Ina Jens
Hannelore im Urwaldwinkel
Ina Jens

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Sturm

Die drei Brüder Walther, Heinrich und Hans Siewers hatten sich einst in ihrer Jugendzeit ausgezeichnet verstanden, aber seit sich ein fremder Himmel über ihnen wölbte, und sie erst recht hätten zusammenhalten sollen, waren Feindseligkeiten entstanden, die sie trennten, als ob sie fremde Menschen wären. Der Grund dazu lag in ihrer verschiedenen Einstellung zu ein und derselben Arbeit.

Walther Siewers, der älteste, hatte sich im »Rincón« niedergelassen, aber nicht weil ihm die Nähe der Stadt vorteilhaft erschien oder weil er glaubte, der Boden sei besonders ertragreich, sondern weil dieses schöne Stückchen Erde zwischen Wald, Fluß und Meer seinem Auge und seiner Seele etwas bot, das über die Arbeit des Alltags hinausging.

Hans und Heinrich waren tiefer in den Urwald hineingezogen und hatten sich dort von der Regierung ein riesengroßes Stück Land zum Bebauen geben lassen.

Hans war der jüngste und stärkste. Er hatte kein andres Ziel als reich zu werden. Zugreifen und sich mühen vom Morgen bis zum Abend wollte er gern, aber nicht umsonst. Er träumte von großem Besitz und wollte dereinst ebensoviel sein eigen nennen wie ein kleiner Fürst in der Heimat. Mitten in der Wildnis baute er sich ein festgefügtes Holzhaus und verheiratete sich mit einem deutschen Mädchen von einer in noch tieferer Einsamkeit liegenden Siedlung.

Heinrich hatte sich anfangs willig mit Hans zusammengetan, auch sein kleines Erbteil von den Eltern für das Unternehmen des Bruders hergegeben, aber dann war ihm dieses Hasten und Sichabrackern auf einmal zuwider geworden.

Er hatte eine stille, weltabgewandte Seele und war ein halber Gelehrter. Bevor der Krieg ausbrach, hatte er ein paar Semester studiert, denn er wollte Arzt werden, aber dann zerriß alles Geplante mit einem Male. Er 33 mußte ins Feld, und als er heimkehrte, waren die Eltern gestorben und die Familie verarmt. Da war er mit den Brüdern ausgewandert.

Nachdem er ein Jahr lang das harte Leben eines Urwaldbauern geführt hatte, erkannte er, daß diese Art ihn nie befriedigen würde, und er fing an, sich auf seine besondre Weise zu beschäftigen. Er begann eine kleine Bienenzucht, pflanzte Blumen, fing an zu sammeln, was der Urwald an Seltenheiten bot, schrieb Aufsätze für Zeitungen, half hier und dort einem kranken Menschen oder Tier, wenn kein Arzt zur Stelle war, und begann, sich so ein ganz eigenes Leben einzurichten.

Hans sah das lange Zeit stillschweigend mit an, aber gepaßt hat es ihm nicht. Im Gegenteil, er ärgerte sich grenzenlos, wenn etwa ein Sturm kam und alle zugriffen, und nur der Bruder tat, als ob ihn das nichts anginge. Und darum sagte er ihm eines Tages gerade heraus, er möge sich mit seinem ganzen Kram »zum Teufel« scheren.

Heinrich ließ sich das nicht zweimal sagen. Er erwiderte nur, daß er dort, wohin ihn sein Bruder wünsche, auch nicht umsonst leben könne, und er möchte deshalb seinen Anteil am Gut heraus haben.

Mit zornigem Gemüt ritt Hans in die Stadt, bat die Bank um ein Darlehen und zahlte damit seinen Bruder aus. Dieser packte seine Habseligkeiten ein und zog davon, niemand wußte wohin, und seither war er wie verschollen.

Walther Siewers hatte in dieser Angelegenheit seinem jüngsten Bruder recht gegeben, und infolgedessen war auch zwischen ihm und Heinrich alles aus.

Hannelore hatte einmal erzählen hören, daß der Vater außer Onkel Hans noch einen Bruder habe, von dem niemand wisse, wo er geblieben sei. Da sie ihn aber nie gesehen hatte, war er ihrem Gedächtnis entschwunden.

Wie es jedoch gerade ihr vorbehalten war, diesen Onkel aufzufinden, und was für Folgen daraus entsprangen, das erzählt die nachfolgende kleine Geschichte.

Das Landgut von Hans Siewers hieß »Los Muermos«. Er hatte ihm diesen Namen gegeben, weil dort, wo sein Haus stand, eine Menge dieser herrlichen, weißblühenden Urwaldbäume stand.

Seine Frau hieß Mathilde; Hannelore aber nannte sie kurzwegs Tante 34 Tila. Sie hatten wie Siewers im »Rincón« nur ein Kind, einen zwölfjährigen Jungen, namens Olaf.

Olaf war ein hochaufgeschossener, zarter Knabe, der wenig Lust für die Landwirtschaft zeigte. Sein Sinn war ganz den Büchern zugewandt, und seine kleine Dachstube verriet noch allerlei andre Liebhabereien. Da waren Kästen voll Schmetterlinge und Käfer, Stöße von gepreßten Blumen, Käfige mit lebenden Vögeln, ein Aquarium und vieles andre.

Hans Siewers liebte diesen Jungen über alles, und es war seltsam, wie ihn das, was er an seinem Bruder nicht leiden mochte, bei seinem Kinde mit Stolz erfüllte. Es stand bei ihm fest, Olaf solle dereinst studieren. Vorläufig wurde der Knabe während der Schulzeit in ein katholisches Internat in die Stadt geschickt, von wo er über Sonntag meist nach Hause ritt oder zu Onkel Walther in den »Rincón« ging.

Olaf und Hannelore vertrugen sich gut, obwohl ihre Art ganz verschieden war. Hannelore mochte diesen stillen, sanften Jungen, der so viel mehr wußte als sie, und der ihr doch in allem zu Willen war, gut leiden. Sie war ein Jahr älter als er, viel lebensfrischer, unternehmungslustiger und außer im Schulwissen ihm weit überlegen.

Es war in der letzten Oktoberwoche. Das Land war tagelang nebelverhangen gewesen, und man erwartete Regen. Tante Tila war in die Stadt geritten, um Olaf nach Hause zu holen, denn die Schule wurde wegen Masern geschlossen. Auf dem Rückwege sprach sie im »Rincón« vor. Sie erzählte, daß ihr Mann am Sonnabend vor Allerseelen nach »Punta verde« reite und daß sie dann drei Tage lang mit Olaf ganz allein im Hause sei, und sie fragte, ob man ihr nicht Hannelore für die beiden Feiertage schicken wolle.

Siewers hatte nichts dagegen, denn sie kannten Hannelores Vorliebe für »Los Muermos«, aber der Vater fragte: »Wer wird sie denn hinbringen? Sie kann den Weg nicht allein machen. Es sind immerhin zwei Stunden hin und zwei Stunden zurück, und wir sind augenblicklich alle beschäftigt.«

»Mein Mann hat am Sonnabendmorgen noch geschäftlich in der Stadt zu tun. Auf dem Rückweg kommt er bei euch vorbei und nimmt sie mit, und am Montagnachmittag bringt sie mein Bruder wieder zurück.« 35

»Wenn sich nur das Wetter hält! Es sieht ganz nach Sturm aus . . .,« sagte Walther Siewers nachdenklich.

