Ina Jens
Hannelore im Urwaldwinkel
Ina Jens

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Hannelore

Sie hieß Hannelore und war elf Jahre alt. Ihr Elternhaus lag dort, wo der große, dunkle Urwald einer Insel im Stillen Ozean seine letzten Arme ausstreckte, und man nannte es allgemein »El Rincón«, das heißt »Der Winkel«.

Geschwister hatte sie keine, aber sie vermißte solche gar nicht, und obwohl die Einsamkeit ringsum tief und beklemmend war, spürte sie niemals Langeweile. Für sie waren die Tage auch ohne Spielgefährten immer zu kurz, denn die Welt ringsum bot ihren hellen Kinderaugen stets etwas Interessantes und Reizvolles.

Da war zunächst vor dem Haupteingang des Hauses der Garten, worin es das ganze Jahr hindurch grünte und blühte. Wie schön waren doch die feuerroten »Flammen«, die Rosen und Sternblümchen, die kleinen Nelken und die riesengroßen Sonnenblumen! Und dann die vielen Schmetterlinge, die sie umgaukelten, und die summenden Bienen, die Honig sammelten! Und wenn man durch diesen Garten hinunterging, war man gleich auf dem Wege, der vom Urwald in die Stadt führte, und neben diesem Weg floß ruhig und lautlos ein breiter Fluß dahin.

Oft kamen schon am frühen Morgen Leute aus den Wäldern hier vorbei und hielten am Gartentor. Eigentlich wollten sie in die Stadt, aber sie waren froh, wenn sie ihre Waren vorher verkaufen konnten. Dann brauchten sie dieselben nicht weiter zu schleppen. Meist brachten sie selbstgewebte Wollstoffe, auch gestrickte Sachen mit hübschen farbigen Mustern, Jacken, Decken und Otterfelle, oft auch Honig und Eier.

Mit dem Geld, das sie dafür einnahmen, kauften sie im Städtchen, was in der Wildnis fehlte: Kerzen, Streichhölzer, Nadeln, Knöpfe, Tabak, Reis, Kaffee. Oft nahmen sie an solchen Tagen die Gelegenheit wahr und tranken 4 Wein, und zwar mehr, als ihnen gut tat. Dann kehrten sie gegen Abend halb im Schlafe wieder nach Hause zurück. Oft saßen sie zu dritt auf einem kleinen Pferd und schwankten am Gartentor vorbei.

Manchmal kamen die Leute aus der Wildnis auch in Booten den Fluß heruntergefahren. Segel hatten sie keine, dafür aber einen großen Busch mit vielen Zweigen und Blättern in der Mitte des Fahrzeuges festgebunden. Diese Männer und Frauen, die darin saßen, waren Hannelore fremd, aber wenn sie sie sahen, grüßten sie laut und fröhlich über das Wasser, und Hannelore schwenkte lustig ihr Taschentüchlein.

Oft sah Hannelore auch drüben auf der andern Seite des Flusses wilde Pferde aus dem Wald herauskommen. Das war ein herrlicher Anblick! Allen voran raste ein gewaltiger Hengst mit flatternder Mähne und wehendem Schweif. Dann stürzte die ganze Herde, die bisweilen aus zehn und mehr Tieren bestand, in den Fluß hinein, daß das Wasser hoch aufspritzte, und nachher verschwanden sie wie ein Spuk in den Büschen.

Wenn Hannelore hinter dem Hause auf einen kleinen Sandhügel stieg, sah sie das weite, blaue Meer und in der Ferne hin und wieder ein Schiff, das schneeweiß und mit wehender Rauchfahne am Horizont vorüberfuhr. Und am Strande gab es Plätze mit süßen Erdbeeren und kleinen Miñemiñes und überall Büsche mit wohlschmeckenden Maquis.

Nach Westen hin lag eine lange Brücke über dem Fluß, dahinter standen die Baracken eines Sägewerkes und bewaldete Hänge und hinter diesen das Städtchen. Letzteres sah Hannelore zwar nicht, aber sie konnte sich alles, was darin war, sehr gut vorstellen: die hübsche Plaza, auf der abends eine Musikkapelle spielte, die alte Kirche mit den zwei stumpfen Türmen, die Schule, die Bäckerei, die kleinen Holzhäuser und Geschäfte und noch vieles andre.

Am schönsten jedoch deuchte Hannelore die Welt dort zu sein, wo die Sonne jeden Morgen so strahlend aufging. Da lagen hintereinander die grünen, mit Stacheldraht umzäunten Wiesen, auf denen Schafe, Kühe und Pferde weideten, und dahinter dehnten sich die schier undurchdringlichen Wälder, in denen sie viele einsame Pfade und Quellen kannte, denn sie hatte hundertmal bei Sonnenschein und Regen dorthin den Vater zur Arbeit begleitet. 5

Hannelores Eltern waren Deutsche. Ihr Vater, Walther Siewers, war mit seiner Frau und zwei jüngeren Brüdern in den traurigen Zeiten nach dem Weltkrieg ausgewandert. Alle hatten sie sich auf der Insel niedergelassen, die beiden unverheirateten Brüder weiter hinten im Urwald, Walther und seine Frau hier im »Rincón«, ungefähr eine Stunde von einem kleinen Städtchen entfernt.

Walther Siewers liebte die Natur über alles. Das Säen und Pflanzen, das Betreuen aufblühenden Lebens, die Pflege der Tiere und was sonst mit dem Lande zusammenhing, erfüllte sein Herz jeden Tag mit neuer Freude. 6

Und in dieser Wildnis, wo er in jahrelanger Arbeit fast schrittweise den Boden dem Wald abgerungen hatte, war Hannelore geboren. Sie war damals für die Eltern so etwas wie eine kleine Enttäuschung gewesen, denn beide hatten sich einen Jungen gewünscht, von dem sie hofften, daß er einmal dem Vater beistehen und dessen Arbeit weiterführen würde.

Mit den Jahren war dieser Gedanke aber ganz verschwunden. Hannelore wuchs wie ein kleines Wunder in das entstandene Werk hinein und war in ihrem Wesen so sehr ihres Vaters Kind, daß die Eltern sich täglich über sie freuten.

Wohin Walther Siewers auch ritt, war es auf die Felder zur Beaufsichtigung der Arbeiter, zum Roden des Waldes, zur Ernte, zum Dreschen, zum Eintreiben des Viehes, überallhin begleitete ihn Hannelore und vergoldete wie eine kleine Sonne seinen oft unfreundlichen Arbeitsweg. In allem ging sie ihm zur Hand und zeigte Verständnis weit über ihre Jahre hinaus und einen ungewöhnlich scharfen Blick für alle Wirklichkeiten ringsum.

Als sie sechs Jahre alt war, wurde sie von einer Hauslehrerin unterrichtet. Sie lernte leicht, und die Eltern freuten sich über ihre Fortschritte; aber als sie neun Jahre alt war, meinte der Vater, es ginge doch nicht mehr, daß sie nur mit Pferden, Kühen, Schafen und Hunden Umgang habe, sie müsse unter gleichaltrige Kinder kommen. Und da beschloß man, sie ins Städtchen in die Schule zu schicken.

Diese Schule wurde von katholischen Schwestern geleitet und hatte einen guten Ruf. Siewers waren evangelisch, aber sie hatten nichts dagegen, daß Hannelore die Andachtsübungen in der Schule mitmachte, und so geschah es denn, daß sie jeden Tag in die Stadt ritt und bei den Nonnen lernte.

Der Weg dahin machte Hannelore Spaß. Es war ja auch köstlich, so in der Frühe des goldenen Morgens über die Wiesen und Höhen zu reiten oder im Sturme dahinzujagen, wenn es in Strömen goß und der Wind einen beinahe vom Wege blies. Das paßte ihr, denn das war wie ein lustiges Spiel mit der Natur, aber die Schule selbst . . .! . . . O weh! . . . Die wurde ganz unerwartet eine dunkle Mauer, die tiefen und kalten Schatten in Hannelores sonniges Leben warf. 7

Es war eine traurige Tatsache, sie brachte die denkbar schlechtesten Zeugnisse nach Hause und schien einfach nicht vorwärtszukommen. Den Eltern verursachte das großen Kummer. Sie zeigten es aber nicht und machten Hannelore auch nie deswegen Vorwürfe.

