Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiter Theil.

1. Brief.
Maria an Elsbeth

Breitenstein, 15. Juli 18..

Meine liebe Elsbeth!

Vierzehn Tage schon bin ich hier und erst jetzt schreibe ich Dir. Ich hätte wol eher schreiben können, aber ich zog es vor, zu warten bis meine Umgebung mir nicht mehr so ganz neu und fremd sein würde. Jetzt kann ich Dir wenigstens schon etwas aus meinem gegenwärtigen Leben erzählen. Doch zuerst die Reise.

Wie ich in's Coupé gekommen, hast Du gesehen und jedenfalls besser als ich, denn mir verging bei der Eile, mit welcher ich hinein befördert wurde, beinahe Hören und Sehen. Um unsern Abschied sind wir auf diese Weise ganz gekommen, den haben wir noch zu Gute.

Meine Reise auf der Bahn ging, wie man zu sagen pflegt, »glücklich und ohne Unfall von Statten«; ich verlor nichts, ließ in keiner Coupé-Ecke etwas liegen, stieg, wenn die Züge gewechselt wurden, in den richtigen Zug, verpaßte auch nicht die Zeit zum Einsteigen und kam so, Nachmittags gegen 3 Uhr, auf der Breitenstein zunächst gelegenen Haltestelle St. an.

Ich stieg aus, meine Sachen wurden gleichfalls ausgeladen, und da stand ich mutterseelenallein in der weiten fremden Welt. Ich hätte weinen mögen, wenn ich mich nicht geschämt hätte. Ich glaube, ich war sehr verwirrt. Da kamen zwei kleine Mädchen auf mich zu und fragten: »Sind sie Fräulein Reimar?« Diese Frage rief mich in die Wirklichkeit zurück. Als ich aufblickte, stand hinter den beiden kleinen Mädchen ein ältlicher Herr mit weißem Haar; er grüßte und fragte ebenfalls: »Fräulein Reimar, nicht wahr?« Als ich dies bejahte, reichte er mir die Hand und hieß mich freundlich willkommen. Die beiden kleinen Mädchen reichten mir nun auch die Hand. Wir stiegen in den bereit stehenden offenen Wagen. Herr von Hallendorf fuhr selbst, der Kutscher saß neben ihm. Die beiden kleinen Mädchen, Hedwig und Elisabeth, saßen neben mir im Wagen. Sie schienen gar nicht blöde und das war mir sehr lieb, denn ich glaube, ich war im Anfange recht befangen. Sie erzählten mir von Hühnern und Tauben, von Katzen und Kätzchen, von einem zahmen Reh, von Blumen und hundert andern Dingen und vor allem von ihren vielen Puppen, deren eine Maria heiße, gerade so wie ich. Unter dem muntern Geplauder der Kinder verging die Zeit, bis Elisabeth, die Kleinste, rief:

»Ich sehe den Kirchthurm!«

»Und ich sehe unser Haus!« –

»Und ich sehe es auch, und noch mehr dazu!« –

Frau von Hallendorf empfing uns auf der großen Freitreppe vor dem Hause. Sie ist eine noch junge Frau; Herr von Hallendorf ist nämlich schon einmal verheirathet gewesen.

Hedwig und Elisabeth führten mich nach meinem Zimmer. Dieses ist geräumig und freundlich. Durch die Fenster hat man einen Blick in den großen, schönen Park, welcher das Herrenhaus von drei Seiten umgiebt. Die Einrichtung meines Zimmers ist bequem und hübsch, und ich glaube, ich werde mich hier mit der Zeit recht zufrieden und glücklich fühlen können. Jetzt ist mir alles noch so neu und fremd, und meine Gedanken sind noch so viel in der alten Heimath, die nun wie ein verschlossenes Paradies hinter mir liegt, und bei meinem Mütterlein, die nun selig bei Gott im Himmel ist. Ich gönne ihr von Herzen diese Seligkeit und möchte sie nicht auf diese Erde zurückrufen, selbst wenn ich es könnte, aber oft wünsche ich, meinen Pilgerstab niederlegen zu dürfen und auch schon daheim zu sein. Aber dann gedenke ich der Worte, die mein Mütterlein mir sterbend gesagt: »Der Herr wird Dir ein neues Arbeitsfeld aufthun und Dir den Weg weisen, den Du gehen sollst; gehe ihn willig, mein Kind, und thue Deine Arbeit mit Freuden!« Das giebt mir denn wieder Muth und Kraft, und ich fasse meinen Wanderstab auf's Neue mit fester Hand. Ja, ich will wandern und arbeiten wie es der Herr von mir fordert. –

Meine Zöglinge sind 8 und 9 Jahre alt. Es scheinen begabte Kinder zu sein; das Lernen wird ihnen nicht schwer; sie sind aber sehr lebhaft und unruhig und zuweilen wild und unbändig. Ich glaube, sie werden mir Freude, aber auch Noth und Plage machen.

Die Unterrichtsstunden sind von 8–11 Uhr Morgens und von 2–4 Uhr Nachmittags. Außer diesen Stunden machen mir die Kinder bis jetzt wenig Mühe, weil sie dann viel draußen spielen. Mir bleibt also hinreichend freie Zeit; ich musicire und singe viel und habe auch wieder angefangen, nach der Natur zu zeichnen. Das Leben auf dem Lande ist doch ein ganz anderes, als in der Stadt; ich denke aber, es wird mir mit der Zeit sehr gut gefallen. Ich glaube, Du würdest es langweilig finden. Man sieht und hört wenig von der Außenwelt und lebt in der Welt, die man sich selbst in seinem Innern schafft. Dies ist eigentlich sehr nach meinem Geschmack und manche Träumereien sind mir schon durch den Kopf gegangen und einige derselben auch auf's Papier gekommen.

Für die nächste Zeit steht der Besuch einer verheiratheten Tochter des Herrn von Hallendorf in Aussicht. Dieser Tochter zu Ehren wird ein großes Diner stattfinden, bei welcher Gelegenheit ich dann wol sämmtliche Freunde und Bekannte der Familie Hallendorf aus der Umgegend auf einmal werde kennen lernen. Der Hauptverkehr der Familie Hallendorf scheint mit der Familie von Strahlenau, einer benachbarten Gutsbesitzerfamilie, in welcher sich zwei sehr schöne, geistreiche Töchter befinden, zu sein. Bis jetzt habe ich von den adeligen Nachbaren noch niemand kennen gelernt.

Am vergangenen Sonntag-Nachmittage machte ich einen Besuch im hiesigen Pfarrhause; es hat mir dort sehr wohl gefallen. Pastor Paulsen und seine Frau sind ein altes kinderloses Ehepaar. Da der alte Herr an starkem Asthma leidet, so hat er seit mehreren Jahren schon einen Collaborator, Pastor Rollmann, welcher eigentlich alle Amtshandlungen verrichten muß. Des Letzteren Predigten gefallen mir sehr gut; Form und Inhalt derselben, sowie der Vortrag erinnern mich lebhaft an unsern lieben Pastor G., der uns confirmirt hat. Sein Verhältniß zu den alten Pastorsleuten scheint ein kindliches, hübsches zu sein, auch das hat mir sehr an ihm gefallen.

Für heute, meine liebe Elsbeth, muß ich schließen, schreibe mir bald und recht ausführlich; mich verlangt sehr, aus der theuern Heimath zu hören.

In treuer Liebe
Deine
Maria.

2. Brief.
Elsbeth an Maria

H......, den 1. August 18..

Du glaubst nicht, wie sehr ich Dich vermisse, Du lieber Schatz. Oft wenn ich ausgewesen bin und zu Hause komme, bleibe ich an Eurer Treppe stehen; mir ist, als müßtest Du dort oben erscheinen und mich zu Dir heraufrufen. Wie gemüthlich war's doch in Eurem hübschen Stübchen! Seit Du fort bist, bin ich viel unzufriedener und reizbarer geworden. Hatte ich mich früher über die ungezogenen Jungen geärgert, oder kam ich müde und abgespannt aus den dummen Kaffeegesellschaften nach Hause, dann brauchte ich nur die paar Stufen zu Dir hinaufzuspringen, um mir meine Munterkeit wieder zu holen. Wie sehr hast Du mich oft erquickt durch Dein immer gleiches, heiteres Wesen! – Woher kommt es nur, daß ich Dich so lieb habe? Ich weiß es nicht, aber Du hast ein Stück von meinem Leben mit Dir fortgenommen, und oft habe ich rechte Sehnsucht nach Dir, Du Herzensschatz!

Weißt Du auch, wer jetzt in Eure Wohnung eingezogen ist? Denke Dir, eine unausstehliche alte Jungfer mit ihren Blumen und ihrem Hunde. Wir leben von der ersten Woche an in Feindschaft mit ihr, denn sie beklagte sich mehrmals über den Lärm, den meine Brüder machten. Besonders gehässig hat sie über mich gesprochen. Sie hat bei Bekannten von uns geäußert, es sei unverantwortlich, daß ein Mädchen in meinen Verhältnissen so viel mitmache und so elegant gekleidet ginge, wie ich es thue. Ich solle nur öfter zur Kirche und seltener in's Theater gehen, das würde besser für mich sein. Die dumme Person! Ich hätte am liebsten darüber gelacht, aber ärgern muß man sich doch. – Sie hat auch weiter gesagt, ich schiene mir sehr viel auf mein hübsches Aussehen einzubilden; es sei das schade um mich, denn wenn ich nicht durch falsche Erziehung so von Grund aus verdorben sei, so hätte ich gewiß ein recht vernünftiges Mädchen werden können. An Verstand und Herz fehle es mir nicht.

Was sagst Du zu solcher Arroganz, liebste Maria? Du wirst es mir nicht verargen, daß ich die Klatschtante nicht ausstehen kann. Wenn sie mir auf der Straße begegnet, so gehe ich an ihr vorüber ohne sie zu grüßen. Es kann Einen übrigens nicht wundern, daß das alte Fräulein Hillmer so über uns und unser weltliches Treiben herzieht, denn sie gehört zu den frommen Leuten. Verzeih mir, theuerste Maria, dieses Wort, mit dem ich Dich gewiß nicht kränken wollte. Ich weiß es ja, daß Du auch zu diesen »frommen Leuten« zählst, aber Deine Frömmigkeit, mein Herz, lasse ich mir schon gefallen; sie ist eigentlich von einer ganz andern Art, und wenn ich nicht so grenzenlos oberflächlich wäre, so würde ich mir wünschen, diese Art von Frömmigkeit selbst zu besitzen. –

Ach, ich beneide Dich um die Fähigkeit, Dir eine Welt in Deinem Innern zu schaffen! Wie schön mag es sich in dieser Welt wohnen und ruhen lassen, wie lieblich mögen die Gärten und Felder darin grünen und blühen, durch unversiegbare Quellen genährt und erhalten! – Die Welt in Deinem Innern ist sicherlich zum Beneiden schön, daher entbehrst Du die äußere so leicht. Ich aber bin durch und durch ein Kind dieser äußeren Welt, ich klebe fest daran und kann mich nicht davon losmachen. Ich weiß auch recht gut, was mich so fest daran hält, und Du weißt es noch viel besser: Es ist meine Sucht nach Vergnügungen.

Ja, es ist wahr, die ist sehr groß! Ein Leben, wie Du es führst und sogar angenehm findest, würde ich nicht ertragen können. Langeweile ist mir das Widerwärtigste, und Langeweile empfinde ich immer und überall, wo mich nicht Zerstreuung und Lustbarkeit umfängt. Dein zartes Gemüth begreift das nicht; wie sollte es auch? Du hast ja niemals getanzt!

Tanzen, Tanzen! –

Vergangene Woche bekam ich eine Einladung zu einer Kahnpartie. Sie ging von den Herren aus, die mit mir zusammen Tanzstunde genommen. Ich hatte mich ganz weiß angezogen, eine Rose schmückte mein Haar. Die Herren drängten sich um mich und haschten nach einem Worte von mir. Am Abend wurde getanzt. Ich war die Königin des Festes. Einmal löste sich die Rose von meinem Haar; das gab mir Anlaß, vor den Spiegel zu treten. Ich muß Dir gestehen, liebste Maria, daß ich mich selbst über mein frisches, gutes Aussehen gewundert habe. Ich wünschte, daß Fräulein Hillmer mich gesehen hätte.

Leb wohl, mein Herz. Laß es Dir gut gehen und gedenke in Liebe

Deiner
Elsbeth.

3. Brief.
Maria an Elsbeth

Breitenstein, den 8. Aug. 18..

Geliebte Elsbeth!

Habe Dank, tausend herzlichen Dank für Deinen Brief! O, wie hat diese Stimme aus der lieben, theuren Heimath mein Herz erquickt! Ich habe gelacht und geweint, beides vor Freuden. Dein Brief zauberte mir aber auch Dein Bild so lebhaft vor die Seele, daß ich Dich leibhaftig vor mir zu sehen glaubte. Ja, das warst Du ganz und gar, mit Deinen Liebenswürdigkeiten, aber auch – verzeihe mir – mit Deinen Fehlern.

Unsere Wohnung ist wieder bezogen – von einer einzelnen Dame. Nun, sie mag sein, wie sie will, seltsam, wunderlich; es ist mir aber ein angenehmer Gedanke, daß unser stilles Stübchen von jemand bewohnt wird, den die Welt zu den »Frommen« zählt. Meine liebe Elsbeth, auch Du verspottest diese »Frommen« und merkst es nicht, daß Du auf dem Wege zu ihnen bist. Deine Eitelkeit und Deine Vergnügungsliebe ziehen Dich zu den Freuden dieser Welt, Du genießest sie, aber sie sättigen Dich nicht, und mitten im Genusse wendest Du Dich oft schon voll Ueberdruß von ihnen ab. Und dabei sehnt sich Dein besseres Selbst ganz heimlich und still nach dem Frieden, den die Welt mit aller ihrer Lust nicht zu geben vermag, und nach den Freuden, welche nur die Kinder Gottes kennen. Liebe Elsbeth, wir sind Freundinnen, und ich habe Dich von ganzer Seele lieb, und deshalb bitte ich Gott täglich in meinem Gebete, daß er Dich von den Träbern dieser Welt weg zu der Quelle des lebendigen Wassers führen möge, und ich bin gewiß, daß Er mein Gebet erhört. –

Doch nun zu mir und meinen Erlebnissen. Unser Besuch ist angekommen, die älteste Tochter des Herrn von Hallendorf mit zwei munteren Knaben und zugehöriger Dienerschaft. Sie haben viel Leben mit sich gebracht und sind jetzt der Mittelpunkt, um den sich alles bei uns dreht.

Das große, vielbesprochene Diner hat auch stattgefunden und ist, glaube ich, zur Befriedigung aller Betheiligten ausgefallen. Es war sehr, sehr glänzend und hatte für mich, die ich noch nie eine solche Pracht an Silbersachen und glänzenden Toiletten und einen solchen Ueberfluß an kostbaren Speisen und Getränken gesehen, geradezu etwas Verwirrendes, und ich dankte Gott, als ich mich endlich aus dem Wirrwarr auf mein Zimmer schleichen konnte, um hier wieder zu mir selbst zu kommen.

Es waren sämmtliche Gutsbesitzerfamilien aus der Umgegend und noch eine Menge Gäste aus B. geladen. Auch ein Sohn des Herrn von Hallendorf, welcher Regierungs-Assessor in B. ist, war gekommen.

Von den vielen Gästen, deren sämmtliche Namen ich nicht einmal gehört, interessirte mich eigentlich nur die Familie von Strahlenau, von der hier so oft die Rede ist, und von dieser Familie eigentlich wieder nur die beiden schönen, geistreichen Töchter. Ja, schön sind sie wohl, schön und elegant und prachtvoll gekleidet, und geistreich sind sie gewiß auch, denn sie sprachen viel, und alle, besonders die Herren, bemühten sich sehr um sie; sie hatten stets einen ganzen Kreis um sich, der ihnen zuhörte und lachte und sie, glaube ich, auch bewunderte, aber ich hatte mir die beiden jungen Damen doch noch etwas anders vorgestellt. Ich glaube, ich würde nie mit ihnen befreundet werden können, auch wenn sie in ihrer Lebensstellung nicht so unendlich hoch über mir ständen.

Eine andere Persönlichkeit, auf deren Bekanntschaft ich gespannt war, war der Regierungs-Assessor, der hier so viel genannte Sohn und Erbe des Gutes, Friedrich. Er ist ein großer, schlanker, hübscher Mann, viel hübscher, als ich ihn mir gedacht; aber er hat etwas in seinem Wesen, das mich zurückscheuchen würde, wenn er mich je anreden sollte, was ihm allerdings, glaube ich, nie einfallen wird. Er spricht so wegwerfend und spottend über alles, und dabei fühlt er sich, wie es scheint, gar nicht sehr glücklich.

Herr und Frau Pastor Paulsen, sowie der junge Pastor Rollmann waren auch geladen, aber nur letzterer hatte die Einladung angenommen. Er war mein Tischnachbar und das war mir ein wahrer Trost. Ich glaube, er denkt über solche Gesellschaften ebenso wie ich. Wir haben uns, soweit dies bei dem Lärm überhaupt möglich war, sehr gut unterhalten, d. h. er hat mich gut unterhalten, denn das Wenige, das ich gesagt, kann zu seiner Unterhaltung nicht viel beigetragen haben.

Der Kaffee wurde im Garten getrunken; es war dort wunderschön und erquickend in der Abendkühle nach der ausgestandenen Hitze im Eßsaale. Einmal sah ich, wie die dunkeln Augen des Regierungs-Assessors auf mir ruhten, um seinen Mund spielte ein spöttisches Lächeln; er machte gewiß unwillkürlich eine Vergleichung zwischen mir und den übrigen Damen, denn ich muß in meinem einfachen schwarzen Wollkleide eine auffallende Erscheinung zwischen all' den glänzenden, schillernden Seidenroben gewesen sein. Sein Blick und sein Lächeln verwirrten mich, und ich zog mich unwillkürlich zurück.

Wie es heißt, wird der junge Herr von Hallendorf sich mit dem ältesten Fräulein von Strahlenau verloben; es wird jedenfalls ein hübsches Paar geben.

Für heute Gott befohlen, liebe Elsbeth!

Treu
Deine Maria.

4. Brief.
Elsbeth an Maria

H......, den 12. September 18..

Liebste Maria!

Was denkst Du wohl von mir, daß ich Deinen lieben Brief erst heute beantworte? Ach mein liebes Herz, wir haben eine recht schwere Zeit hinter uns, und Du wirst es mir deshalb gewiß verzeihen, daß ich Dich scheinbar vernachlässigt habe. Mit meinen Gedanken bin ich oft bei Dir gewesen und habe mir von Dir Trost geholt; ich habe Deinen Brief oft durchgelesen und trage ihn immer bei mir. O wie liebe ich Dich, Du mein süßes Herz, meine »bessere Hälfte«, wie ich Dich so gern nannte! –

Warum bin ich nicht wie Du? Ich möchte meinen Eltern eine Stütze sein, ich wollte, ich wäre anders. Fräulein Hillmer hat wohl Recht, ich bin ein eitles, thörichtes Geschöpf. Aber ach, ach! Hat mich nicht meine Mutter eben dazu erzogen, daß ich solch ein Leben führen sollte, wie ich es thue? Ich bin so verwöhnt, wie kann ich mich jetzt ändern!

Denke Dir, wir haben unsern Georg nach Amerika schicken müssen. Er hatte überall Schulden gemacht; seine Gläubiger rückten meinem Vater in's Haus und drohten mit einer Klage. Um das Aufsehen zu vermeiden, hat Vater sie zufriedengestellt und zugleich Georg's Reisekosten bestritten. Es hat aber viele heftige Scenen gegeben, Du glaubst nicht, wie bittere Thränen ich vergossen habe. Jetzt ist alles äußerlich in's alte Gleis zurückgekehrt, aber ich fühle mich sehr unglücklich. Ich kann nicht über den Gedanken fortkommen: Welch' einem Ende mag Georg wohl drüben entgegen gehen!

Vater hat auch mir und meiner Mutter Vorwürfe gemacht: Die Wirthschaft, die wir führten, müsse uns zum Ruin bringen. Ich ginge umher und spiele die Gesellschaftsdame; er wisse das Geld nicht herbeizuschaffen, ich aber behinge mich mit Goldsachen. Da nahm Mutter meine Partei; es gab Reden und Gegenreden. Ich aber floh hinauf in mein Kämmerlein und habe heiß gebetet, daß mir Gott in meinem Elende helfen möge. Nachher bin ich hingegangen und habe die goldene Kette, die Mutter mir zum Geburtstage geschenkt, und meine schöne Broche – Du kennst sie ja, die mit dem echten Steine – dem Juwelier gebracht. Das Geld, das ich dafür bekam, gab ich meinem Vater. Er sah mich ordentlich liebevoll an und sagte: »Kind, Du meinst es gut. Aber Deine Mutter ist an allem Schuld.«

Da habe ich wieder bitter weinen müssen. Wenn Mutter mich wirklich nicht richtig erzogen hat, so hat sie es alles aus Liebe zu mir gethan, und nun bekommt sie die Vorwürfe!

O wenn ich doch anders sein könnte! Aber ich will mich auch zusammennehmen. In's Theater gehe ich den ganzen nächsten Winter nicht. Ich will häuslich werden; o, ich will schneidern und nähen lernen! Ich habe auch schon Vater gebeten, daß er mir etwas zum Abschreiben geben möchte.

Ja, es wird mir an Arbeit nicht fehlen, wenn ich nur will, und ich habe den festen Vorsatz, von nun an meinen Eltern eine Stütze zu sein. Ich fürchte nur, was meine Bekannten dazu sagen werden. Ich habe keine einzige wahre Freundin weiter als Dich, die anderen sind alle neidisch auf mich, weil ich die hübscheste unter ihnen bin.