»Oh!« jubelte Hannelore, »das wäre fein, wenn ich im Sturm nach ›Los Muermos‹ reiten könnte!«

Die Mutter warf ihr einen ernsten Blick zu und verwies sie streng: »Sprich nicht so kindisch! Du weißt sehr gut, was ein Sturm im Wald bedeutet.«

Hannelore schwieg. Das war nämlich ein Punkt, über den sie und die Eltern sehr verschieden dachten. Hannelore liebte den Aufruhr in der Natur über die Maßen. Sie konnte sich gar nichts Schöneres denken, und die Eltern hatten es ihr oft verbieten müssen, bei einem Unwetter das Haus zu verlassen. Sie war dann immer ein wenig trotzig in ihre Stube gegangen, hatte sich ans offne Fenster gesetzt und mit großen Augen dem Toben draußen zugesehen und mit Entzücken dem Brausen und Rauschen ringsum in den Wäldern und dem fernen Donnern des Meeres gelauscht.

Der Vater fügte darum auch entschieden dazu: »Sollte sich das Wetter bis Sonnabend nicht verändern, so bleibt Hannelore zu Hause.« Dagegen war nichts mehr einzuwenden, und es blieb bei der Verabredung. Auf jeden Fall aber würde Onkel Hans im »Rincón« vorsprechen.

Nach »Los Muermos« reiten war für Hannelore ein Ereignis, denn dort schien ihr eine ganz andere Welt zu sein, gewaltiger, weiter und wilder, aber auch stiller und einsamer, denn der Fluß und das Meer fehlten.

Am Sonnabend kam Onkel Hans. Der Vater sah sich prüfend nach allen Himmelsrichtungen um. Über den Wäldern schimmerte ein Stückchen Himmelsblau, und über dem Fluß lag sogar etwas wie Sonnenschein, obwohl man nicht hätte sagen können, woher diese Helle kam.

»Du brauchst dich nicht zu sorgen,« erklärte sein Bruder. »Es hellt sich auf.«

»Und sonst . . .,« sagte der andre, »versprich mir, daß ihr Hannelore, nur wenn ganz schönes Wetter ist, zurückschickt! Das Kind ist nämlich in dieser Hinsicht unberechenbar und unvernünftig.«

»Keine Angst!« Er lachte. »Wir wissen dahinten, was Sturm ist.«

Und so zogen sie ab, Onkel Hans auf einem kräftigen, großen Tier und 36 Hannelore auf der Ventanita. Sie trug ein Reitkleid, hohe Schaftstiefel und eine festsitzende Jockeymütze, unter der die dicken, blonden Zöpfe hervorquollen. Ihre übrigen Sachen waren in zwei Taschen verstaut, die zu beiden Seiten des Sattels hingen.

Sie nahmen den Weg am Meere hin. Zuerst ging es eine halbe Stunde lang geradeaus, rechts die Weidekoppeln vom »Rincón«, links ein wenig Strand und das weite Meer, das in einem eigentümlichen Graugrün schimmerte und sich drohend kräuselte, fast wie ein lauerndes Tier, in dessen Tiefen sich irgend etwas Bösartiges vorbereitet.

Dann kamen sie zu den »Rocas«. Das waren hohe, zerklüftete Felswände, über deren Rand aus der Höhe langästige Sträucher herunterhingen. Hier war der Weg schmal, und die Brandung rauschte an manchen Stellen sogar darüber hin.

»Wenn es stürmt, kommt man hier nicht vorbei,« bemerkte Onkel Hans.

»Bah . . .,« machte Hannelore. »Können eure Pferde nicht schwimmen?«

Er streifte sie mit einem spöttischen Blick. »Du würdest doch nicht etwa im Sturm mit deinem Pferd hier durchreiten wollen?«

Hannelore schwieg ein Weilchen, aber über ihr Gesicht breitete sich ein verstecktes, übermütiges Lachen, und dann sagte sie: »Warum denn nicht . . .?«

Der Onkel holte aus. »Das würde dir schon vergehen.«

Bald waren sie im Wald. Es war ein dunkler, dichter Wald mit hohen, alten Bäumen und verschlungenem Gebüsch. Der Pfad war nicht mehr als fußbreit und oft von quer auf dem Boden liegenden Stämmen versperrt. Die Pferde hatten es nicht leicht. Sie mußten ein Hindernis nach dem andern nehmen.

»Wie kommt ihr von dahinten eigentlich mit den Karreten in die Stadt? Doch nicht hier entlang?«

»Nein, auf der andern Seite. Nur zum Reiten nehmen wir diesen Weg. Er ist kürzer. Bald biegen wir auf den Fahrweg ein.«

Sie ritten in vielen Windungen aufwärts. Und es war wie im Märchenland: Grüne Wände zu beiden Seiten und in der Höhe ein wenig grauer Himmel. Kein Vogel sang. Kein Meeresrauschen! Nicht einmal eine 38 Wildkatze oder ein Fuchs liefen über den Weg. Totenstille ringsum und tiefe Einsamkeit!

Jetzt kamen sie an den Rand einer bewaldeten Schlucht. Immer zwischen Büschen und im Dämmer hoher Bäume stiegen sie vorsichtig den Hang hinunter, in der Tiefe durch einen spärlich fließenden Bach und dann wieder aufwärts.

Da begannen die Planehados. Das waren Knüppeldämme, die wegen des sumpfigen Bodens ein paar hundert Meter weit errichtet worden waren. Hannelore haßte sie, denn sie fürchtete für die Pferde, deren Hufe sich leicht zwischen den Stämmen einklemmen konnten. Aber sie kamen ohne jede Ungelegenheit hinüber und standen nun auf einer Anhöhe mit freiem Weideland. Vor ihnen dehnte sich weithin wie ein wellenförmiges Meer der Wald über Hügel und durch Täler dahin. Eine Wolkenwand schnitt den Ausblick in die letzte Ferne ab, und Hans Siewers sagte: »Heute sieht man nicht bis ans Ende, aber von hier bis dort, wo der Wald zum Meer absteigt, gehört alles zu ›Los Muermos‹.«

Hannelore sah über das Land und antwortete nachdenklich: »Ja, ich weiß. Du bist viel reicher als wir . . . Wir haben nicht den dritten Teil davon.«

»Dafür hat dein Vater aber auch keine Schulden und leichtere Arbeit.«

»Vielleicht . . .,« gab Hannelore zu, aber sie dachte: »Mehr arbeiten, als mein Vater tut, kann man hier auch nicht.«

Sie ritten jetzt durch gelichteten Wald. Von Zeit zu Zeit öffnete sich das Gehölz auf ein weites Stück Weideland. Dann war wieder Wald.

Endlich langten sie in »Los Muermos« an, freudig begrüßt von Tante Tila und Olaf.

