Ina Jens
Mirasol
Ina Jens

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Mirasol

Auf dem Gute von Don Joaquin war etwas, das ihm in unseren Augen einen ganz besonderen Reiz verlieh. Es war dies eine Herde vollständig wilder Pferde, die sich bald in den Lichtungen des Urwaldes, bald auf den ausgedehnten Hochebenen oder auf den Weiden in der Nähe des Meeres aufhielt. So richtig zu Gesicht bekommen hatten wir die Tiere noch nie, obwohl wir sie unermüdlich suchten, denn die Entfernungen waren für uns zu groß, und die Pferde viel zu vorsichtig. Die Herde hatte, wie uns Gómez erzählte, einen äußerst wachsamen Führer, einen großen, schwarzen Hengst, der die geringste Annäherung von Menschen auf unglaubliche Entfernungen witterte. Von Zeit zu Zeit, wenn Don Joaquin neue Tiere benötigte, fing sich Gómez eines von diesen Pferden, zähmte 141 es und machte es gebrauchsfähig. Manche davon waren struppig und klein. Es gab aber auch feingliedrige und schöne wie jenes, um dessentwillen ich diese Zeilen schreibe, und das die ganze Wonne meines jungen Herzens gewesen ist.

Das kleine Ereignis begann an einem hellen Sommermorgen im Februar. Heinrich und ich wollten einen Spaziergang auf die Höhen machen und ritten, um den Weg abzukürzen, durch den Fundo von Don Joaquin. Auf dem Hofe hinter der letzten Scheune blieben wir überrascht stehen. Am Zaune, der den großen Platz vom Garten trennte, stand ein Pferd, das wir noch nie gesehen hatten. Es war schön gewachsen, von hellgelber Farbe, mit außergewöhnlich langem, schwarzem Schweif und prachtvoller Mähne. Hoch über den Zaun, an den das Tier gebunden war, ragten riesengroße Sonnenblumen empor, die mit ihren gewaltigen Blättern und den goldenen Strahlenkronen das Tier beschatteten.

Ringsum zu Pferd Don Joaquin, seine Söhne, ein paar Arbeiter und Gómez, der, wie wir erfuhren, das Tier am vorhergehenden Tage eingefangen und gezähmt hatte. Jetzt war er im Begriffe, es zu satteln, um zum ersten Male mit ihm auszureiten. Als wir dazukamen, beriet man gerade, wie das Pferd heißen sollte. Es wurden verschiedene Vorschläge gemacht, aber einer gefiel mir weniger als der andere, denn in meinem Herzen war beim Anblick dieses nach meiner Ansicht einzig schönen Tieres zweierlei aufgesprungen: das plötzliche Verlangen nach seinem Besitz und in 142 Verbindung damit sein Name. Ich glaube sogar, der Name war vor dem Verlangen da, denn er war in demselben Augenblick in mir aufgeschossen, als ich das goldfarbene Tier unter den leuchtenden Sonnenblumen gesehen hatte.

Ein Weilchen ließ ich die Männer reden, dann lenkte ich mein Pferd dicht neben das von Don Joaquin und sagte: »Ich wüßte einen sehr schönen Namen, Don Joaquin,« ich sah ihn an, »soll ich ihn sagen?«

Don Joaquin war immer freundlich mit uns, und so antwortete er denn auch jetzt sofort: »Aber selbstverständlich. Was hast du dir denn ausgedacht?«

Ich blickte ein wenig unsicher über die anderen weg. Ich wußte, daß man sich unter diesen Gesellen so leicht lächerlich machen konnte, trotzdem sagte ich nun ganz laut: »Warum nennt ihr das Tier nicht Mirasol?« Mirasol heißt man die Sonnenblume, und mir war es, als dürfte dieses Pferd, das für mich ebenso golden wie die Blumen über ihm leuchtete, keinen andern Namen tragen.