Neulich blieb das alte Fräulein Hillmer an der Treppe stehen und fing mit mir zu sprechen an. Sie fragte mich, wie es mir gehe, ich sähe so bleich aus. Da aber habe ich ihr meine ganze Verachtung gezeigt. Ich drehte mich um und ließ sie stehen. Die dumme Person!

O meine süße Maria, behalte mich lieb! Mir ist, als hätte ich aus der weiten Welt nur Dich, nur Dich allein! Wie bin ich so arm und elend!

Erfreue mich bald durch einen Brief.

Deine
Elsbeth.

5. Brief.
Maria an Elsbeth

Breitenstein, den 17. Septbr. 18..

Dein Brief, meine liebe, liebe Elsbeth, hat mich tief ergriffen und mit der herzlichsten Theilnahme erfüllt. Welch eine schwere kummervolle Zeit habt Ihr durchlebt! Und das Traurigste dabei ist, daß das Leid, welches Ihr zu tragen habt, Euch nicht von Gott auferlegt ist, daß es also hätte vermieden werden können. Ach es giebt für Eltern doch gewiß kein größeres Herzeleid als das, welches sie durch ihre Kinder erfahren. Wie schwer muß uns einst der Kummer verklagen, den wir unsern Eltern bereitet haben! Gott hat uns die Eltern als seine Stellvertreter gesetzt; durch sie läßt Er die Fülle seiner Wohlthaten auf uns hernieder strömen. In ihnen will Er geehrt und gepriesen werden, in ihnen wird Er daher auch verachtet und beleidigt. Eine Versündigung gegen die Eltern ist eine Versündigung an Gott selbst. Es ist ganz gewiß nicht zufällig, daß sich das vierte Gebot unmittelbar an die Gebote anschließt, welche sich auf Gott selbst beziehen. Wenn ich das vierte Gebot mit seiner lieblichen Verheißung betrachte, so erscheinen mir die Worte: »auf daß es dir wohl gehe auf Erden«, wie mit leuchtender goldener Schrift geschrieben; aber dahinter sehe ich dann auch in großen schwarzen Buchstaben geschrieben: »Wie übel muß es daher einem Kinde schon hier auf Erden sein Lebenlang ergehen, das seine Eltern kränkt und beleidigt!«

Ich habe es mir zur besonderen Aufgabe gemacht, meinen beiden kleinen Mädchen das vierte Gebot recht einzuschärfen und es ihnen vor allen groß und lieb zu machen. Denn für die Kinder sind in dem vierten Gebot alle übrigen Gebote zusammengefaßt, und ich glaube, ein Kind, welches von Herzen das vierte Gebot erfüllt, wird so leicht nicht gegen die anderen Gebote gröblich sündigen.

Wenn Du dieses liesest, meine Elsbeth, so lächelst Du vielleicht und denkst: In meiner kleinen Freundin Maria ist doch die Weisheit Salomonis leibhaftig geworden. Doch ich konnte es nicht unterlassen, bei dieser Gelegenheit auch Dir noch einmal wieder das vierte Gebot an's Herz zu legen. Ich bitte Dich, liebe Elsbeth, erwäge doch in Deinem Herzen, ob nicht auch Du in Deinen Eltern Gott dem Herrn mit mehr Ehrerbietung und Liebe begegnen könntest. –

So unruhig und leidvoll bewegt für Euch die letzten Wochen gewesen, so still, friedlich und angenehm sind sie mir dahingeschwunden. Du würdest es ein idyllisches Stillleben nennen, doch ich versichere Dich, ein solches Leben erquickt Seele und Leib.

Unser Besuch hat uns verlassen und mit demselben viel Lärm, viel Unruhe und viel buntes Gewirre.

Die älteste Tochter des Herrn von Hallendorf, Frau von Rautenberg, hat mir bei näherer Bekanntschaft sehr wohl gefallen. Sie scheint gar nicht so stolz zu sein, wie es die übrigen Glieder der Familie sind. In der letzten Zeit ihres Hierseins kam sie oft zu mir auf mein Zimmer, und wir haben über manche ernste Dinge zusammen gesprochen. Sie hat trotz alles Reichthums und Ansehens vor der Welt kein leichtes Leben. Ihr Mann ist sehr kränklich, so daß sie fürchten muß, ihn nicht lange mehr zu behalten. Er ist den ganzen Sommer fort gewesen und befindet sich noch jetzt in einem Bade. Sie hängt mit besonderer Zärtlichkeit an ihren beiden kleinen Stiefschwestern. Oft wohnte sie den Unterrichtsstunden bei und erkundigte sich sehr eingehend nach allen Lehrgegenständen. Am Morgen ihrer Abreise kam sie auf mein Zimmer, um mir Lebewohl zu sagen. Sie blieb wohl eine Stunde, und denke Dir, beim Abschiede umarmte und küßte sie mich! Das ist doch viel für eine so vornehme Dame, nicht wahr?

Ihr Bruder, der Regierungs-Assessor, ist ganz anders: der hat nur ein einziges Mal mit mir gesprochen, obgleich er über 14 Tage hier gewesen ist. Es war gegen Abend, ich saß jenseits des Parks auf einer Anhöhe, um eine ganz besonders schöne Buche abzuzeichnen. Da stand er plötzlich hinter mir, sah über meine Schulter auf die Zeichnung und sagte: »Sie sind wohl Künstlerin, Fräulein Reimar?«

Ich blickte auf, ich glaube, sehr verwirrt und erschrocken, und sagte: »Ach nein, eine Künstlerin bin ich nicht, aber das Zeichnen macht mir große Freude; ich glaube, ich habe das von meinem Papa geerbt, der in seiner Jugend viel gemalt hat.«

Er nahm nun das Blatt und betrachtete den Baum lange Zeit. Dann reichte er mir die Zeichnung zurück und sagte: »Ja, man sieht, es steckt Talent in Ihnen.«

Hierauf grüßte er und ging in den Wald zurück. Ich war froh, als er fort war, seine Gegenwart macht mich immer so befangen und unsicher; doch freute es mich, daß er mit mir gesprochen und mich dabei nicht so spöttisch lächelnd, sondern ganz gutmüthig freundlich angesehen hatte.

Lebe wohl.

In alter Liebe
Deine Maria.

Nachschrift: Was macht Dein Myrthenbäumchen? Das meinige wächst und grünt in der frischen Landluft ganz prächtig. Ich hatte meinen beiden kleinen Mädchen von den Bäumchen erzählt und sie nennen es seitdem nur das »Freundschaftsbäumchen.« Sie haben mich gebeten, am Tage ihrer Confirmation – bis dahin aber kann dem Bäumchen und uns allen noch viel begegnen – jeder von ihnen einen Zweig von der Myrthe einzupflanzen, den sie dann ebenso pflegen wollen, wie ich mein Bäumchen.

6. Brief.
Elsbeth an Maria

H......., den 15. Octbr. 18..

Wie war ich so traurig und beinahe lebensmüde, als ich Dir den letzten Brief schrieb, und wie denke und fühle ich jetzt wieder so ganz anders! Es ist gut, daß die Zeit, wie unsere Freuden, so auch unsere Leiden mit sich fortnimmt. Deine Elsbeth hat jetzt auch etwas von dem Ernste des Lebens kennen gelernt, aber Gottlob habe ich mich wieder emporgerafft und meine Munterkeit für dieses Mal noch nicht eingebüßt. Ja, man merkt mir jetzt wohl äußerlich nichts mehr davon an, daß ich so schwer gelitten habe. Der Triumph ist Fräulein Hillmer und ihres Gleichen nicht geworden, daß ich mich habe zu Boden drücken lassen. O nein, ich erhebe mein Haupt nur um so stolzer, denn was mir an Leid und Freude begegnet, was geht es die Menschen an?

Wir haben in diesen Tagen die erste Nachricht von unserm Georg erhalten. Er meldet uns aber nur seine glückliche Ueberkunft. Was er in Amerika zu beginnen denkt, davon schreibt er kein Wort. Möge Gott ihm weiter helfen!

Zu meinem Schrecken nehme ich an meinen beiden jüngeren Brüdern eine immer mehr zunehmende Aehnlichkeit mit Georg wahr. Sie verwildern von einem Tage zum andern immer mehr. Was soll daraus werden? Vater ist maßlos strenge gegen sie, wenn er zu Hause ist; Mutter sieht und hört am liebsten nichts von ihnen. Manchmal denke ich, es wäre wohl meine Pflicht, mich ihrer Erziehung anzunehmen. Ja, wäre ich wie Du! – Aber einmal fühle ich, daß ich selbst zu unerzogen bin, als daß ich andere, noch dazu so wilde Knaben richtig leiten könnte; und dann würde mir doch auch die Ausdauer fehlen, das fühle ich, und deshalb versuche ich in dieser Art auch nichts. Es fehlt mir zu einem solchen Unternehmen an dem richtigen Ernste, ich bin zu oberflächlich. Und, bei Lichte besehen, kann man so etwas von einem jungen Mädchen verlangen? Meine ganze Jugend kann ich doch nicht opfern, sie ist ohnehin schon genug durch die vielen häuslichen Zwistigkeiten getrübt. Nein, ich kann es nicht ändern, und so muß es gehen, wie es will. Das Beste ist, man schlägt sich alle trüben Gedanken aus dem Sinne.

Meine Eltern, besonders auch mein Vater, sehen es sehr gern, daß ich wieder Gesellschaften besuche, denn wenn ich meine Lebensweise so ganz und gar verändert hätte, würde es doch sehr aufgefallen sein. Ich kleide mich aber einfacher und bin im Ganzen auch viel sparsamer als früher. Ich bin auch nicht wieder im Theater gewesen. Einen Ball im kommenden Winter zu besuchen, daran denke ich nun vollends nicht.

Nun hat sich aber in diesen Tagen eine Cousine von mir, Alma Schulze, verlobt, zu deren Hochzeit ich schon jetzt eingeladen bin. Darauf freue ich mich natürlich umsomehr, als ich diesen Winter weiter keine Tanzvergnügungen mitmachen werde.

Was meinst Du, liebes Herz, wenn Du mir für diese Gelegenheit ein Polterabendgedicht machtest, welches ich vortragen könnte? Du verstehst ja das Dichten allerliebst. – Was sind es denn eigentlich für »Träumereien«, die Dir in Deinem Stillleben durch den Kopf gehen und von denen, wie Du schreibst, einige auf das Papier gekommen sind? Ich würde sie gar zu gern einmal lesen und bitte Dich, mir doch in Deinem nächsten Briefe eine Probe davon zu senden.

Daß Dein Myrthenbäumchen so schön gedeiht, freut mich von Herzen. Auch das meinige ist sehr gewachsen.

In steter Liebe
Deine
Elsbeth.

7. Brief.
Maria an Elsbeth

Breitenstein, den 1. Decbr. 18..

Liebe Elsbeth!

Oft wünsche ich, wir könnten uns zuweilen sehen und sprechen. Das Schreiben ist doch nur ein sehr unvollkommener Ersatz für die mündliche Rede. Wäre ich jetzt bei Dir, so hätte ich Dir auf Deinen letzten Brief Manches zu sagen, das aber nicht den Weg durch die Feder auf's Papier nehmen kann, ohne einer Moralpredigt auf's Haar ähnlich zu werden, und Moralpredigten liebst Du nicht. Wäre ich aber bei Dir, könnte Dir in's Auge blicken und Deine Hand fassen, ich bin gewiß, Du würdest mich freundlich anhören und mir in Manchem Recht geben. Um Eins aber, meine liebe Elsbeth, laß mich Dich auch heute bitten: Nimm es mit Deinen Pflichten als Tochter und ältere Schwester ja nicht zu leicht, es möchte Dir sonst schweres Leid daraus erwachsen.

Seit meinem letzten Briefe sind meine Tage still und ziemlich gleichmäßig dahin geflossen. Ich liebe diese Stille und Gleichförmigkeit und befinde mich wohl dabei. Meine freie Zeit benutze ich jetzt meist zum wissenschaftlichen Fortstudiren; ich treibe Literatur, Sprachen und dergleichen. Ich merke, daß ich dieses Fortarbeiten noch sehr nöthig habe. Nach meiner Confirmation fehlte mir die Zeit, um mich noch besonders mit diesen Dingen zu beschäftigen. Da ich aber mein Lebenlang wohl als Erzieherin zu arbeiten haben werde, so darf ich mein Handwerkszeug doch nicht vernachlässigen.

In dieser Zeit ist mir auch noch eine Arbeit besonderer Art geworden: ich habe einmal wieder gegen meinen alten Feind, die Empfindlichkeit, kämpfen müssen. Schon glaubte ich diesen Ruhestörer so ziemlich überwunden, habe mich aber mit Schrecken überzeugen müssen, daß er nur ein wenig geruht hat, um sich mit frischen Kräften zu neuen Thaten zu rüsten.

Es war in vergangener Woche, die Familie von Strahlenau war hier zum Besuch. Georgine, die älteste Tochter, welche sich schon ganz als die künftige Herrin von Breitenstein zu betrachten scheint, sprach viel von baulichen Veränderungen, die nothwendig vorgenommen werden müßten, und entwarf sogar eine Zeichnung zu neuen Parkanlagen.

Ich fand dieses Benehmen sehr unzart und ärgerte mich, obgleich ich zu dem letztern gar kein Recht hatte.

Nach dem Kaffee forderte Fräulein Georgine mich auf, etwas auf dem Piano vorzutragen. Du weißt, daß ich, zumal vor einer größern Gesellschaft, nicht gern vorspiele; außerdem war meine augenblickliche Gemüthsstimmung eine so unharmonische, daß ich gar nicht an Musik denken mochte; ich versuchte daher, einige ablehnende Worte zu machen, worauf Fräulein Georgine in ihrer hochfahrenden, wegwerfenden Weise sagte: »Sie wollen sich gewiß nur ein wenig zieren, es wäre aber besser, dies nicht zu thun.«

Diese Worte, sowie der Ton, in welchem sie gesprochen, verletzten mich tief, und ich überlegte, wie einer solchen Ungezogenheit am besten zu begegnen sei, als Hedwig und Elisabeth, welche auf einen Wink von Fräulein Georgine das Piano geöffnet hatten, mich bei der Hand faßten und sagten: »Fräulein Reimar, Du möchtest spielen.«

Unter diesen Umständen hielt ich es für das Beste, nachzugeben und gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Ich setzte mich also, äußerlich ruhig, innerlich aber sehr erregt an's Piano und spielte ein kleines unbedeutendes Stück, um erst meine Fassung wieder zu erlangen, und ging dann zu meinem Liebling Beethoven über. Die wundersamen Melodien dieses Meisters begannen bald den Unmuth und die Gereiztheit aus meiner Seele zu verscheuchen, und es würde alles gut gewesen sein, wenn nicht von außen ein neuer Angriff auf meine Seelenruhe gemacht worden wäre. Fräulein Georgine nämlich wurde in ihrer Unterhaltung immer lebendiger; sie lachte und declamirte überlaut und riß auch die Anderen in dasselbe rücksichtslose Benehmen hinein. Ich war geradezu empört; bei Beethovenscher Musik eine solche Geringschätzung an den Tag zu legen, das war pietätlos, ich möchte sagen roh! Kaum war ich im Stande, das Stück zu Ende zu spielen. Als der letzte Accord angeschlagen, stand ich rasch auf und verließ das Zimmer.

Draußen hörte ich, wie nun plötzlich die Unterhaltung stockte und eine lautlose Stille eintrat, ich aber eilte auf mein Zimmer. Ich war so aufgeregt, daß es einige Zeit währte, bis ich überhaupt nur einen klaren Gedanken zu fassen vermochte. Dann, mit Gottes Hülfe, gelang es mir, der empörten Gefühle Herr zu werden; ruhige, vernünftige Gedanken gewannen die Oberhand, und da konnte es denn nicht fehlen, daß ich mich schämte, so recht von Herzen schämte.

Was war denn so Ungeheuerliches geschehen? Ein hochmüthiges, taktloses Mädchen hatte sich anmaßend gegen mich benommen, das war im Grunde alles. Von unserm Heilande lesen wir, daß Er nicht wieder schalt, da er gescholten ward, nicht drohte, da Er litt, und ferner, daß Er »ein solches Widersprechen von den Sündern gegen sich erduldete«, Er, der Heilige und Gerechte, von den Sündern! und ich, ich konnte nicht einmal eine kleine Ungezogenheit von meines Gleichen hinnehmen, ohne in Zorneswallung zu gerathen! Und – daß dieses Mädchen schwatzen und lachen konnte bei Beethovenscher Musik, hätte mich ebensowenig in Zorn bringen sollen, als es mich unmuthig macht, wenn draußen ein anderes Gottesgeschöpf seine Naturlaute vernehmen läßt, während ich drinnen die erhabenen Harmonien einer Beethovenschen Sonate durch meine Seele ziehen lasse, – diesen armen Menschen fehlt zu einem solchen Kunstgenuß das Organ. Ich hätte Gott danken sollen, daß Er mich befähigt hat, etwas so Großes und Schönes zu verstehen und zu würdigen, anstatt mich so unchristlich zu ereifern. Aber es war nun einmal geschehen und es blieb mir nichts anderes übrig, als mich vor meinem Gott zu beugen und Ihn um Vergebung zu bitten und mir vorzunehmen, künftig wachsamer zu sein. »Wachet und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet!« Dies Wort unsers Meisters stand wie mit Flammenschrift vor meiner Seele geschrieben.

Solche Niederlagen sind nicht angenehm, aber es sind heilsame Züchtigungen, die uns werden, wenn sie uns noth thun. –

Du fragst nach den »Träumereien, welche mir in meinem Stillleben durch den Kopf gegangen sind«, und bittest Dir eine Probe derselben aus. Eigentlich bin ich etwas zaghaft, ein fremdes Auge hineinblicken zu lassen; damit Du, liebste Elsbeth, aber am Ende nicht mit Fräulein Georgine von Strahlenau denkst, ich wolle mich nur zieren, so folgt hierneben eine Probe meiner »Träumereien.« Es ist ein Märchen aus der Haide und heißt »das Zigeunermädchen.« Was ich mir dabei gedacht, wirst Du leicht errathen, doch ich glaube, man kann sich auch noch manches Andere dabei denken.

Ein Polterabendgedicht habe ich gemacht; wenn Du es gebrauchen kannst, wird es mich freuen, sonst versuche ich, ein anderes zu machen.

Doch nun Gott befohlen!

Deine
Maria.

 

Das Zigeunermädchen.
(Ein Märchen aus der Haide.)

In einem alten zerfallenen Hause, welches mitten in der Haide lag, wohnte der alte Bauer Hans mit seiner Frau Grethe. Eines Tages legten sich beide hin und starben. Da kamen die Leute aus dem nächsten Dorfe und begruben das alte Ehepaar auf ihrem Kirchhofe. Das alte Haus blieb seitdem unbewohnt, denn die letzten Bewohner, Hans und Grethe, hatten keine Erben hinterlassen, und die reichen Bauern in dem Dorfe fanden das Haus zu schlecht, um es in Benutzung zu nehmen.

Das alte Haus lag ganz einsam in der weiten Haide. Vor seinem Eingange standen zwei hohe Tannen; sie waren von Hansens Urgroßvater dort eingepflanzt worden. Es war im Spätsommer, zu der Zeit, in welcher die Haide duftet und blühet. Lerchen wirbelten hinauf in die Luft und ließen sich wieder nieder. Schmetterlinge und Bienen wiegten sich auf den Haideblumen. Man hörte gar wenig Geräusch im Umkreise, denn das Singen der Lerchen und das Summen der Bienen vertheilte sich und verhallte in dem weiten Raume; es klang so leise und heimlich, wie wenn eine Mutter ihr Kind in den Schlaf singt. In dem Hause selbst war es noch stiller: da herrschte die Ruhe des Grabes.

Aber die beiden Tannen vor dem Hause sprachen miteinander. »Ach«, sagte die eine zu der andern und wiegte traurig ihren Gipfel, »wäre doch das Haus wieder bewohnt, dessen Wächter wir beiden Tannen sind! Wie hübsch war es, da wir noch Kinderlachen durch die Räume schallen hörten, als die schönen Knaben heraus sprangen und wir sie über die Haide nach Schmetterlingen jagen sahen, während die lieben Mädchen vor der Thür blieben und mit ihren Puppen spielten.«

»Du hast Recht«, sprach die andere Tanne, »es war lieblich zu sehen und wir litten nie an Langeweile. Und noch jüngst, wenn des Abends nach vollbrachter Arbeit der alte Hans heraus trat und sich auf die kleine Bank vor der Thür setzte, um zu schmauchen, und sein Weib, die alte Grethe, sich zu ihm gesellte und ihm aus der Bibel vorlas, mich dünkt, es war ein noch schöneres Bild!«

»Ich glaube, wir sind recht alt geworden«, hob die andere Tanne wieder an zu sprechen, »wir sind so dick und hoch; ich sehe den Tag kommen, da man uns abhauen und in's Feuer stecken wird.«

»Mir graut; es thut mir in allen meinen Aesten weh!« klagte die zweite Tanne. »Hast Du gehört, wie das Haus vergangene Nacht wehklagte? Es knackte in allen seinen Fugen. Bald wird der Tag kommen, daß es einstürzt. Dann wird es uns im Fallen mit niederreißen; oder, wenn es nach der andern Seite hinstürzt, so wird es uns dem Spotte und Hohne der Winde und Stürme preisgeben.«

Ganz in traurige Gedanken versunken schwiegen die beiden Tannen; leise fuhr ein Windhauch durch ihre Nadeln; die freundliche Sonne, welche eben zur Rüste gehen wollte, hatte Mitleid mit den beiden einsamen Bäumen und sandte ihre letzten Strahlen zu ihnen, die mußten ihre Wipfel küssen und sie trösten.

Noch stand das herrliche Abendroth am Himmel, als eine dunkle Gestalt am Horizonte auftauchte und, schnellen Schrittes über die Haide dahineilend, sich dem verfallenen Hause näherte. Es war ein Zigeunermädchen. Den Tag über hatte sie auf einem frischen Grabe gesessen, welches mitten in der Haide nicht allzufern von dem alten Hause lag. Jetzt bei Einbruch der Nacht suchte sie im Hause Schutz.