Olaf half Hannelore ihr Pferd absatteln und ging dann mit ihr ins Haus. Er trug ihre beiden Satteltaschen und sagte, er freue sich furchtbar, daß sie gekommen sei. Hannelore mußte sich erst gründlich reinigen und umziehen. Dann trat sie in die große, helle Stube. Sie war nicht so schön wie das Wohnzimmer ihrer Eltern im »Rincón«, aber auch sehr freundlich, und Hannelore sah mit Wonne den herrlichen Käsekuchen auf dem mit einem weiß und rot gewürfelten Tuch gedeckten Tisch. 39

Sie tranken Kaffee und hatten viel zu erzählen. Onkel Hans wollte gleich aufbrechen.

»Nun lasse ich dich ganz allein mit den Kindern hier,« sagte er besorgt, aber seine Frau antwortete leichthin: »Da ist doch nichts dabei. Du bleibst ja auch nicht eine Ewigkeit fort.«

»Nein,« erwiderte er, »wenn wir es irgendwie einrichten können, kommt dein Bruder morgen abend zurück, und ich wahrscheinlich übermorgen.«

Dann ritt er fort. Hannelore und Olaf blickten ihm noch eine Weile von der Haustür aus nach. Als er hinter der letzten Scheune verschwand, wandte sich Hannelore an Olaf: »Wo hast du die Ventanita gelassen?«

»Da drüben im ersten Potrero. Aber willst du denn schon wieder reiten?« Er konnte eine kleine Enttäuschung nicht verbergen. Sie sah ihn an und erwiderte: »Ich denke nicht daran. Ich habe heute gerade genug vom Reiten. Zwei Stunden! Das ist nicht wenig auf solchen Wegen.«

»Dann komm! Ich werde dir zeigen, was ich alles in meiner Stube aufgestapelt habe.«

Sie traten in ein helles Dachstübchen mit wunderbarer Aussicht auf Wald und Wiesenland. Olaf zeigte Hannelore seine Schmetterlinge und Käfer.

»Wer lehrte dich, dies alles so hübsch zu präparieren und aufzustellen?«

»Einer von den ›Padres‹ in der Schule. Er ist furchtbar klug und hat selbst auch große Sammlungen. Er kennt jedes Tier und jede Pflanze hier herum.«

»Und hier . . .« Er brachte Stöße von gepreßten Blumen. Hannelore sah alles geduldig an. Sie war hier zu Besuch, und sie wußte, was sich schickte. Auch machte ihr Olafs Eifer, mit dem er ihr alles erklärte, Spaß. Jedoch interessieren taten sie diese Dinge nicht im geringsten.

Zwar auch sie liebte die Blumen, die Käfer, die Schmetterlinge, aber lebendig draußen auf den Wiesen und im Wald, nicht im Zimmer auf Nadeln gespießt und tot, und die Blumen wie verwaschen und ohne den Sonnenglanz des Morgens.

Sie trat ans Fenster und sah in die Ferne. »Du . . . Olaf!« rief sie erregt, »ich glaube, es gibt ein Gewitter.« 40

Er trat zu ihr, blickte prüfend hinaus und meinte: »Hoffentlich nicht! Ich hasse den Regen und den Sturm. Du weißt natürlich nicht, wie das hier ist. Na, ich will dir nicht wünschen, daß du es bei uns erlebst.«

»Bah . . .,« machte sie. »Was wird es denn bei euch groß anders sein als bei uns! Bei uns ist es nämlich herrlich, besonders in der Nacht. Da brüllt das Meer und saust der Wind, daß einem Sehen und Hören vergeht. Der ganze Wald bewegt sich hin und her, und der Regen klatscht gegen die Fenster! Ich möchte dann vor lauter Wonne aus der Haut fahren.«

Olaf lächelte überlegen: »Du bist wirklich etwas verdreht.«

In der Nacht wurde Hannelore im Zimmer bei Olafs Mutter untergebracht. Nach einem tiefen und gesunden Schlaf erwachte sie früh am andern Morgen.

Sie sah sich um. Ihre Tante war schon aufgestanden. Sie blieb liegen und horchte. Aus der Küche drang leises Geräusch. Ein Hahn krähte. Ein paar Hühner gackerten. Ganz fern brüllte eine Kuh, und irgendwo wieherte ein Pferd. Dann war es still, vollkommen still.

Eine solche Stille kannte Hannelore nicht. Im »Rincón« zog um diese Zeit irgendeine Herde Vieh mit Gebrüll auf die Weide. Menschen sprachen, die zur Arbeit gingen oder auf dem Fluß stromabwärts fuhren.

Hannelore kam alles so geheimnisvoll vor, und ihr war es, als ob jeden Augenblick etwas geschehen müsse, etwas, das diese Stille mitten durchschnitt.

Sie sprang aus dem Bett, wusch sich in eiskaltem Wasser und zog ihren Reitanzug und eine warme Bluse an, denn der Tag sah neblig durch die Scheiben. Dann ging sie hinaus und traf auf dem Flur die Tante.

»Oh!« staunte diese, »schon auf? Willst du gleich Kaffee trinken oder nachher mit Olaf zusammen? Der schläft nämlich noch wie ein Murmeltier. Das ist immer so, wenn er in den Ferien zu Hause ist.«

»Ich werde ein wenig umherreiten und nachher mit Olaf frühstücken,« entschied sie.

»Gut. Entferne dich aber nicht zu weit vom Hause! Es ist kalt und windig.«

Hannelore trat auf den Hof. Der Morgen verhieß Regen. Sie blickte 41 über »Los Muermos« weg. Da lagen einsam und verlassen die Scheunen, und drüben jenseits des Weges die leeren Weidekoppeln!

Hannelore wußte, Onkel Hans trieb keine Milchwirtschaft. Dafür war er viel zu weit von der Stadt entfernt. Er verdiente mit Korn, Kartoffeln und Wolle. Seine Schafe zählten nach vielen Hunderten und weideten bald hier, bald dort. Augenblicklich waren sie in der Gegend von »Punta verde«, und darum sah man außer zwei Kühen und drei Pferden hier kaum ein lebendes Wesen.

Hannelore sattelte die Ventanita und ritt mit ihr langsam und sinnend längs der Wiesen dahin und dann ebenso bedächtig und nachdenklich wieder zurück.

Als sie in die Stube trat, saß Olaf schon am Tisch. Sie sprach mit ihm von den Potreros.

»Ihr habt feine Weiden, besonders die letzte, die vor dem Wald. Wie ein ebener, grüner Spiegel!« Mit leuchtenden Augen meinte sie: »Da könnte man herrlich um die Wette rennen.«

»Ach so, du meinst dort hinten vor dem Graben!« Olaf gähnte. »Ja, da kommen die Huasos aus den Wäldern auch ein- oder zweimal im Jahr und machen ›Carreras‹.«

Ihn interessierte das ebensowenig wie Hannelore seine Sammlungen, und ablenkend fragte er: »Hast du nichts Besondres geträumt? Du weißt, so in der ersten Nacht an einem fremden Ort ist es immer bedeutungsvoll. Ich träumte ganz schrecklich. Die Scheunen brannten lichterloh und nachher der ganze Wald, und ich bin wie wahnsinnig gelaufen und gelaufen, um mich zu retten.« Er lachte: »Ich bin wirklich noch ganz müde davon.«

Hannelore dachte nach. Ihr war es, als ob auch sie einen schweren Traum gehabt hätte.