Don Joaquin meinte denn auch: »Nicht übel,« und die andern stimmten ihm bei. Gómez, der unterdessen mit Satteln fertig geworden war, sagte ebenfalls, Mirasol klinge schön, zog dabei die Riemen fest, sprang auf, ergriff die Zügel und rief aufmunternd: »Los, Mirasol!« Das Tier jagte davon, als ob es eine Wette gewinnen sollte, und ich sah ihm selbstvergessen und mit klopfendem Herzen nach. 143

Don Joaquin, der die Schafherden auf die Höhen treiben wollte, fragte uns, ob wir nicht Lust hätten, ihn zu begleiten? Wir waren freudig dazu bereit und öffneten die großen Potreros. Hunderte von Schafen strömten heraus, stießen und drängten sich, blökten und wollten hierhin und dorthin, aber drei kläffende Hunde jagten sie geschickt auf den richtigen Weg. Dann ging es bergauf durch den Wald und schließlich auf die Wiesen der Hochebenen. Alles war schön wie immer, aber ich genoß es nur so wie im Traume, denn meine Gedanken weilten ganz wo anders. Ich wurde das Bild des hübschen Pferdes unter den leuchtenden Sonnenblumen nicht mehr los und hoffte nur, es bei unserer Rückkehr wiederzusehen.

Als wir am Abend zu Hause waren, sprach ich von nichts anderem als vom Mirasol, glaubte aber zu spüren, daß sich niemand sonderlich für das Tier erwärmte, nicht einmal Heinrich, der es doch gesehen hatte und seine Vorzüge kannte. Das beirrte mich jedoch wenig, und ich ging von nun an jeden Tag ein- oder zweimal hinüber zu Don Joaquin, um den Mirasol zu bewundern. Oft war das Tier im Potrero. Dann konnte ich es mit Muße vom Wege aus betrachten und meine Wünsche nach Belieben spazieren führen. Einmal war es auch genau wie am ersten Tage am Zaun unter den Sonnenblumen angebunden. Da trat ich zu ihm hin, streichelte und liebkoste es und tat genau so, als ob es mir gehörte. Don Joaquin, der gerade dazukam, fragte im Vorüberreiten: »Gefällt dir das 144 Pferd?« Und ich antwortete: »Ja, ausgezeichnet . . .« und fügte rasch noch hinzu: »Wieviel kostet es wohl?« Don Joaquin rief lachend zurück: »Nicht verkäuflich!«

Oh, wie die zwei Wörtchen mich trafen! Wie sie mir ins Herz schossen und schmerzten! Ja, es war klar, ich würde dieses schöne Tier nie besitzen. Freilich, wer gab so etwas auch wieder aus den Händen! Langsam strich ich ihm über den Hals, zupfte ihm die Mähne zurecht und sagte leise und traurig: »Mirasol, warum gehörst du nicht mir?« Es fehlte wenig, so hätte ich geweint. Tief betrübt bestieg ich endlich meinen hübschen Rappen, der mir aber gar nicht hübsch, sondern mehr wie ein alter Klepper vorkam, was übrigens sehr unrecht von mir war, und freudlos und mißmutig ritt ich nach Hause.

An diesem Abend geschah zum Überfluß noch etwas, das mich sehr empfindlich traf. Die Mutter sagte nämlich ganz unvermittelt, ich sollte nun endlich aufhören, immer von diesem Mirasol zu erzählen. Das sei nachgerade langweilig, und ich sollte nicht etwa glauben, daß der Onkel das Pferd kaufe. Auf Maltes Fundo seien genügend Tiere vorhanden, und es wäre lächerlich, wenn ich von außen eines dazuholte, nachdem man mir zwei so schöne Tiere wie den Pimiento und den Matasiete für die ganze Ferienzeit zum Gebrauch überlassen habe. Schweigend ging ich davon. Die Mutter hatte recht, und ich war im Unrecht. Das war sicher, aber ich wollte nun einmal den Mirasol haben und nahm mir vor, daß keine 145 Macht der Welt mich von dem Wunsche, ihn zu besitzen, abbringen sollte.

In diese Zeit fiel mein Geburtstag. Ich wußte, daß er aus verschiedenen Gründen nicht gefeiert wurde und sah ihm ohne Erwartung entgegen. Trotzdem brachte mir die Mutter am Morgen einen schönen, großen Napfkuchen mit vierzehn brennenden Lichtern ans Bett und gratulierte mir. Nachher trug sie den Kuchen ins Eßzimmer, und ich kleidete mich an. Plötzlich erschien sie wieder, und zwar mit einem sehr merkwürdigen Ausdruck im Gesicht. Es war halb Verlegenheit und halb Ärger, und sie sagte: »Ich will nicht hoffen, mein Junge, daß du bei Don Joaquin irgendeinen Wunsch wegen des Mirasols hast laut werden lassen?«

Ich sah sie an und antwortete, während ein mehr als kühner Gedanke in mir aufstieg: »Nein, warum?«