Die morsche Thür wich dem Drucke ihrer Hand, sie trat ein. Drinnen sah es recht unwirthlich aus. Was brauchbar in dem Hause gewesen war an Geräthschaften und dergleichen, das hatten die Leute hinweggenommen. Die kahlen Wände starrten der Eintretenden entgegen. Sie kümmerte sich nicht darum, sondern legte sich auf den Fußboden nieder. In der Ecke lag ein Bibelbuch; alt und unscheinbar wie es war, hatten die Leute es nicht mit fortgenommen. Die Zigeunerin legte ihren Kopf darauf und schlief ein. Da hielten Engel bei ihr Wache; und als die alten Wände des morschen Gebäudes Miene machten, einstürzen zu wollen, sagten die Engel: »So lange das Mädchen auf Gottes heiligem Worte ruht, darf nichts Böses sie treffen!« Und sie hielten die Wände, daß sie nicht einstürzten.

Vor der Thür aber standen die alten Tannen und besprachen sich leise: Wir wollen das Zigeunermädchen lieb haben, denn sie hat niemand weiter, der sie lieb haben kann.

Das braune Zigeunermädchen war schlank und schön; sie hatte einen Geliebten gehabt, der war jetzt todt. Die Gefährten hatten ihn in der Haide begraben und waren weiter gezogen. Sie aber blieb zurück, um das Grab täglich mit Blumen zu schmücken. Nachts wollte sie in dem einsamen Hause schlafen und nähren wollte sie sich von den milden Gaben der Leute.

Das arme Zigeunermädchen, sie hatte mit ihrer irdischen Liebe alles verloren!

Köstlich war ihr Schlummer in dem Hause auf dem alten Bibelbuche. Gestärkt erhob sie sich mit Tagesanbruch. Sie verließ das Haus, pflückte Blumen und wand sie zum Kranze. Sie wollte ihn auf ihres Geliebten Grab legen. Dabei mußte sie an den wundersamen Traum denken, den sie in der vergangenen Nacht gehabt. Es war ihr gewesen, als hätten zwei Jünglinge in langen weißen Kleidern neben ihr gestanden, die deuteten immerfort auf das Buch, darauf ihr Kopf ruhete, und priesen es als den größten Schatz der Erde. Sie erzählten ihr von einer Liebe, die höher, tiefer und schöner sei als Himmel und Erde und alles darinnen. »So jemand«, sprachen sie, »wegen irdischer Liebe leidet, der opfere seine irdische dieser höchsten Liebe, dann wird er Frieden und Seligkeit finden!«

Das Zigeunermädchen verstand den Traum nicht, den sie gehabt. »Ich wollte, ich wüßte die höchste Liebe zu finden; ich sehne mich nach Ruhe und Seligkeit«, sprach sie zu sich selber.

Plötzlich sprang sie in hellem Zorn auf. »Ich glaube, es ist ein Zauberbuch, darauf ich gelegen; es will mir meine irdische Liebe aus dem Herzen nehmen. Nie will ich wieder darauf schlafen!«

Damit eilte sie in das Haus, nahm das heilige Buch, trug es nach dem Haidegrab und verscharrte es daselbst.

Den ganzen Tag saß das Mädchen am Grabe ihrer irdischen Liebe und weinte. Als es Abend geworden, wankte sie matt und erschöpft nach dem Hause zurück. Mond und Sterne schienen traulich, und die Mücken summten.

Das Mädchen setzte sich auf die Bank vor dem Hause und sang eine Todtenklage in ihrer Sprache. Es klang seltsam und schaurig. Da hörten die Mücken auf zu summen, und die beiden Tannen vor dem Hause neigten ihre Wipfel und lauschten den wundersamen Tönen.

Endlich ging das Mädchen hinein und legte sich zur Ruhe nieder.

Auch heute kamen die Engel, um bei ihr Wache zu halten. Sie fanden aber, daß des Mädchens Haupt nicht auf der Bibel ruhte; da wandten sie sich traurig ab und verließen das Haus.

In derselben Nacht aber stürzte das Haus krachend zusammen und zerbrach und bedeckte des Mädchens Leib mit seinen Trümmern.

Die beiden Tannen blieben unversehrt. Als sie am andern Morgen die Verwüstung sahen, schüttelten sie ihre Häupter und sprachen:

»Wir wollen um das todte Mädchen trauern, denn es ist niemand weiter da, der um sie weint.«

Und die Tannen wiegten ihre Zweige in der frischen Morgenluft und durch ihre Nadeln zog ein leises Singen und Klingen. Das war die Todtenklage der Tannenbäume um das erschlagene Zigeunermädchen.

8. Brief.
Elsbeth an Maria

H......., den 8. Decbr. 18..

Ei, ich gratulire Dir, liebste Maria! Das kleine Märchen und das hübsche Polterabendgedicht kündigen Dich mir als eine Poetin an. Ich sage mit dem Regierungs-Assessor: Man sieht, daß Talent in Dir steckt. Wie will ich mich freuen, wenn Du einmal als eine zweite Annette von Droste-Hülshof vor der Welt dastehen wirst, und ich alsdann sagen darf: diese berühmte Dichterin ist meine Freundin! –

Ich danke Dir vielmals für beides.

Ich bin fleißig dabei, das Polterabendgedicht einzustudiren, und denke, es soll am Polterabend Effect machen. Du kannst Dir denken, daß die in Aussicht stehende Hochzeit meine Gedanken sehr in Anspruch nimmt. Ich freue mich unbeschreiblich darauf und hoffe, daß ich auf derselben nachholen werde, was ich in diesem Winter an Tanzen versäumt habe. Wenn es doch erst so weit wäre! Es sind jetzt noch gerade sechs Wochen bis dahin, die ich im langweiligen Alltagsleben zubringen muß. Ach, diese langweiligen Wochen!

Süße Maria, Du hast Recht, es wäre schön, wenn wir uns zuweilen sehen könnten.

Die gemüthlichen Plauderstunden, die wir zusammen hatten, waren gar zu hübsch; ich bin damals auch im Hause viel liebenswürdiger gewesen als jetzt. Dein Beispiel, glaube ich, hat sehr auf mich eingewirkt. Wenn ich sah, wie liebevoll und zuvorkommend Du stets gegen Deine Mutter warst, so fiel es mir oft schwer auf's Herz, daß ich im Hause meine Pflicht nicht so wie ich sollte, erfüllte, und daß ich meinen Eltern nicht das war, was ich doch hätte sein können, und so bemühte ich mich, es besser zu machen. Jetzt, ja jetzt ist alles anders! Wenn Du wüßtest, wie unerquicklich für mich das Leben im Hause ist! Und glaube mir, liebste Maria, nicht ich allein trage die Schuld! Mutter ist jetzt immer so verstimmt, man mag thun, was man will, nichts kann man ihr recht machen. Vater sieht so düster aus, daß ich mich ordentlich vor ihm fürchte. Und meine Brüder gar! Ich habe versucht, ihnen ihre Unarten abzugewöhnen, aber es geht wirklich nicht, sie haben keine Furcht vor mir.

Ich denke manchmal, ich wollte, ich wäre wo der Pfeffer wächst. Aber ich glaube, es geht wohl allen Menschen so, jeder hat sein Theil Sorge und Unannehmlichkeit zu tragen, und ich kann noch froh sein, daß ich ein heiteres Temperament habe. In Deiner Stellung als Gouvernante wirst Du auch im Ganzen wohl mehr Dornen als Rosen zu pflücken haben. Dein letzter Brief liefert schon den Beweis. Dir freilich, holde Maria, blühen die Rosen im Gemüthe. Ich wollte, ich könnte der stolzen Georgine einmal meine Meinung sagen.

Wie kommt es nur, daß Du noch nie ein Wort über Herrn und Frau von Hallendorf geschrieben? Sind die Leute eigentlich liebenswürdig?

Leb wohl, mein Herz! In meinem nächsten Briefe werde ich Dir erzählen, wie die Hochzeit ausgefallen ist.

Deine
Elsbeth.

9. Brief.
Maria an Elsbeth

Breitenstein, den 29. Decbr. 18..

Das liebe Weihnachtsfest – für mich das erste in der Fremde – liegt hinter uns.

Der heilige Abend wurde sehr glänzend gefeiert. Mehrere große Tannenbäume, welche bis an die Decke des hohen Saales reichten, waren überaus reich und prächtig mit Lichtern, Confect und vielen andern Sachen geschmückt. Eine fast unübersehbare Menge Geschenke war auf verschiedenen Tischen vertheilt. Die ganze Dienerschaft, bis zum kleinsten Hütejungen herab, wurde reich beschenkt und auch ich erhielt eine Menge zum Theil werthvoller Geschenke.

Und in dies bunte, glänzende Gewirre von Sachen und Menschen schauten von den Wänden die alten Ahnenbilder mit ihren ernsten Gesichtern und ihrer steifen Haltung gar seltsam hinein. Das Ganze machte auf mich, die ich eine solche Glanzentfaltung noch nie gesehen, einen feenartigen, märchenhaften Eindruck; aber befriedigen konnte es mich nicht. Es fehlte bei aller Pracht und Herrlichkeit die Hauptsache: unser Herr Christus selbst.

Wie so ganz anders hatte ich früher in der Heimath, in unserm stillen Stübchen den heiligen Abend verlebt! Zwar hatten wir nur einen kleinen Tannenbaum, und nur wenige bescheidene Geschenke lagen unter demselben, aber von dem Angesichte meines Mütterleins strahlte die lichte Weihnachtsfreude, in unseren Herzen hörten wir den Lobgesang der himmlischen Heerschaaren und unsere eigenen Weihnachtslieder trugen uns über das Irdische hinaus, weit hinaus, hinein in die ewige selige Weihnachtsfreude! Ja, das war so ganz, ganz anders! Die Erinnerungen daran wollten mich beinahe traurig machen, doch meine beiden kleinen Mädchen waren so allerliebst in ihrer kindlichen Freude, daß sie mich mit fortrissen und ich in ihr fröhliches Lachen und Jubeln einstimmen mußte.

Der junge Herr von Hallendorf war auch zum Feste gekommen; er blieb nur einige Tage und ich war froh, als er wieder abreiste. Seine Gegenwart hat etwas Bedrückendes und Unbehagliches für mich. Gegen alle Menschen ist er freundlich und für alle hat er gelegentlich ein verbindliches Wort, nur mit mir spricht er nie. Er muß ein sehr stolzer Herr sein, denn wenn er auch der reiche, gefeierte Erbe großer Güter und der Träger eines alten, angesehenen Namens ist, und ich nur die arme, unbekannte Gouvernante seiner kleinen Stiefschwestern bin, so könnte er mich doch immerhin einmal anreden, ohne seiner Ehre etwas zu vergeben. Wenn wir uns begegnen, so grüßt er sehr höflich, ja beinahe ehrerbietig, aber kein Wort der Anrede kommt über seine Lippen. Doch es ist ja am Ende auch einerlei und soll mich nicht weiter bekümmern, aber ich bin immer sehr froh, und es fällt mir ein Stein vom Herzen, wenn er wieder fort ist.

Die Familie von Strahlenau war im Feste nicht hier, gleich nach dem Feste aber waren von Hallendorf's, und auch der Regierungs-Assessor, auf einen ganzen Tag zu Strahlenau's gebeten.

Frau von Rautenberg hatte zum Feste geschrieben und hat ihre beiden kleinen Schwestern und mich eingeladen, gleich nach Neujahr auf einige Wochen nach Kronsdorf zu kommen. Hedwig und Elisabeth freuen sich sehr auf diese Reise und auch mir ist die Aussicht auf eine solche Abwechslung recht angenehm.

Du fragst, liebste Elsbeth, weshalb ich Dir noch nie von Herrn und Frau von Hallendorf erzählt habe. Ja, das erscheint mir selbst jetzt seltsam, aber ich glaube, es kommt daher, weil unsere Lebenskreise so gezogen sind, daß sie sich selten berühren. Außer bei den Mittags- und Abendmahlzeiten sehe ich Herrn und Frau von Hallendorf nur ausnahmsweise, z. B. wenn Besuch da ist, in welchem Falle es gewünscht wird, daß ich auch zum Kaffee bleibe.

Herr von Hallendorf ist ein ernster, aber nicht unfreundlicher Herr. Er hat etwas Straffes in Gang und Haltung, was an den früheren Offizier erinnert. Die Verwaltung seiner Güter scheint ihn sehr zu beschäftigen; er reitet und fährt viel aus; zu Hause sitzt er, wie ich höre, fast immer am Schreibtische. Seinen Sohn scheint er sehr lieb zu haben; er spricht oft von ihm, und dann leuchten seine Augen und um seinen Mund spielt ein glückliches Lächeln. Und der Sohn, obgleich er sonst so leicht geringschätzig auf alles herabsehen kann, begegnet doch seinem Vater stets mit ganz besonderer Ehrerbietung und kindlicher Liebe.

Frau von Hallendorf ist, wie ich Dir schon schrieb, noch jung, d. h. im Vergleich zu ihrem Manne; sie mag in der Mitte der Dreißiger sein. Sie ist auch hübsch; es fehlt ihrem Gesichte aber der geistige Ausdruck, der eigentlich ein Gesicht erst angenehm macht, und deshalb vergißt man immer, daß sie hübsch ist. Sie scheint sich so recht in Ruhe und Behaglichkeit ihres irdischen Glückes zu freuen. Mit Arbeit, die durch Andere geschehen kann, belastet sie sich nicht. Das eigentliche Hausregiment ruht in den Händen einer alten bewährten Haushälterin, und ich glaube, wir alle stehen uns gut dabei. Frau von Hallendorf ist stets freundlich gegen mich, ja, sie hat mir sogar schon zweimal etwas Anerkennendes über meine Leistungen gesagt, aber sie bekümmert sich sehr wenig um mein Thun und um ihre beiden kleinen Mädchen, welche, glaube ich, zuweilen ganz vergessen, daß sie eine Mama haben.

Die beiden Kinder machen mir große Freude; sie lernen gut und haben mich lieb; deshalb sind sie auch folgsam und machen mir nicht halb so viel Noth und Plage wie ich im Anfange fürchtete. Mir fällt jetzt oft ein Wort meiner lieben seligen Mama ein, das sie zuweilen sagte: »Das ganze Geheimniß einer erfolgreichen Erziehung beruht in der Liebe.« – Der Herr helfe mir, daß ich in Treue mein Werk an diesen jungen Seelen thue! –

Den Abend des zweiten Weihnachtstages verlebte ich im Pfarrhause. Es war so gemüthlich und traulich dort, daß mir ganz heimathlich zu Muthe ward. Herr Pastor Rollmann kam auch zum Thee herunter. Nach dem Essen musicirten wir und sangen Weihnachtslieder. Pastor Rollmann spielt gern und gut und hat gebeten, zuweilen mit mir vierhändig spielen zu dürfen.

Für heute muß ich schließen.

In herzlicher Liebe
Deine
Maria.

10. Brief.
Maria an Elsbeth

Breitenstein, 3. Februar 18..

Da sind wir von Kronsdorf zurückgekehrt. Das waren schöne, erquickende Wochen! Draußen war's bitter kalt, und von der Außenwelt haben wir wenig gesehen, aber drinnen im Hause war es so warm und behaglich, und in unseren Herzen war lichter Sonnenschein.

Jetzt habe ich Frau von Rautenberg erst recht kennen gelernt, und o, wie liebe ich sie! Obgleich sie wohl 10 Jahre älter ist als ich, so ist mir doch, als müßte ich so wie sie eine Schwester geliebt haben, wenn mir Gott der Herr eine solche bescheert hätte. Ihr gegenüber kenne ich gar keine Befangenheit und Blödigkeit; ich glaube, ich könnte ihr alles sagen, was mein Herz bewegt. Welch köstliche Stunden haben wir mit einander verlebt! Mit ihr konnte ich von dem Höchsten und Heiligsten reden, das ein Christenherz kennt.

Aufgewachsen in einer Umgebung, in der man über solche Dinge nicht spricht, ist ihr das ganze Gebiet des christlichen Lebens eigentlich ziemlich fremd; sie hat aber großes Verlangen, auf demselben bekannter zu werden, und so habe ich ihr, so gut ich es vermochte, über das Aufschluß gegeben, was ihr in diesem Gebiete bis jetzt noch unbekannt oder dunkel war.

Ihr Mann, der noch immer sehr leidend ist, konnte nur wenig mit uns zusammen sein. Den größten Theil des Tages mußte er allein zubringen, weil er keine Gesellschaft verträgt. Befand er sich einmal etwas besser, dann ließ er sich in das Zimmer seiner Frau bringen und hatte es gern, wenn wir ihm vorlasen. – Er ist ein stiller, freundlicher Herr und scheint seine Frau sehr lieb zu haben.

Eines Tages sah Frau von Rautenberg auf meinem Zimmer die kleine Ziehbibel liegen, welche mein theures Mütterchen mir noch kurz vor ihrem Tode geschrieben hat. Sie kannte diese kleinen Ziehbibeln nicht; ich erklärte ihr den Gebrauch derselben und sie sagte: »Lassen Sie mich auch einmal einen Spruch ziehen.« Ich hielt ihr die Blätter hin und sie zog aus dem Propheten Jeremias den Spruch: »Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.«

Sie las den Spruch, und als sie wieder aufblickte, standen Thränen in ihren Augen. »Ja«, sagte sie, »ich glaube, Gott liebt mich mehr, als ich Ihn liebe, wenigstens bis jetzt geliebt habe, aber mit Seiner Hülfe soll es anders, besser werden, und dazu hat Er mir in Seiner Güte diese kleine Freundin geschickt.« Und dabei schloß sie mich in ihre Arme und küßte mich. Ich konnte nicht anders als sie wieder herzlich umarmen und sagen: »Ja, der Herr wird Ihnen helfen und Sie segnen.« –

Hierauf bat sie mich, ihr auch ein solches Ziehkästchen zu schreiben. Wie gern that ich das! –

Schon am andern Tage ließ sie durch den Boten in der nächsten Stadt beim Buchbinder ein solches Kästchen, wie das meinige ist, bestellen, und als dasselbe kam, machte ich mich daran, die Blätter zu beschreiben. Ich suchte die schönsten Sprüche der heiligen Schrift, die ich gerade für Frau von Rautenberg besonders passend hielt, aus und schrieb dieselben in Fracturschrift, so schön ich es vermochte, mit schwarzer Tusche; die Initialen aber führte ich in rother, blauer, grüner oder violetter Tusche aus, je nach dem Charakter des Inhalts.

Als ich mit dieser Arbeit fertig war, freute ich mich, denn ich fand mein Werk selbst recht gelungen, – vielleicht lächelst Du hier und denkst: »doch noch immer die alte bekannte Eitelkeit!« – Frau von Rautenberg schien indeß mein Werk auch ganz gelungen zu finden, wenigstens lobte sie mich und sagte, dieses Ziehkästchen werde ihr ein tägliches, sehr liebes Andenken an ihre kleine Freundin sein. »Aber«, fügte sie lächelnd hinzu, »Sie müssen nun auch etwas haben, das Sie täglich an Ihre alte Freundin erinnert«; hierauf zog sie einen Ring mit blauen Steinen vom Finger und steckte ihn mir an die Hand.

»Wollen Sie den mir zu Liebe und mir zum Andenken tragen?«

»O, wie gern will ich das!« war wieder meine Antwort.

In der letzten Zeit unseres Dortseins kam der Regierungs-Assessor auf zwei Tage. Ich erschrak, als Frau von Rautenberg mir den Besuch ihres Bruders ankündigte, denn ich dachte: »Nun ist alle Gemüthlichkeit und Harmlosigkeit dahin.« – Aber sonderbar, der Regierungs-Assessor war hier ganz anders als in Breitenstein. Das für mich so peinliche, halb spöttische, halb verächtliche Lächeln, das er hier in Breitenstein so leicht hat, kam dort fast gar nicht vor. Er war so harmlos fröhlich mit den Kindern, lachte und scherzte so gutmüthig, daß ich ihn kaum wieder erkannte, und, denke Dir, liebste Elsbeth, er sprach mit mir wie mit einer alten Bekannten! Als er mich das erste Mal so unbefangen anredete, als hätten wir schon oft mit einander geplaudert, war ich geradezu wie aus den Wolken gefallen und habe, glaube ich, ein entsetzlich verblüfftes Gesicht gemacht. Er schien sich über meine Verlegenheit zu ergötzen, lächelte – diesmal aber ganz natürlich und freundlich – und sagte: »Sie sind doch nicht bange vor mir, Fräulein Reimar?« Meine Befangenheit verlor sich bald. Beim Abschied reichte er mir sogar die Hand, wir schieden als gute Freunde. Wie sonderbar! nicht wahr?

Jetzt sind wir nun wieder hier und das Leben geht seinen alten gewohnten Gang. Meine Gedanken sind noch viel in Kronsdorf, und ich erlebe alles dort genossene Gute und Schöne noch einmal in der Erinnerung. Ja, das waren erquickende, wunderschöne Wochen, erquickend auch noch lange in der Erinnerung. Jetzt gilt es wieder » ordinair zu marschiren«. Das will ich auch gern und so treulich wie ich es vermag; und das alles um so lieber, als der Herr mir eine solche Erquickungszeit bescheert hat.

Aber, liebe Elsbeth, was heißt es denn, daß Dein Brief für den Monat Januar ausgeblieben ist? Ich hatte so fest erwartet, einen Brief von Dir hier vorzufinden. Bitte, schreibe mir bald.

Dir ein gesegnetes neues Jahr wünschend, in alter Liebe

Deine
Maria.