»Ja, wahrhaftig!« Nun erinnerte sie sich. »Ich träumte, ich sei mit der Ventanita im Meer herumgeschwommen, und die Wellen schlugen über uns weg, aber dann stand ich mit einem Male auf einem hohen Berg, und neben mir war ein fremder Mann. Der hatte mich gerettet. Ich wollte ihm gerade danken, da wachte ich auf.« 42

»Na, ihr habt ja ziemlich schaurige Sachen geträumt,« meinte Olafs Mutter. »Hoffentlich hat das nichts zu bedeuten!« scherzte sie und fragte, was sie denn nun beginnen wollten.

»Wir reiten aus. Magst du?« Hannelore sah fragend auf Olaf. »Gut!« erwiderte er zögernd. Ihm machte das Reiten keinen Spaß, obwohl er so sicher wie irgendein Urwaldjunge im Sattel saß und auch zwei eigne Pferde hatte.

Eine halbe Stunde später ritten die beiden Kinder an den Weidekoppeln dahin. Sie kamen zu der Wiese, die Hannelore so gut gefallen hatte.

Es war eine Ebene von etwa zweihundert Meter Länge, die an einem Wassergraben endete. Jenseits war noch einmal soviel Weideland, aber nicht fertig urbar gemacht. Überall lagen Baumstümpfe und trockenes Gestrüpp umher.

Sie lenkten die Pferde auf die Wiese. Sie war abgeweidet und vorzüglich geeignet, um dahinzujagen.

Hannelore betrachtete Olafs Tier. Es war ein schöner Fuchs, größer als die Ventanita, aber unruhig und, wie sie sofort erkannte, nicht leicht zu bändigen. In Hannelore stieg die Lust auf, die Pferde zu prüfen.

»Reiten wir um die Wette?« fragte sie. »Von hier bis zum Graben?« Olaf war einverstanden.

»Tauschen wir die Tiere?« Der bewegliche Fuchs reizte sie. Sie wäre zu gern auf ihm dahingeflogen.

Olaf, der einen Blick auf die Ventanita geworfen hatte, entgegnete langsam: »Nein . . ., lieber nicht . . . Ich bin so an mein Pferd gewöhnt.«

»Gut . . . Also . . . stellen wir uns auf! . . . Hier!« Sie standen nebeneinander. Und dann schossen sie dahin . . . immer mit derselben Geschwindigkeit.

Plötzlich war Olafs Fuchs voraus. Sie waren nicht mehr weit vom Ziel. Hannelore wollte die Ventanita anfeuern und stieß einen aufmunternden Ruf aus . . ., und da . . . Sekunden weiter . . . war das Unglück geschehen!

Der Fuchs setzte mit einem wilden Satz über den Graben weg. Olaf flog aus dem Sattel, blieb im Steigbügel hängen und wurde von dem scheu gewordenen Pferde eine Strecke weit zwischen den Baumstümpfen geschleift. 43 Hannelore jagte entsetzt hintennach. Sie glaubte, die Welt drehe sich in rasendem Wirbel vor ihren Augen. Heiliger Gott! Nur nicht zu Tode schleifen! Wenn nur der Fuß aus dem Bügel glitt! . . . Da . . . der Fuchs raste allein davon . . .

Olaf lag zwischen zwei Stämmen. Hannelore fiel neben ihm auf die Knie. »Olaf . . .« stammelte sie in Todesangst.

Er rührte sich nicht. Sein Anblick war schreckenerregend. Der Kopf klaffte von Wunden. Blut lief aus Mund und Nase, und die Glieder lagen wie tot im Gras.

Hannelore sprang auf. Hier konnte sie nicht helfen. Zurück zu Tante Tila! Bis an die Haustür trieb sie das Pferd.

»Tante Tila!« schrie sie wie sinnlos. Die kam herausgestürzt. »Um Gottes willen! Ist etwas passiert? Wo ist Olaf!«

»Tante, schnell! Nimm etwas Verbandzeug! Olaf ist gestürzt! Schnell, sonst stirbt er!«

Frau Siewers raffte in der Eile etwas Leinenzeug zusammen. Sie konnte nicht sprechen. Stumm und blaß bis in die Lippen bestieg sie mit Hannelore die Ventanita, und in wenigen Minuten war sie bei dem Jungen. 44

Sie sank neben ihm nieder, versuchte das Blut zu stillen, es gelang ihr nicht. Sie rief leise seinen Namen. Er gab kein Lebenszeichen von sich, es war, als liege er in den letzten Zügen.

Sie krampfte ihre Hände zusammen, ratlos, verzweifelt. »Hannelore . . .,« stieß sie heraus, »was für ein Unglück! Und niemand weit und breit . . .!«

Hannelore sah auf sie nieder. Ein Zittern lief durch ihren Körper, die Zähne schlugen ihr zusammen: »Soll ich nach ›Punta verde‹ reiten und Onkel Hans holen?«

»Nein, das ist zu weit . . .« Sie schloß die Augen. Sie war einer Ohnmacht nahe. Dann aber kam sie zu sich, faßte sich und sagte: »Komm, hilf mir! Ich werde Olaf nach Hause tragen.«

»Tante, das geht nicht, er ist zu schwer. Können wir nicht zu zweit . . .?«

»Nein . . . nein! . . . Laß nur! . . . Ich trage ihn allein . . .« Und wirklich, langsam und vorsichtig trug sie ihn auf ihren Armen nach Hause. Hannelore folgte ihr zu Fuß und zog ihr Pferd am Zügel hinter sich her.

Zu Hause wurde der leblose Körper des Knaben auf ein Bett gelegt. Die Mutter versuchte in fliegender Eile dies und jenes, um die Blutung aufzuhalten, aber alles war vergebens.

»Hannelore . . .,« sie raffte sich auf, »bleibe du hier! Ich reite in die Stadt . . .« Sie schlug die Hände vor das Gesicht. »Großer Gott!« stöhnte sie. »Vor vier Stunden kann der Arzt nicht hier sein, und bis dahin verblutet er!«

Da sagte Hannelore: »Du mußt bei Olaf bleiben. Du kannst ihm besser helfen als ich. Ich reite sofort nach Hause. Von dort kann jemand in die Stadt geschickt werden. Ein Freund meines Vaters hat ein Auto. Das muß er hergeben.«

Hastig und bestimmt hatte sie gesprochen, und ohne eine Antwort abzuwarten, war sie draußen. Da spürte sie, daß der Wind sich erhoben hatte. Ein kalter Stoß wehte ihr ins Gesicht, und die Höhen lagen ganz hinter Nebelschwaden. Der Sturm war im Anzug.