Ruhig ließen sie ein Jahr vorübergehen, denn sie hofften, daß bei längerem Eingewöhnen in die Schule sich alles von selbst ändern werde.

Und sie hatten darin nicht unrecht, aber Hannelore mußte erst durch ein ziemlich aufregendes Ereignis gehen, bis sie in das richtige Fahrwasser hineinkam.

Der Morgen, an dem dieses Ereignis seinen Anfang nahm, ging in strahlender Schönheit auf. Es war der erste September, und der Frühling hielt wie ein junger Sieger seinen Einzug ins Land.

Hannelore wachte früh auf und war sich sofort der Gegenwart und des besonderen Tages bewußt. Die Waage ihrer Gefühle wurde durch ein bißchen Sonnengold und ein paar Wolkenschatten im Gleichgewicht gehalten: sie hatte Geburtstag, das war die Sonne, und in der Schule gab es die ersten Halbjahrszeugnisse, das waren die Schatten.

So wie Hannelore nur selten einer unangenehmen Sache aus dem Wege ging, so gab es jedoch auch Zeiten, wo sie ganz gern bereit war, über eine solche einfach hinwegzugleiten, und das tat sie an diesem Morgen.

Sie schob den Gedanken an die leidige Angelegenheit mit dem Zeugnis kurzweg in eine Ecke ihres Gehirns, sprang aus dem Bett, ließ eiskaltes Wasser in die Badewanne laufen und wusch sich mit dem erfrischenden Naß die Sorgen von der Seele.

Dann machte sie sich zurecht, um Vater und Mutter zu begrüßen. Die größte Arbeit verursachte ihr das Flechten ihrer Zöpfe. Sie hatte schönes, goldblondes Haar, aber von einer solchen Fülle und Länge, daß sie allein kaum damit fertig wurde. Hundertmal hatte sie gebeten, man möchte es ihr doch kurz schneiden, aber da war sie ganz unerwartet auf heftigen Widerstand gestoßen, und zwar nicht etwa bei der Mutter, sondern beim Vater. Der sah anscheinend zu gerne einen Scheitel und zwei Zöpfe über dem Rücken. Die Mutter lachte darüber. »Wie ein richtiges Bauernmädel,« 8 scherzte sie, und Hannelore fügte sich schweigend. Sie hätte ja eigentlich auch nichts gegen ihre Zöpfe gehabt, wenn die Mutter ihr morgens beim Kämmen behilflich gewesen wäre, aber diese Hilfe gab es eben nicht. Sie wurde bis ins kleinste zur Selbständigkeit erzogen, und so stand sie denn an diesem Morgen auch wieder fast unglücklich vor dem Spiegel und verrenkte sich beinahe Arme und Hals.

Die Tür ihrer Schlafstube war weit offen, und draußen schlurfte die Köchin, die alte Carmela, vorbei. Sie warf einen Blick in das Zimmer und trat hinein. Sie liebte Hannelore und tat ihr gern einen Gefallen.

»Guten Morgen!« sagte sie leise, »und viel, viel Glück!« Dann nahm sie ihr den Kamm aus der Hand. Hannelore setzte sich erleichtert hin, und in kurzer Zeit waren ihre Zöpfe geflochten und mit zwei großen himmelblauen Schleifen versehen.

Sie sprang auf. »Vielen, vielen Dank, Carmela!« sagte sie ebenso leise, wie die andre ihr Glück gewünscht hatte, klopfte ihr freundlich auf den Rücken und eilte hinunter ins Eßzimmer.

Die Sonne strömte hell und schimmernd von den Höhen über die Blumen des Gartens durchs offne Fenster in den Raum. Die Mutter saß wartend da, und der Tisch war lieblich geschmückt. Eine schöne Schokoladentorte prangte in der Mitte, und ringsherum brannten elf bunte Kerzen.

Hannelore flog der Mutter in die Arme, und diese sagte ihr ein paar freundliche Worte. Dann zeigte sie ihr die kleinen Geschenke: eine warme Jacke für kühle Tage, die sie selbst gestrickt hatte, eine hellgraue Schürze mit lustig roten Bändern von der Großmutter in Deutschland und dazu ein Buch. Dieses interessierte Hannelore weniger, aber als sie den Titel las »Mit dem Eselwagen durch USA.«, da freute sie sich doch darüber. Das imponierte ihr sofort. So etwas hätte sie bestimmt auch mitgemacht.

Dann kam der Vater. Er war kein Mensch stürmischer Zärtlichkeit. Seine Liebe fühlte man nur in seinem stillen Tun und ruhigen Wesen. Hannelore wußte das und war selbst ebenso. Einen Augenblick aber zog er sie nun doch an sich, strich ihr wortlos über den blonden Scheitel und schob ihr ein Päckchen in die Hand. Sie machte es auf, und ein feuchter Schimmer trat in ihre 9 Augen. Es war die Erfüllung eines heißen Wunsches: eine kleine, silberne Armbanduhr. Hannelore war selig.

Dann saßen sie beim Morgenkaffee und sprachen von früheren Geburtstagen und von kleinen Freuden, die diese gebracht hatten.

Plötzlich aber streckte die Carmela ihren grauen Kopf zur Tür herein und mahnte: »Wird das Fräulein heute denn gar nicht zur Schule gehen? . . . Es ist gleich acht Uhr.«

Gott im Himmel! . . . Hannelore sprang auf . . . Sie würde zu spät kommen! Wie dumm! Gerade heute! . . . Oh . . . und das Zeugnis! . . . Hastig verabschiedete sie sich von den Eltern und stürzte hinaus. Draußen empfing sie aus den Händen der Carmela den Schulranzen, zog ihn im Laufen über, schwang sich auf ihr Pferd, den alten Perejil, und jagte wie ein Sturmwind davon.

Vater und Mutter waren am Tisch sitzen geblieben und sahen der kleinen Reiterin durchs offene Fenster nach, bis sie ihren Augen entschwand. Dieselbe Liebe, dieselbe Freude an dem einzigen Kind erfüllte sie, aber weder die Liebe noch die Freude waren blind oder unverständig. Sie sahen Hannelores Vorzüge, aber auch ihre Fehler, und versuchten ernstlich, diese zu bekämpfen. Daß sie dabei auf besondre Weise verfuhren, leise und vorsichtig, mehr durch verändertes Benehmen als durch Worte, lag in dem frühreifen und tief empfindenden Wesen des Kindes.

Nach einer Weile sagte Frau Siewers mit einem kleinen Seufzer: »Heute gibt's in der Schule Zeugnisse . . .« Sie war sich über die Noten ihres Kindes nicht im unklaren, und sie wußte, daß auch ihr Mann betrübt daran dachte. Aber ohne aufzublicken erwiderte er ruhig: »Wir wollen uns nicht vorher darüber aufregen.«

Unterdessen galoppierte Hannelore draußen über die Brücke, an den Sägewerken vorbei, den Hügel empor, an all den Hütten und Gärtchen der kleinen Leute vorbei. Schweine rannten quiekend über den Weg und eilten in die seitlichen Gräben, Hühner flatterten gackernd auf und liefen durch die Zäune, kleine Hunde bellten ihr wütend nach, aber Hannelore sah und hörte nichts. Jetzt ging es einen Hang hinunter, dann jenseits wieder hinauf, an Wiesen 10 und Feldern vorbei. Nun war sie bei den ersten Häusern des Städtchens, jetzt bei Salazar, dem Bäcker, bei dem sie tagsüber den Perejil ließ.

Sie sprang vom Pferd, band es an den Pfahl vor dem Laden, klopfte ans Fenster und rief hastig: »Versorgt mir das Tier! Ich habe keine Zeit.« Sie lief über die grauen Steinfliesen vor der Kirche, jagte an dem Muttergottesbilde in der himmelblauen Nische vorbei und hinüber in die Schule, hinein in die Klasse, schob ihren Ranzen unter den Tisch und eilte in die Kapelle, wo die Mädchen schon bei der Andacht saßen.

Ganz leise schlich sie sich hinein, setzte sich in die hinterste Bank und wollte gerade die Hände falten, als sie unwillkürlich aufsah und gerade in das auf sie gerichtete Gesicht der ehrwürdigen Madre Superiora blickte.