Um den Ausdruck » ordinair marschiren« verständlich zu machen, muß ich folgende Erklärung geben:

Elsbeth und Maria hatten einst in einem Blatte eine kleine Erzählung von Friedrich dem Großen und einem seiner Grenadiere gelesen, in welcher dieser Ausdruck vorkam, und die ihnen – d. h. eigentlich wohl nur Maria – so ausnehmend wohlgefiel, daß seit der Zeit dieser Ausdruck sprichwörtlich zwischen ihnen geworden war.

Für diejenigen meiner lieben jungen Leserinnen, welche die hübsche kleine Geschichte vom »ordinair Marschiren« nicht kennen sollten, setzte ich sie hierher und hoffe, daß dieselbe dazu beitragen wird, auch ihnen das »ordinair Marschiren« in einem höhern Lichte erscheinen zu lassen.

Eine kleine Geschichte mit Nutzanwendung.

Als der alte Fritz mit seinem siegreichen Heere seine Fahnen von Land zu Land trug, und mit seinem Adler weiter und weiter fliegen ließ, diente unter seinen Grenadieren ein junger Soldat, der, tapfer bis zur Verwegenheit, eines Tages sein Leben an die Eroberung einer Schanze setzte. In der Hitze des Gefechts traf ihn der Blick des Königs.

»Brav, Kamerad; sollst das Kreuz haben«, rief er.

Der Grenadier, überglücklich durch das Wort seines Herrn, kämpfte wie ein Löwe und war dabei so stolz und freudestrahlend, als blitzte das Kreuz schon auf seiner Brust.

Doch das Versprechen ward vergessen, die Gedanken des Feldherrn trafen ihn nicht wieder und das Kreuz blieb aus. Er war indeß ohne Sorgen deshalb, hatte er doch das Wort seines Königs, das nicht gebrochen werden konnte – und warten – nun das konnte er wohl.

So zog er mit dem streitbaren Heere von Jahr zu Jahr ohne Zweifel im treuen Herzen und that unverdrossen seine Schuldigkeit. Sollte er wachen, so wachte er; sollte er schlagen, so schlug er; sollte er marschiren, so säumte er nicht, eben wie es die Ordre verlangte.

Allein, ob er auch hoffte und spähte, das Auge des Königs fand ihn nicht, das Kreuz blieb aus.

Seine Kameraden, denen er das Versprechen seines Feldherrn erzählt hatte, neckten ihn und fragten, wo doch das Kreuz bleibe? Sie höhnten seine thörichte Zuversicht und meinten, er werde es nimmer bekommen, alles sei vergessen.

Still ging er ihnen aus dem Wege und that seine Schuldigkeit. Mehr als das: er that Wunderdinge. Er kämpfte mitten im Kugelregen, unter platzenden Haubitzen, in den Reihen der Feinde wie ein griechischer oder römischer Held. Weder Tod noch Verwundung scheute er, es kam ihm darauf an, zu sterben oder das Kreuz zu haben.

Aber umsonst! Er stritt in Reih und Glied unter der großen Masse. Der König sah ihn nicht, das Kreuz blieb aus.

Da, endlich nach langem Dulden und Harren traf ihn das Auge seines Anführers unerwartet; jedoch nicht im hitzigen Gefecht, nicht im Pulverdampf und auf Leichen, sondern auf einem ermüdenden Marsche des Heeres durch verödet liegende Flächen des Landes.

Das eigene Kreuz von der Uniform nehmend, reichte der König es ihm vor allen Kameraden und sprach:

»Sieh da, alter Bursche, nehm' er doch das Kreuz, das ich ihm zugesagt. Es ist ihm in der Wartezeit nicht minder werth geworden, denke ich.«

Wir haben einen Führer, welcher der Herr ist aller Herren, der König aller Könige.

Er hat Dir eine Krone zugesagt, wenn Du Dich brav hältst.

Kämpfe und verschmerze mit treuem, tapfern Herzen Wunden an Leib und Seele, aber glaube nicht, das sei das Schwerste.

»Warten lernen und ordinair marschiren«, dies ist der Prüfstein, durch den Gott erprobt, ob Er Dir die Krone geben kann!

Das stille, freundliche Ertragen der kleinen täglichen und stündlichen Beschwerden – der kleinen Nadelstiche im Leben –, das willige treue Erfüllen der geringen, immer wiederkehrenden Obliegenheiten, für die niemand Dir dankt, die niemand zu beachten scheint; das sanfte Dulden und Hinnehmen der mancherlei Demüthigungen und Unfreundlichkeiten von Anderen, gegen die man nicht kämpfen, deren man sich nicht erwehren kann, ohne das Gebot der Liebe zu verletzen – das heißt: »ordinair marschiren« und das ist tausendfach schwerer, als in den großen Kämpfen tapfer zu sein, wo die Welt uns sieht und – bewundert, oder als in's Auge fallende schwere Leiden zu tragen und Schmerzen ohne Murren zu erdulden, bei denen das Mitleid, die Thränen treuer Menschen uns die eine Hälfte der Last abnehmen und die andere mit der Glorie des Märtyrerthums verklären.

11. Brief.
Elsbeth an Maria

H......., den 9. Januar 18..

Endlich kann ich ungestört mit Dir plaudern! Ei, das soll mir ein Genuß werden! Ich habe das Reich ganz allein für mich, und dann fühle ich mich am behaglichsten. Mutter ist bei Frau Registrator Kallenbach zum Kaffee, die beiden Kleinen habe ich auf die Straße geschickt. Gerade heute, wo ich begreiflicher Weise keine Lust habe, mich mit ihnen zu beschäftigen – Du mußt nämlich wissen, daß gestern die vielbesprochene Hochzeit stattgefunden – gerade heute ließen sie mir bis jetzt nicht Ruhe zum Schreiben. Die schönen Cottillon-Bouquets, die ich von der Hochzeit mit nach Hause gebracht, hielten sie trotz des schönen Wetters – mir so recht zur Last – im Zimmer. Unaufhörlich quälten und störten sie mich mit ihren Fragen, bis ich es nicht mehr aushalten konnte und ärgerlich wurde. Nun habe ich die Quälgeister auf die Straße geschickt – Mutter thut es ja auch, wenn sie zu Hause ist – und habe ihnen versprochen, wenn sie mich nur ein paar Stunden in Ruhe lassen, ihnen hernach eine Geschichte zu erzählen.

So recht in Saus und Braus habe ich die letzten Tage verlebt. Dienstag war der Polterabend. Mittwoch haben wir jungen Mädchen den Brautkranz gewunden und Donnerstag war der Hochzeitstag. Ich sage Dir, es waren herrliche Tage; ich nenne derartige Vergnügungen »Lichtpunkte im langweiligen Alltagsleben.« Aber getanzt habe ich, daß mir heute alle Glieder lahm sind. Das schadet natürlich nicht, ich werde noch lange in der Erinnerung schwelgen. Süße Maria, was für ein einförmiges Leben führst Du doch, da Du nicht tanzen willst! Aber nein, ich mag keine Worte darüber verlieren, denn es hilft mir doch nichts; Du dauerst mich nur, denn Du ahnst es gar nicht, welch ein schönes Vergnügen Du verschmähst! Jugend ohne Tanzen – ach, womit vergleiche ich's wohl am besten? Jugend ohne Tanzen – eine Landschaft ohne Sonnenschein! – Sieh, ordentlich poetisch bin ich heute in meiner Ausdrucksweise, das kommt von dem Rausche, in dem ich mich noch jetzt befinde. Du freilich wirst Dein kleines weises Haupt schütteln und wirst mir in Gedanken eine Predigt halten. Gut, daß ich sie nur heute nicht höre, heute würde ich doch nichts davon profitiren können.

Ich habe viele liebenswürdige Menschen auf der Hochzeit kennen gelernt; sie waren alle reizend gegen mich, und besonders die Herren haben mir viel Schönes gesagt. Das hätten sie nun freilich bleiben lassen können; ich sage immer, daß ich auf Schmeicheleien nichts gebe, aber weißt Du, Maria, angenehm ist es doch, wenn man sieht, daß man liebenswürdig und hübsch gefunden wird. Ich bin die Erste unter allen jungen Mädchen gewesen – Fräulein Walter hier und Fräulein Walter da – ach, es war prächtig!

Dein Polterabendgedicht hat große Anerkennung gefunden. – –

Mein Gott, wie wird mir nur! Ich habe Herzweh, ich glaube, es ist ein Gewitter im Anzuge. Wie drückend auf einmal! – –

 

Fortsetzung.

den 20. Februar 18..

Das Gewitter ist über mich hereingebrochen! Dieser Brief hat eine lange Unterbrechung erfahren; jetzt, da ich mich setze, um ihn zu vollenden, habe ich Schreckliches erlebt! Laß es Dir alles der Reihe nach erzählen, und dann, meine Maria, bete für mich, daß Gott sich meiner erbarme!

Ich war beschäftigt, an Dich, mein Herz, zu schreiben, als plötzlich ein schreckliches Gefühl über mich kam, als sollte das Herz mir zerspringen. In demselben Augenblicke stürzte mein Bruder Heinrich bleich und athemlos herein – o ich wußte, daß er ein Unglücksbote war! »Elsbeth, Elsbeth, ach wären wir doch heute hier geblieben! Eben ist Paul von einem Wagen übergefahren, ach, was wird Mutter sagen! Die Räder sind ihm über Brust und Arme gegangen, ich glaube, er ist schon todt, Blut kam aus seinem Munde. Sie haben ihn in's nächste Haus gebracht, dort wohnt Dr. Bergmann. Du möchtest geschwind hinüber kommen!«

Sogleich gab ich dem Dienstmädchen Befehl, meine Mutter zu benachrichtigen und zu holen. Heinrich durfte das Haus nicht wieder verlassen. Wie ich über die Straße gekommen, weiß ich nicht, bald aber befand ich mich bei Bergmann's.

Ich sah meinen Bruder bleich und blutend auf einem Lager liegen. »Du hast ihn gemordet«, klang es in mir. Dr. Bergmann, welcher Arzt ist, war mit dem Verbinden beschäftigt; seine Mutter, eine vortreffliche Frau, that ihm Handleistung. Sie winkte mir freundlich zu und sagte: »Es ist noch nicht alles verloren; vertrauen Sie auf Gott, mein Kind.«

Ich faltete die Hände und sprach im Herzen: »Gott, gehe nur diesmal noch nicht mit mir in's Gericht!«

Ich habe beim Verbinden geholfen und nachher mit Dr. Bergmann und seiner Mutter ein Gespräch gehabt. Mein Bruder war so schwer verletzt, daß es unmöglich war, ihn in unsere Wohnung zu schaffen. Bergmann's erklärten sich auf die liebenswürdigste Weise bereit, ihn bei sich zu behalten. Wir machten zusammen aus, daß auch ich zu Paul's Pflege bei ihnen bleiben sollte. So bin ich seit Wochen bei ihnen; diesen Brief schreibe ich an meines Bruders Krankenbette.

Von Hause habe ich die Nachricht erhalten, daß Mutter durch den Schreck Krämpfe bekommen hat. Sie ist so nervös und angegriffen, daß sie behauptet, Paul nicht sehen zu können. Vater kommt jeden Tag, das erste Mal – ich vergesse es nie – hat er geweint. O, ich habe Vater sehr lieb, so finster und mürrisch er auch oft im Hause ist. Er erzählte mir, daß er Heinrich in eine Erziehungsanstalt auf dem Lande gebracht habe. »Er kostet mich jetzt viel Geld«, sagte er seufzend, »aber es hilft nichts, Deine Mutter versteht die Erziehung von Kindern nicht.« –

Ich glaube es wohl; Mutter hat mich auch falsch erzogen, und das Schlimmste ist, ich glaube, sie hat kein Herz für uns. Aber ich vergebe es ihr und bitte Gott, daß Er es ihr auch vergebe! Ich bitte Gott auch täglich, daß Er die Liebe zu ihr in meinem Herzen nicht auslösche. Aber sie denkt nur an sich und ihre Pflege, – jetzt wo ihres Kindes Leben auf dem Spiele steht, und das thut mir weh. Paul verlangt gar nicht einmal nach Mutter; jetzt in seiner Krankheit hängt er mit großer Zärtlichkeit an mir, o, er ist so sanft und still geworden! Gott, Gott, wenn er am Leben bliebe, wie sollte er mein Herzblatt werden!

Sein Befinden ist von der Art, daß man nicht viel Hoffnung haben kann. Er hat ein zehrendes Fieber bekommen, das seine Kräfte nach und nach aufreiben wird. Dr. Bergmann hat es mir auch gesagt, daß er keine Hoffnung hat. So werde ich mein ganzes Leben lang den Vorwurf zu tragen haben, daß durch meine Schuld mein Bruder um's Leben gekommen ist. Denn wenn ich ihn nicht geradezu auf die Straße geschickt hätte, würde das Unglück nicht geschehen sein.

Möge Gott mir helfen! Bergmann's sind mir liebe, gute Freunde geworden und stehen mir treulich zur Seite. Sie gehören auch zu den »frommen Leuten«, über die ich so oft gespottet. Frau Bergmann hat in manchen Dingen Aehnlichkeit mit Deiner Mutter. Ich habe bei ihnen vieles gelernt. Ich möchte gern mit Dir darüber sprechen, aber ich bin so traurig und müde. Im nächsten Briefe mehr davon!

Es thut mir so leid, daß ich mit meinem Urtheil oft zu vorschnell gewesen bin. Fräulein Hillmer zeigt sich sehr theilnehmend. Täglich schickt sie die schönsten Blumen von ihren Topfgewächsen und eingemachte Früchte zur Erquickung für meinen Bruder. Wenn ich wieder zu Hause bin, werde ich ihr einen Besuch machen und ihr danken.

Alles, was Du mir von Deinen eigenen Erlebnissen schreibst, hat mich recht gefreut; besonders, daß der Regierungs-Assessor sich freundlicher gegen Dich benommen hat. Ich habe ihn bis dahin sehr unliebenswürdig gefunden.

Lebe wohl; wenn Du willst, schließe mich allabendlich in Dein Gebet ein.

Deine
Elsbeth.

12. Brief.
Maria an Elsbeth

Breitenstein, den 26. Febr. 18..

Wie hat Dein letzter Brief mich erschüttert und betrübt! Ja, der Herr hat Euch schwer heimgesucht, und ganz besonders Dich, meine geliebte Elsbeth. So von der Höhe der Lust und des Vergnügens in die Tiefe bitterer Selbstanklage gestürzt zu werden, das ist entsetzlich! O, wie kann ich den Schmerz nachempfinden, der jetzt Deine Seele bewegen muß! Aber, theure Elsbeth, verzage nicht. Der Herr züchtigt und straft Dich jetzt um Deinen Leichtsinn und um Deine Selbstsucht, aber Er thut es aus Liebe. Er hat ja nie Gedanken des Leides, sondern immer nur Gedanken des Friedens über uns. Er will auch Deine Seele retten und zu Sich ziehen, und da Er es mit Güte und Freundlichkeit nicht kann, so muß Er es jetzt mit Strenge versuchen. O, laß Dich von Ihm finden und zu Sich ziehen, erkenne in diesem Unglück die Hand Gottes, die sich Dir entgegen streckt; ergreife sie und laß Dich von derselben führen! Dann wird noch alles, alles gut werden, und Du wirst diesen Unfall, den Du jetzt so sehr beklagst, noch segnen müssen!

Du schreibst, der Arzt gebe wenig Hoffnung auf Genesung. Ja, diese Hoffnung mag gering sein, soweit Menschenaugen sehen, der Herr kann Deinen Bruder aber doch noch wieder gesund machen. Hat Er es aber beschlossen, den Knaben jetzt schon in Sein himmlisches Reich zu versetzen, nun, dann laß uns auch hier sprechen: »Dein Wille geschehe!« – Und, geliebte Elsbeth, geh' nicht zu weit in Deiner Selbstanklage; betrachte Dich nicht als die Mörderin Deines Bruders. Es ist wahr, Ihr habt Euch vieler Vernachlässigungen in der Erziehung Deiner beiden jüngsten Brüder anzuklagen; aber welcher Mensch kann sich rühmen, seine Pflicht erfüllt zu haben? Wenn der Herr unsere Pflichterfüllung zum Maßstab unsers Wohlergehens machen wollte, dann sähe wohl keiner von uns gute Tage! Wir haben einen gnädigen und barmherzigen Gott, von dem schon David singt: »Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unserer Missethat.« Der Herr hat Deinen Bruder trotz Eurer Vernachlässigungen bisher behütet und bewahrt und würde es ohne Zweifel auch noch ferner gethan haben, wenn es in Seinem Plane gelegen hätte. Eure Schuld wird durch die schlimmen Folgen Eurer Pflichtverletzung nicht vergrößert, wie dieselbe dadurch nicht verringert wird, wenn Dein Bruder am Leben bleibt und seine Gesundheit wieder erhält. Dies ist, nach meiner Ansicht, eine Sache ganz für sich und ruht in des Herrn Hand. Dein ist auf jeden Fall die Schuld und Du thust Recht, Dich in Reue und Leid über Deine Pflichtverletzung tief vor dem Herrn zu beugen. Danke Ihm aber auch, daß Er Dir endlich die Augen geöffnet hat, wenngleich auf eine für Dich sehr schmerzliche Art. Es ging nicht anders, der Herr mußte Dir wehe thun, um Dir helfen zu können. Aber, liebste Elsbeth, siehe neben dem Ernste und der Strenge die Güte und Freundlichkeit unseres Gottes! Daß Dein Bruder nicht nur in das Haus eines menschenfreundlichen Arztes gebracht wurde, sondern daß zugleich Ihr beide auf diese Weise in Hände geführt worden seid, die Euch den Weg zum Himmel weisen, das ist kein Zufall, nicht wahr? Das ist Liebe und Güte unsers Gottes, der nicht strafen kann, ohne uns dabei zu zeigen, wie weh es Ihm selber thut. Die Welt, die von Gott nichts wissen will, hat doch von dieser Wahrheit eine Ahnung und spricht dieselbe unbewußt aus, wenn sie sagt: »Es ist doch kein Unglück so groß, daß es nicht noch größer hätte sein können«; oder: »Bei jedem Unglück ist doch noch immer ein Glück.«

Meine liebste Elsbeth, meine Gedanken sind jetzt fast ausschließlich bei Dir. Von mir und meinen kleinen Erlebnissen mag ich Dir heute nicht schreiben; das alles kommt mir jetzt so unwichtig und unbedeutend vor, wenn ich bedenke, in welch' ernster Zeit Du jetzt stehst.

Auch ohne die ausdrückliche Bitte, Deiner in meinem täglichen Gebete zu gedenken, würde ich es nicht unterlassen, für Dich zu beten, sonderlich in dieser Zeit. Denkst Du nicht daran, liebste Elsbeth, was mein theures Mütterchen uns oft sagte: »Wenn Ihr wollt, daß Eure Freundschaft bestehen soll, so hört nie auf, für einander zu beten. Gott allein kann uns die Liebe und Treue im Herzen bewahren.« Ich hoffe daher, meine Elsbeth, daß auch Du mich nicht in Deinem Gebete vergissest.

Laß mich bald wieder von Euch hören. Der Herr erbarme Sich Eurer nach Seiner unaussprechlichen Gnade und lasse diese Heimsuchung zu einem Segen für Euch Alle werden.

In herzlicher, mitfühlender Liebe
Deine
Maria.

13. Brief.
Elsbeth an Maria

H......., den 6. März 18..

Liebe Maria!

So ist denn alles vorbei! Wir haben gestern unsern lieben Paul begraben. Freilich, ich glaube, daß seine Seele bei Gott im Himmel ist, wohin er sterbend zu kommen sich sehnte, – vorbei ist es also doch nicht mit ihm, wenn auch für diese Erde. Es ist so sonderbar, jemanden sterben zu sehen. Ich stand dabei; es war mir, als ob mein eigenes Leben stockte, als ob mein Herz stillstände. Es ist schauderhaft zu sehen, wenn die Todesblässe über das Gesicht hinzieht. Und doch war ich innerlich so ruhig, daß ich mich über diese meine Ruhe entsetzen mußte. Ich würde eine Welt darum gegeben haben, wenn ich hätte Schmerz empfinden, wenn ich hätte weinen können.

O, ich kann Dir diese schreckliche Ruhe nicht beschreiben! Dabeistand es riesengroß vor meiner Seele: »so liegst auch Du einst auf Deinem Todtenbette.«

Ich habe lange gesessen und in das stille todte Gesicht geblickt, bis Doctor Bergmann kam. Als er sah, daß mein Bruder todt war, nahm er mich bei der Hand und führte mich in ein anderes Zimmer. Dort setzte er sich zu mir auf's Sofa und sprach lange und tröstlich mit mir; ich kann es Dir nicht wieder erzählen, was er alles gesagt. Ich weiß nur, daß ich heiß geweint habe. Zuweilen nahm er meine Hand und drückte sie; es war mir so wunderbar!

Die Tage, die gefolgt sind, kann ich Dir nicht beschreiben, ich weiß nicht mehr viel davon. Heute bin ich wieder in unser Haus zurückgekehrt. Nun sitze ich in meinem kleinen Zimmer und schreibe Dir. Es ist aber alles so still. Immer meine ich, draußen Schritte zu vernehmen und Paul und Heinrich mit ihren Schulbüchern hereinkommen zu sehen. Aber sie sind alle beide fort. Und unser Georg ist in Amerika, wer weiß, in welcher Noth er sich befindet. Ist's nicht, als ob ein Fluch auf unserm Hause ruhte? Immer dunkler zieht sich der Himmel über uns zusammen; ich habe das Gefühl, als müßte noch irgend etwas Furchtbares geschehen. Aber ich will auf den Herrn vertrauen. Sieh, Maria, mein Glaube ist erst im Anfange. Ich fürchtete, daß er dem Herrn doch nicht wohlgefällig sein könne, aber Frau Bergmann sagte mir: »Schwacher Glaube ist auch Glaube!« und das hat mich getröstet.