Sie lief ins Haus und warf sich einen Poncho über, setzte eine Ledermütze auf und jagte davon. 45

Unterwegs fiel es ihr ein, daß sie einen zweistündigen Ritt vor sich hatte. Diese Vorstellung entsetzte sie. Sie zwang sich, nicht daran zu denken. Sie wollte den Weg einteilen und sich kleine Ziele setzen, dann war er schneller bewältigt. Erst durch den Wald bis auf die Höhen . . . dann über die Wiesen bis zu den Planchados . . . dann durch die Schlucht bis zu den Rocas . . .

Sie ritt und ritt, und es war, als ritte sie mit dem Tod um die Wette . . . Vier Stunden, bis der Arzt in »Los Muermos« sein konnte! Und unterdessen! Es war nicht auszudenken . . .!

Der Wind nahm zu, und der Nebel wälzte sich immer näher heran. Jetzt fielen auch die ersten Tropfen. Immer weiter raste sie. Der Sturm wurde stärker, und als sie endlich auf den Höhen war, sah sie ringsum nichts weiter als eine graue Nebelwand und mußte sich einen Augenblick besinnen, wo der Weg weiterging.

Da waren die Planchados! Gott, wenn das Pferd auf den schlüpfrigen Querbalken ausglitt! Dann . . . Ja dann war das Unglück fertig und Hilfe ausgeschlossen.

Die Ventanita hielt sich gut. Unbekümmert um Knüppeldämme, Regen und Wind eilte sie dahin. Jetzt kam die Schlucht. Der Sturm tobte in der Tiefe und in der Höhe. Hannelore hielt einen Augenblick an. Sie hatte Angst, richtige Angst. Der Weg in die Schlucht war gefährlich: schmal, glatt und mit vielen Windungen.

Das Wasser strömte vom Himmel, rann von den Bäumen und Büschen, floß zusammen und bildete Pfützen, und der Wind tobte in den alten hohen Stämmen und Kronen, und kein Mensch war weit und breit.

Was sollte sie tun? Sie dachte an die Eltern. Sie dachte an den sterbenden Knaben und daß sie . . . vielleicht . . . Schuld an dem ganzen Unglück trug. Ein Schauer fuhr durch ihren Körper, und rasch entschlossen lenkte sie die Ventanita den Hang hinunter. Das Tier glitt aus, richtete sich aber gleich wieder auf. Vorsichtig, behutsam kamen sie unten an.

Der unbedeutende Bach war in der kurzen Zeit angeschwollen und eilte tosend und schäumend dahin, aber die Ventanita rang sich hindurch. Nun den Abhang hinauf! Hannelore glitt vom Pferd, stieg voran und zog das Tier nach. 46

Jetzt kamen die Serpentinen. Da war keine Gefahr mehr. Hannelore sah zwar kaum drei Schritte weit vor sich. Die Büsche klatschten ihr unter den Windstößen beim Vorübereilen ins Gesicht. Das Wasser lief ihr über Hände und Füße. Endlich . . . endlich war sie bei den »Rocas«. Noch eine halbe Stunde, dann war sie zu Hause.

Aber . . . Gott im Himmel! Was war denn das? Da war überhaupt kein Weg mehr. Nicht ein Zollbreit zwischen Fels und Wasser! Die Brandung schlug haushoch an den steilen Wänden empor, und das Meer tobte wie ein wild gewordenes Ungeheuer.

Mit Entsetzen sah Hannelore in dieses maßlose Stürmen, aber sie gab sich nicht besiegt. Sie mußte ja hindurch. Einen Augenblick wartete sie. Die Wasser liefen zurück. Sie trieb die Ventanita gegen die Felswand . . . Umsonst! . . . Das Tier bäumte sich unter dem wiederkehrenden Anprall der Wellen hoch auf . . . Was tun? . . . Hier war kein Ausweg.

In wilder Verzweiflung wandte sie das Pferd und jagte zurück . . . zurück! Sie sah nichts mehr vom Wege . . . Nebel ringsum . . . Strömender Regen . . . . Brausender Wind . . . Aber dann . . . wurde sie mit einem Male aufmerksam.

Sie stand auf einem freien Platz . . ., wenigstens kam es ihr so vor. Alles war ihr fremd. Mein Gott! Sie schrie laut auf . . . Sie hatte sich verirrt! Wo war die Schlucht? Wo waren die Planchados? Entsetzt starrte sie um sich . . .

Da . . . war das Täuschung oder Wirklichkeit? Da lag ein Haus, ein Haus, das sie nie gesehen hatte. Vielleicht waren da Menschen . . . Sie jagte darauf zu.

Flüchtig sah sie einen Garten mit zerzauster und geknickter Blumenpracht . . . drei Stufen . . . eine Tür . . . daneben ein großes Fenster. Sie rutschte von der Ventanita hinunter, band sie an den Zaun und stolperte auf unsicheren Füßen die Stufen hinauf . . . klopfte an die Tür . . .

Eine alte Frau kam heraus. »Um Gottes willen, mein Kind, wo kommst du in dem Sturme her, und was willst du?«

Hannelore hastete: »Kann ich vielleicht einen Augenblick hineinkommen? Wohnen hier Leute? Ist ein Mann hier, der mir helfen kann?« 48

Die Alte zog sie herein und sagte: »Komm! . . . Der Herr ist da . . .« Sie machte eine Tür auf. Hannelore taumelte hinein . . . und stutzte . . . Sie war in einer geräumigen, niedrigen Bauernstube mit vielen Decken, Büchern, Bildern und dort . . . ihre Augen wurden groß und voller Staunen . . . an dem Tisch saß ein Mann, und der sah genau wie der Vater aus . . . Sie fuhr sich mit den nassen Händen über die Augen . . . Das mußte doch eine Täuschung sein! Aber es war keine Zeit zum Nachdenken, und sie stotterte: »Bitte, zeigen Sie mir einen Weg, auf dem ich nach Hause gelange! Ich muß einen Arzt holen, denn in ›Los Muermos‹ liegt mein Vetter im Sterben.«

Der Mann stand jäh auf. Sekundenlang sah er sie schweigend an. Dann fragte er rasch: »Wer liegt im Sterben?«

Hannelore berichtete stoßweise: »Mein Vetter, der Olaf Siewers. Er ist vom Pferde gestürzt . . . Niemand ist im Hause . . . Nur die Mutter, und ich muß in die Stadt . . ., aber bei den ›Rocas‹ kann kein Mensch vorbei . . . Bitte, bitte, helfen Sie mir! . . . Zeigen Sie mir den Weg, wo die Karreten fahren . . .!«

Die Züge des Mannes wurden ernst und gespannt: »Was ist mit dem Knaben? Hat er etwas gebrochen?«

»Ich weiß es nicht . . . Er ist am Verbluten.«

»Bei Bewußtsein?«

»Nein . . .« Hannelore stieß es in erneuter Angst heraus. »Fragen Sie nicht so viel! Wollen Sie mir helfen oder nicht?« Sie sah dem Manne ins Gesicht und begegnete einem merkwürdigen Blick aus großen, blauen Augen. Was daraus sprach, schien ihr ein Zögern, eine stumme Abweisung zu sein, und sie machte rasch eine Bewegung nach der Tür: »Gut . . . ich brauche Sie nicht . . . Ich reite wieder zu den ›Rocas‹.«

Da hörte sie seine dunkle, feste Stimme: »Ich werde dich begleiten.«

»Wohin?« schrie sie.