Das war die Vorsteherin der Schule, vor der alle Geschehnisse unter den Mädchen, Gutes und Böses, ihre Freuden und Leiden wie vor einem Gericht ausgebreitet und von ihr beurteilt, gelobt oder verworfen wurden.

Hannelore lief ein leichtes Zittern durch den Körper, als ihr Blick den ernsten Augen dieser Frau begegnete. Sie hatte zwar nichts Unrechtes getan, aber sie hatte trotzdem kein gutes Gewissen. Dieses ganze Haus beengte sie, und doch sah sie ein, daß sie allein die Schuld daran trug, denn sie tat hier nicht ihre Pflicht, obwohl sie wußte, daß Pflichterfüllung das Höchste im Leben bedeutet, ob man nun ein Kind oder schon erwachsen war.

Hannelore hatte die Hände gefaltet, aber sie hörte und sah nichts von der Andacht ringsum. Und doch betete auch sie. Sie bat den lieben Gott zwar nicht um ein gutes Zeugnis, denn das wäre ja gleichbedeutend mit dem Verlangen nach einem Wunder gewesen, aber sie bat ihn um Hilfe. Welcher Art diese sein sollte, war ihr selber nicht klar.

Nach der Andacht gingen alle zurück in die Klassen. Der Unterricht begann und nahm seinen gewöhnlichen Fortgang bis zur letzten Stunde. Hannelore dachte nur an das Zeugnis und wie traurig nun die Eltern sein würden, nachdem sie ihr am Morgen eine so große Freude bereitet hatten. Ach, wenn der liebe Gott ihr doch ein wenig beistehen wollte! Und dann kam der gefürchtete Augenblick. Hannelores Herz klopfte heftig, aber trotzdem brannte in ihr eine winzige Hoffnungsflamme. Sie hatte ja am Morgen so innig gebetet! 11

Die Madre Superiora trat selbst in die Klasse, um die Zeugnisse zu verteilen. Zuerst hielt sie eine kurze Rede an die Schülerinnen im allgemeinen und hatte lobende und freundliche Worte. Dann aber nahm sie einzeln die vor, über die im Laufe des vergangenen Halbjahres besonders geklagt worden war. Es waren ihrer wenige, aber unter diesen wenigen befand sich Hannelore.

Hannelores Name wurde gerufen, ernst und eindringlich. Sie stand auf, und mit gesenkten Augen und einem Würgen im Halse hörte sie, was man ihr vorhielt . . . Sie könnte eine von den Allerersten sein, wenn sie nur richtig wollte, aber nun sei es durch ihre Faulheit so weit gekommen, daß man sogar eine Bemerkung ins Zeugnis habe schreiben müssen . . . und es sei traurig, wenn man die Gaben, die der liebe Gott einem schenke, nicht getreulich verwerte und pflege, und wenn man dadurch auch den Eltern Kummer und Sorgen bereite . . ., aber man wolle sie doch noch nicht ganz aufgeben, sondern für sie beten und hoffen, daß sie sich im zweiten Halbjahr zusammennehme und das Versäumte nachhole.

Hannelore sank wie vernichtet auf ihren Platz und weinte still vor sich hin, das Gesicht in beide Hände vergraben. Jemand schob ihr das Zeugnis hin, und sie steckte es in den Ranzen. Es wurde noch allerlei gesprochen, aber endlich . . . endlich war sie doch draußen, draußen vor dieser schrecklichen Schule!

Obwohl drei Wochen Ferien bevorstanden, eilte sie, ohne sich von den Freundinnen zu verabschieden, hinüber in die Bäckerei. Man brachte ihr Pferd, und sie ritt im Galopp zur Stadt hinaus. Als sie auf der letzten Höhe ankam, und in der Ferne das Elternhaus sah, ließ sie die Zügel sinken, und der Perejil verfiel sofort in eine langsame Gangart.

Hannelore dachte über alles nach und fand es entsetzlich, vor allem wegen der Eltern. Ach, sie verstand sich ja selbst nicht! Das Lernen fiel ihr wirklich nicht schwer, aber es war so gräßlich langweilig, immer zuzuhören und zu warten, bis auch die Dummen verstanden hatten. Und immer dasselbe, zehnmal, hundertmal, wenn man es doch mit einem Male begriff! Und dann . . . daheim war eben alles viel, viel schöner, die Arbeit und das Leben auf Feld und Wiese. Das mochte sie. Da wurde sie nie müde. Dagegen in der Schule! 12 . . . Gewaltsam lenkte sie ihre Gedanken von dem, was hinter ihr lag, ab und richtete sie auf das, was ihrer wartete . . . wie traurig die Mutter nun sein würde! . . . Und der Vater! . . . Ob er sie wohl ausschalt? Sie kannte ihn. Mit Menschen und Vieh hatte er Geduld bis zum äußersten, aber wenn er einmal eine wirkliche Gemeinheit durchschaute oder auf Faulheit stieß, konnte er in hellen Zorn geraten und losbrechen wie ein Gewitter.

Hannelore war schon jenseits der Brücke, aber noch immer trieb sie das Tier nicht zu schnellerem Gange an, und langsam ritt sie auch schließlich auf den Hof, stieg ab, warf ihren Ranzen auf eine Bank und versorgte das Pferd. Dann ging sie in ihr Zimmer, wusch und kämmte sich und stieg hinunter zum Mittagessen.

Die Eltern saßen bei Tisch und empfingen sie herzlich. Sie mußte alles mögliche erzählen, ob in der Sägemühle gearbeitet würde, ob das vom Sturm niedergerissene Geländer der Brücke wiederaufgerichtet sei, ob sie ihre Uhr nach der Kirchenuhr gestellt habe, ob jemand von ihren Freundinnen am Nachmittag zu Besuch komme und vieles andre, nur nach dem Wichtigsten fragte keiner.

Hannelore antwortete, aber ihre Gedanken waren nur bei dem traurigen Zeugnis, das oben in ihrem Zimmer lag, und ihr war zumute wie einem Steuermann, der in fremden Wassern treibt und nicht weiß, wie er eine gefährliche Klippe umschiffen soll.

Als Hannelores Lieblingsspeise, rote Grütze mit Creme, auf den Tisch kam, teilte ihr die Mutter eine ordentliche Portion zu und erklärte: »Das hat die Carmela eigens für dich gemacht.«

Hannelore lächelte schwach und löffelte verlegen in der gelben Soße herum, und da kam auf einmal die gefürchtete Frage: »Habt ihr heute nicht Zeugnisse bekommen?« Hannelore sah erschrocken auf und erwiderte zerknirscht: »Doch . . . Soll ich es bringen?« Die Mutter warf einen Blick auf ihren Mann und antwortete zögernd: »Nicht gleich . . . Wenn wir mit dem Essen fertig sind . . .«

Der Rest der Mahlzeit verlief in drückendem Schweigen, und dann schlich Hannelore hinauf und kam mit dem Büchlein in der Hand zurück. 13 Sie trat zum Vater und legte es neben ihn auf den Tisch. Er nahm es langsam, öffnete es und sah es durch. Hannelore wagte kaum zu atmen. Sie fand, daß er furchtbar viel Zeit gebrauche, um es zu lesen, aber . . . Gott sei Dank! . . . nun war es geschehen. Er sagte kein Wort, griff nach seinem Füllfederhalter und unterschrieb. Dann reichte er es der Mutter.

Während diese las, hatte Hannelore einen Augenblick dem Vater ins Gesicht gesehen . . . und war seinem Blick begegnet . . . ein paar Sekunden nur . . ., aber aller Schmerz und alle Scham schienen im Begegnen dieser beiden Augenpaare aufzulodern.

Da sagte die Mutter vorwurfsvoll: »Aber Hannelore . . .! ›Versetzung zweifelhaft‹ . . . Wie kommst du nur zu einem s – o – o schlechten Zeugnis?«

Hannelore blieb stumm. Mochte die Mutter sagen, was sie wollte! Mochten sie ihr die Geburtstagsgeschenke wieder wegnehmen! Es war nichts im Vergleich zu dem traurigen Blick des Vaters . . . Sie hob ein wenig die Schultern. Eine Träne, die erste, stahl sich zwischen den gesenkten Wimpern hervor. Ihre Hand griff nach dem Zeugnis, und leise ging sie wieder hinaus.