Sie sprach nicht gleich, sondern sah mir nur forschend in die Augen. »Der Gómez ist mit dem Pferde unten,« sagte sie dann. »Er behauptet, Don Joaquin schicke es dir zum Geburtstage. Ich kann dir nur sagen, daß es mir höchst unan . . .«

Weiter hörte ich nichts mehr. Alles um mich herum war vergessen. »Hurra! Heinrich, der Mirasol ist unten!« schrie ich, schob die Mutter beiseite und jagte die Treppe hinunter auf den Hof. Da standen wirklich Malte, der Onkel, Gómez und in ihrer Mitte der Mirasol. Ich drängte mich an das Pferd heran und wußte gar nicht, wie mir geschah. Ich streichelte das Tier und sagte ganz 146 versunken in so viel Freude: »Mirasol, Mirasol, nun gehörst du mir.« Und nur wie aus weiter Ferne hörte ich, was man um mich herum sprach, hörte, daß Malte sagte, das Tier sei wunderhübsch in der Farbe, und daß der Onkel meinte, er verstehe nicht, wie Don Joaquin dazu komme, mir ein so kostbares Geschenk zu machen, worauf Malte erwiderte, daß sei das wenigste. Bei dem Pferdebestand komme es auf ein Tier mehr oder weniger wirklich nicht an. Überglücklich führte ich dann den Mirasol in den nahen Potrero, wo er gleich zu weiden begann. Mir aber kam nun plötzlich ein Gedanke. »Heinrich,« rief ich, »reiten wir zu Don Joaquin? Ich muß ihm doch danken. Willst du bitte die Pferde satteln? Ich bin gleich wieder hier.«

Mit diesen Worten rannte ich ins Haus hinein, trat ins Eßzimmer, riß ein paar Zeitungen aus dem Halter, warf die Kerzen auf den Tisch und packte den ganzen Napfkuchen ein. Gott sei Dank, daß die Mutter diesen Kuchen gebacken hatte! Don Joaquin aß ja so gern deutschen Napfkuchen. Den sollte er nun kriegen. Ich jagte wieder hinaus, stieg auf mein Pferd, und nun ritten wir im Galopp davon, ohne jemand zu sagen, wohin es ging.

Don Joaquin stand gerade vor der Haustür, als wir ankamen. Er begrüßte uns sehr freundlich, und ich bedankte mich, so gut ich konnte. »Hier, Don Joaquin.« Ich schob ihm den Kuchen in die Hand. Er besah ihn mit sichtlichem Vergnügen und sagte: »Den müssen wir aber begießen. Kommt herein, Jungens.« 147

Wir gingen ins Haus und saßen dann mit ihm bei einer»copita«, das ist ein Gläschen Schnaps, am Tisch in der niederen, aber sauberen Stube. Er war sehr aufgeräumt und schien sich über meine Freude richtig zu amüsieren. Ich sagte ihm, das Geschenk sei viel zu groß, und ich würde ihm den Mirasol schon wieder zurückgeben, wenn ich heimkehre, aber er sagte darauf: »Was heißt zu groß? Das Tier kostet mich doch gar nichts. Solche Pferde laufen dutzendweise auf den Höhen umher.« Und dann gab er mir noch einige Ratschläge: »Der Mirasol ist ein guter Renner, aber er hat Mucken. Er läßt sich nicht schlagen und scheut beim geringsten Geräusch. Außerdem mußt du aufpassen, daß er dir in der Nacht nicht ausrückt. Bei uns hat er es in der kurzen Zeit schon zweimal getan, und der Gómez hat ihn nur mit Mühe wieder eingefangen.« Oh, ich würde schon aufpassen, versicherte ich immer wieder, sei es doch das allerallerschönste Pferd, das ich je in meinem Leben besessen habe. Schließlich zogen wir sehr vergnügt wieder ab.

Am andern Morgen ritt ich zum ersten Male mit dem Mirasol aus. Wir nahmen den Weg in die Stadt. Der Morgen war kühl und klar. Die Sonne lag golden über den Wiesen und Feldern, und die Farben des Landes traten leuchtend hervor. Vom Meere her wehte ein frischer Wind über die Wälder, und das Leben schien mir unendlich schön. Als wir über die Brücke kamen, bot sich uns ein in dieser Einsamkeit außergewöhnliches Bild. Soldaten waren 148 beim Manöver. Ganz langsam ritten wir über den taufeuchten Rasen dahin, der Mirasol immer um Kopfeslänge dem Pferde meines Freundes voraus. Da sagte Heinrich warnend: »Du, gib acht auf dein Pferd! Die vielen Menschen, an denen wir vorbeikommen, könnten es erschrecken.«

»Bah,« machte ich, klopfte mit selbstbewußter Sicherheit den Hals meines Tieres und reckte mich kerzengerade im Sattel auf.