»Nach ›Los Muermos‹.«

»Aber wir brauchen einen Arzt . . .«

»Ja,« antwortete er ruhig und nahm eine große Handtasche aus einem Schrank, »ich weiß . . .« 49

Er packte alles mögliche ein, rief durch eine Tür hinaus, man solle sein Pferd satteln, warf sich einen mächtigen Poncho über, setzte einen alten Filz auf und befahl in plötzlicher Eile: »Komm! . . . Rasch!«

Und dann ritten die beiden durch Sturm und Regen zurück, durch Pfützen, über aufgeweichten Boden, immer im Galopp, nur streckenweise langsamer wegen des allzu schlechten Weges und immer der Mann voraus und Hannelore hinterdrein.

Allerlei Gedanken beschäftigten sie unterwegs. Sie wußte nicht, ob sie recht getan hatte, mit diesem fremden Menschen zurückzukommen. Sie wunderte sich auch, daß er den Weg so genau kannte. Er kürzte, wo es anging, ab, als ob er hier gewohnt hätte, aber sie sprachen kein Wort miteinander.

Endlich waren sie da. Die triefenden Pferde wurden unter einem Vordach angebunden, und Hannelore sprang durch Schmutz und Wasser hinauf. Frau Siewers kam aus dem Haus.

In ihren Augen stand Todesangst: »Du . . . schon zurück? Kommt der Arzt?« Ihre Stimme versagte beinah.

»Nein . . . Tante . . . aber . . .« Sie wandte sich. Der Fremde mit der Tasche stand hinter ihr.

»Heinrich!« schrie da die Frau. Ein Hilferuf, ein Schrei letzter Hoffnung in höchster Not konnte nicht anders klingen. »Du! Was für ein Glück! . . . Schnell . . .!« Sie griff nach seiner Hand und zog ihn ins Haus hinein.

Hannelore blieb wie angewurzelt stehen und sah den beiden nach. Ein Staunen, ein Nichtverstehen . . . und doch . . . etwas wie Erlösung, wie Befriedigung kam über sie.

Sie blickte an sich nieder. Wie erbarmungswürdig sie aussah! Das Wasser lief an ihr in lauter kleinen Bächlein nieder, und doch war sie wie in Schweiß gebadet und empfand mit einem Male ihre Hüllen als unerträgliche Last. Sie nahm die Mütze ab und schüttelte sie aus. Das Haar klebte ihr am Kopfe. Tante Tilas Ruf lag ihr im Ohr . . . Heinrich? . . . Wer mochte das sein? In Gedanken verloren, hängte sie die Mütze an einen Nagel. Dann entledigte sie sich des schweren Ponchos. Eine Lache bildete sich auf dem Boden. So durchnäßt war alles . . . Heinrich? . . . Auf einmal dämmerte es in ihrer 50 Erinnerung . . . Sollte das etwa . . .? Ach Unsinn! Der war doch gar nicht mehr auf der Insel!

Sie dachte an die Hütte im Nebel, und wie sie auf einem richtigen Irrweg dahingelangt war. Ganz gegen ihren Willen. Seltsam! Ob der wirklich helfen konnte?

Leise trat sie in die Stube. Der Fremde und Tante Tila standen am Bett. Olaf war kunstgerecht verbunden, am Kopf und am Arm. Das sah sie auf den ersten Blick. Haufen blutiger Fetzen lagen herum, aber der Knabe atmete ruhig, die Augen geschlossen.

Mit klopfendem Herzen blieb Hannelore neben der Tür stehen. Da wurde die Stille mit einem Male von draußen her unterbrochen. Schwere Schritte kamen über den Flur . . . Wer konnte das sein? Hannelore öffnete . . . Hans Siewers.

Alle starrten ihn an, als sei er ein Geist, und auch er stutzte. Anscheinend aber sah er niemand weiter in der Stube als den Fremden. Ein kalter, böser Blick ging über ihn hin, und ohne sich umzusehen, ging er quer durch das Zimmer und verschwand in einem anstoßenden Raum.

Der Fremde wandte sich an die Frau. »Erkläre ihm, wie alles gekommen ist! Ich werde jetzt gehen. Du weißt ja nun, was du zu tun hast. Gefahr ist keine.«

»Heinrich!« flehte sie da in tiefstem Erschrecken. »Mir zuliebe, bleibe noch einen Augenblick!« Sie drückte hastig seine Hand und eilte ihrem Manne nach.

Der Fremde aber packte seine Sachen zusammen und verließ die Stube. Hannelore folgte ihm langsam.

Draußen warf er sich den Poncho über und ging durch den strömenden Regen zu seinem Pferd. Hannelore trat neben ihn unter das schützende Vordach. Sie sprach nicht, aber sie blickte ihn unverwandt an. Etwas bewegte ihr Herz.

Da sah er kurz auf sie hin. »Du bist also die Hannelore aus dem ›Rincón‹.« Es klang freundlich und bestätigend.

Sie antwortete, ohne den Blick von ihm zu wenden: »Ja . . . Und du bist Onkel Heinrich.«51

Er sagte nichts. »Onkel Heinrich«, bat sie da schüchtern, »darf ich mit dir zurückreiten? Ich möchte nach Hause.«

Nach einem sekundenlangen Schweigen erwiderte er: »Wie du willst! Ich kann aber keine Verantwortung für dich übernehmen. Besser wäre es, du bliebest hier und ruhtest dich aus.«

Hannelore wollte gerade etwas entgegnen, als sich plötzlich wieder etwas Unerwartetes ereignete.

Aus der Haustür trat Onkel Hans. Trotz des strömenden Regens kam er ohne Hut und Jacke daher und trat neben seinen Bruder.

»Heinrich . . .« sagte er, und es klang bittend und bewegt. Der andre machte sich am Sattel zu schaffen und tat, als sehe und höre er nichts. Hans trat einen Schritt näher.

»Heinrich . . .« flehte er noch einmal und hielt ihm die Hand hin. »Bleib hier!« Mehr brachte er nicht hervor.

Ein kurzes Zögern . . ., dann ergriff der andre plötzlich die ausgestreckte Hand und hielt sie fest. Einen Augenblick standen sich die beiden Männer Aug' in Aug' gegenüber, dann gingen sie schweigend nebeneinander ins Haus zurück.

Es war das zweitemal innerhalb einer Stunde, daß die Erlebnisse über Hannelores Begreifen gingen. Sie fand, daß dieser Tag der aufregendste ihres ganzen Lebens war, und sie dachte plötzlich sehnsüchtig an die Eltern. Ihre Heimat erschien ihr wie ein Paradies gegen das, was hier alles geschah. Und um sie kümmerte sich kein Mensch! Überflüssig war sie, vielleicht sogar hinderlich . . ., aber schließlich ging sie doch ins Haus zurück.