Ich habe Dir bis jetzt nur wenig von Bergmann's geschrieben, ich will es heute nachholen. Mutter und Sohn leben seit einer Reihe von Jahren zusammen, und wie es scheint, in einem sehr glücklichen Verhältnisse. Sie sind sehr geachtet, Dr. Bergmann ist einer der geschicktesten Aerzte unserer Stadt. Daß er noch jung ist, vergesse ich immer wieder, weil er gegen mich stets einen eigenthümlich väterlichen Ton anschlägt. Ich glaube, Du würdest ihn sehr gern leiden mögen.

Frau Bergmann, seine Mutter, sieht viel jünger aus, als sie in Wirklichkeit ist. Sie ist noch sehr hübsch, früher muß sie wol schön gewesen sein. Ich glaube auch, daß sie außerordentlich klug ist. Trotzdem habe ich nicht die geringste Furcht vor ihr, ja ich liebe und verehre sie wie eine Mutter. Ich glaube, ich würde ein ganz anderes Mädchen geworden sein, wenn sie mich erzogen hätte. Ich habe es ihr auch geklagt, daß meine Fehler mir so viel zu schaffen machen. Sie nahm mich so liebevoll in die Arme und sagte: »Holen Sie sich von Oben die Kraft, dann wird es Ihnen leichter werden, sie abzulegen.«

Wunderbar ist die Ordnung, die bis in's Kleinste hinab in ihrem Hause herrscht. Es ist ein Vergnügen, einen Blick hinein zu werfen. Dazu paßt aber auch ihre ganze Persönlichkeit, in dem stets einfachen aber geschmackvollen Anzuge. Ich sage Dir, es ist eine wunderbare Macht, die sie auf mich ausübt. Oft habe ich mit ihr über Religion gesprochen. Da fließt alles aus dem Herzen, man hört, es ist nichts Gemachtes und Gekünsteltes. Und wie klar weiß sie alles auszusprechen! Ueber viele Dinge ist mir erst jetzt das rechte Verständniß aufgegangen. Die Leidenszeit, die ich durchlebt, ist mir zum Segen geworden. Ich sehe jetzt alles anders an.

Ich verzweifle auch nicht mehr an mir selbst. Gott hilft allen, die Ihn suchen, Er wird auch mir weiter helfen!

Frau Bergmann und auch ihr Sohn haben mich gebeten, sie oft zu besuchen, ich werde es mit Freuden thun. Die Freundschaft dieser Leute ist ein köstliches Gut, für das ich Gott nicht genug danken kann.

Für heute aber genug, mein Herz. Schließe mich auch ferner in Dein Gebet ein und schreibe bald

Deiner
Elsbeth.

14. Brief.
Maria an Elsbeth

Breitenstein, den 17. März 18..

So hat also der Herr Euren Paul doch von Euch genommen! Theure Elsbeth, laß uns unsere Hände falten und uns in Stille vor dem Herrn beugen! Sein Wille ist geschehen; Sein Name sei gepriesen! Wir wollen Ihm danken, daß wir überzeugt sein dürfen, Er habe Deinen Bruder nicht nur von Euch fort, sondern auch zugleich zu Sich in Sein himmlisches Reich genommen; denn was Du mir von Deinem Bruder erzählst, berechtigt uns zu der frohen Annahme, er habe seinen Heiland und damit ewiges Leben und Seligkeit gefunden. Ihn können wir also nicht beklagen, er ist aus dieser bösen Welt und damit aus viel Trübsal genommen und ist nun schon da, wohin wir Alle durch Gottes Gnade zu kommen hoffen, vielleicht aber erst nach einem langen, mühevollen Leben.

Bergmann's müssen prächtige Menschen sein; der Herr vergelte ihnen, was sie an Deinem Bruder und an Dir gethan haben!

Liebe Elsbeth, Deine armen Eltern sind sehr zu beklagen, weil sie noch nicht den rechten Trost in ihrem Leid gefunden haben. Der Herr erbarme sich ihrer! Dir hat Gott große Gnade erwiesen, indem Er Dir die Augen geöffnet, daß Du nicht nur die Ruthe fühlst, die Dich schlägt, sondern auch zugleich die Vaterhand siehst, welche dieselbe führt. Und von dieser Vater hand wirst Du bald weiter in das Vater herz hinein schauen und wirst darin nichts als lauter Erbarmen, Liebe und Güte finden.

Und wer nur erst einmal so recht in dieses Vaterherz hinein geschaut hat, der kann nicht anders, als sich mit allem, was er ist und hat, d. h. mit allen seinen Sünden und Gebrechen in die Arme seines Heilands werfen.

O, meine liebe Elsbeth, ich muß schon jetzt Gott mit Freuden danken für Seine gnädige Führung, denn ich sehe auch Dich im Geiste schon den seligen Gotteskindern beigesellt, die von der Welt verspottet und verachtet werden, die aber um alle Schätze und alle Freuden dieser Welt die Eine köstliche Perle, die sie gesunden, nicht hingeben möchten.

Der Herr segne Dich, mein theures Herz, und lasse Dich bald zum ganzen, vollen Frieden gelangen!

Grüße Frau Bergmann unbekannter Weise von mir, und sage ihr, daß ich mich so recht von Herzen auf ihre Bekanntschaft freue. Sollte ich aber hier auf Erden nicht mehr das Glück haben, sie kennen zu lernen, so wird's droben in der seligen Ewigkeit sein!

Wie freut es mich, geliebte Elsbeth, daß Du dieses Haus gefunden hast!

Auch ich habe hier eine alte liebe Freundin gefunden. Ich gehe jetzt oft auf ein Stündchen nach der Pfarre; die alte Pastorin ist eine gar liebe, freundliche Frau, die sehr anziehend aus alter Zeit zu erzählen versteht; ich höre ihr gern zu. Wenn sie von den Vorfahren der alten Adelsgeschlechter in hiesiger Gegend erzählt, so hört es sich an wie Märchen und ist doch einmal Wirklichkeit gewesen. Die Geschichte der Familie von Hallendorf kennt sie bis in die graue Vorzeit hinauf. Es ist mir unbegreiflich, woher sie das alles weiß. Ich habe mir von ihr die Lebensgeschichte sämmtlicher Familien-Glieder, deren Portraits in dem alten Ahnensaale hängen, erzählen lassen. Ihr Mann nennt sie zuweilen lächelnd »die lebendige Chronik«; aber das schadet nicht, es ist doch hübsch, so viel zu wissen und so anmuthig erzählen zu können.

Seit ich der Ahnen Lebensgeschichte kenne, blicken mich ihre alten Bilder gar nicht mehr so kalt und fremd an; im Gegentheil, einige derselben, deren Geschichte mich besonders interessirt und bewegt hat, scheinen mich jetzt für meine Theilnahme an ihrem Geschick mit den Augen freundlich und verständnißvoll zu grüßen, so oft ich zu ihnen emporblicke.

Es muß doch hübsch sein, seine Vorfahren so in Bildern um sich zu haben; man bleibt auf diese Weise mit ihnen bekannt und gleichsam im Verkehr. Ein solcher Verkehr würde für mein »märchenhaft angelegtes Gemüth«, wie Du es nennst, einen großen Reiz haben; natürlich müßte ich eine ausführliche Familienchronik daneben besitzen.

Du wirst lächeln, liebste Elsbeth, wenn ich Dir sage, daß der alte Ahnensaal mit seinen seltsamen Bewohnern nächst meinem eigenen Zimmer mir jetzt der liebste Aufenthaltsort im ganzen Hause ist. Früher war derselbe mir beinahe unheimlich, und ich konnte mich fürchten, wenn ich ihn einmal allein durchschreiten mußte und dann gewahr ward, daß die Augen sämmtlicher Ahnenbilder wie fragend auf mich, den unbekannten Eindringling, gerichtet waren. Jetzt ist es anders geworden; jetzt, da ich ihr Leben, Lieben und Leiden kenne, bin ich den alten Herrschaften gleichsam vorgestellt, wir sind in ein Verhältniß zu einander getreten; ich fürchte mich nicht mehr vor ihnen und sie sind mir, das fühle ich, mit wenigen Ausnahmen, wohl gewogen.

Die Lücken in der Erzählung meiner alten Freundin hat meine Phantasie geschäftig ausgefüllt, so daß jetzt die Lebensbilder sämmtlicher Ahnenbilder mich umgeben wie ein zusammenhängender Sagenkreis, in welchem ich in meinen Mußestunden lustwandle und den ich nach Gefallen und Bedürfniß ausschmücke und erweitere.

Doch, liebste Elsbeth, verzeihe, daß ich Dich gerade heute mit diesen Plaudereien, an denen Du wenig Geschmack finden wirst, unterhalte, doch sie sind mir unwillkürlich in die Feder geflossen und so mögen sie auf dem Papiere stehen bleiben.

Für heute laß mich schließen. In treuer Liebe Dein gedenkend

Maria.

15. Brief.
Elsbeth an Maria

H......., den 25. April 18..

Meine liebe Maria!

Wie schön es im Walde duftet und blühet! Ich habe eben einen Spaziergang hinaus gemacht; es war so lieblich und so feierlich und dabei war mein Herz so voll, daß ich hätte weinen mögen. Wie ist doch die Natur so schön! Denkst Du noch an den Spaziergang, liebste Maria, den wir zusammen an unserm Confirmationstage machten? Ich wurde heute lebhaft daran erinnert. Gerade so ein Tag war es damals, der Himmel so blau, die Hecken so grün, die Luft so lind. Du sagtest: »Ich glaube, es ist heute der schönste Tag unseres Lebens!« Ich habe mit Wehmuth daran denken müssen. Ueber Dich und mich sind seitdem schon bittere Tage dahingegangen, über mich aber die bittersten, weil Reue und Selbstanklage sich darüber breiteten. Aber getrost! Ich will lassen, was hinter mir liegt, und greifen nach dem, was Gottes Gnade mir entgegen hält, Vergebung und Seligkeit. Es wird immer lichter in mir, die bösen Geister der Eitelkeit und des Mißmuths machen mir von Tage zu Tage weniger zu schaffen.

Meine Eltern sind sehr erstaunt, daß ich seit meiner Rückkehr so ganz verändert bin. Ich fühle mich aber auch so von Schuld beladen, daß es mir ist, als müßte ich alle Menschen um Verzeihung bitten. Besonders meinen Eltern gegenüber habe ich dieses Gefühl. Ich möchte allen Menschen an den Augen absehen können, was ihnen lieb und angenehm ist.

Zu Vater bin ich seit Paul's Tode in ein ganz anderes Verhältniß getreten. Er beräth und bespricht jetzt alles mit mir.

Dr. Bergmann hat mir verordnet, täglich einen Spaziergang zu machen, weil meine Gesundheit etwas gelitten habe. Zu meiner Freude begleitet mich Vater, so oft er kann. Ich suche ihn nach Kräften zu erheitern und aufzumuntern. Ich glaube, Vater hat mich sehr lieb, er sagte neulich, ich sei seine einzige Freude.

Wenn doch meine Eltern verstehen könnten, was in mir vorgeht und was mich so verwandelt hat! Gesagt habe ich es ihnen, aber sie halten es alles nur für Träumereien. »Kind, Du neigst zur Schwärmerei«, sagt Mutter, »hoffentlich wird es sich damit geben, wenn Du wieder gesund und vergnügt bist.« –

Vater duldet es zwar ganz gern, daß ich auf unsern Spaziergängen über Religion spreche. Aber er geht selbst nicht darauf ein. Zuweilen schüttelt er den Kopf und sagt: »Es klingt alles ganz gut, wenn es nur wahr wäre!«

So stehe ich in unserm Hause ganz allein ohne Verständniß da. Ich hoffe aber, daß es mit Gottes Hülfe einmal anders werden wird.

Immer fester und inniger wird meine Freundschaft mit Bergmann's. In allen Sachen frage ich Frau Bergmann um Rath, sie weiß immer das Rechte zu treffen. Ich trinke jeden Montag Abend bei ihnen Thee, von einer Woche zur andern freue ich mich auf diesen Abend. Gewöhnlich liest uns Doctor Bergmann dann nach dem Thee etwas vor; zuweilen aber singt er auch, er hat eine so schöne Baßstimme. Ich finde es sehr schön, daß der Sohn fast immer den Abend bei seiner Mutter zubringt.

Ich habe Frau Bergmann viel von Dir erzählt und ihr Deinen Gruß überbracht. Sie erwidert ihn freundlich und läßt Dich fragen, ob Du nicht Lust habest, bei ihr Deine Sommerferien zu verleben? Du solltest ihr wie eine liebe Tochter willkommen sein. Ueberlege es Dir, liebste Maria. Wie hübsch wäre es, wenn auch Du mit Bergmann's befreundet würdest.

Zur Ansicht sende ich Dir vorläufig Frau Bergmann's Bild. Denke Dir zu diesem Kopfe mit dem noch dunkeln, schlicht gescheitelten Haar, den freundlichen, liebevollen Augen (ihre Farbe spielt in's Bräunliche) und dem feingeschnittenen Munde – denke Dir dazu eine große und etwas volle Gestalt – das ist Frau Bergmann, mein Mütterchen, wie ich sie so gern nenne.

Es ist ein hübscher Anblick, wenn sie mit ihrem Sohne zur Kirche geht; sie müssen immer an unserm Hause vorüber; dann stelle ich mich an's Fenster, um einen Gruß zu bekommen, und sehe ihnen lange nach. Er ist noch um einen Kopf größer, als die Mutter, eigentlich ein sehr schöner Mann, aber so ernst, daß ihn jeder für älter hält als er ist. Die Mutter dagegen hat in ihrer ganzen Erscheinung noch eine solche Frische, daß fremde Leute die beiden für ein Ehepaar gehalten haben. Doctor Bergmann erzählte es mir lachend.

»Ich bin stolz auf meine hübsche Mama«, sagte er. – Die Mutter ist es gleichfalls auf ihren vortrefflichen Sohn – und ich – ich bin stolz, daß ich mit solchen Leuten verkehren darf.

Deine Dich liebende
Elsbeth.

16. Brief.
Maria an Elsbeth

Breitenstein, den 17. März 18..

Dein Brief, meine liebste Elsbeth, hat mir wahrhaft wohlgethan; ja, ich wußte es wohl, diese Heimsuchung mußte Dir zum Segen werden! Gott sei dafür gelobt! –

Wie gern sähe ich Dich jetzt wieder, meine Elsbeth, und wie gern nähme ich daher die freundliche Einladung Deiner lieben, gütigen Frau Bergmann, meine Sommerferien bei ihr zuzubringen, an; aber es ist dies leider nicht möglich, indem für mich schon ein anderer Reiseplan entworfen ist.

Frau von Rautenberg wird im August mit Mann und Kindern in ein Seebad gehen, und es ist beschlossen, daß meine beiden kleinen Mädchen und ich sie begleiten sollen. Ich freue mich auf diese Reise, einmal weil ich überhaupt noch nicht viel von der Welt gesehen habe und das Meer in seiner gepriesenen großartigen Schönheit noch gar nicht kenne; andererseits aber – und dies ganz besonders – freue ich mich auf das Zusammensein mit Frau von Rautenberg. Wir schreiben uns jetzt, und ihre Briefe sind mir stets eine ganz besondere Freude. Elsbeth, ich wollte, Du lerntest diese Frau kennen! Ich kann es Dir gar nicht beschreiben, wie liebenswürdig sie ist; sie ist so klug und hat so viel gelernt und dabei ist sie so einfach und bescheiden. Ich fühle mich ihr gegenüber oft recht beschämt, wenn ich sehe, wie wenig Gewicht sie auf das legt, was sie weiß und kann, und ich dagegen gewahr werden muß, wie viel ich mir doch noch immer auf mein Wissen und Können einbilde.

Es ist gewiß nicht ohne Absicht, daß der Herr mir in dieser Frau eine Freundin zugeführt und mir in ihr ein solches Vorbild gestellt hat. Ich erkenne Seine Absicht und werde streben, daß sie an mir erreicht wird. –

In voriger Woche verlebte ich einen sehr interessanten Abend im Pfarrhause. Pastor Rollmann und ich hatten ein längeres Gespräch über das Wort »Bildung«, welches mir eine ganz neue Auffassung dieses Begriffes gegeben hat. Da ich annehme, daß es auch Dich, liebste Elsbeth, interessiren wird, dieses so vielfach mißbrauchte Wort einmal in seiner höhern und gewiß einzig richtigen Auffassung kennen zu lernen, so will ich versuchen, Dir unser Gespräch über diesen Gegenstand möglichst wortgetreu wiederzugeben, welches mir, glaube ich, nicht schwer werden wird, da sich dasselbe meinem Gedächtnisse sehr eingeprägt hat.

Hervorgerufen wurde dieses Gespräch dadurch, daß ich äußerte, die feinste, höchste Bildung sei doch wohl eigentlich in den Kreisen der Adeligen zu finden.

Pastor Rollmann erwiederte hierauf: »Dieser Ansicht möchte ich mich nicht unbedingt anschließen. Nach meiner Meinung ist die wahre Bildung ein Gut, das an keinen besonderen Stand und Rang dieser Welt geknüpft ist, sondern das jeder Christ ohne Ausnahme sich aneignen kann.«

Ich: »Es scheint mir aber doch, als ob ich in bürgerlichen Kreisen noch nie diese Feinheit und Gewandtheit in Sprache und Manieren gefunden hätte, wie sie dem Adel eigen zu sein scheint.«

Pastor Rollmann: »Sie haben Recht; sofern man unter Bildung nur eine erhöhte Anmuth und Gewandtheit in Ausdrucksweise und Benehmen versteht, kann man dem Adel oder – richtiger gesagt – den höheren Gesellschaftskreisen, welchen doch auch Nicht-Adelige angehören, den Vorrang zuerkennen. Unter »Bildung« muß man aber doch noch etwas anderes, etwas mehr, verstehen.«

Ich: »So verstehen Sie unter »Bildung« vielleicht einen reichen Schatz von Kenntnissen und Geschicklichkeit?«

Pastor Rollmann: »Wäre dies der Fall, so müßten die Träger der Wissenschaft und Künste, unsere Gelehrten und Künstler, zugleich die Repräsentanten der höchsten Bildung sein, die Erfahrung lehrt aber, daß dies nicht immer der Fall ist.«

Ich: »So bin ich begierig, von Ihnen eine Erklärung des Begriffes »Bildung« zu erhalten, denn, was ich soeben gehört, sagt mir nur, was die Bildung nicht ist.«

Pastor Rollmann: »Das Wort » Bildung« ist allerdings kein leicht zu definirender Begriff. Es wird viel über Bildung geredet, aber nur wenige von denen, die dieses Wort so geläufig im Munde führen, möchten überall versucht haben, sich den eigentlichen Sinn dieses Wortes klar zu machen; und wiederum die meisten von denen, welche überall jemals über den Begriff dieses Wortes nachgedacht haben, verbinden mit demselben eine ganz irrige Vorstellung. Ein jeder legt sich die Bedeutung dieses Wortes auf die für ihn passendste Weise aus.«

Ich: »Sie machen mich immer gespannter auf Ihre Erklärung dieses Wortes.«

Pastor Rollmann: »Das Hauptwort Bildung hängt, wie Sie wissen, sprachlich mit dem Zeitworte » bilden« zusammen; letzteres setzt einen Gegenstand voraus, der gebildet, d. h. nach einem gegebenen Muster geformt werden soll.

Der ungebildete Mensch befindet sich hiernach noch in seinem natürlichen Zustande, während der gebildete Mensch nach einem vorhandenen Muster umgeformt (gebildet) ist. – Wer dieses Muster, dieses Vorbild sei, nach dem der Mensch gebildet werden soll, kann uns Christen nicht schwer werden zu errathen. Im ersten Buche Mose lesen wir: »Gott schuf den Menschen Ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf Er ihn.« – Diese ursprüngliche Gottesähnlichkeit ist durch die Sünde zum größten Theil verloren gegangen; an dem rein natürlichen Menschen finden wir nur noch geringe Spuren derselben. Uns Christen ist es möglich, mit Hülfe des heiligen Geistes das verloren gegangene Ebenbild Gottes wieder in uns herzustellen, und insoweit uns dieses gelungen ist, soweit sind wir wahrhaft, recht – d. h. nach dem rechten Muster – gebildet.«

Ich: »Diese Auffassung des Begriffes Bildung ist mir allerdings ganz neu, aber ich glaube wohl, daß sie die allein richtige ist.«

Pastor Rollmann: »Ich bin übrigens nicht der einzige, der diese Auffassung hat, das kann Ihnen ein kleines Gedicht aus einer weiblichen Feder beweisen.«

Er holte einen kleinen Band Gedichte und las mir folgende Strophen vor:

» Weß ist das Bild und die Ueberschrift?
Herr präge Du Dein Bildniß
Mir tief in meinen Sinn,
Dann kann ich dankend rühmen,
Daß ich gebildet bin.

Und Deinen heil'gen Namen
Schreib' an die Stirne mir,
Mein ganzes Wesen zeige,
Daß ich gehöre Dir.«

Ich: »Das ist hübsch ausgedrückt.«

Pastor Rollmann: »Ja, schön und wahr. Fassen wir in diesem Sinne den Begriff »Bildung« auf, so umschließt er damit alle Nebenauslegungen, welche so oft als alleiniger Begriff desselben gelten; es wird damit, so zu sagen, allen Ansprüchen genügt, welche überhaupt nur an diesen Begriff gestellt werden können; und jeder findet hier seine Rechnung.

Einige sehen in der »Bildung« vor allem Feinheit und Anmuth in Sprache und Geberden. Unser Gott hat gewiß den höchsten und reinsten Schönheitssinn, das zeigen uns alle Seine Werke, soweit sie nicht durch die Sünde verunstaltet sind, und der Mensch, soweit er nach Gott gebildet – die kirchliche Sprache nennt es wiedergeboren – ist, wird daher auch alles Unschöne und Unfeine hassen und in Sprache und Manieren bei aller Einfachheit doch stets allen Regeln der Wohlanständigkeit und Anmuth genügen. Ein nach Gott gebildeter Mensch wird sich nie tactlos benehmen.

