden sie sich jedoch nicht in einer selbständigen Stellung, sondern sind mehr oder minder der Abhängigkeit von den Landesherren unterworfen, deren Gebieten sie angehören. Diese Oberhoheit der letzteren ist indes einesteils oft mannigfach beschränkt, andrerseits legen die Fürsten wenig Interesse für die Erhöhung der städtischen Selbständigkeit und für die Förderung der Hauptquelle ihrer anwachsenden Bedeutung an den Tag. So sehen sie sich zur Erzielung von Gewinn und zur Abwendung von Verlust auf sich selbst angewiesen, und dies hat, wie am Rhein und in den Niederlanden, zu einer eigentümlichen Verbindung zwischen den Handelsstädten der Ostsee geführt. Als die größten und reichsten an Vermögen, Einfluß und Zahl der Schiffe stehen Lübeck und die hauptsächlich von deutschen Kaufleuten begründete und zur Blüte gebrachte Stadt Wisby auf der neben der Ostküste Schwedens belegenen Insel Gotland an der Spitze, doch nicht unebenbürtig schließen sich ihnen Bremen und Hamburg, die wendischen Städte Wismar, Rostock, Stralsund und Greifswald, weiter ostwärts Danzig, Elbinga, Königsberg, Riga und zahlreiche andere an. Von der Narowa und Newa aber bis zum burgundischen Land im Westen, in Dänemark, wie im hohen Norden Schwedens und Norwegens klingt überall im Handel und Wandel, nur wenig abweichend, die niederdeutsche Sprache der ›wendländischen‹ Städte, der sich im Verkehr mit diesen selbst die fremden Herrscher bedienen. Dieser Bund ist aus unmerklich kleinen Anfängen im Gange der Zeit langsam gewachsen und hat Außerordentliches vollbracht. Durch gemeinsames Zusammenwirken hat er überall im Osten und Westen verhältnismäßige Sicherheit, Vorteile, Verträge und Rechte für die ihm angehörigen Handelsführenden erwirkt, an unwirtlichen Küsten bis tief nach Rußland hinein zu Nowgorod und hoch hinauf in den Klippen Norwegens zu Bergen Niederlassungen, Faktoreien, ›Kaufhöfe‹ gegründet. Die Vereinigung und Gemeinsamkeit des kaufmännischen Interesses hat Schiffe zur Bewachung der Ufer gegen Seeraub, zum Geleit auf dem Meere ausgerüstet, riesige Soldtruppen geworben, um ihre Hauptlandstraßen vor Friedbruch und Wegelagerern zu schützen. Durch allgemeine und Einzelverträge knüpft sich das Band zwischen mehr als hundert nicht allein an der See, sondern vielfach auch im deutschen Binnenlande belegenen Ortschaften enger, erstreckt sich der Zweck ihrer Übereinkünfte weiter. Ab und zu klingt vom Unterland her in Oberdeutschland ein sonderbarer Name auf: ›De dudesche Hanse‹. Er entstammt einem schon altgotischen Wort hansa, das sowohl einen Bund, eine ›Einigung‹, als eine streitbare Schar bezeichnet, aber niemand weiß dort noch recht, was er bedeutet.

Und in der Tat begreift er auch etwas höchst Sonderbares in sich, schwer Verständliches, bis dahin in der Geschichte nicht Vorhandenes. Die ›deutsche‹ oder ›gemeine Hansa‹ nennt sich jene weltumfassende Vereinigung, die kein Bund freier Städte, sondern nur der Kaufherren in ihnen ist. Nicht aus politischen Zwecken zu gegenseitigem Schutz ist sie entstanden und aufgewachsen, nur durch eine Verbündung der Handelsinteressen; sie hat keine Waffenmacht zum Angriff zusammenzufügen beabsichtigt, nur eine Wehr der Verteidigung für ihre Güterwaren. Der große Wahlspruch des Deutschen Reiches: »Hilf dir selbst!« hat sie erzeugt.