Drüben am Waldrande wurde ein Marsch geblasen. Ein Ruck ging durch den Körper unter mir. Ich selbst schrak ein klein wenig zusammen, faßte mich aber schnell und hielt die Zügel fest und kurz. Die Pferde gingen ruhig im Takte der Musik dahin. Rechts und links vom Wege lagen Tornister, hinter ihnen waren Gewehre aufgepflanzt, und Soldaten bewegten sich zwischen all den Sachen, jeder mit irgend etwas beschäftigt. Weiterhin wurde exerziert, und die Befehle klangen kurz und klar bis zu uns herüber. Hin und wieder wurden wir gegrüßt. Dann standen wir einen Augenblick still und sprachen ein paar Worte.

So kamen wir bis dahin, wo der Weg sich teilte. Rechts ging es den Hügel hinauf in die Stadt und links in den Wald hinein. Hinter einem Busch stand ein Soldat mit dem Gewehr in der Hand. Er hielt es waagrecht vor sich hin und blickte durch den Lauf.

Ich sah auf den Mann, ließ die Zügel ein wenig locker und ritt langsam vorbei, und da geschah das Unglück, das die ganze 149 Seligkeit dieses Morgens in meinem Herzen wie ein Licht im Winde auslöschte.

Der Soldat richtete nämlich sein Gewehr plötzlich senkrecht in die Höhe und schoß, unbekümmert um unsere Gegenwart, dicht neben uns eine Kugel in den blauen Himmel hinauf.

Mirasol richtete sich kerzengerade empor, irgend etwas knackte, dann machte er einen wilden Satz und war auf und davon. Ich aber lag mitsamt dem Sattel mitten auf dem Weg und konnte mir im ersten Augenblick nicht Rechenschaft geben, was eigentlich geschehen war. Dann jedoch überkam es mich mit um so größerem Jammer: Der Sattelgurt war gerissen, und mein schönes Pferd, mein Mirasol war auf Nimmerwiedersehn im Urwald von Quepe verschwunden. Ein paar Soldaten sprangen herzu, und einer half mir wieder auf die Beine. Heinrich war vom Pferd gestiegen und stand ratlos daneben. Meine Blicke aber richteten sich in schmerzlicher Angst auf den dunklen, undurchdringlichen Wald, und mit zitternder Stimme bat ich: »Heinrich, um Gotteswillen, reiten wir hinter dem Mirasol her. Noch ist er nicht verloren. Noch kriegen wir ihn bestimmt.«

Heinrich zuckte die Achseln: »Wir können doch nicht zu zweit auf einem Pferd im Urwald ein so wildes Tier einfangen und,« fügte er nachdenklich hinzu, »den Sattel können wir auch nicht hier liegen lassen. Kehren wir um und satteln wir den Schwarzen! Dann reiten wir hinüber nach Quepe.« 150

Ich war einverstanden, kletterte traurig auf sein Pferd, und dann ging es im Galopp wieder zurück. Als Malte hörte, was geschehen war, meinte er, es sei ausgeschlossen, daß wir dieses Pferd je wieder einfangen würden. Wir ließen uns dadurch aber nicht beirren, sondern ritten Tag für Tag unermüdlich hinüber in den jenseitigen Wald, streiften durch Schluchten, durch schier undurchdringliches Gestrüpp, bergauf, bergab, doch ohne den geringsten Erfolg.

Da trafen wir eines Tages den Gómez und erzählten ihm, was mit dem Mirasol passiert war. Er hörte uns aufmerksam zu, nickte immerzu mit dem Kopfe und sagte: »Das war nicht anders zu erwarten. Aber da drüben,« er zeigte nach Quepe, »da ist das Tier nicht.«

»Wo denn?« fragte ich mit angehaltenem Atem.

»Bah, wo denn sonst, als bei unseren Pferden oben auf den Höhen.«

»Aber der Fluß,« entgegnete ich beklommen.