Wie im Traume schlich sie draußen um die Veranda des Hauses herum und setzte sich auf eine Bank, wo um diese Zeit kein Mensch zu sehen war. In Reue und Zerknirschung versunken, fiel sie fast in sich zusammen, und es kam ihr gar nicht zum Bewußtsein, daß sie neben dem offenen Fenster des Eßzimmers saß.

Aber nun hörte sie auf einmal Stimmen. Die Eltern sprachen miteinander, und sie vernahm einen Augenblick lang mit pochendem Herzen, was sie über sie redeten.

»Sage mir ums Himmels willen eines, Walther,« klagte die Mutter, »kannst du das verstehen? . . . Das Kind ist doch vollkommen normal und hat hier im Hause immer gut gelernt.«

Nach einem ziemlichen Schweigen antwortete der Vater ruhig: »So ganz begreifen kann ich es auch nicht, aber ich denke, irgendein uns verborgener, triftiger Grund wird schon da sein. Wir haben uns ja auch nie besonders darum gekümmert und hatten auch keine Ursache dazu. Du mußt zugeben, das Kind macht uns so viel Freude. Hannelore ist weit über ihre Jahre 14 hinaus gereift, rasch im Auffassen, hat eine auffallend scharfe Beobachtungsgabe . . .« Er schwieg, aber ein Seufzer der Mutter fiel in die Stille.

»Du mußt Hannelore einmal streng unter vier Augen vornehmen. Du weißt, wie deine Worte sie gefügig machen, und wie alles, was du ihr sagst, ihr zu Herzen geht.« Wieder Schweigen.

»Du hast recht . . . Ich werde mit Hannelore sprechen, nicht heute, aber bald . . ., auch mit der Madre Superiora.«

Hannelore hielt es da draußen nicht mehr aus. Die Tränen liefen ihr in Strömen über das Gesicht, und sie eilte hinauf in ihr Stübchen, warf sich auf ihr Bett, wühlte ihren Kopf in das Kissen und überließ sich hemmungslos dem Schmerz und hatte nur den einzigen Gedanken: »Ich werde mich ändern. Ich werde mich bessern. Ich werde mich zusammennehmen. Sie werden schon sehen, was ich kann, wenn ich will.« Sie weinte so lange, bis sie schließlich vor Aufregung und Müdigkeit in einen tiefen Schlaf versank.

So gegen drei Uhr wachte sie plötzlich auf. Die Mutter stand auf der Türschwelle und rief: »Hannelore, Vater fragt, ob du mit ihm ausreiten willst? Du mußt dich aber beeilen.« Dann war sie weg. Sie hatte von Hannelores verweintem Gesicht gar keine Notiz genommen, sondern so getan, als ob nichts vorgefallen wäre.

Hannelore war sofort bereit und im Nu fertig. Als sie auf den Hof kam, saß der Vater schon zu Pferd. »Hallo, Hannelore! Ausgeschlafen? Dein Pferd ist gesattelt. Wir wollen hinauf zum Cumbre und sehen, wie weit sie mit dem Roden sind.«

Hannelore lief hinüber in die Scheune und sah erfreut, daß man Mutters Pferd für sie bereit gemacht hatte. Der Perejil war nämlich in der letzten Zeit bequem geworden und mußte nach dem Ritt zur Schule geschont werden.

Der Vater ritt schon auf dem Wege neben den Weidekoppeln hin. Hannelore holte ihn im Galopp ein, aber sie blieb hinter ihm, eine ganze Strecke weit. Die Sonne brannte, und das Land leuchtete und flimmerte wie in wohligem Behagen.

Jetzt berührte der Kopf ihres Pferdes beinah den Sattel des andern 15 Tieres. Hannelore war verwirrt. Sie wußte genau, daß der Vater und sie an das gleiche dachten, nur daß er darüber schwieg, während sie von Kummer und Reue überflutet sprechen mußte.

Sie sah ihren Vater an. Er trug eine weiße Jacke, einen großen Strohhut und saß aufrecht und stolz im Sattel, und wie immer überkam sie in seiner Nähe ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen. Da nahm sie sich zusammen.

»Vater! . . .« rief sie leise. Es war nur wie ein Hauch, aber er hörte es doch, und schon war sie an seiner Seite. Die Köpfe der beiden Tiere bewegten sich in gleicher Linie, und Hannelore faßte nach Vaters Arm. Er sah auf sie hin und gab ihr die freie Hand.

Hannelore ließ diese Hand nicht los, und so ritten sie ein Endchen nebeneinander dahin. Dann sagte sie plötzlich: »Vater, du weißt nicht, wie schrecklich leid mir das mit dem Zeugnis tut, aber von heute ab will ich mich ganz ändern, das verspreche ich dir.«

Sie blickte ihn an und sah, wie ein Lächeln über sein Gesicht ging. Dann sagte er: »Fällt dir das Lernen so schwer, kleine Hannelore?«

»Das Lernen gar nicht,« erwiderte sie eifrig, »aber das Zuhören . . . Ach, während die Lehrerin spricht, bin ich immer hier draußen, . . . aber jetzt,« ihre Stimme wurde warm, »jetzt werde ich mir Mühe geben, auch gut zuzuhören.«

»Das freut mich, und nun, was meinst du, lassen wir die Gäul' mal tüchtig ausholen?«

Sie jagten geradeaus über abgeweidetes Wiesenland und dann langsamer hinein in den Wald, bis sie oben auf den Höhen waren, wo der Wald gerodet wurde. 16

Hier war alles bei der Arbeit. Um die hohen Urwaldbäume wurde Reisig und trocknes Holz aufgeschichtet. Viele von diesen Riesen waren schon dem Feuer zum Opfer gefallen, und nur ihre Stümpfe ragten noch verkohlt und unförmig empor. Weiterhin wurde mit zwei gewaltigen Maschinen gearbeitet, um die Stümpfe zu entwurzeln, und Hannelore bemerkte, wie der Vater von dem Fortschreiten der Arbeit befriedigt war.

»Nächstes Jahr,« sagte er, »haben wir mindestens zwei Hektar Land mehr zum Pflanzen.«

Er sprach mit den Arbeitern und ordnete dieses und jenes an, und nach etwa einer halben Stunde ritten sie wieder talwärts.

»Die Mutter wartet mit dem Kaffee auf uns,« erinnerte er, »und wir wollen nicht allzu spät heimkommen.«

So um fünf Uhr waren sie zurück. Der Kaffeetisch war hübsch gedeckt, aber als Hannelore sich an den Tisch setzte, kam die Mutter allein herein und sagte: »Der Vater hat sich hingelegt. Er fühlt sich nicht recht wohl,« und nach einer Weile fragte sie besorgt: »Hat der Vater unterwegs über etwas geklagt?«

»Nein,« erwiderte Hannelore, »er war ganz vergnügt und hat mit allen Arbeitern gesprochen, und wir sind sogar um die Wette geritten.«

Eine Stunde später war Hannelore in ihr neues Buch vertieft. Die Sonne stand schon tief am westlichen Himmel, und die Luft war merklich abgekühlt. Da sah sie ihren Vater aufrecht und sicher wie jeden Abend auf die Felder reiten.

Dann aber trat mit einem Male etwas von der großen Dunkelheit und Angst des Lebens in Hannelores unbekümmertes Kinderherz. Bei einbrechender Nacht hatte sie plötzlich ein seltsames Hasten und Laufen im Hause gehört. Von einer unbestimmten Unruhe getrieben, war sie hinuntergegangen und gerade dazu gekommen, als man den Vater in bewußtlosem Zustande von den Feldern ins Haus hineintrug.

Sie wollte aufschreien, hinstürzen, aber die Carmela hielt ihr warnend den Mund zu und zog sie hinaus in die Küche.

Hannelore umklammerte ihren Arm und schluchzte: »Was ist geschehen? Was ist geschehen? Carmela! Ist der Vater tot?« 17

Die Carmela beruhigte sie: »Nein, nein, wo denkst du hin! Wie wird ein Mensch so schnell sterben! Das war nur diese Hitze, weiter nichts. Der Herr rackert sich ja so ab. Ich sage es immer, er arbeitet viel zu viel, und da hat er denn so eine kleine Herzschwäche bekommen, aber das geht vorbei.«

Sie strich Hannelore das Haar aus dem verstörten Gesicht und tröstete, so gut sie konnte. »Der Herr ist auch nicht mehr einer von den Jüngsten. Da müßte er sich schon ein wenig schonen.«

Hannelore horchte auf. Daran hatte sie noch nie gedacht . . . Vater war nicht mehr jung . . .?