Andere fordern von der »Bildung« Klugheit und Gelehrsamkeit: Die höchste Klugheit und die tiefste Gelehrsamkeit finden wir natürlich bei Dem, der Himmel und Erde und die ganze Geisterwelt geschaffen hat, und in soweit es uns gelungen ist, Sein Ebenbild in uns herzustellen, muß auch etwas von dieser göttlichen Klugheit, von der auch noch im Himmel gültigen Gelehrsamkeit zu finden sein. Den Beweis hierfür liefern uns manche einfältige Kinder Gottes; und es ist geradezu merkwürdig, welch richtiges, gesundes Urtheil auch in weltlichen Dingen diese Klugheit von oben den, nach dem Maßstabe der Welt gemessen, sonst ganz ungebildeten Menschen giebt.«

Ich: »Ich danke Ihnen für diese Erklärung; ich werde von jetzt an mit allen Kräften nach der rechten Bildung streben.«

Pastor Rollmann reichte mir die Hand und sagte freundlich: »Der Herr helfe Ihnen!« –

Pastor Rollmann und ich spielen jetzt wöchentlich einmal vierhändig zusammen. Mir bringt dieses Spielen großen Nutzen. Pastor Rollmann scheint ein tiefes Verständniß für Musik zu haben und ich, – nun, ich glaube keine ganz ungelehrige Schülerin zu sein.

Hier sehe ich Dich lächeln, liebste Elsbeth, und Du hast Recht, über mich zu lächeln, denn die letztgemachte Aeußerung zeugt von Selbstbewußtsein und Eitelkeit und beide Züge finden sich keinenfalls in der rechten Bildung.

Mein Brief hat diesmal eine ungewöhnliche Länge erhalten, hoffentlich wird er Dir im Lesen nicht zu lang werden. Und somit für heute Gott befohlen.

Treu
Deine Maria

17. Brief.
Elsbeth an Maria

H......, den 26. Juni 18 ..

Meine liebe Maria!

Abermals hat des Herrn Hand uns schwer getroffen.

Es war am vergangenen Mittwoch, als Vater gar nicht aus seiner Schlafkammer herauskam. Mutter wird besorgt und geht hinein und – o Maria, kannst Du Dir den Schrecken und den Schmerz von uns allen vorstellen? – Noch meine ich, es müßte ein schwerer Traum sein, mein Herz kann sich so schwer an den Gedanken gewöhnen. Denke Dir, sie findet unsern geliebten Vater todt im Bette!

Die Wege des Herrn sind unerforschlich! – Strafe habe ich verdient, das ist wahr – gewiß recht schwere Strafe um meiner Sünden willen, aber o Maria! Konnte meine tiefe Zerknirschung und Reue sie nicht von mir und uns allen abwenden? Giebt es doch so viele Sünder, denen es wohlgeht bis an ihr Lebensende – mich aber trifft das Unglück Schlag auf Schlag! – Herr, ich will nicht murren, vergieb mir, wende Dich nicht von mir – ach erbarme Dich über uns!

Wir haben gleich einen Arzt geholt, er konnte aber unsern Vater nicht wieder in's Leben zurückrufen. Er sei schon seit mehreren Stunden todt, sagte der Arzt.

Wie sehnlich habe ich Dr. Bergmann herbeigewünscht; wäre er hier gewesen, so meine ich, er hätte ein Mittel gehabt, Vater zu beleben. Dr. Bergmann ist seit acht Tagen mit seiner Mutter im Bade. Die Leute sagen, ich sei thöricht, so großes Vertrauen auf einen Arzt zu setzen, gegen den Tod sei kein Kraut gewachsen. Aber Dr. Bergmann ist gewiß geschickter, als alle anderen Aerzte; wenn er hier gewesen wäre, so hätte er vielleicht helfen können, da die andern keine Hülfe sahen. Mir ist so wirr im Kopfe; wie soll ich jemals wieder ruhig und froh werden!

Schrecklich ist das Gerücht, das über Vaters Tod in Umlauf gesetzt ist. Ich kann es nicht schreiben und überlasse es Dir, ob Du es erräthst. Gott behüte mich, daß ich es am Ende nicht selbst glaube.

Es ist ganz natürlich, daß in dem Geschäfte, in welchem Vater arbeitete, durch den plötzlichen Todesfall manches in Unordnung gerathen ist. Die Herren von dem Geschäfte haben nun Vaters Privatsachen nachsehen müssen, und waren deshalb in unserm Hause, das ist allerdings richtig. Ich hatte einen großen Schrecken davon und war überall dabei. Vaters Prinzipal war aber sehr freundlich gegen mich und sprach mir sein herzliches Bedauern aus. Er sagte mir, ich solle ohne Sorgen sein, er werde unserer Ehre in keiner Weise zu nahe treten.

Sieh, an diesen Vorfall knüpfen die Leute nun allerlei Vermuthungen und Folgerungen, die mit Vaters Tode zusammenhängen. Es ist entsetzlich!

Mit welchen Augen wird man uns fortan betrachten! Alle werden über uns den Stab brechen, ich höre sie schon zischeln: Die Frau und die Tochter haben so viel Geld gebraucht, das hat den Mann ruinirt.

Ich will auch dies als eine Züchtigung vom Herrn annehmen. Ich habe an Frau Bergmann geschrieben und ihr mein Herz ausgeschüttet. Wird sie sich fortan nicht meiner schämen? O, nein, ich fürchte es nicht. Und wenn ich mit Schuld und Schmach beladen zu ihr käme, sie würde mich doch nicht von sich weisen – ich fühle es ja, sie hat ein mütterliches Herz für mich. Schließe ich Abends die Augen, dann tritt mir ihre Gestalt vor die Seele, die lieben treuen Augen sehen mir bis ins Herz hinein – ich höre sie Worte des Trostes und der Liebe zu mir sprechen! – Auch Du, meine Maria, bist mir geistig nahe; ich weiß es, auch Du wirst nicht von mir lassen, wenn mich die Leute verachten.

Meine Mutter macht mir große Sorgen. Seit Vaters Tode hat sie ein eigenthümlich stilles Wesen. Es ist, als habe sie für nichts Theilnahme mehr. Ich fürchte, sie leidet an Tiefsinn; der Doctor spricht sich noch nicht über ihren Zustand aus.

Groß sind die Sorgen und Lasten, welche ich zu tragen habe. Gott helfe mir hindurch und sei mir gnädig!

Deine
Elsbeth.

18. Brief.
Maria an Elsbeth

Breitenstein, den 2. Juli 18..

Wie viele Briefe mit Trauernachrichten hast Du mir schon senden müssen! Der letzte aber ist der betrübendste von allen. Ich war so erschrocken, daß ich in den ersten Tagen nichts anders konnte, als mit Euch weinen. Armes Herz, der Herr führt Euch tief hinab; aber nur Muth, Er führt auch wieder hinauf. Er hat Balsam für jede Wunde und Trost für jedes Leid! Liebe Elsbeth, der Herr wird Dir auch diese schwere Trübsal zu einem Segen werden lassen; halte nur Seine Hand fest und schaue ihm unverwandt ins treue Heilandsauge, das auch jetzt – und gerade jetzt – in Liebe und Erbarmen auf Dich blickt. Es wird noch alles gut werden und Du wirst dem Herrn auch für dieses Leid noch mit fröhlichem Herzen danken müssen. »Fürchte Dich nicht, glaube nur!« – In dieser Züchtigung spricht der Herr zu Dir: »Was ich thue, das weißt du jetzt nicht, du wirst es aber hernach erfahren!« – »Alle Züchtigung, wenn sie da ist, dünket uns nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein, aber darnach wird sie geben eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die dadurch geübt sind.« –

Der treue Gott erbarme Sich insonderheit auch Deiner armen Mutter! Diese ist am meisten zu beklagen. Liebste Elsbeth, Du hast jetzt Gelegenheit, Versäumtes nachzuholen und eine alte Schuld an kindlicher Liebe und Ergebenheit abzutragen. Du kannst Deiner Mutter jetzt viel sein, sie hat auf Erden ja nur Dich. Deine Aufgabe ist nicht leicht, aber Gott wird Dir helfen!

Ich schreibe Dir bald wieder und erzähle Dir von mir. Kannst Du, so gieb mir doch in einigen Tagen, wenn auch nur mit wenigen Worten Nachricht über Euer Ergehen. Du kannst Dir denken, daß mich sehr verlangt, wieder von Euch zu hören. Meine Gedanken sind immer bei Euch! – Wäre nur erst Frau Bergmann von ihrer Reise zurückgekehrt! Du armes Herz bist jetzt so ganz allein!

Der Herr sei mit Euch, Er halte Seine Hand schützend und segnend über Euer verwaistes und verödetes Haus!

In treuer theilnehmender Freundschaft

Deine
Maria.

19. Brief.
Elsbeth an Maria

H......., den 9. Juli 18..

Liebe, liebe Maria, nur wenige Worte kann ich Dir heute schreiben. Ich danke Dir für Deinen lieben trostreichen Brief, er hat mir sehr wohlgethan. Auch Frau Bergmann hat an mich geschrieben; die liebe, herrliche Frau schreibt folgendermaßen: »...... Sie, mein Kind, sind mir von Gott selbst zugeführt und an das Herz gelegt worden. Ich erkenne meine Aufgabe an Ihnen und werde streben, dieselbe zu erfüllen. – Will die Welt in verkehrtem Hochmuth sich von Ihnen wenden, so flüchten Sie Sich an mein mütterliches Herz, ich will Sie umsomehr lieben. Verzagen Sie nicht, lesen Sie vielmehr was geschrieben steht Ebräer 12, 5–14. Der Herr wird Ihnen helfen.

Mein Sohn grüßt Sie freundlichst. Bald werden wir zu Ihnen zurückkehren. .....«

Liebste Maria, mir stehen schwere, arbeitsvolle Tage bevor und, ich kann es nicht leugnen, mein Herz zagt. Wir werden in der allernächsten Zeit schon unsere jetzige Wohnung verlassen und eine ganz kleine in der Vorstadt beziehen; ich habe sie gestern gemiethet. Mutter überläßt mir alle Einrichtungen, sie ist willenlos wie ein Kind.

Ich habe mit dem Arzte eine Unterredung gehabt, er hat sich sehr bedenklich über Mutter's Zustand ausgesprochen; allen Anzeichen nach, sagte er, bereite sich eine Gehirnerweichung vor.

Ich nehme alle meine Kräfte zusammen; wenn mir der Muth sinken will, werfe ich mich auf meine Kniee und bitte Gott um Seinen Beistand; gestärkt und getröstet erhebe ich mich dann auch immer wieder. Ich hoffe, so wird's gehen. Ich fühle es, will der Herr mich haben, so muß Er mich eine schwere Schule durchmachen lassen. Du hast Recht, liebste Maria, mit Güte habe ich mich nicht ziehen lassen, nun versucht's der Herr mit Ernst und Strenge; und es scheint mir gleich Sein ganzer Ernst zu sein. Doch es ist gewiß gut, Sein Wille geschehe!

Ich habe beschlossen, unser Mädchen gehen zu lassen und alle Arbeit im Hause selbst zu thun. Ich danke Gott, daß ich wenigstens gesund und kräftig bin.

Ach, ach! – meine schönen Gesellschaftskleider sind schon nach dem Trödler gewandert. Ich muß fortan um's tägliche Brot arbeiten und darf an Gesellschaften nicht denken. Du kannst Dir vorstellen, daß mir vor dieser Aussicht doch etwas graut. Es wird mir nicht leicht werden, meine Pflicht zu erfüllen, ich habe noch zu viel von meinem alten Menschen in mir.

Hätte ich gewußt, daß unsere Verhältnisse so schlecht stehen, ich glaube, ich würde in manchen Dingen anders gehandelt haben, doch ich will meinen Eltern keinen Vorwurf machen, sondern lieber mein richtig Theil Schuld auf mich nehmen.

Das Kostgeld, welches für Heinrich in der Erziehungsanstalt gezahlt werden muß, können wir jetzt natürlich nicht erschwingen; er muß zurückkommen und wieder die hiesige Schule besuchen. Gott helfe mir, daß meine jetzigen Pflichten mir nicht über den Kopf wachsen! Es lastet jetzt viel auf mir, große Sorgen und große Verantwortung – und ach, welch ein leichtsinniges Mädchen war ich noch vor wenigen Wochen! –

Erzähle mir von Deinen Erlebnissen, liebste Maria, sie werden erfreulicher sein als die meinigen. Es wird mir wohlthun und mich erfrischen, wenn ich mich im Geiste in Deine Verhältnisse versetzen kann. Du und Frau Bergmann – Ihr beide seid Lichtpunkte in meinem dunkeln Leben.

Grüß' Dich Gott!
Deine
Elsbeth.

20. Brief.
Maria an Elsbeth

Breitenstein, den 12. Juli 18..

Deinen Brief, geliebte Elsbeth, erhielt ich gestern und danke Dir, daß Du trotz der vielen Arbeit, die jetzt allein auf Deinen Schultern ruht, doch so viel Zeit erübrigt hast, mir Nachricht von Euch zu geben.

Also auch Ihr müßt jetzt Eure Wohnung verlassen, in welcher Ihr so lange gelebt habt und in der wir so manche heitere, gemüthliche Stunde verscherzt und verplaudert haben! Ein Wohnungswechsel ist etwas Schweres, denn er berührt nicht nur unser äußeres Leben, sondern greift auch tief in unser inneres ein. Manche Erinnerungen haften an der äußern Umgebung; verlassen wir diese, so brechen wir zugleich mit einem Stück unserer Vergangenheit. Und das kann wohl nie ohne ein wehmüthiges Gefühl geschehen. Doch die Erde ist ja überall des Herrn, und unser Heiland zieht mit uns in jede Wohnung, wenn wir Ihn nur mitnehmen wollen. Und wo Er ist, da ist für uns Menschen gut sein, denn Er bringt ja Seinen ganzen Himmel mit. Zieht also nicht ohne Ihn in Eure neue Wohnung, meine Elsbeth. Ist dieselbe auch klein, der Herr macht sie Euch groß genug; ist sie weniger freundlich und sonnenreich als Eure jetzige, Sein Licht wird sie Euch hell und wohnlich machen. Ziehen auch manche alte Bekannte sich von Euch zurück, Er ersetzt Euch tausend Freunde. Müßt Ihr Euch künftig auch vielleicht sehr einschränken, bleibt Er aber nur der Herr Eures Hauses, so werdet Ihr einst auf seine Frage: »Habt ihr je Mangel bei Mir gehabt?« mit seinen Jüngern dankend rühmen können: »Nie, Herr, keinen!«

Was Du mir von dem Gesundheitszustande Deiner Mutter erzählst, ist sehr, sehr traurig, liebste Elsbeth. Vor einem solchen schweren, sich vielleicht durch Jahre hinziehenden Leiden zu stehen, ist nicht leicht, und ich fühle es mit, wie Deine Seele angesichts einer solchen Aufgabe zagt. Doch, meine Elsbeth, es fällt ja kein Haar von unserm Haupte ohne den Willen Gottes, wie viel weniger wird ein so schweres Leiden, wie es Deiner armen Mutter bevorzustehen scheint, über einen Menschen kommen können, ohne das ausdrückliche Gebot unsers Gottes.

»Es kann mir nichts geschehen,
Als was er selbst versehen,
Und was mir selig ist.«

Das ist Christentrost. Und weiter:

»Und hat Er's denn beschlossen,
So will ich unverdrossen
An mein Verhängniß gehn.
Kein Unfall unter allen
Soll mir so schrecklich fallen,
Mit Gott werd' ich ihn überstehn.«

Das ist Christenmuth und Christenfreudigkeit. Der Herr wird es Dir an keinem fehlen lassen. –

Deiner Seele bangt auch vor der großen und ungewohnten Arbeitslast, die Deiner wartet. Ihr werdet Euer Mädchen abschaffen und Du wirst alle grobe Hausarbeit selbst thun müssen. Das ist für Dich eine doppelt saure Arbeit, da Du von jeher gegen solche niedrige häusliche Verrichtungen eine große Abneigung gehabt hast; doch, geliebtes Herz, glaube mir, gerade weil Dir diese Arbeiten so unangenehm und widerwärtig sind, hat der Herr sie Dir zugetheilt. Du sollst Dich in der Selbstüberwindung üben und lernen, Ihm zu Liebe auch solche Arbeiten gern zu thun. Hat Er Seine Absicht an Dir erreicht, dann wird Er Dich aus dieser Schule wieder herausnehmen, darum:

»Nur frisch hinein,
Es wird so tief nicht sein.«

Ich versprach, Dir in diesem Briefe wieder aus meinem Leben zu erzählen. Liebste Elsbeth, ich glaube, das glücklichste Leben ist das, aus welchem sich am wenigsten erzählen läßt. Ich fange an, mich hier recht behaglich und glücklich zu fühlen, aber zu erzählen habe ich eigentlich nichts.

Die Abende, welche ich im Pfarrhause zubringe, bilden eine sehr angenehme Abwechslung in meinem ländlichen Stillleben. Ich fühle mich so heimathlich dort und nie vergeht ein Abend ohne Gewinn für mein inneres Leben. Elsbeth, ich fange an, sehr bescheiden von meinem eigenen Wissen zu denken, denn Pastor Rollmann zeigt mir jedesmal, wenn ich mit ihm zusammen bin, wie wenig ich weiß, und daß es auf allen Gebieten der Wissenschaft noch ganz unendlich viel giebt, wovon ich noch nicht einmal eine Ahnung habe.

Neulich hat er mich auf etwas aufmerksam gemacht, das seitdem meine Gedanken sehr beschäftigt hat, und ich will Dir unser Gespräch um so weniger vorenthalten, als auch Du, liebste Elsbeth, Dich in der Lage befindest, Nutzen aus demselben ziehen zu können.

Du weißt, daß es in der Schule unter uns Mädchen Sitte war, unsere Gefühle und Ansichten durch möglichst weitgehende Beiwörter zu bekräftigen und daß daher Epitheta, wie: fürchterlich, schrecklich, gräßlich, abscheulich, schauderhaft u. dgl. so zu sagen zu unserm täglichen Brot gehörten, und wir uns bei solchen Bekräftigungen noch nicht einmal etwas dachten.

Mir war später wohl schon einmal gelegentlich ein Zweifel darüber aufgestiegen, ob diese, alles richtige Maß übersteigenden Beiwörter auch wohl immer an ihrem Platze seien, aber weiter kam es nicht, ich gebrauchte dieselben nach wie vor.

Pastor Rollmann hat mir nun das Verkehrte und Lächerliche dieser übertriebenen Beiwörter gezeigt und ich werde mich künftig vor dem Gebrauche derselben zu hüten suchen.

»Ein Christ«, sagte er, »sucht in allen Dingen das rechte Maß zu halten, auf dem schmalen Wege zum Himmelreich sind uns überall enge Grenzen gesteckt. Er vermeidet daher auch jede Uebertreibung, denn eine jede Uebertreibung ist eine Ueberschreitung des für uns Christen zulässigen Maßes. Die übertriebenen Beiwörter, von deren Gebrauch sich leider das weibliche Geschlecht nur schwer lossagen kann, sind ebenso unschön, als unwahr. Dies zu beweisen, genügen wenige Beispiele. Wenn ich z. B. bei einer Kälte von 15–16 Grad Réaumur sage: es ist heute furchtbar kalt, so hat das Beiwort »furchtbar« hier seine Berechtigung, denn ein so hoher, ungewohnter Kältegrad kann leicht der Gesundheit und dem Leben jeglicher Creatur gefährlich werden und wird daher nicht mit Unrecht als »furchterregend, furchtbar« bezeichnet. Sagt aber jemand bei einer Wärme von 15–16 Grad, weil er sich vielleicht durch Anstrengung oder zu rasches Gehen erhitzt hat: »es ist heute furchtbar heiß«, so beruht das auf einem Irrthume und ist einfach nicht wahr. Der Ausdruck »furchtbar« ist hier also nicht statthaft. Und weiter: sage ich von einem Sturme, der Bäume knickt und Ziegel von den Dächern wirft, er ist schrecklich, so ist dieser Ausdruck hier am rechten Platze; wird aber gesagt: »ich freue mich schrecklich; ich mag das und das schrecklich gern«, so liegt es auf der Hand, daß eine solche Ausdrucksweise widersinnig, abgeschmackt und daher unschön ist.

»Seid mäßig und nüchtern«, dieses Wort des Apostels Paulus möchte ich allen denen insonderheit zurufen, die dem Gebrauche der übertriebenen, fratzenhaften Beiwörter huldigen. »Eure Rede sei ja, ja, nein, nein«, also einfach, schlicht, in sich selbst genügend, jede überflüssige, übertriebene Ausschmückung und Bekräftigung verschmähend.« –

Nicht wahr? liebste Elsbeth, auch Du mußt Pastor Rollmann Recht geben, und wir beide wollen von jetzt an darauf Bedacht nehmen, unsere Rede von jeder unschönen und unwahren Ausschmückung rein zu halten. –

Vor ungefähr acht Tagen war die Familie v. Strahlenau auf einen ganzen Tag hier zum Besuch. Diese Besuchstage werden mir immer recht sauer, denn Fräulein Georgine scheint ein besonderes Vergnügen darin zu finden, mir etwas Unangenehmes zu sagen und mich so recht von oben herab zu behandeln.