»Der Fluß?« Er lachte. »Den hat der Gaul noch in derselben Nacht durchschwommen und ist durch die Wälder hinauf in unseren Fundo.«

»Woher weißt du denn das so genau?« fragte ich zweifelnd.

Er sah mich mitleidig an: »Ich soll diese Biester nicht kennen!«

Ich schwieg beklommen. Da sagte er nach einer Weile: »Morgen ist Sonntag, da kann ich ja mal oben nachsehen.« 152

»Oh, Gómez, bitte, bitte nimm uns mit! Wir wollen alles tun, was du sagst, und können dir vielleicht helfen.«

In seine Augen trat ein höhnisches Lachen. Ihm, dem geübten Pferdebändiger wollten wir helfen! Ja, es war wirklich anmaßend. Ich sah das selber ein, aber ich wollte nun einmal dabei sein, wenn es galt, den Mirasol einzufangen. Ich bat ihn darum so lange, bis er schließlich fragte: »Könnt ihr wenigstens lassieren?«

»Und wie!« beteuerten wir einstimmig. Da willigte er ein. »Meinetwegen kommt dann mit. Aber spätestens morgens fünf Uhr geht's los . . . von unserem Fundo aus.«

Wir waren selig, wenigstens was mich betraf. Heinrich tat zwar auch so, aber ich glaube, er hat in jener Zeit viel Geduld mit mir haben müssen und manches nur aus Freundschaft mitgemacht. Immerhin, er traf mit demselben Eifer wie ich die Vorbereitungen für den Sonntag. Am andern Morgen fanden wir uns pünktlich zu der festgesetzten Stunde bei Don Joaquin ein. Die Satteltaschen waren reichlich mit Proviant gefüllt, und jeder war mit einem Lasso versehen.

Die Sonne ging noch tief hinter den Bergen, und alles lag im ersten Dämmerscheine des Morgens wie im Traume da. Wir ritten an den grünen Weidekoppeln vorbei und in den Wald hinein. Ein schmaler Weg führte zwischen dichtem Gesträuch und hohen Bäumen bergauf. Hin und wieder tauchte die schneeweiße Blütenpracht eines gewaltigen Muermos zwischen dem dunklen Grün der 153 Coihues auf und verlieh der Landschaft Frühlingszauber. Als die ersten Sonnenstrahlen die Kuppen der fernen Berge vergoldeten, begleitete uns der eintönige Ruf des Tricáus. Auch eine Wildkatze, ein kleiner grauer Fuchs und ein Pudú kreuzten in großen Abständen unseren Weg. So war es acht Uhr geworden, aber Weg und Wald wollten kein Ende nehmen. Immer dichter wurde das Bambusgesträuch, und immer näher rückten die Stämme der Coihues zusammen. Wir waren mitten in der tiefsten Wildnis, und ich hatte nicht die geringste Hoffnung, in dieser Einsamkeit den Mirasol zu finden. Aber Gómez sollte doch Recht behalten, und ich konnte nicht genug über seinen Spürsinn staunen.

Mit einem Male lichtete sich nämlich der Wald. Eine schier endlose Ebene lag vor uns, und auf ihr weideten friedlich im Morgensonnenglanze die Pferde, die wir suchten, mitten unter ihnen auch der Mirasol. Laut schlug mein Herz, und ich wäre am liebsten gleich hinübergeritten, um ihn einzufangen, aber Gómez gab uns Verhaltungsmaßregeln, denen wir uns fügen mußten.

Rechts von der Ebene war ein Wald, der sich ungefähr zwei Kilometer hinzog und dann plötzlich an einer Felswand, die senkrecht ins Meer fiel, endigte. Dahin, sagte Gómez, müßten die Pferde getrieben werden. Dann würden sie, wenn man sie nicht weiter verfolgte, nach kurzer Zeit wieder von selbst zurückkehren, und zwar wegen des äußerst schmalen Pfades immer eines hinter dem andern. Wir aber würden ihnen am Ausgang auflauern und 154 könnten uns dann nach Belieben den Mirasol lassieren. Auf jeden Fall müsse vermieden werden, daß die Pferde uns vorzeitig witterten und nach links die Flucht ergriffen, denn dann könnten wir sie vielleicht wochenlang vergebens suchen.

Also verhielten wir uns regungslos hinter den Büschen, während Gómez langsam nach links streifte und dann plötzlich mit einem wilden Schrei auf die Wiese hinausflitzte. Sekunden vergingen und die ganze Herde war mit wehenden Mähnen spurlos im Dunkel des Waldes verschwunden, genau wie Gómez es gewollt hatte.