»Wie alt ist denn mein Vater?« fragte sie weinend. Die Carmela wußte es nicht genau, aber sie meinte: »Vielleicht fünfundfünfzig . . .« »Ist das denn alt?«

»Aber nein,« erklärte sie nun, was ganz im Widerspruch mit dem vorher Gesagten stand, »das ist gar kein Alter . . . Der Herr kann gut noch einmal so lange leben . . ., aber wenn man über fünfzig ist, soll man nicht noch mehr als die Jungen arbeiten.« 18

Hannelore ging hinaus auf den Flur. Ins Zimmer hinein durfte sie nicht, und so setzte sie sich auf einen Stuhl, der der Tür gegenüberstand und wartete in zitternder Angst, hin und wieder wie ein Bäumchen im Winde von einem innern Sturme geschüttelt.

Wie schön hatte der Tag begonnen, und wie traurig ging er zu Ende! . . . Der Vater . . . Nein, es konnte ja nicht sein, daß ihm etwas Ernstliches zugestoßen war! Der Vater, den sie nie müde und nie krank gesehen hatte!

Der Arzt trat ins Haus. Es war Ramirez, ein alter Freund der Familie. Er sah das unglückliche Gesicht der Hannelore, strich ihr über die Wange und meinte: »Wer wird denn weinen, Kind! Das ist alles nur halb so schlimm, wie man denkt.«

Er verschwand hinter der Tür, wo der Kranke lag, und Hannelore horchte angestrengt, aber sie hörte weiter nichts als halblautes Sprechen, und da ging sie wieder in die Küche, wo die Carmela und der Bartolo, der alte Hausdiener, mit betrübten Gesichtern saßen.

Als Hannelore hereinkam, versuchten beide, sie zu trösten. Das sei gar nichts, meinten sie, und morgen würde der Herr bestimmt schon wieder ausreiten.

Dann wurde der Bartolo gerufen, und Minuten später ritt er mit Windeseile in die Stadt.

»Was ist denn jetzt passiert?« schrie Hannelore ganz verstört auf.

»Aber gar nichts, mein Töchterchen,« antwortete die Carmela. »Der Bartolo geht nur in die Apotheke, um etwas zu holen, damit der Herr wieder gesund wird.«

Die Mutter kam in die Küche. Sie sah verfallen aus, und ihre Augen hatten einen fremden Ausdruck.

»Carmela, geben Sie mir einen Topf mit heißem Wasser!« Sie schloß Hannelore in ihre Arme und sagte: »Du brauchst dich nicht zu ängstigen. Ramirez bleibt die Nacht über hier. Vaters Herz ist ein wenig angegriffen . . . Und nun geh ruhig zu Bett, und vergiß nicht zu beten!« Sie wandte sich ab und ging rasch aus der Küche.

Und wie die beiden so allein beisammensaßen, die Dienerin und das 19 schmerzgebeugte Kind, da begann die Alte aus ihrer kleinen Lebensweisheit und ihrem großen Glauben heraus zu sprechen. »Weißt du, Hannelore, wenn so ein Unglück kommt, ist das einzige, was man tun kann, eine ›Manda‹ zu machen.«

Hannelore sah mit verweinten Augen auf. »Was ist eine ›Manda‹?« Die Carmela stutzte. »Ist ja wahr, du bist nicht katholisch, aber das schadet nichts. Du kannst ebensogut eine ›Manda‹ machen wie ich oder ein andrer. Du gehst vor ein Marienbild und versprichst der Heiligen Jungfrau irgend etwas und bittest sie, dir dafür zu helfen.«

Hannelore wußte nicht, was sie einem Heiligenbild versprechen sollte.

»Du legst zum Beispiel jeden Tag frische Blumen hin, und beten mußt du natürlich auch, und sehr viel sogar, und glauben.«

Hannelore sah nachdenklich in das flackernde Küchenlicht. Auf einmal hauchte sie: »Gute Nacht, Carmela! Ich werde es so machen, wie du gesagt hast.«

Sie ging hinauf in ihr Stübchen. Die Fenster waren weit offen, und der Mond schien hell herein. Hannelore glitt hinüber ans Fenster und sah in das silbern schimmernde, schweigende Land hinaus, aber sie dachte nur an den Vater, und alles erschien ihr in dieser Stille und Dunkelheit erschreckend beängstigend. Wie in einem Wirbel jagten sich in ihren Vorstellungen die Gedanken. Wenn der Vater sterben würde? Wie hatte die Carmela doch gesagt? Er sei nicht mehr jung . . .? Ja, es war so . . . Er hatte schon ganz graues Haar . . . Und doch schaffte er mehr als irgendeiner von den Leuten. Ach, wenn 20 dieses Schreckliche geschehen würde, war es für sie und die Mutter für immer mit aller Freude vorbei.

Hannelore umfaßte mit der ganzen Kraft und Liebe ihres jungen Herzens diesen Vater, und auf einmal stand gespensterhaft die Tatsache vor ihr, daß sie ihm noch vor wenigen Stunden mit ihrem Zeugnis einen richtigen Kummer bereitet hatte. Es war nicht auszudenken! . . .

Sie weinte verzweifelt, den Kopf an die Scheiben gedrückt. Was konnte sie nur tun? Wie eine Gefangene war sie, um die sich ringsum Eisenstäbe schlossen! Eine »Manda« aber würde sie ganz bestimmt machen. Jeden Morgen wollte sie ins Städtchen reiten und in der kleinen, blauen Nische neben der Kirche hinter den großen Säulen ein Blumensträußchen niederlegen, und Kerzen sollten, wenn der Vater gesund würde, in allen sechs Leuchtern vor dem Bilde brennen. Und in der Schule wollte sie sich die allerallergrößte Mühe geben, damit der Vater sich wieder freue.

Als Hannelore am andern Morgen aufstand, herrschte im ganzen Hause Totenstille, obwohl es schon spät war. Mit einer Bangigkeit, die ihr beinahe das Herz zersprengte, ging sie leise die Treppe hinunter.

Unten traf sie die Mutter, die sehr müde und blaß aussah, aber ruhig mit ihr sprach: »Sieh zu, Hannelore, daß alles im Hause still bleibt. Kein Fremder darf herein, und keine Tür soll zugeschlagen werden. Dem Vater geht es etwas besser, wenigstens schläft er jetzt ganz ruhig.«

Hannelore ging ins Eßzimmer und trank eine Tasse Milch. Dann schlich sie auf den Zehenspitzen hinaus in den Garten und pflückte die ersten Blumen für die »Manda«: kleine rote Rosen. Sie überlegte, daß der Platz zu Füßen der Heiligen ja nur klein war, also mußte der Strauß auch klein sein, dafür aber recht schön.

Nachher ging sie in die Küche und sprach mit der Carmela. Sie sagte ihr, daß sie in die Stadt reite, um die Briefe von der Post zu holen und, wie sie leise hinzufügte, »um die Blumen hinzubringen«.

Hannelore lief auf die nächste Weidekoppel und fing ihr Pferd ein, sattelte es und ritt weg.

In der Stadt ließ sie das Tier angebunden vor der Bäckerei und eilte mit 21 ihrem Sträußchen über die Fliesen vor der Kirche, verschwand hinter einer der großen Säulen, legte mit zitternden Händen und tief gläubiger Seele die Blumen zu Füßen der Jungfrau und stand dann noch einen Augenblick versunken da.

Auf einmal legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Sie wandte sich erschrocken und blickte gerade in das Gesicht der Madre Superiora.

»Was tust du hier, Hannelore?« fragte diese freundlich. Hannelore sah zu Boden und, mit den plötzlich aufsteigenden Tränen kämpfend, antwortete sie: »Mein Vater ist so krank . . . Vielleicht wird er sterben . . .« Die Madre Superiora streichelte ihr mütterlich das Gesicht und tröstete: »So schlimm wird es ja wohl nicht sein . . ., und deswegen hast du eine ›Manda‹ gemacht?«

Hannelore nickte. Sie sah nicht, wie ein Lächeln über das ernste Antlitz der Frau neben ihr huschte, aber sie hörte, wie diese sagte. »Das ist sehr lieb von dir, aber die Blumen allein tun es nicht. Das Herz und die Gedanken . . . Das ist die Hauptsache. Du mußt auch innig für deinen Vater beten . . . Ich werde es auch tun, mein liebes Kind.« Und weg war sie.