Aber an der Brust der Zeit ist das schwächliche Kind mit seltsamer Milch großgesäugt worden. Es hat nicht gehen gelernt, doch es schwimmt mit den Fischen in die Wette; es trägt Flügel an den Schultern, und sie tragen es gleich Möwen übers Meer. Auf dem festen Lande ohnmächtig, ist die ›deutsche Hansa‹ die Gebieterin der See. Sie hat ein merkwürdiges, ungeahntes Ziel erreicht: in der Heimat zersplittert, größtenteils verschiedenen Landesherren untertan, steht sie überall im Auslande als eine politische Einheit anerkannt, geachtet, gefürchtet da. Der Bürger der ›unfreien‹ Stadt zu Hause tritt im fremden Lande mit der Sicherheit eines Angehörigen mächtiger Genossenschaft auf. Noch immer bildet die Hansa nur eine Gesellschaft von Kaufleuten, die gemeinsam ihre Einzelzwecke verfolgen und unterstützen. Doch der Handel ist eine Macht ersten Ranges geworden, eine Geld- und Seemacht, die Fürsten und Völkern Privilegien abzunötigen und Bedingungen aufzuerlegen vermag. Heimlich mit den Zähnen knirschend, blickt vor allen König Waldemar der Vierte auf die sonderbare, immer mehr erstarkende Vereinigung von ›Kaufleuten, Krämern und Handwerkern‹, die ihm nicht botmäßig sind, seine Wege kreuzen, ihm Gesetze vorschreiben und zwischen den Inseln seines Reiches die Seeherrschaft üben. Die Hansa ist auf keinem Fleck des festen Landes anzugreifen, mit Gewalt zu brechen. Sie hat keine Mauern, die sich erstürmen lassen, denn die einzelne Stadt besitzt keine Bedeutung. Gegen manche dieser Glieder hat der dänische König Feindschaften, Kriege, Überfälle und Gewalttaten angestiftet, aber die Hansa ist die nämliche geblieben wie zuvor. Ihr Antäusboden ist das Meer, und aus ihm strömt ihr die Kraft, in ihrer wunderlichen, hundertköpfigen Gestalt allein mit Waldemar Atterdag um die Herrschaft im Norden zu wetten und ihn zu nötigen, seinen Haß gegen die ›Pebersvende‹ (Pfefferburschen), wie die Kaufleute nach ihrem Handel mit dem zurzeit noch überaus kostbaren Pfeffer von den Rittern im Norden mißächtlich benannt werden, unter gezwungener Maske zu verbergen.

Das fast unbestrittene Haupt der deutschen Hansa um die Mitte des 14. Jahrhunderts ist die reichsfreie Stadt Lübeck. Sie liegt auf der nämlichen Stelle, wo sie ihren Ursprung genommen, aber trotzdem hat sie mit jenem Anfang nichts mehr gemein. Die Jahrhunderte haben viermal ein verwandeltes Lübeck an verschiedenen Uferstätten des Traveflusses gesehn; dreimal von Grund aus zerstört, ist die Stadt schließlich um 1158 von der mächtigen Hand Heinrichs des Löwen auf dem Platze ihrer frühesten Lage, einem Hügelrücken zwischen der Trave und Wackenitz, wieder erbaut worden und hat ihren alten Namen Buku gegen den Leubecks, der ›Löwenstadt‹ ausgetauscht. Rundhin vom Wasser der beiden schiffbaren Flüsse umgürtet, liegt sie jetzt mit starken Mauern und Toren als der befestigtste und volkreichste Ort der gesamten deutsch-skandinavischen Nordwelt. Die hohen Türme ihres Domes und ihrer Marienkirche blicken nach allen Richtungen viele Meilen weit stolz ins Land und bis auf die wagrische Ostseebucht hinaus. Unter diesen Türmen findet sich alles vereinigt, was die Zeit in den verschiedenen Städten an Reichtum, Gütern, Erderzeugnissen, Ausrüstungsgegenständen für Schiffahrt, Handel, Gewerbe und Verteidigungsmittel, doch auch von dem, was sie an kluger politischer Erwägung, Einsicht und Berechnung der Weltverhältnisse kennt. Dort treffen an ›allgemeinen Hansetagen‹ Abgesandte aller dem Bunde zugehörigen Städte zur Besprechung gemeinsamer Abmachungen und Beschlüsse zusammen. Lübeck ist kein wirkliches gebietendes Oberhaupt der Hansa, doch anerkannt ein primus inter pares, von seiner reichsfreien Unabhängigkeit naturgemäß für diese Stellung noch mehr begünstigt. Und wenn irgendwo, so beobachten unausgesetzt im Rathaussaal an der Trave scharfblickende Augen die Bewegung Waldemar Atterdags, seine vortastenden Gelüste, auch die Herrschaft auf dem Meere an sich zu reißen.