Auf ein Zeichen ritten nun auch wir aus unserem Versteck auf die Wiese hinaus, nahmen die Lassos in die Hand, stellten uns am Waldrande auf und warteten. Es dauerte gar nicht allzu lange, so begann es von fernher zu dröhnen und zu knacken. Die Tiere kamen zurück. Als erster jagte ein großer, schwarzer Hengst aus dem Dickicht heraus, hinter ihm fünf, zehn, zwölf Pferde, keines war das, welches wir suchten. Immer noch standen wir unbeweglich wie Säulen da, dann aber erschien wirklich der Mirasol, und zwar gleich den anderen im Galopp.

Gómez hob den Lasso. Die Hinterbeine waren gefesselt. Andere Pferde jagten vorüber. Der Mirasol bäumte sich hoch auf. Da hatte er auch schon Heinrichs Lasso um die Vorderbeine und meinen um den Hals. Unsere Pferde gingen in entgegengesetzter Richtung auseinander, zogen die Riemen an, und das Tier lag wie gefällt 155 am Boden. Gómez aber sprang hinzu und verband ihm mit einem Tuche die Augen. Dann wurden die Riemen gelockert. Das Tier sprang auf, und in demselben Augenblick saß Gómez auf seinem Rücken, riß ihm die Binde herunter, und nun schossen Roß und Reiter wie verwachsen über die Ebene dahin. In der Ferne zog sich Gebüsch quer über die grüne Fläche hin. Die beiden jagten hindurch und entschwanden unseren Augen. Ich zitterte am ganzen Körper vor Aufregung, denn ich glaubte nicht, daß einer von beiden wieder heil erscheinen würde. Heinrich aber lachte nur und sagte, das sei gar nichts, Gómez habe schon viel wildere Tiere gezähmt. Wir ritten nun auch über die Ebene dahin, stiegen dann ab, ließen die Pferde weiden und legten uns in den Schatten. Es dauerte nur kurze Zeit, so kam Gómez ruhig und langsam auf dem Mirasol daher. Das Tier war naß, als ob man es mit Wasser übergossen hätte, aber als ich nun zu ihm trat, war es wie immer und ließ sich ruhig anbinden. Wir blieben da oben, bis die Sonne anfing unterzugehen, dann stiegen auch wir ausgeruht und befriedigt talwärts. Der Mond stand schon hoch am Himmel, und alle Sterne glänzten, als wir endlich zu Hause anlangten.

Gómez erhielt von meinem Onkel eine gute Belohnung, und ich konnte mich des Mirasols von nun an ungetrübt erfreuen. Ich ritt ihn jeden zweiten Tag, ohne daß sich je wieder etwas Unangenehmes ereignete. Dann aber kam die Zeit, in der wir ans Heimkehren denken mußten. Ich war unsäglich bedrückt und mochte von der 156 bevorstehenden Reise weder sprechen, noch hören. Ich hatte dieses Land mit allen seinen Schönheiten und das wunderbar freie Leben, das Heinrich und ich führen durften, so lieb gewonnen, daß ich mir einen Abschied und ein Ende davon gar nicht vorstellen konnte. Am allermeisten aber schmerzte mich die Sorge um den Mirasol. Daß ich ihn nicht mitnehmen durfte, war selbstverständlich. Ich wäre den Onkel auch nie darum angegangen. Aber ebenso unmöglich schien es mir, das Tier hier einfach seinem Schicksal zu überlassen. Ich sagte mir nicht, daß es bei Maltes ja in jeder Beziehung gut aufgehoben war, daß es reichlich Futter und gute Behandlung haben würde, wie vielleicht kaum an einem andern Orte. Nein, ich sah diese Trennung nur von der allertraurigsten Seite. Es gab so viele Überlegungen und Vorstellungen, die mir richtig weh taten, und worüber ich mit niemand sprechen konnte, wußte ich doch, daß man mich gar nicht verstehen würde, denn bei Maltes und auch bei uns in Perales war ein Pferd eben ein Tier und nicht, wie ich es mit Unvernunft glaubte, ein Wesen mit gleichen Empfindungen und Gefühlen wie der Mensch.