Hannelore fühlte sich irgendwie wunderbar getröstet, und seltsam ruhig ritt sie wieder nach Hause.

Im Laufe dieses Vormittages saß sie bald hier, bald dort und wußte gar nicht, was mit sich anfangen. Am Mittag aber rief sie die Mutter: »Wenn du mir versprichst, ganz still zu sein und kein Wort zu sprechen, dann darfst du einen Augenblick zum Vater hinein.«

Hannelores Herz klopfte heftig, und ganz behutsam trat sie an Vaters Bett und sah auf ihn nieder. Er lächelte und nahm ihre Hand: »Hast dich sehr erschrocken?«

Hannelore nickte, setzte sich auf den Bettrand und legte ihren Kopf auf das Kissen. Er sollte nicht sehen, daß sie vor lauter Freude weinte. Eine ganze Weile blieb sie so. Dann kam die Mutter und schickte sie hinaus.

Und dann gingen die Tage und Wochen dahin. Hannelore ritt jeden Morgen mit ihrem Blumensträußchen in die Stadt. und ihrem Vater ging es zusehends besser. Sie durfte nun nach Belieben bei ihm sein und soviel sie 22 wollte, mit ihm sprechen. Bald stand er auch wieder auf, und als die drei Wochen Frühlingsferien vorbei waren, und sie wieder in die Schule ging, war alles wie einst. Nur die Erinnerung an die traurigen Tage blieb . . . und noch etwas andres . . .

Hannelore war um eine Zuversicht reicher geworden. Sie wußte jetzt, daß die Carmela ihr den besten Rat der Welt gegeben hatte, und daß eine »Manda« wirklich half, wenigstens wenn jemand krank war. Ja, sie fand darin einen so außergewöhnlichen Trost, daß sie sich vornahm, in Zukunft jedes ähnliche Ungemach durch eine »Manda« abzuwenden.

Als sie mit dieser beruhigenden Gewißheit eines Tages so auf dem Wege zur Schule dahinritt, trat mit einem Male eine wunderliche Helle in ihre Seele. Ein Gedanke stieg in ihr auf, und ihr war es nicht anders, als habe sie eine große Entdeckung gemacht, aber . . . so ganz sicher war sie ihrer Sache doch nicht und besprach die Angelegenheit am gleichen Abend mit der Carmela.

»Carmela,« fragte sie einleitend, »hilft eine ›Manda‹ nur bei Krankheiten?«

»Aber nein!« Die Carmela war beinahe entrüstet. »Eine ›Manda‹ hilft in allen schweren Fällen des Lebens. Du kannst irgend etwas wünschen oder um irgend etwas bitten.«

»Kann die Heilige Maria einem auch ein gutes Zeugnis in der Schule geben lassen, wenn man ihr dafür eine ›Manda‹ macht?«

»Sicher,« erwiderte die Carmela überzeugt und fügte, als ihr plötzlich das Verständnis für Hannelores Frage aufgegangen war, noch hinzu: »Natürlich mußt du auch in der Schule arbeiten, denn einem faulen Kinde wird die Jungfrau nie ein gutes Zeugnis geben.«

»Ja . . . gewiß.« Hannelore sah das ein. Sie wollte ja nur wissen, ob eine Heilige auch die Bemühungen eines Kindes in der Schule unterstütze, wenn es sie darum bat und ihr etwas versprach.

Nach langem Überlegen nahm sich Hannelore an diesem Tage vor, der Jungfrau Maria bis zum letzten Schultag genau wie während der Krankheit des Vaters ein Blumensträußchen zu weihen, damit sie zum Jahresschluß ein gutes Zeugnis nach Hause bringen könne. Daß sie sich auch in der Schule 23 die größte Mühe geben wollte, stand ebenso fest in ihrem Herzen. Sie hoffte aber, mit Hilfe der Heiligen dieses Ziel leichter zu erreichen.

So ritt sie denn Tag für Tag mit ein paar Blumen zur Schule, die sie gewissenhaft in der blauen Nische niederlegte. Es kam wohl auch einmal vor, daß sie die Blumen vergaß, besonders wenn es in Strömen regnete; aber dann fand sie immer noch am Wege einen blühenden Strauch oder Baum, der ihr ein grünes Sträußlein bot.

In dieser Zeit geschah es, daß Hannelores Pferd geradezu unleidig wurde. Sie mochte es antreiben, wie sie wollte, das alte Tier nahm wohl noch einen Anlauf, galoppierte auch etwa hundert Meter weit, schnaufte und lahmte dann aber so, daß es Mitleid erregte. Sie hatte zwar zwei Pferde, aber sie mußte diese abwechselnd gebrauchen, und Mutters oder Vaters Pferde standen ihr nicht zur Verfügung. In dieser Beziehung waren sie auf dem Gute alle sehr eigen. Hannelore geriet darum in einige Verlegenheit, denn mit dem altersschwachen Perejil kam sie häufig zu spät in die Schule und mußte darum stets, wenn sie dieses Tier benutzte, früher aufstehen.

Dem Vater wollte sie vorläufig deswegen nichts sagen, denn ein neues Pferd kostete Geld und war immerhin wie ein Geschenk, und sie meinte, ein solches müsse sie sich erst verdienen . . . vielleicht . . . vielleicht . . . durch ein gutes Zeugnis . . . Hannelore sann hin und her . . . Dann . . . Ja, dann würde sie vielleicht den Vater bitten, ihr ein junges Pferd für das neue Schuljahr zu kaufen. Vorher aber auf keinen Fall.

Unterdessen hatte sie jedoch ihre Augen offen und hielt aufmerksam Umschau, wo es Pferde zu kaufen gab. Sie fragte auch hier und dort deswegen nach, sagte, daß sie zwar nicht gleich kaufen würde, sondern wohl erst nach Weihnachten oder Neujahr.

Das sprach sich in dem kleinen Städtchen, wo jedermann die blonde Hannelore vom »Rincón« kannte, bald herum, und darum geschah es öfter, daß sie auf dem Wege nach der Schule von irgendeinem Manne angehalten wurde, der ihr ein Pferd anbot. Bis dahin hatte ihr aber noch keins gefallen. Das eine hatte einen zerschundenen Rücken, das andre war ihr zu groß, bei diesem und jenem gefiel ihr auch die Farbe nicht. Auf keinen Fall wollte sie wieder 24 einen Schimmel haben wie den alten Perejil, der eine richtige Schindermähre geworden war.

Eines Tages traf sie auf der Höhe vor der Stadt den Luis. Das war der Junge, der in der Bäckerei angestellt war und das Brot austrug. Er ritt mit leeren Körben auf einem schwarzen, feinen, kleinen Tier, und Hannelore hielt ihn an.

»Was reitest du denn da für einen Gaul? Ist der neu, und gehört er dir?«

Der Luis sah über das Tier hin und antwortete: »Das gehört dem Patron. Er hatte es so lange auf der Weide. Jetzt erst wird es gebraucht, aber er will es verkaufen. Es ist ihm zu klein für die Arbeit.«

Hannelore spitzte die Ohren. Sie ritt näher heran und fragte: »Weißt du, was er dafür verlangt?«

Der Luis zuckte mit den Schultern: »Ich glaube siebzig Peses.«

»Wie heißt das Tier?«

»Ventanita

Hannelore lachte: »Ventanita? . . . Warum denn das?« Der Luis beugte sich ein wenig über den Hals des Pferdes und strich ihm die Mähne nach hinten: »Siehst du nicht den weißen Fleck auf der Stirn?«

»Ach so.« Hannelore nickte verstehend. »Weil dieser Fleck wie ein Fensterchen aussieht.«

Sie besah sich das Pferd von allen Seiten. Dann sagte sie: »Du, willst du mir versprechen, mir sofort Bescheid zu geben, wenn dein Patron das Pferd verkaufen will? Ich möchte es nämlich haben, aber erst nach Weihnachten. Ich schenke dir auch etwas Schönes, wenn du aufpaßt, daß es mir nicht ein andrer wegschnappt.«

Luis versprach es gern, denn die Geschenke im »Rincón« kannte er. Da fiel immer etwas ab, und gar, wenn man einen besonderen Dienst erwies.