Auf eine besondere Einladung seines Vaters war auch der Regierungs-Assessor gekommen. Wie ich aus gelegentlichen Aeußerungen entnommen, war es der Wunsch des Herrn von Hallendorf, daß sein Sohn sich an diesem Tage mit Fräulein Georgine verloben möchte. Der junge Herr von Hallendorf scheint aber zu einer Verlobung noch keine Lust zu haben, wenigstens ist an diesem Tage nichts daraus geworden. Er war den ganzen Tag sehr zerstreut und in sich gekehrt; er sagte, er habe Kopfweh, und sprach wenig. Er ging viel allein im Garten spazieren. Fräulein Georgine schien sein Benehmen wenig zu gefallen, sie war auch gegen ihn sehr spitz und kurz angebunden. Einmal, es war gegen Abend, begegnete mir der Assessor auf der Treppe, er blieb stehen, trocknete sich den Schweiß von der Stirn und sagte: »Fräulein Maria« – es war dies das erste Mal, daß er mich so anredete, er sagt sonst immer Fräulein Reimar – »finden Sie es heute nicht sehr drückend und schwül? Ich glaube, es ist ein Gewitter im Anzuge, ich wollte, es wäre erst vorüber, dann wird es besser werden.«

Diese unerwartete Anrede verwirrte mich und ich sagte: »Ja, ich glaube, es ist heute recht heiß.«

Da sah er mich mit seinen großen, dunkeln Augen eigenthümlich an und sprang in wenigen Sätzen die Treppe hinunter. Gleich darauf hörte ich ihn im Saale sehr munter reden und lachen. Ich stieg die Treppe hinauf und ging in mein Zimmer. Hier fiel es mir ein, daß wir eigentlich recht dummes Zeug geschwatzt hatten, denn es war weder heiß, noch war ein Gewitter im Anzuge. Ich mußte lächeln, aber ich glaube, auf der Treppe sind wir beide von der Richtigkeit unserer Aeußerungen überzeugt gewesen.

Den nächsten Brief, meine liebe Elsbeth, erhältst Du vielleicht schon von Norderney, denn wir gedenken Ende dieses Monats hinzugehen. Vorher aber rechne ich auf einen Brief von Dir.

Es küßt Dich in herzlicher Liebe

Deine Maria.

21. Brief.
Elsbeth an Maria

H......., den 29. Juli 18..

Meine liebe Maria!

Endlich kann ich ein Stündchen der Ruhe erübrigen, um einmal wieder mit Dir zu plaudern! Es ist lange her, seit Du den letzten Brief von mir erhalten; damals waren wir noch in unserer alten Wohnung. Jetzt haben wir den Umzug mit seiner Unruhe und Arbeit hinter uns und sind in unserer neuen Wohnung schon so ziemlich eingerichtet. Sie ist allerdings sehr klein und eng, drei Treppen hoch! Aber ich habe alles recht behaglich eingerichtet, daher sieht es doch nicht unfreundlich und kahl bei uns aus. An den Fenstern stehen blühende Blumen und zwischen den Bildern an der Wand rankt sich ein Epheu.

Bergmanns sind aus dem Bade zurück. Ich gehe zu ihnen, so oft ich kann. Ich habe aber sehr viel in unserm kleinen Haushalte zu thun. Mutters Befinden verschlimmert sich zusehends; sie nimmt nicht den geringsten Antheil mehr am Leben; die Ereignisse der letzten Zeit sind ganz aus ihrem Gedächtnisse geschwunden. Hoffnung zur Besserung ist nicht vorhanden.

Ich habe alles dem Herrn anheimgestellt. Er, der mir diese Leidensschule geschickt hat, wird mir auch hindurch helfen.

Wie würdest Du Dich wundern, wenn Du mich in unserer jetzigen Wohnung wiedersähest! Sah man mich in früherer Zeit nur in schöner, eleganter Toilette – jetzt arbeite und wirthschafte ich im Hause wie ein Dienstmädchen. Es wird mir oft recht sauer. Die niederen Hausarbeiten, Waschen, Scheuern und dgl., waren mir in der ersten Zeit so unangenehm, daß ich mich geradezu schämte, wenn mich Fremde dabei überraschten. Dieses thörichte Gefühl habe ich nach einem Gespräche, welches ich mit meiner lieben Frau Bergmann darüber gehabt, ganz überwunden.

Deine Gespräche mit Pastor Rollmann sind sehr interessant. Ich habe sie bei Bergmanns vorgelesen, es wird Dir hoffentlich nicht unangenehm sein. Pastor Rollmanns Auffassung des Begriffes »Bildung« gefiel besonders Frau Bergmann sehr. Erlaubst Du wohl, meine liebe Maria, daß ich meinen lieben Freunden auch Dein Haidemärchen einmal vorlese? Du würdest mich sehr erfreuen, wenn Du mir in einem Deiner nächsten Briefe wieder etwas der Art schicken wolltest.

Den Geschmack an Romanen habe ich jetzt ganz verloren. Ich finde sie so fade und abgeschmackt. Das Leben selbst ist doch ganz anders, als es meist in den Büchern beschrieben wird. Ich lese nur, wozu Frau Bergmann mir räth. Sie hat mir neulich ein schönes Buch geschenkt: »Die Nachfolge Christi von Thomas a Kempis.« In diesem Buche lese ich täglich ein Capitel. Ich finde es unbeschreiblich schön. Aber ach! was mich sehr traurig macht, ist, daß ich noch so weit davon entfernt bin, ein wirkliches Gotteskind zu sein! Das Wollen habe ich wohl – aber das Vollbringen! Lieber Gott, gieb mir Deinen Geist, daß Er mein Thun und Denken leite!

Mit vielen Grüßen bin ich

Deine
Elsbeth.

22. Brief.
Maria an Elsbeth

Norderney, den 21. August 18..

Meine geliebte Elsbeth!

Es ist nicht ohne ein Gefühl der Beschämung, daß ich mich diesmal zum Schreiben an Dich niedersetze. Was Du wohl von mir denkst, daß ich Dich so lange ohne ein Wort der Liebe und des treuen Gedenkens lassen konnte! Als wir unsere Reise hierher antraten, nahm ich mir vor, Dir gleich nach unserer Ankunft zu schreiben. Aber es ist mir wunderbar ergangen; ich glaube, je mehr Zeit man hat, desto schwerer kommt man zu einer bestimmten Arbeit und – daß ich es nur gestehe – desto weniger Lust hat man auch zur Arbeit. In Breitenstein habe ich trotz der Unterrichtsstunden viele Zeit und große Lust zu allen möglichen Arbeiten und hier, wo ich nichts, gar nichts zu thun habe, habe ich zu nichts Zeit und Lust, als müssig am Strande zu wandeln oder auf einer Düne zu sitzen und träumerisch dem Spiel der Wogen zuzuschauen. Aber prächtig, ganz prächtig ist ein solches Leben, wenigstens für einige Wochen, und ich werde Zeit meines Lebens mit Entzücken und Dankbarkeit an diese Wochen zurückdenken.

Dein letzter Brief, meine geliebte Elsbeth, hat mich sehr erfreut und beruhigt; der Ton, in welchem er geschrieben, war mir so sympathisch. Mich dünkt, Dein Brief athmet schon so etwas von dem Frieden und der Freude der Kinder Gottes.

Welch' eine Freundin hat doch der Herr Dir in Frau Bergmann geschenkt! eine wahrhaft mütterliche Freundin! – Ihre kleine Schrift: »Des Christen Tagewerk ein Gottesdienst« habe ich mit großem Interesse und großer Freude gelesen. Liebste Elsbeth, was wird diese Frau Dir sein können! Gott segne sie und ihr Thun an Dir! –

Du denkst gewiß, meine Elsbeth, ich habe Dir heute ganz außerordentlich viel zu erzählen und nach des alten Matthias Claudius: »Wenn jemand eine Reise thut, so kann er was erzählen«, müßte ich's ja auch haben, aber ich fürchte, Du wirst Dich in Deinen Erwartungen getäuscht finden, denn äußerlich Erlebtes habe ich nur sehr wenig mitzutheilen.

Unsere Reise auf der Eisenbahn ging schnell, glücklich, ohne einen besondern Zwischenfall von Statten. In der Wirklichkeit war eine solche Reise gewiß die angenehmste! in der Erinnerung aber, jetzt, da ich sie beschreiben will, wünsche ich fast, ich möchte irgend ein kleines, nicht gerade grausiges, aber doch interessantes Abenteuer erlebt haben. Aber was ist zu thun? Haben wir uns in der Wirklichkeit ohne ein solches Abenteuer behelfen müssen, so kann ich es am Ende in meiner Reisebeschreibung auch. Mitten im Geräusch und Gewühl des Eisenbahntreibens saßen wir in unserm Coupé so unangefochten und gemüthlich, wie daheim in unsern Zimmern. Die vier Kinder lachten, plauderten und spielten zusammen nach Herzenslust, wir drei Erwachsenen unterhielten uns auf unsere Weise. Herr von Rautenberg lehnte gewöhnlich mit geschlossenen Augen in seiner Coupé-Ecke, Frau von Rautenberg und ich sprachen zusammen, lasen auch wohl zur Abwechselung oder gaben unsern Gedanken stille Audienz.

So langten wir in Bremerhaven an. Die Ueberfahrt geschah bei so klarem, stillen Wasser, daß kein Mensch auch nur daran denken konnte, seekrank zu werden. In der Wirklichkeit war eine solche Ueberfahrt gewiß wiederum die angenehmste, in der Beschreibung aber, ich gestehe es, nimmt sie sich etwas kahl aus.

In Norderney angelangt, hatten wir weiter nichts zu thun, als uns in die für uns gemiethete Wohnung zu begeben und uns einzurichten.

Das Leben, welches wir hier führen, ist ein sehr stilles, gleichförmiges, aber man befindet sich unaussprechlich wohl dabei. Uns ist so wohlig, wie dem Fisch im Wasser. Baden und Luft genießen, das sind die beiden Angelpunkte, um die sich unser Leben und Denken hier dreht.

Liebste Elsbeth, ich wollte, ich könnte Dich herzaubern! Ich glaube, auch Dir würde unser Leben hier ausnehmend gut gefallen.

Das Meer in seinem beständigen und doch so wechselvollen Einerlei ist noch viel großartiger und schöner, als ich es mir gedacht. Ich liebe es sehr, aber beschreiben kann ich es nicht.

Ein Ereigniß habe ich Dir aber doch mitzutheilen. Denke Dir, der junge Herr von Hallendorf ist hier!

Ungefähr acht Tage nach unserer Ankunft, als wir Nachmittags gewohnter Weise »vor unserer Hütte«, wie Herr von Rautenberg sagt, Kaffee tranken, stand plötzlich ganz unerwartet der Regierungs-Assessor vor uns; d. h. für mich unerwartet, denn ich glaube, seine Schwester hat um sein Kommen gewußt.

Er begrüßte uns strahlenden Auges und sagte lachend: »Da bin ich glücklich auf ein paar Wochen dem Actenstaube entronnen! Papa suchte mich noch bis zuletzt zu bereden, meine Ferien in Breitenstein zu verleben. Die Luft sei dort so schön, wie ich sie nirgends besser finden könne, sagte er. Das gebe ich zu; die Luft und alles dort ist schön, und ich liebe den Sitz meiner Väter sehr, aber der Arzt hat mir meiner Kopfschmerzen wegen Seebäder verordnet, und so muß ich sie doch auch nehmen, nicht wahr, Schwester?«

Und dabei umarmte er seine Schwester so nachdrücklich, daß dieselbe einen leisen Schrei ausstieß und sagte: »Aber Friedrich, Du denkst wohl, daß ich mich hier in der stärkenden Seeluft bereits in ein gefühlloses Seeungeheuer verwandelt habe! Mit dem zarten Geschlechte muß man, wie Du weißt, immer zart umgehen, auch wenn's die eigene Schwester ist.«

»Ach ja«, seufzte der Assessor mit komischem Ernste, »ich hatte es wirklich ganz vergessen, daß man mit Euch Frauen so über alle Maßen zart verfahren muß. Doch, liebe Schwester, ich will mich hier in der Zartheit üben und Dir Gelegenheit geben, meine Fortschritte in derselben beobachten zu können.«

Von nun an begann insoweit für uns ein neues Leben, als der Assessor, der in einem Nachbarhause ein Unterkommen gefunden, fast immer mit uns zusammen ist. Du glaubst nicht, liebste Elsbeth, wie fröhlich und gemüthlich er sein kann! Seine Erzählungen und Scherze heitern selbst Herrn von Rautenberg so auf, daß er, wie er sagt, seine Schmerzen oft stundenlang vergißt.

Ach, Elsbeth, ich habe nie gedacht, daß das Leben so schön sein könnte! Wenn ich zurück denke, wie ganz anders ist es mit mir im Laufe des letzten Jahres geworden! Es ist mir, als finge ich erst jetzt zu leben an.

Meine Kindheit war gewiß eine glückliche; wie hätte ich an der Seite meiner engelguten Mama auch anders als glücklich sein können! Es fehlte meinem Leben weder an Blumen noch an Sonnenschein. Aber es lag bei alledem doch ein schwerer Ernst auf unserm Leben, der Ernst der Arbeit und der Armuth!

Dann kam die letzte Krankheit und der Heimgang meines unvergeßlichen Mütterchens; ich stand allein in der weiten Welt, ohne nähere Verwandte, ohne Heimath. Ich hielt mich an Gottes Wort, das ließ mich nicht sinken, aber das Leben erschien mir unsäglich öde. Ich sah keine Blume an meinem Wege blühen und kein Sonnenstrahl erhellte meinen Pfad.

Dann kam ich nach Breitenstein. Ich erhielt ein Arbeitsfeld und mußte alle Kräfte anspannen, um mich in meine neuen Pflichten hineinzuleben. Das gab meiner Seele einen gewissen Aufschwung und auch gewissermaßen Befriedigung, aber glücklich konnte ich mich nicht fühlen, dazu war mir alles innerlich und äußerlich zu neu und zu fremd.

Allmälig wurde mir meine Umgebung vertrauter; ich trat zu einigen Menschen in eine nähere Beziehung; es sproßten, sozusagen, einzelne Blumen an meinem Lebenswege auf; der Nebel über mir zertheilte sich und ich sah das lichte Blau des Himmels hindurchschimmern.

Die Reise nach Kronsdorf – obschon mitten im kalten Winter – ließ mir eine Menge Blumen erblühen und die Sonne sendete einzelne volle, warme Strahlen in mein Herz. Die Freundschaft meiner lieben Frau von Rautenberg hat meinem Leben einen ganz neuen, bis dahin ungeahnten Reiz gegeben.

Auch die übrigen Familienglieder kamen mir jetzt freundlicher, theilnehmender entgegen. Man zeigte mir, daß man mich gern habe und mit meinen Leistungen zufrieden sei. Das liebe Pfarrhaus wurde mir beinahe eine zweite Heimath. Mein Leben gestaltete sich immer freundlicher und lichter.

Und nun die Reise hierher! Ja, hier am kahlen Meeresstrande ist es mir, als wandelte ich auf lauter Blumen, als blühete die Welt rings um mich her in einer nie gesehenen Frühlingspracht, und die Sonne hat noch nie so warm und lachend auf mich hernieder geblickt, wie hier in Norderney.

O Elsbeth, Du glaubst nicht, wie wohl und glücklich ich mich hier fühle! Es sind die ersten längeren Ferien, die ich genieße, seitdem ich die Laufbahn einer Erzieherin betreten; es ist köstlich, sich einmal so ganz frei von Pflichten zu wissen! Die Seebäder stärken und erquicken mich fühlbar, und die herrliche Seeluft athme ich mit wahrer Wonne ein. Mein Aussehen muß meinem Wohlbefinden entsprechen, denn gestern sagte Frau von Rautenberg zu mir: »Liebste Maria, Sie werden hier ja mit jedem Tage rosiger und blühender aussehend; es ist ordentlich ein Vergnügen, dies zu beobachten. Ich wollte, wir alle hätten einen so glücklichen Erfolg unserer Kur zu notiren.«

Aber die Kur ist's nicht allein; für mich kommt auch, und ich glaube, das ganz besonders, der zwanglose, heitere Verkehr mit den lieben Menschen hinzu. Das ist's, was mich so froh und glücklich und daher so wohl und gesund macht.

Der Assessor ist fast immer mit uns zusammen. Und er ist hier ganz so, wie in Kronsdorf.

Herr von Rautenberg kann an unsern weiteren Spaziergängen nicht theilnehmen; er läßt sich gewöhnlich von seinem Diener in einem Rollstuhle fahren oder am Ufer langsam auf und ab führen. Unsere vier Kinder laufen dann vor uns auf. Sie machen es wie die Hündlein, d. h. sie machen im fröhlichen Hin- und Herjagen den Weg drei- bis viermal, den wir »Alten« gemessenen Schrittes nur einmal zurücklegen.

Geben die Kinder der Fröhlichkeit ihres Herzens durch besonders muntere Bewegung ihrer Beine den entsprechenden Ausdruck, so beurkunden wir »Alten« dieselbe Seelenstimmung durch heiteres, zwangloses Plaudern und Lachen.

Gewöhnlich führen wir nur fröhliche, heitere Gespräche, wie sie so ganz zu unserm augenblicklichen sorgenfreien, nur auf Wohlbefinden Bedacht nehmenden Leben passen; und der Assessor ist dann wahrhaft unerschöpflich in Scherzen, Witzen und Anekdoten. Wir kommen oft stundenlang nicht aus dem Lachen heraus. Er behauptet, viel Lachen sei ihm durchaus nothwendig, um den in seiner Lunge angehäuften Actenstaub einmal gründlich zu beseitigen, und seiner Schwester und mir sei das Lachen ebenfalls sehr bekömmlich. Ich glaube, auf ganz Norderney giebt es keine vergnügtere Menschen als wir sind.

Zuweilen aber haben wir auch ernste, tiefe Gespräche. Dann sprechen wir über die höchsten, heiligsten Interessen, die es für uns Christen giebt. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber es macht sich ganz von selbst, daß ich dann fast ausschließlich allein rede: der Assessor hört dann zu; aber er hört auch wirklich zu und ermuntert mich durch gelegentliche Fragen und kurze Bemerkungen zum Weiterreden.

Wie er eigentlich zu diesen unsern höchsten Interessen steht, habe ich noch nicht genau erfahren können; keineswegs aber gehört er zu denen, die durch Spott und Verachtung das Wort Gottes zu bekämpfen suchen. Ich glaube, er steht ungefähr so, wie auch seine Schwester früher stand; er hört nicht ungern von den hohen, ewigen Dingen reden, aber dieselben sind ihm noch ziemlich unbekannt.

Neulich sah er in unserer Wohnung mein Schatzkästlein von Bogatzky, in welchem ich alle für mich besonders bedeutsamen Stellen angestrichen habe, liegen. Er nahm das Buch, blätterte darin und sagte: »Darf ich es mitnehmen? ich möchte Ihren alten Freund Bogatzky, von dem Sie zuweilen sprechen, gern näher kennen lernen.« Als er mir das Schatzkästlein nach einigen Tagen wiederbrachte, sagte er: »Es ist ein schönes Buch, das werde ich mir auch kaufen.« – Gern hätte ich ihm das meinige geschenkt, ich wagte es aber nicht.

Doch da habe ich Dir lange vorgeplaudert, das verdankst Du einem gründlichen Regentage, der uns am Ausgehen verhindert. Jetzt aber will ich schließen, sonst möchtest Du Dich versucht fühlen, mich schon jetzt in die Kategorie der schwatzhaften alten Jungfern zu setzen.

Deinen nächsten Brief adressire nach Breitenstein, denn in vierzehn Tagen werden wir wieder dort sein. Ich fürchte mich ordentlich vor dem Abschied von hier.

Leb' wohl!

In Liebe und Treue
Deine
Maria.

23. Brief.
Elsbeth an Maria

H......., den 10. Septbr. 18..

Meine liebe Maria!

Von Herzen freue ich mich, daß es Dir so wohl geht und Du Dich jetzt so glücklich fühlst. Es muß wunderschön auf Norderney gewesen sein. Wie gern wäre ich, wenn auch nur auf einen Tag, zu Dir geeilt, um mit Dir zu genießen. Aber mein Leben ist fortan an die Krankenstube gebunden. Mutters Krankheit macht Fortschritte, es ist kein Zweifel mehr, sie leidet an Gehirnerweichung.

Ich habe mich an das stille, arbeitsvolle Leben jetzt gewöhnt. Die Hausarbeiten, die mir in der ersten Zeit so viel zu schaffen machten und mich manche Thräne gekostet haben, gehen mir jetzt ziemlich leicht von der Hand. Frau Bergmann meinte neulich sogar, daß ich einmal eine recht gute Hausfrau werden würde. Du kannst Dir denken, wie stolz ich auf dieses Lob bin. Dr. Bergmann freilich schien mit diesem Ausspruche nicht zufrieden zu sein, denn er runzelte die Stirn ein wenig und sagte zu mir:

»Lassen Sie sich nicht verführen, Großes von Ihrem Thun zu halten und sich darauf etwas einzubilden, Fräulein Walter. Es heißt: Wenn ihr alles gethan habt, was euch befohlen ist, so sprechet: Wir sind unnütze Knechte; wir haben gethan, was wir zu thun schuldig waren.«

Ueber dieses Thema hat er noch lange gesprochen und mir dabei ans Herz gelegt, daß ich gerade es jetzt besonders ernst mit meinen Pflichten zu nehmen habe, da eine große Verantwortlichkeit auf mir ruhe.

Sage mir, liebste Maria, ist es nicht wunderbar, daß dieser Mann, der eigentlich doch noch recht jung ist, sich gegen mich so benimmt, als wäre er mein Vater, der mich erziehen müßte? Ich kann nicht leugnen, daß ich mich zuweilen ganz in der Stille darüber etwas ärgere. Freilich thue ich sehr unrecht daran, denn ich muß ihm bei allem, was er sagt, Recht geben.

Was das Einbilden betrifft, so habe ich nach dem erzählten Gespräche mir selbst darüber Rechenschaft abgelegt und gefunden, daß ich auf dem Wege gewesen bin, wirklich Großes von mir und meinem Thun zu denken. Ich habe Gott recht inbrünstig um Seinen Beistand gebeten. Es ist doch sehr schwer, sich von Eitelkeit rein zu halten.