Und dann war der letzte Abend da. Wir saßen in Maltes Wohnzimmer und feierten ein wenig Abschied. Alle waren wehmütig gestimmt, und es wurde beschlossen, daß Maltes im kommenden Jahr den Sommer bei uns verbringen sollten. Kurz vor Mitternacht ging man zu Bett. Wir mußten am andern Morgen früh auf sein, denn das Schiff fuhr schon um acht Uhr ab, und wir 157 hatten noch eine gute Stunde Fahrt bis zum Hafen. Malte hatte für uns das einzige Auto, das es auf der Insel gab, bestellt, und so stand uns zum Abschied noch eine lustige Fahrt bevor: Sechs Menschen in einem mit Gepäck vollgestopften kleinen Ford aus dem Urwald in die Stadt. Mich aber freute nichts mehr, und traurig ging ich in mein Zimmer, das ich seit einigen Tagen allein bewohnte. Durch das Fenster fiel klar und hell das Licht des Mondes in den Raum. Alles war dämmerig erleuchtet, und ein seltsames Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit strömte über mich hin. Ich konnte mich nicht entschließen, mich hinzulegen oder das Licht anzuzünden. Langsam ging ich quer durch das Zimmer zum Fenster, öffnete es und setzte mich auf die schmale Bank.

Draußen lag das Land im silbernen Glanze des Mondes. Die Wiesen ruhten wie unter feinen Schleiern, und die Wälder dehnten sich schwarz und schweigend wie riesige Schatten über Hügel und Berge. Ich liebte dieses Land, als sei es meine Heimat: Die duftenden Büsche, die weiten Potreros mit den verkohlten Baumstümpfen, der einsame Strand, der Fluß mit seinem stillen Wasser und den vielen Vögeln, die geheimnisvollen Wälder und das fernher brausende Meer. Ich umfaßte Nähe und Ferne mit der ganzen Liebe, deren ein Knabenherz fähig ist, und sah mit von Tränen getrübtem Blick auf die in schimmerndem Glanze liegende Weidekoppel jenseits des Gartens. Busch und Baum verwehrten mir ein wenig die Aussicht, aber ich wußte, daß dort die Pferde waren, 158 unter ihnen auch der Mirasol, den ich nie wieder sehen, nie wieder reiten würde, und der doch mein allerbester Kamerad gewesen war. Lange starrte ich auf die helle Fläche hinüber, von der von Zeit zu Zeit ein kurzes Wiehern zu mir herüberklang. Mein Blick irrte auf die fernen Höhen. Bilder stiegen vor meiner Seele auf, und mit einem Male wußte ich, was ich zu tun hatte.

Ich schlich bis zur Tür und horchte. Im Hause war es totenstill. Alles schlief, sogar die Lampen auf den Höfen waren ausgelöscht. Da ging ich leise die Treppe hinunter, eilte über den Flur und trat in den nächtlichen Garten. Die laue Sommerluft war erfüllt vom Dufte blühender Nelken. Lautlos huschte ich zwischen den Beeten dahin, eilte hinüber zur Tranca, kletterte an den Querbalken empor und setzte mich rittlings auf den obersten hin. Da lag die silberschimmernde Wiesenfläche vor mir. Am jenseitigen Ende erhob sich ein einziger gewaltiger Urwaldbaum und warf seinen Schatten weit über die Ebene hin. Am Stamm standen unbeweglich die Pferde. Ein wenig abseits lugte ein Rappe über den Zaun, den Kopf wie horchend den Bergen zugewandt. Ein Schimmel lag mitten auf dem Weideplatz. Lange und angestrengt sah ich zu der Gruppe hinüber, dann fand ich endlich, was ich suchte. Ich erkannte den Mirasol.

Spähend sah ich mich um, ob mich niemand beobachte. Es war unnötig, alles lag in tiefem Schlaf. Da pfiff ich leise, so wie ich immer pfiff, wenn ich den Mirasol locken wollte. Drüben regte sich 160 nichts. Ich pfiff zum zweiten Male und lauter, und siehe, nun kam Bewegung in das dunkle Knäuel. Ein Pferd trat aus dem Schatten des Baumes in die Helle des Mondes. Es war der Mirasol. Langsam kam er daher bis in die Mitte der Wiese, blieb stehen und hob den Kopf. Aufmunternd rief ich: »Hieher, Mirasol!« Und wirklich, er bewegte sich in gerader Richtung auf mich zu. »Mirasol!« sagte ich mit unendlicher Zärtlichkeit, rutschte von der Tranca hinunter und stand neben dem Tier, strich ihm die Mähne zurück, klopfte ihm den Hals und legte mein Gesicht an seinen Kopf. Ganz ruhig ließ es sich meine Liebkosungen gefallen. »Mirasol,« sagte ich, und es war, als ob ich zu einem lieben Menschen spräche, »nun muß ich weg, und du bleibst ganz allein hier zurück. Nie mehr werden wir zusammen durch die Wälder reiten, nie mehr zusammen auf die Höhen steigen. Und wenn ich wiederkomme, bist du vielleicht schon lange tot.«