Hannelore ritt heim und war freudig gestimmt. Das hübsche Tier hatte es ihr angetan. Das mußte sie haben. Irgendwie. Das Zeugnis tauchte vor ihr auf . . . Vielleicht . . .? Freilich, so sicher war das nicht. Nach einem so schlechten ersten Halbjahrszeugnis! Immerhin . . . der Vater hatte für ein Biest, wie es der Perejil war, Verständnis. Ein solches Pferd mußte 25 sowieso ausrangiert werden. Und diese Ventanita mußte ihm gefallen: kohlschwarz, feingliederig, feurig. Hannelore war von dem schönen Tier ganz eingenommen.

In den folgenden Zeiten begegnete sie dem Luis öfter, manchmal saß er auf der Ventanita, manchmal auch auf einem andern Gaul, aber immer tat sie die gleiche Frage, und immer erhielt sie dieselbe Antwort: »Es ist noch zu haben.«

Und dann war der vierundzwanzigste Dezember da. Hannelore befand sich in einer Aufregung sondergleichen. Heute bekam sie ihr Schlußzeugnis. Viel hing nach ihrer Meinung von diesem Zeugnis ab. Es sollte das Weihnachtsgeschenk für die Eltern sein und den Flecken vom ersten Halbjahr auslöschen. Dann aber sollte es auch beweisen, daß eine »Manda« wirklich in allen Fällen des Lebens half, und . . . vielleicht . . . vielleicht würde es ein Mittel zur Erreichung der hübschen Ventanita sein. Hannelore verlor sich in allerlei Hoffnungen, die vorläufig aber gar keine Aussicht auf Erfüllung zeigten.

Am Morgen dieses Weihnachtstages sagte der Vater plötzlich: »Nun, 26 Hannelore, heute gibt's wohl Zeugnisse?« Sie sah ihn an, nachdenklich und rätselhaft, und antwortete: »Ja . . .« Dann trank sie in außergewöhnlicher Eile ihre Milch, reichte Vater und Mutter die Hand und ritt fort.

Es trieb sie voller Erwartung in die Schule. Ein schlechtes Gewissen hatte sie dieses Mal nicht, aber wer konnte wissen, wie diese Madre Superiora dachte!

Auf der Brücke fiel es ihr plötzlich ein, daß sie das Sträußchen vergessen hatte. Wie konnte das nur heute am letzten Tag geschehen! Es tat ihr leid, und sie hielt es für eine schlechte Vorbedeutung. Sie wandte das Pferd und ritt zurück bis vor die Gartentüre. Dort stieg sie ab und pflückte ein gar zierliches Büschelchen Steinnelken und Sternblümchen. Dann ging es mit Sturmeseile davon. Ein Glück, daß sie nicht auf dem Perejil saß!

Das Land um sie herum stand in lauter Glanz, aber sie sah es nicht. Ihre Gedanken waren nur auf die Schule und auf das Zeugnis gerichtet, und mit nach innen gerichtetem Blick langte sie im Städtchen an. Hoffnung, Zweifel und allerlei Überlegungen und Bedenken füllten ihr Herz.

Vor der Bäckerei stand der Luis. Sie übergab ihm das Pferd und fragte wie gewöhnlich: »Ist die Ventanita noch da?«

Und nun kam die erste bittere Enttäuschung dieses Tages. Der Junge hob die Schultern und antwortete mit betrübtem Gesicht: »Ich weiß nicht, wie es kam, aber der Patron hat sie gestern verkauft.«

Hannelore sah ihn ganz verstört an: »Aber nein . . .! Verkauft . . .? Oh . . . warum hast du mir nichts gesagt?« Ihr Gesichtchen war voller Bestürzung und Kummer. Auch der Junge schien unglücklich darüber zu sein: »Es tut mir leid, aber das Pferd war verkauft, bevor ich etwas davon hörte, und . . . schließlich kann der Patron damit tun, was er will.« Hannelore verstand.

Sie wandte sich ab und ging langsam an der Kirche vorbei. Nachdem sie ihre Blumen in die kleine Nische gelegt hatte, fiel ihr etwas ein. Sie wollte Salazar selbst fragen. Das war eine Angelegenheit, die sie ganz genau und sicher wissen mußte.

Also ging sie hinüber in den Laden und fragte den Besitzer geradeheraus, 27 ob es wahr sei, daß er die Ventanita verkauft habe. Der Mann sah sie erstaunt an und meinte gemütlich: »Und warum denn nicht, kleines Fräulein?«

»Oh . . .,« erwiderte Hannelore, »nur so . . . wir hätten das Pferd vielleicht auch gekauft.«

Der Mann kratzte sich hinter dem Ohr und lachte: »Das konnte ich nicht wissen, aber nun ist nichts mehr zu machen. Verkauft ist verkauft.« Dann sprach er mit einem Kunden, und Hannelore ging kleinlaut und traurig aus dem Laden.

Als sie an der Säule bei dem Marienbild vorbeikam, erschrak sie bis ins Herz hinein. Ihr kleiner Blumenstrauß lag achtlos auf dem Boden, und vor der Jungfrau prangte ein großer, herrlicher Rosenstrauß! Der hing da, üppig und breit, und schien für nichts andres Platz lassen zu wollen.

Hannelore zitterte. Was war das für ein Tag! Eine unsägliche Angst schlich sich in ihr Herz. Es war gerade so, als ob ihre kleine Gabe verschmäht worden wäre . . . und damit sicher auch ihr Gebet! Sie kam zu der Überzeugung, daß dies alles der graue Auftakt zu noch viel graueren Dingen war! Besonders dieses mit dem Strauß!

Sie dachte gar nicht daran, daß andre Menschen auch bekümmert waren und »Mandas« machten und sogar größere als sie . . . Traurig hob sie ihre armen Blümchen vom Boden auf und schob sie ganz bescheiden unter die stolzen Rosen.

Dann ging sie tiefbetrübt in die Schule. Draußen stieg die goldene Sonne immer höher am Himmel empor, und überall war ein wunderbares Leuchten und Strahlen, nur nicht in Hannelores Herz! Da war alles regenverhangen und ohne ein tröstendes Lichtlein . . . Aber . . . wer hätte so etwas geahnt! . . . als sie um zwölf Uhr heimwärts ritt, hatten ihre Augen auf einmal auch den Glanz der schönen Natur ringsum, und es war nicht anders, als ob sich ein Fleckchen Sonnengold in dem lichten Blau verloren und festgefangen hätte. So hell und klar sahen die beiden Fensterchen in die Welt!

Als Hannelore nach Hause kam, saßen die Eltern schon bei Tisch. Sie ging erst in ihre Stube, öffnete ihren Schulranzen und holte das Zeugnis heraus, las es noch einmal aufmerksam durch, lächelte still vor sich hin, verschloß das Büchlein in ihrem kleinen Schreibtisch und ging hinunter. 28

»Und das Zeugnis?« Die Mutter erwartete es anscheinend mit Spannung und Ungeduld. Hannelore machte ihr geheimnisvollstes Gesicht und antwortete: »Bitte, wartet bis heute abend! Dann könnt ihr es ganz genau ansehen.« Die Eltern schwiegen. Irgend etwas an Hannelore sagte ihnen, daß sie dieses Mal nicht traurig sein würden.

Am Nachmittag half Hannelore der Mutter den Baum schmücken, und die Stunden flogen nur so dahin. Kurz nach dem Abendbrot sagte die Mutter zu ihrem Manne: »Nun könntest du mit Hannelore noch ein wenig spazierengehen. Der Abend ist so mild, und ich zünde unterdessen die Lichter an.«

Er sah sich nach Hannelore um. »Ja, gewiß, aber erst muß ich dem kranken Tornasol noch einen heißen Umschlag machen. Der Bartolo ist schon in der Scheune. Willst du mich begleiten, Hannelore, oder warten, bis ich fertig bin und dich hole?«

»Nein, nein, Vater, ich komme mit dir und halte das Licht,« beeilte sie sich zu antworten.