In dem kleinen, schmalen Flur schlug eine Wanduhr zweimal laut und krächzend. Hannelore trat in die Stube. Da saßen die drei am Tisch, und ein Hauch von Frieden und Versöhnung schien ihr entgegenzuströmen. Tante Tila stand auf und zog sie liebevoll zu den andern und erklärte: »Hannelore hat Olaf das Leben gerettet. Kind, Kind!« Sie umschlang sie leidenschaftlich und drückte ihr Gesicht an Hannelores Haar. »Nie, nie werden wir vergessen, was du für uns getan hast. Was bist du doch für ein tapfres Mädchen!«

Hannelore wehrte sich: »Wieso denn, Tante? Wenn Olaf wieder gesund wird, habt ihr es doch nur Onkel Heinrich zu verdanken.« 52

»Ja . . .« sagte Frau Siewers still, »der hat uns geholfen, aber du hast ihn gefunden . . . überhaupt . . .,« fügte sie sinnend hinzu, »es ist heute alles so seltsam . . . Auch daß du gerade noch zur rechten Zeit herkamst.« Sie sah ihren Mann an, und der erwiderte ernst: »Ich weiß selbst nicht, wie ich auf einmal auf den Gedanken verfiel, heute schon zurückzukehren. Es war ganz sonderbar, vielleicht nur die Angst, daß ihr bei diesem schrecklichen Sturm so allein waret . . ., vielleicht auch etwas andres.« Er sah seinen Bruder an, und dann reichten sich die beiden plötzlich noch einmal über den Tisch die Hände. Es war wie ein stummes Versprechen, daß sie sich nie wieder im Leben verlieren wollten.

Endlich aber erhob sich Heinrich Siewers und meinte: »Der ärgste Sturm ist anscheinend vorbei. Der Wind hat aufgehört, und ich will heim, bevor er von neuem einsetzt,« und zu Hannelore gewandt, »wie ist es mit dir? Willst du mit?«

Sie antwortete rasch: »Ja, ich möchte schrecklich gern nach Hause.«

»Aber Hannelore! Auf keinen Fall!« Onkel und Tante protestierten ernstlich, doch nun begann Hannelore ganz gegen ihre sonstige Art zu weinen. Sie war überanstrengt und aufgeregt, und Heinrich Siewers entschied: »Gebt sie mir ruhig mit! Wenn es ihr zu viel wird, kann sie bei mir über Nacht bleiben.«

So machten sich die beiden denn fertig. Hannelore bekam den großen Regenmantel von Olaf, und Heinrich Siewers warf sich seinen wasserdichten Poncho über. Und dann gingen sie alle noch einmal zu Olaf. Er hatte ruhig geschlafen und sah bewußt um sich. Seine Augen suchten der Reihe nach den Vater, die Mutter, den Fremden, den er nicht kannte, und Hannelore. »Gehst du schon weg?« fragte er mit schwacher Stimme.

»Ja,« nickte sie, »und werde recht bald wieder gesund!«

Sie ritten fort. Der Regen begleitete sie mit seinem gleichmäßigen Rauschen, aber der Wind hatte sich über die Hügel und Wälder zurückgezogen.

Um vier Uhr waren sie in Heinrich Siewers Waldhaus. Nachdem Hannelore sich ein wenig getrocknet hatte, sagte der Onkel: »Es ist ja noch früh am Tage, und heim kommst du allemal. Darum lege dich hier auf dieses Sofa 53 und versuche ein wenig zu schlafen! Ich mache unterdessen für uns beide einen heißen Tee. Das tut gut nach der Aufregung dieses Tages.«

Hannelore legte sich hin, aber schlafen konnte sie nicht. Sie betrachtete die fremde Stube und sah dem Manne zu, der mit Teekanne und Tassen herumhantierte.

»In allem genau wie der Vater,« dachte sie mit einem wohligen Gefühl. Sie freute sich mit einem Male kindlich, daß sie diesen Onkel gefunden hatte, und sie konnte einfach nicht verstehen . . ., aber nein, daran wollte sie jetzt nicht denken. Sie war so müde und innerlich durcheinandergeworfen.

Dann saßen sie an einem großen Tisch, und es war keine Spur von Fremdheit zwischen ihnen, sondern so, als ob sie sich schon immer gekannt hätten. Nun, sie hatten ja auch zusammen etwas Großes erlebt!

Vor dem Fenster rankte sich Grün empor und machte das Zimmer traulich und gemütlich. Der Regen fiel leise rauschend nieder, und es war alles so, wie wenn nach einem furchtbaren Aufruhr die Natur friedlich atmet und sich ausruht.

Hannelore trank Tee aus einer großen, geblümten Tasse. Sie sah diese Tasse an und lächelte: »Die ist fein. Wo hast du die nur her?«

Er erzählte: »Oh, von sehr, sehr weit! Aus dieser Tasse hat schon deine Großmutter in Deutschland Tee getrunken.«

Hannelore wurde warm. Sie sah den Onkel an und fragte: »Warum kommst du nie zu uns, Onkel Heinrich?«

Er antwortete nicht gleich. Dann meinte er: »Darüber wollen wir jetzt nicht sprechen, nicht wahr? Später einmal vielleicht. Heute wollen wir uns nur freuen, daß wir uns gefunden haben.«

»Wohnst du hier ganz allein?« wollte sie wissen.

»Nein. Hast du die Alte nicht gesehen? Die und ihr Sohn sind auch hier. Sie helfen mir in diesem und jenem, denn ich bin nicht immer hier.«

»Wohin gehst du denn?«

Er sah sie freundlich an. Sie war so warm und zutraulich. »Manchmal bin ich wochenlang in der Stadt und helfe im Spital.«

»Ach s– o– o . . .,« nickte sie verständnisvoll. »Darum . . .« Sie sprach nicht weiter, aber sie verstand auf einmal alles. 54

»Ja . . . darum,« bestätigte er lächelnd. »Manchmal fahre ich auch noch weiter weg, oft bis nach Santiago. Am liebsten aber bin ich hier.«

Nach einer Weile fragte sie aus einem Nachdenken heraus: »Warst du nie verheiratet?«

»Nein.«

»Und warum nicht?« forschte sie. »Das ist doch traurig für dich, so einsam zu leben.«

Er mußte wieder lächeln, aber dann erklärte er ihr ein wenig versonnen: »Einmal vor vielen Jahren, als ich noch in der Heimat war, kannte ich ein Mädchen. Die sah fast so aus wie du . . . Blaue Augen und zwei dicke, blonde Zöpfe . . .« Er schwieg, aber Hannelore sah ihn so erwartungsvoll an, daß er fortfuhr: »Jenes Mädchen hätte ich schon heiraten mögen, aber die wollte mich nicht. Sie liebte einen andern.«

Hannelore dachte nach. »Schade,« meinte sie ernsthaft, und der Mann, den diese Unterhaltung höchst amüsierte, antwortete: »Wer weiß! Sie hat es sehr gut bekommen, besser, als wenn sie mit mir in dieser Einsamkeit hätte leben müssen.«

Hannelores Gedanken gingen auf eignen Wegen. »Ich werde dich oft besuchen, Onkel Heinrich.«

Er nickte: »Es wird mich immer freuen, wenn du kommst, aber jetzt, falls du wirklich heute noch nach Hause willst, müssen wir aufbrechen.«

»Oh, wirst du mich begleiten?«

»Aber selbstverständlich! Glaubst du, ich ließe dich allein in diesem Wetter den weiten Weg machen?«

So ritten sie denn zusammen heimwärts, und zwar auf Wegen, die Hannelore nicht kannte. Sie waren nicht so gefährlich, wenn auch etwas länger. Auf einmal standen sie auf einer Anhöhe, von der aus Hannelore den Fluß und das Elternhaus zu erkennen glaubte.