Von allen Städten des Nordens vermag sich an Größe und Bedeutung mit Lübeck einzig Wisby auf der Insel Gotland zu messen. Unfraglich ist sie die zweitwichtigste Stadt der Hansa, in bezug auf den Reichtum, den sie birgt, vielleicht die erste. Um die fern und hoch im grauen Norden belegene hat sich ein sagenhafter Glanz unermeßlicher Schätze gewoben. Das gotische Volkslied singt von ihr:

»Guld väga de Gutar på lispund-våg,
Gold wiegen die Goten auf der Liespfund-Wage,
De spela med ädlaste stenar.
Sie spielen mit Edelsteinen.
Swinen äta ur silfver tråg,
Die Schweine fressen aus silbernem Troge,
Och hustrurna spinn på guldtenar.«
Und die Hausfrauen spinnen auf goldenen Spindeln.

Die Gründung Wisbys, dessen Name ›Schutzort‹ bedeutet, reicht in weite, kaum dämmerhelle Vorzeit hinauf, in der abenteuernde ›Leute von mancherlei Zunge‹, Kauffahrer von Schweden, Dänemark, Deutschland und Wendland den Weg zu der fernen Insel gefunden und dort früh einen Hafen und Stapelplatz für Schiffe und Waren geschaffen. Besonders haben sich deutsche Kaufherren und Gewerksleute unter dem Wappenschild eines Lilienbusches vereinigt, um bald die eigentliche Obergewalt in Wisby zu erringen. Daraus ist die gegenwärtige stolzblühende und schöne Stadt mit einer Einwohnerzahl von mindestens 40 000 Köpfen erwachsen. Die an Stellung und Vermögen Hervorragendsten unter diesen sind Deutsche, sie halten den Haupthandel der Ostsee in den Händen, sind Mitgebieter und Leiter der Hansakaufhöfe zu London, Bergen, Danzig und Nowgorod. Die Stadt Wisby ist die Beherrscherin der Insel Gotland und steht mit dieser in einem Zugehörigkeitsverhältnis zum Königreich Schweden, das aber in Wirklichkeit kaum einer Untertanenschaft entspricht, sich auf Anerkennung der schwedischen Oberhoheit und jährliche Tributleistung beschränkt. Weit tönt ihr märchenhafter Name über Meere und Länder, weithin ragt sie selbst, die goldgefaßte Perle der Ostsee, aus einer Einsenkung der steilen, weißflimmernden Kalkfelsen an der Westküste Gotlands mit achtzehn Kirchen und achtundvierzig hohen Mauertürmen in die Lüfte. Den Ruf unschätzbaren Reichtums und zauberartiger Pracht, mit dem Wisby die Welt Europas bis zum Mittelmeer durchhallt, kennzeichnet vielleicht am deutlichsten die Sage, daß die gewaltigen Fensterrosen der Nikolaikirche mit mächtigen, leuchtenden Karfunkelsteinen ausgefüllt seien, um dem Seemann bei Nacht die Stadt und die Einfahrt in den Hafen zu deuten.


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