Und dann gingen sie miteinander über den nächtlichen Hof. Hannelore trug die große Stallaterne und der Vater einen Eimer mit einem Sack voll heißem Leinsamenbrei.

Der Bartolo hatte den Tornasol auf den Hof geführt und an einen Längsbalken angebunden. Es war ein feines hellbraunes Tier und sehr gepflegt. An dem einen Hinterbein aber hatte es ein großes, eitriges Geschwür. Hannelore hielt die Lampe hoch und streichelte mit der freien Hand den Rücken des Pferdes. Der Bartolo stand vorn und sprach zu dem Tier wie zu einem Menschen, während Siewers die Wunde auswusch und den heißen Brei darauflegte und verband. Ein Zittern lief über den ganzen Körper des Tieres, sonst blieb es vollkommen ruhig, genau als ob es wüßte, daß man ihm helfen wolle.

Als schließlich alles fest an dem Beine saß, führte der Bartolo das Tier in den Stall zurück. Hannelore stellte die Laterne auf eine Bank, und sie und der Vater wuschen sich die Hände unter der Röhre eines Laufbrunnens. Dann schob sie ihren Arm unter den seinen, und so schritten sie langsam durch die laue Sommernacht dahin. 29

Siewers sprach vom Weihnachtsfeste in der Heimat bei den Eltern. Er war aus einem kleinen deutschen Dorf, wo dieses Fest seinen ganz besonderen Zauber hatte. Er erzählte von verschneiten Hütten, vom Gottesdienst am Abend in der Kirche, von den Weihnachtsglocken und allerlei alten Gebräuchen in deutschen Landen.

Bei der ersten Weidekoppel blieben sie stehen. Es war eine wunderbare Nacht, mild und still und silbern durchflossen vom Scheine des Mondes. Ruhe und Frieden ohnegleichen lagen über Wald, Fluß und Wiesen, und Siewers sagte nach einer Weile schweigenden Versinkens in diese fremde und doch so namenlos schöne Natur: »Wir drüben meinen immer, Weihnachten und Schnee gehörten zusammen wie Ostern und Frühling, aber wenn ich mir das Land vorstelle, wo Jesus geboren ist, so erscheint es mir nie verschneit, sondern gerade so, wie es heute abend hier ist, und ich finde es auch ohne Schnee feierlich schön und stimmungsvoll. Da drüben die Wiesen, auf denen unsre Herden schlafen, dort unten der schimmernde Fluß, dahinter die schweigenden Wälder und hier unser Haus, einsam aber friedlich und schön, und darüber der sternenbesäte Himmel.«

So sprach er selten. Hannelore hörte ihm bewegt zu und empfand genau wie er.

Er öffnete die Tranca und sagte: »Komm, wir wollen hier über die Wiese und auf der andern Seite wieder zurück.«

Nachdem sie die Querbalken wieder zurechtgeschoben hatten, gingen sie Hand in Hand über den mondbeschienenen Platz. Am Ende der Weidekoppel standen ein paar mächtige Urwaldbäume und warfen ihren Schatten weit in die Helle hinein, und drüben im zweiten Potrero lagen und standen die Pferde.

Hannelore und der Vater gingen zu den Bäumen. Da unterschied sie plötzlich ein einzelnes Pferd, das, an einen der Stämme gebunden, halb im Schatten und halb im Mondenscheine stand.

Der Vater führte sie dicht heran, nahm eine Taschenlaterne hervor und beleuchtete den Körper des Pferdes. Dann sagte er mit seltsam verhaltener Stimme: »Ist dir dieses Tier nicht ein klein wenig bekannt, Hannelore?« 30

Da stieg etwas in ihr auf, ein freudiger Schrecken, ein ungläubiges Staunen, ein Zweifeln . . .

»Komm näher und sieh es dir genau an: Es ist nämlich deine Weihnachtsüberraschung.«

»Vater . . .,« würgte Hannelore heraus, » . . . die Ventanita!« jubelte sie. »Wie wußtest du? . . . Wer hat dir etwas gesagt? . . . . Vater! Ach, das ist ja zu schön!«

Sie sah im Scheine der kleinen Laterne zu ihm auf. Sein Gesicht strahlte: »Ja, das ist ein großes Geheimnis, aber daß der Perejil nichts mehr taugt, sieht auch ein Blinder. Nun, freust du dich oder nicht?«

»Ach, Vater, ich danke dir, ich danke dir . . . so sehr.« Sie hielt seine Hand fest an ihre Wange gepreßt.

»Na, schön, dann wollen wir die Ventanita losbinden und zu den andern Pferden jagen. Sie steht hier nämlich schon den ganzen Nachmittag versteckt und wartet darauf.«

Nachdem sie das Tier auf die nächste Weidekoppel getrieben hatten, kehrten sie zurück. Hannelore hing sich dem Vater an den Arm und sagte glückselig: »Du und die Mutter, ihr seid ja so schrecklich gut zu mir . . .«

Die Mutter wartete längst auf die beiden und mahnte nun: »Beeilt euch doch ein wenig! Die Lichter brennen schon.« Sie traten in die hellerleuchtete Stube und bestaunten den brennenden Baum und die kleinen Geschenke. Und dann sangen sie zusammen die alten Weihnachtslieder.

Als das Lied von der »stillen, heiligen Nacht« verklungen war, huschte Hannelore hinaus und holte ihr Zeugnis. Sie hielt es noch geschlossen und fest in der Hand und setzte sich damit zwischen Vater und Mutter.

»Wer will es zuerst sehen?« fragte sie mit leuchtenden Augen.

»Wenn es s–e–h–r gut ist . . . der Vater. Wenn es nur so so, la la ist . . . ich.«

Da machte Hannelore das Büchlein auf und hielt es dem Vater dicht vor das Gesicht. Er las es. »Aber Hannelore, das ist ja fast zu gut . . . hier!« Er reichte es der Mutter und legte den Arm um Hannelore.

»Hannelore!« Die Mutter konnte es gar nicht fassen. »Die zweite von 31 fünfundzwanzig Kindern! Das ist ja fabelhaft! Wie hast du das nur fertig gebracht?«

Hannelore sah strahlend vor Glückseligkeit in die flimmernde Pracht des Weihnachtsbaumes und antwortete: »Oh . . . es war nicht so schwer. Ich habe nur immer gut zugehört.«

Die Eltern freuten sich innig, am meisten aber Hannelore selbst, und nachdem sie ein Weilchen schweigend dagesessen hatte, sagte sie auf einmal geheimnisvoll: »Ich weiß etwas sehr, sehr Schönes.«

»So?« staunte der Vater. »Was ist es denn?« Sie sah ihn ernsthaft an. »Ich weiß, wie man es machen muß, daß einem jeder Wunsch in Erfüllung geht, und ich weiß auch, wie man jedes Unglück verscheuchen kann.«

»Hm . . .,« machte der Vater. »Dann bist du schlauer als deine Eltern.« Hannelore ließ sich nicht beirren, und ganz versunken in die Erkenntnis, die ihr in den letzten Monaten und besonders an diesem Weihnachtsabend aufgegangen war, erklärte sie: »Erstens muß man sich furchtbar anstrengen, und zweitens muß man eine ›Manda‹ machen, und drittens muß man auch noch fest beten und glauben, und dann kommt alles so, wie man es will.«

»Und wer hat dir diese wunderbare Weisheit beigebracht?« fragte der Vater lächelnd.

»Das erste und das letzte,« gestand sie, »wußte ich selbst schon lange, aber ich hatte es nie ausprobiert, und das zweite weiß ich von der Carmela.«

»Und jetzt hast du alles ausprobiert?«

»Ja,« gab sie mit tiefem Atemholen zu, denn der Gedanke an ihr Erleben in den vergangenen Wochen überwältigte sie fast. Sie lehnte sich an den Vater: »Du bist doch wieder gesund geworden, und ich habe ein gutes Zeugnis bekommen, und ihr habt mir die Ventanita geschenkt.«

Die Eltern sahen sich über das Kind weg gerührt in die Augen. Ein Schauer stummen Glückes durchbebte ihre Herzen.

Draußen aber wölbte sich der fremde Sternenhimmel hoch und funkelnd in weihnachtlicher Schönheit über ihrem Hause. Feierlich und dunkel standen die Wälder, und leise rauschte der schimmernde Fluß. – 32

 


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