Und wirklich, es war so. Heinrich Siewers hielt sein Pferd an und sagte: »Nun findest du allein nach Hause. Dort ist der ›Rincón‹, und ich kehre wieder zurück, und wenn du heimkommst, lege dich sofort ins Bett!«

Er hielt ihr die Hand zum Abschiede hin, aber sie lenkte in einer plötzlichen 55 Aufwallung warmer Zuneigung ihr Pferd an seines heran, schlang einen Arm um ihn und versprach: »Ich werde ganz bald wieder zu dir kommen.«

Dann trieb sie die Ventanita an und erreichte in wenigen Minuten ihr Elternhaus.

Es war noch nicht spät, aber wegen des Regens schon dämmerig. Der Bartolo kam aus dem Haus und fand kaum Worte: »Mein Gott . . .! Señorita! Bei dem Wetter . . .!«

Aber erst die Eltern! Die empfingen sie mit wahren Schreckensrufen. »Um Gottes willen, Hannelore! Wo kommst du denn her!?« rief die Mutter entsetzt, und der Vater fragte aufbrausend: »Wie kommen die dazu, dich in dem Wetter nach Hause zu schicken! Ich habe doch ausdrücklich . . .«

Hannelore hörte gar nicht, was er alles sagte. Sie war am Ende ihrer Kräfte. Dieser stürmische Tag mit seinen Aufregungen und Hetzjagden drang mit einem Male wie ein heimlicher Feind über sie her. Sie lehnte an der Wand und versuchte vergebens, mit ihren nassen Händen den Regenmantel aufzuknöpfen. Vater und Mutter halfen ihr.

Dann zündete der Vater das Licht an, und die Mutter bat und flehte: »Hannelore, um Gottes willen, sprich doch etwas! Bist du wirklich ganz allein von ›Los Muermos‹ hierhergeritten?«

Hannelore liefen die Tränen über das Gesicht. Sie wußte nicht, was mit ihr geschah. Sie war zu Hause . . . Ja . . . aber eine unerklärliche Schwäche war über sie gekommen, und sie schluchzte: »Nein . . . nicht allein . . . Onkel Heinrich hat mich hergebracht.«

»Wer?« Vater und Mutter fragten es gleichzeitig, aber dann berichtigte die Mutter nachsichtig und sanft: »Du meinst Onkel Hans.«

Doch Hannelore, die ganz verwirrt war, glaubte plötzlich eine Feindseligkeit aus den Worten der Eltern herauszufühlen, und dabei war sie diesem Onkel doch s–o–o gut, und darum antwortete sie unter Tränen laut und trotzig: »Nein, nein, nicht Onkel Hans . . . Onkel Heinrich . . . Onkel Heinrich, mit dem ihr alle so schlecht seid, und dabei ist er der beste von allen.«

Die Eltern sahen sich an, verständnislos, entsetzt. Sie glaubten, das Kind rede im Fieber oder habe in diesem furchtbaren Sturm auf dem Wege durch 56 die Schrecken des Waldes den Verstand verloren. Sie fragten gar nichts mehr. Die Mutter führte Hannelore hinauf in ihr Zimmer, während der Vater mit einem »Unverantwortlich« erregt im Flur auf und ab wanderte.

Hannelore bekam ein warmes Bad und wurde gegen alle Gewohnheit von der Mutter ganz wie eine Kranke ins Bett gebracht, und es geschah, ohne eine Frage zu tun, schweigend und mit größter Ruhe. Es dauerte auch nicht lange, so war sie fest eingeschlafen, und die Mutter konnte das Zimmer verlassen.

Sie ging hinunter zu ihrem Manne. Beide waren außer sich. Was war nur geschehen? Und was hatte das mit Heinrich, dem verschollenen Bruder zu tun? Sie zerbrachen sich fast den Kopf, mutmaßten alles mögliche und unmögliche und entrüsteten sich heiß über die Verwandten in »Los Muermos«.

Unterdessen war es langsam acht Uhr geworden. Da erwachte Hannelore. Sie besann sich sofort. Auf dem Tisch brannte ihre kleine Lampe. Sie war 57 zu Hause. Sie richtete sich auf und horchte hinaus. Der Regen hatte aufgehört. Der vergangene Tag huschte wie ein Traum an ihr vorüber, schwer . . . aber erledigt.

Ganz munter sprang sie aus dem Bett, zog sich Pantoffeln und einen warmen Schlafrock an und ging zu den Eltern. Diese empfingen sie wie eine Schwerkranke. Darüber mußte sie aber so lachen, daß sich schließlich auch die Eltern beruhigten, und dann begann sie zu erzählen, und mit Kopfschütteln und Staunen hörten Vater und Mutter zu.

Als Hannelore aber von Onkel Heinrich anfing, nahm der Vater rasch eine Zeitung, vergrub sein Gesicht dahinter und tat so, als ob ihn dieser Teil der Ereignisse nicht interessiere. In Wirklichkeit jedoch hörte er gespannt zu, und nicht nur mit dem Ohr, sondern auch mit dem Herzen.

Nachdem die Eltern so ziemlich alles bis ins kleinste erfahren hatten, ging die Mutter in die Küche.

»Nach dem Schrecken müssen wir uns doch ein wenig erholen,« meinte sie scherzend.

Walther Siewers aber öffnete die Tür, die auf die Veranda hinausführte, und stand sinnend in ihrem Rahmen.

Hannelore trat neben ihn und schob ihren Arm unter seinen. Beide sahen eine Weile schweigend in das dunkle Land hinaus.

Der Regen hatte aufgehört. Am Himmel standen zerrissene, schwarze Wolken, aber sie begannen sich zu zerteilen, und jetzt trat mit silbernem Licht der Mond fast senkrecht über dem Garten hervor. Schimmernde Helle strömte hernieder auf Blumen, Büsche und Bäume, und ein wunderbares Duften von Erde und Gras stieg empor.

Überall herrschte lautlose Stille, und kein Windhauch regte sich. Unbewegt, rein und köstlich erfrischend war die Luft.

Da sagte Hannelore leise: »Ich glaube, Vater, der Sturm ist vorbei.«

Ein langes Schweigen folgte ihren Worten. Dann wandte der Vater sich ihr zu, nahm ihr Gesicht in seine beiden Hände, sah ihr tief in die Augen und antwortete bedeutungsvoll aus froh bewegtem Herzen: »Ja, Hannelore, der Sturm ist vorbei, und am Sonntag reiten wir alle zusammen zu Onkel Heinrich.« 58

 


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