Sachte öffnete ich die Tranca und zog das Tier an dem Strick, mit dem ich es sonst in mondhellen Nächten festband, hinaus auf den Weg, setzte mich auf seinen Rücken und ritt mit ihm durch die lautlose, sternenklare Nacht an den Potreros vorbei den Höhen zu. Dort, wo der Wald begann, stieg ich ab, strich ihm noch einmal über den Hals und sagte: »Nun lauf, was du kannst, Mirasol, und laß dich nie, nie, nie wieder einfangen!« Dann begann ich es zu jagen und zur Flucht aufzumuntern. Erst wollte es nicht so recht, dann aber huschte plötzlich eine wilde Katze aus dem Gebüsch über 161 den Weg, und da nahm es Reißaus, und war im Nu meinen Blicken entschwunden. Horchend blieb ich einen Augenblick stehen, hörte das dumpfe Aufschlagen der Hufe und das Streifen durch das Gebüsch. Dann kehrte ich zurück und war ruhig und zufrieden, denn ich wußte, daß der Mirasol noch vor Sonnenaufgang wieder bei den anderen Pferden hinter den Wäldern war.

Am andern Morgen, als wir eben im Begriffe waren abzureisen, kam José und berichtete ärgerlich, der Mirasol sei in der Nacht wieder ausgerückt und es sei das allerletzte Mal, daß er den Schinder suchen gehe. Stumm und still hörte ich seinem Schimpfen zu. Dann stieg ich statt ins Auto zu meinem Freunde aufs Pferd, und so ritten wir zu zweit in die Stadt. Es war schön und traurig zugleich. Mir lag noch etwas Besonderes auf dem Herzen, das mich quälte, und das ich nicht recht anzubringen wußte.

»Heinrich,« sagte ich ein wenig beklommen, »willst du mir einen letzten Gefallen tun?«

»Ja, gern. Was soll es sein?«

»Willst du, bitte, wenn José oder Gómez hinaufwollen, um den Mirasol zu fangen, sagen, sie sollten es bleiben lassen. Das Tier tauge nichts. Auch ich hätte es nicht mehr reiten wollen und Ähnliches mehr.«

Heinrich wandte sich halb um und fragte lachend: »Warum denn das auf einmal? Ich dachte immer, du seiest so stolz auf den Mirasol.« 162

»Eben darum,« antwortete ich eindringlich, »verhindere auf jeden Fall, daß man ihn einfängt. Ich möchte so gerne, daß er immer dort bleibt, wo es ihm am wohlsten ist.«

Ein Weilchen war es still. Dann sagte Heinrich: »Das will ich gern besorgen.« Ich fühlte, daß er mich verstanden hatte, und wußte, daß ich mich auf ihn verlassen konnte. Nun war alles erledigt, und ungetrübt und beruhigt umfaßte ich noch einmal mit offenen Augen das schöne Land, das im Scheine der aufgehenden Sonne so friedlich, so traumverloren und so farbenfroh fast wie ein Stück Paradies zu unseren Füßen lag.

Dann waren wir auf dem Schiff und wandten uns zurück. Auf der Mole winkten Maltes, und wir grüßten wieder. Langsam 163 fuhren wir nordwärts. Immer weiter blieb die Stadt zurück. Immer höher stieg die Sonne. In Gedanken versunken sah ich auf das entfliehende Stückchen Gotteserde, und alles Schöne, das mir der vergangene Sommer auf der weltfernen Insel gebracht hatte, stieg wie eine Fata Morgana noch einmal vor meiner Seele auf.

Über allem aber schwebte wie ein kleiner Stern die Erinnerung an den Mirasol und zwar so lieblich, daß sie heute noch als Symbol in mir weiterlebt, denn Mirasol heißt Sonnenblick, und so oft ich mich im Geiste in jene Zeit versenke, ist es immer, als tue ich einen Blick in eine sonnenbeglänzte, goldene, fast unwirklich schöne Welt.

 


 


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