Mein Bruder Heinrich ist wieder zu uns zurückgekehrt. Ich habe mir vorgenommen, alle meine Kräfte daran zu setzen, ihn zu erziehen – Gott wird mir dabei helfen! Bis jetzt ist es recht gut gegangen. Die kurze Zeit, welche er in der Erziehungsanstalt verlebt hat, scheint nicht ohne Einfluß auf ihn geblieben zu sein – er ist weit fügsamer als früher. Ich beschäftige mich so viel ich kann mit ihm und habe zu meiner Freude, aber auch zu meiner Beschämung entdeckt, daß sein Gemüth sehr empfänglich für Liebe ist.

Und ich meinte, meine Brüder seien roh und gefühllos und hielt sie deshalb meiner Liebe und Zuneigung gar nicht werth. Gewiß war ich in einem schweren Irrthume befangen. Wer weiß, ob nicht selbst Georg ein anderer Mensch geworden sein würde, wenn er mit der richtigen Liebe behandelt wäre. Ich erkenne immer deutlicher wie viel ich versäumt und dadurch gesündigt habe. Mein ganzes vergangenes Leben ist nichts als Schuld und Sünde.

O Maria, ich hoffe zu Gott, daß Heinrich ein guter ordentlicher Mensch wird. –

Bergmanns stehen mir, wie in allen Stücken, auch bei Heinrichs Erziehung treulich zur Seite. Dr. Bergmann führt die Aufsicht über seine Schularbeiten und nimmt ihn zuweilen auf seine Touren über Land mit. Frau Bergmann hat sein ganzes Herz gewonnen durch ihre Freundlichkeit; und alles, was sie ihm sagt, macht daher Eindruck auf ihn.

Wenn ich Bergmanns nicht hätte, wie traurig würde es dann mit uns stehen! Gewiß – Gott hat mich nicht verlassen, so hart Er mich auch züchtigt. Zu meiner Stütze und zu meinem Troste hat Er mir diese vortrefflichen Menschen zugeführt. Dafür kann ich niemals dankbar genug sein.

Mit treuer Liebe

Deine
Elsbeth.

24. Brief.
Maria an Elsbeth

Breitenstein, 24. Septbr. 18..

Da bin ich wieder in meiner Stube zu Breitenstein und sitze an meinem gewohnten Platze am Schreibtische. Meine Bücher auf demselben schauen grüßend zu mir hernieder, und meine ganze Umgebung muthet mich heimathlich und wohnlich an, und doch will es meinem innern Menschen noch nicht wieder so recht wohl und behaglich hier werden; er lebt noch ganz in der jüngsten Vergangenheit und muß sich erst allmälig wieder in die Gegenwart hinein finden.

Der Uebergang von den goldenen Tagen der Freiheit zum straffen Alltagsleben ist gerade nicht sehr schmackhaft. Indessen, was thut's? Es ist eben ein Uebergang und wird bald vorüber gehen. Und konnte sich der Fuchs in der Fabel mit dieser Vorstellung trösten, als ihm das Fell über die Ohren gezogen wurde, so kann ich's am Ende in meinem Falle auch. – Jetzt heißt es wieder »ordinair marschiren!« Ja, das will ich auch; ich will es gern und freudig und mit dankerfülltem Herzen thun.

Wird mir der Uebergang von dem ungebundenen, müssigen Badeleben zurück in's alltägliche Arbeitsjoch schwer, so wird er meinen beiden kleinen Mädchen noch viel schwerer. Die sind in diesen Wochen der Freiheit rein aus Rand und Band gekommen. Wir müssen bei dem ABC alles Unterrichtes wieder anfangen, d. h. sie müssen erst wieder das Stillsitzen lernen. Dieses ABC wird ihnen ganz unsäglich sauer und macht mir nicht geringe Noth. Gestern, als meine Geduld nahezu erschöpft war, nahm ich mir vor, ihnen eine Strafrede aus dem FF zu halten. Ich begann daher im strengen Ton und mit entsprechendem Mienenspiel: »Aber Kinder!« – Aber da war mir's, als äffe mich ein neckischer Kobold und raune mir mit grinsendem Gesicht in's Ohr: »Aber was willst du denn eigentlich? Das Stillsitzen wird Dir augenblicklich ja ebenso schwer, wie den Kindern, nur mit dem Unterschiede, daß Du Dein Ungemach mit etwas mehr äußerm Anstande trägst.«

Diese Wahrheit entwaffnete meinen Zorn, und ich sagte, indem ich von der Dur- in eine Moll-Tonart überleitete: »Liebe Kinder, es ist wahr, das Stillsitzen in der Stubenluft wird uns allen dreien augenblicklich herzlich sauer, aber wir müssen es wieder lernen, und deshalb laßt uns mit Fritz Reuter sprechen: »»Dat is sihr ärgerlich, indessen doch – denn helpt dat nich.«« Und nun frisch daran und versucht, was ihr im Stillsitzen zu leisten vermögt.«

Während ich gesprochen, muß ein guter Geist ihnen etwas nachdrücklich in die Seele geredet haben – meine kurze Rede konnte es unmöglich bewirken – aber sie gaben sich von da an Mühe, stillzusitzen – und heute geht es wirklich schon besser.

Mit dem Gelernten sieht es augenblicklich auch bedenklich aus. Die frische Seeluft scheint alles Wissen, das wir im Laufe eines Jahres mühsam eingesammelt und sorgfältig aufgespeichert hatten, aus ihrem Gedächtniß rein ausgefegt zu haben. Aber auch hier werde ich wohl am besten thun, mit Salomo zu denken: »Wer geduldig ist, der ist ein kluger Mensch«, und demgemäß alles unermüdlich zu repetiren.

Liebste Elsbeth, die Laufbahn einer Erzieherin ist nicht ohne Dornen, das empfinde ich jetzt, aber wenn's wahr ist, was Rückert singt: »Daß Du die Rose hast, das merkst Du erst am Dorn«, so müssen mir ja auch Rosen auf diesem Pfade erblühen, wenn ich die Dornen bereits fühle, und das soll mich vorläufig trösten.

Für Deinen Brief, liebste Elsbeth, danke ich Dir herzlich. Mein Verlangen, von Dir zu hören, war groß. In Gedanken bin ich viel, viel bei Dir. Gott sei Dank, daß Du so weit bist! Der Zustand Deiner armen Mutter ist ein sehr trauriger und wird Dir wohl noch manche schwere Stunde bereiten, aber ich glaube doch, liebste Elsbeth, daß Dein Weg nicht noch mehr in die Tiefe, sondern nun allmälig wieder in die Höhe gehen wird. Auch Dir werden noch Blumen erblühen, und auch auf Deinen Pfad wird die Sonne noch warm und hell scheinen. Der Herr führt die Seinen eben wunderlich.

»Mein Gott und Vater führe mich
Nur selig, wenn gleich wunderlich!«

Apropos, was macht Dein Myrthenbäumchen? Das meinige wächst und gedeiht, daß es eine Lust ist. Ich habe eine große Freude an dem Bäumchen.

Rautenberg's und der junge Herr von Hallendorf blieben nach unserer Rückkehr nur noch zwei Tage hier. Der Abschied von meiner lieben Frau von Rautenberg ist mir sehr schwer geworden. Sie wünscht, daß ich im Laufe des Winters wieder auf einige Wochen mit Hedwig und Elisabeth nach Kronsdorf komme. Wir alle drei freuen uns schon jetzt auf diese Reise.

Vor einigen Tagen begegnete mir Pastor Rollmann, als ich mit Hedwig und Elisabeth spazieren ging. Er begleitete uns eine Strecke Wegs; die Kinder liefen vorauf und Hedwig riß im Vorübergehen, ihrer Gewohnheit nach, Blätter von den Büschen, zerpflückte dieselben und warf sie fort.

Als Pastor Rollmann das sah, sagte er zu mir: »Sie dürfen es nie leiden, daß die Kinder, welche Ihrer Erziehung anvertraut sind, sich so gedankenlos an Gottes Schöpfung versündigen.«

Ich verstand nicht gleich, was er hiermit sagen wollte, und sah ihn daher, glaube ich, fragend an.

Er fuhr fort: »Wenn jemand muthwillig oder achtlos ein Kunstwerk, von Menschenhand gemacht, zerstört, so bezeichnen wir das mit Recht als Barbarei und das Gesetz betrachtet unter Umständen ein solches Verfahren als strafwürdig. Alle Schöpfungen unsers Gottes sind Kunstwerke, Meisterwerke, wie nur die Hand des Allmächtigen sie zu verfertigen versteht. Leider hat die Gewohnheit uns abgestumpft gegen den Eindruck, den die Meisterwerke unsers Gottes allezeit auf uns hervorbringen sollten. Betrachten Sie einmal irgend ein Blatt oder ein unscheinbares Blümchen genau. Jedes ist in seiner Art ein vollendetes Kunstwerk, in welchem der Schöpfer nach Seiner Allmacht, Weisheit und Liebe zu uns redet. Es ist, als hätte Gott zu jeder einzelnen, noch so kleinen und unscheinbaren Schöpfung Seinen ganzen Schönheitssinn, all' Seine Erfindungskraft gebraucht; ja noch mehr, als hätte Er in jedes einzelne kleine Werk Seine ganze Liebe hineingelegt. Man sieht es jedem Blatte und jedem Blümchen an, es ist dem Herrn eine Freude gewesen, sie gerade so und nicht anders zu schaffen, uns zur Freude. Und deshalb hat Er uns auch mit dem erforderlichen Schönheitssinn begabt, um Ihn in jedem einzelnen Seiner Werke verstehen und bewundern zu können, und im Anschauen dieser Werke einen Abglanz Seiner Schöpferfreude in unserm Herzen zu empfinden; welcher Abglanz dann in uns zur Anbetung wird.

Ist es nicht, als spräche der Herr durch jedes Blümchen, dessen Duft uns erquickt und dessen Farbe unser Auge erfreut, zu uns: »Ich liebe Dich!« Und welche Antwort erhält der Herr auf solchen Gruß von den meisten Menschen? Wir müssen uns schon schämen, wenn wir einen solchen Liebesgruß hinnehmen können, ohne ein: »Herr, ich preise Dich!« dafür im Herzen zu haben, wenn wir aber gar die Handschrift, die uns Seine Liebe und Freundlichkeit vor die Augen malt, achtlos, geringschätzig zerreißen, sagen Sie selbst, zeugt das nicht von einem Mangel an innerer Zartheit und an Fähigkeit, die äußeren Dinge in ihrem höhern Zusammenhange, in ihrem Zusammenhange mit Gott, aufzufassen und zu würdigen?«

Ich muß gestehen, mir ging durch diese Auseinandersetzung ein ganz neuer Gesichtspunkt auf. Alles was Pastor Rollmann gesagt, war so einfach und wahr, und doch wäre ich, glaube ich, von selbst nicht zu dieser Auffassung gekommen. Ich danke ihm von Herzen für diese neue Bereicherung meines innern Lebens.

Meinen kleinen Mädchen habe ich die Sache auch begreiflich zu machen gesucht und zu meiner Freude hat diese Auffassung auch in ihren Herzen einen Widerhall gefunden.

In Deinem vorletzten Briefe batest Du mich, liebste Elsbeth, Dir einmal wieder etwas von mir Geschriebenes zu senden. Es ist mir eine große Freude, daß Du meine Geistesproducte lesen magst, und ich sende Dir daher mit Vergnügen heute eine kleine Abhandlung über unsere deutschen Sprichwörter, welche ich für meine Kinder niedergeschrieben habe, und die sich auf ein längeres Gespräch, das ich schon vor unserer Norderneyer Reise mit Pastor Rollmann über diesen Gegenstand hatte, gründet.

Wenn Du den kleinen Aufsatz Frau Bergmann zeigen willst, so ist es mir recht, es wird mir sogar sehr lieb sein, das Urtheil dieser Frau über denselben zu hören.

Für heute Gott befohlen!

Treu
Deine Maria.

Deutsche Sprichwörter und kurze Kernsprüche.

Unsere deutsche Sprache ist, wie keine andere, reich an schönen sinnigen Sprichwörtern. Unser deutsches Volk hat es von jeher geliebt, die Lehren und Wahrheiten der heiligen Schrift, sowie auch die Erfahrungen des eigenen Herzens und Lebens in kurze, kernige, sinnreiche Sprüche zusammen zu fassen. Es sind dies Sprüche voll christlicher Weisheit, und der welcher sie sammelt und bewahrt in seinem Gedächtnisse und Herzen, führt einen guten Schatz mit sich, ohne daß ihm derselbe beschwerlich würde, wie eines dieser Sprichwörter selbst bezeugt: »An guter Lehr' trägt keiner schwer.«

Ein gutes treffendes Sprichwort, das uns zur rechten Zeit einfällt, erspart uns oft viel Grübeln und Nachdenken und weiset uns schnell den rechten Weg.

Die meisten Sprichwörter, wie sie noch heute unter uns umgehen, sind sehr alt, manche viele, viele hundert Jahre.

Die eigentlichen Sprichwörter haben das mit den echten Volksliedern gemein, daß man nicht weiß, wer sie gemacht hat; aber sicherlich sind die meisten aus einem frommen, echt deutschen Sinne entstanden.

Solche schöne, echt christliche und echt deutsche Sprichwörter sind z. B.:

» Heute roth, morgen todt.« Das sind nur vier kleine Wörter und doch könnte uns eine lange Predigt die Vergänglichkeit und Nichtigkeit alles Irdischen nicht eindringlicher und ergreifender darstellen, als es dieses kurze Sprichwort thut. – Ferner:

»An Gottes Segen
Ist alles gelegen.« –

»Friede ernährt, Unfriede verzehrt.« –

»Müssiggang ist aller Laster Anfang.« –

»Es ist nichts so fein gesponnen,
Es kommt doch endlich an die Sonnen.« –

»Wenn die Noth am größten,
Ist Gottes Hülfe am nächsten.« –

»Vorbei an der Kirch' und dem Schulhaus
Geht der kürzeste Weg in's Zuchthaus.« –

»Anfang und Ende
Steh'n beide in Gottes Hände.« –

»Morgenstunde hat Gold im Munde.« –

»Noth lehrt beten.« –

»Bete und arbeite.« –

»Wohl gebetet ist halb studirt.« –

»Wie man liest in der Bibel,
So wächst des Hauses Giebel.«

»Ein jeder kehr' vor seiner Thür,
Er find't wohl Koth genug dafür.« –

»Vorgethan, hernach bedacht,
Hat manchen in groß Leid gebracht.« –

u.s.w. u.s.w.

Leider sind nicht alle unsere deutschen Sprichwörter lauteres Gold; es giebt auch einige unechte, unchristliche, gottlose darunter. Diese sind denn natürlich nicht aus einem frommen, christlichen, sondern aus einem recht gottlosen Herzen entstanden und haben sich zwischen die guten Sprichwörter gestohlen, wie man auch wohl zuweilen einen falschen Thaler zwischen dem guten, echten Silbergelde findet.

Aber ebenso wie man den falschen Thaler gar bald am Klange erkennt, so unterscheidet das geübte Ohr eines Christen auch leicht diese unechten falschen Sprichwörter von den guten und echten. Die heilige Schrift, für uns evangelische Christen die allein gültige Richtschnur unseres Lebens und Glaubens, ist auch der untrügliche Prüfstein für die Echtheit und den Werth unserer Sprichwörter. Enthält ein Sprichwort etwas, das gegen die Lehren der heiligen Schrift ist, so taugt dasselbe nicht und wir müssen es als unecht und gottlos verwerfen.

Solche verwerfliche Sprichwörter sind z. B.:

» Jeder ist sich selbst der Nächste.« Das erscheint uns auf den ersten Blick sehr natürlich; ja natürlich ist es auch, aber christlich ist es nicht. In der heiligen Schrift lesen wir: »Du sollst Deinen Nächsten lieben als Dich selbst«, aber an keiner Stelle derselben steht geschrieben, daß wir zuerst an uns selbst denken sollen. Im Gleichnisse vom barmherzigen Samariter zeigt uns der Herr, wie wir solche Nächstenliebe ausüben sollen. Der Pharisäer und der Levit dachten: »Jeder ist sich selbst der Nächste« – und gingen vorüber. Der Samariter aber folgte dem Gebote des Herrn: »Du sollst Deinen Nächsten lieben als Dich selbst« – und half dem Unglücklichen.

Hätte der Herr Jesus gedacht: »Jeder ist sich selbst der Nächste«, so wäre Er wohl nie auf unsere arme Erde hernieder gekommen, uns zu erlösen vom Fluch des Gesetzes, sondern wäre in Seinem seligen Himmel zur Rechten Gottes geblieben. – Also, dieses Sprichwort taugt nicht, fort mit demselben!

» Nothlügen sind erlaubt.« Dieses Sprichwort hat, glaube ich, der Teufel, der »Vater der Lügen«, selbst gemacht, um die Menschen zu verblenden. Da muß alles Nothlüge sein. Handwerker und Kaufleute meinen, das Lügen gehöre mit zum Geschäfte, und nennen das eine Nothlüge. – Es kommt jemand uns zu besuchen, und es paßt uns nicht, ihn zu empfangen, da läßt man sagen: »man sei nicht zu Hause«, und meint, das sei eine kleine erlaubte Nothlüge. – Kinder lügen, um der verdienten Strafe zu entgehen, und glauben, das sei eine Nothlüge.

So ist am Ende jede Lüge eine Nothlüge und das Lügen überhaupt keine Sünde. Die heilige Schrift weiß nichts von einer erlaubten Nothlüge und deshalb giebt es auch keine solche. Sie macht zwischen Lügen und Lügen keinen Unterschied, sondern sagt vielmehr einfach und bestimmt: »Lüget nicht unter einander«, und: »Leget die Lügen ab und redet die Wahrheit.« – Also auch dieses Sprichwort ist schriftwidrig und daher sündlich.

» Noth kennt kein Gebot.« Dies Sprichwort ist, womöglich, noch schlimmer als das vorige; es ziehet gegen alle Gebote Gottes zu Felde und sagt mit andern Worten: »Wenn ich in Noth bin, brauche ich mich an gar kein Gebot zu kehren.« Diesem Sprichworte ist die Gottlosigkeit so deutlich an die Stirn geschrieben, daß man dasselbe gar nicht erst aus der heiligen Schrift zu widerlegen braucht.

» Einmal ist keinmal.« Auch dieses Sprichwort trägt das Lügenmal an seiner Stirn, denn kein vernünftiger Mensch wird doch wol im Ernste glauben, daß einmal keinmal sei. Einmal ist doch immer einmal, das kann auch der begreifen, der sonst kein großer Rechenmeister ist. Und was die Uebertretung der göttlichen Gebote betrifft, so ist einmal gewöhnlich schon zehn- und hundertmal. Mit der Sündenbahn geht es wie mit einem steilen Abhange. Ein Schritt gethan, und man kann gewöhnlich nicht mehr innehalten, sondern muß unaufhörlich vorwärts, schneller und immer schneller laufen, bis man in der Regel niederstürzt und dabei oft argen Schaden nimmt. Darum heißt es mit Recht: »Hüt' Dich vor dem ersten Schritte, mit ihm sind schon die andern Tritte zu einem neuen Fall gethan.«

» Mit den Wölfen muß man heulen«, will sagen, man muß sich seiner Umgebung anpassen, stets so reden und handeln, wie es unserer augenblicklichen Umgebung wohlgefällt. Befinden wir uns also einmal wider Willen in einer gottlosen Gesellschaft, wo gelästert und gespottet wird, so müßten wir, diesem Sprichworte nach, mit einstimmen in die gottlosen Reden, oder doch wenigstens, um kein Aufsehen zu erregen, stillschweigend zustimmen. Das Wort Gottes aber sagt: »Wohl dem, der nicht sitzet, da die Spötter sitzen.« Und: »Stellet euch nicht dieser Welt gleich.« Ferner: »Eure Rede sei allezeit lieblich und mit Salz gewürzet.«

Hiernach dürfen wir, gerathen wir einmal unglücklicher Weise in eine Gesellschaft, in der unchristliche Reden geführt werden, unter keiner Bedingung dieselben stillschweigend anhören, denn durch Stillschweigen würden wir dieselben gut heißen; sondern müssen entschieden Zeugniß gegen sie ablegen, und, dringen wir mit unserer Ermahnung nicht durch, d. h. unterbleiben die gottlosen Reden nicht, die Gesellschaft verlassen. Also niemals mit den Wölfen heulen. Wer mit den Wölfen heult, macht sich selbst zum Wolf und wird mit den Wölfen verdammt werden; denn Wölfe taugen nicht in das Himmelreich. Hier gilt: »Mit gegangen, mit gefangen, mit gehangen.« –

Leider machen die eben angeführten und besprochenen gottlosen Sprichwörter nicht alles Unkraut aus, das sich unter dem Weizen unserer echten, schönen Sprichwörter befindet. Doch ich überlasse es eurem eigenen gesunden Sinne, noch mehr solcher verwerflicher Sprichwörter aufzufinden und aus der heiligen Schrift zu widerlegen. –

Außer den eigentlichen Sprichwörtern, welche gleichsam von selbst entstanden, aus dem Volke herausgewachsen sind, besitzen wir nun noch eine große Menge anderer sog. Kern- oder Sinnsprüche, die sich von den eigentlichen Sprichwörtern dadurch unterscheiden, daß wir von den meisten derselben den Verfasser kennen, was, wie vorhin bemerkt worden, bei den Sprichwörtern nicht der Fall ist, und daß sie nicht so allgemein bekannt, nicht so in das Volk eingedrungen sind, wie diese. Die Sprichwörter sind Gemeingut des ganzen Volkes, wir können sie täglich auf den Gassen hören, wogegen die sog. Kern- oder Sinnsprüche wohl immer mehr das Eigenthum der Gebildeten bleiben werden.

Was sowohl den Inhalt wie auch die äußere Form betrifft, so schließen sich die Letztgenannten den Ersteren eng an; auch sie sprechen in knapper, anmuthiger, dem Gedächtnisse sich leicht einprägender Form entweder allgemein christliche Wahrheiten, oder solche Herzens- und Lebenserfahrungen aus, die allen Christen gemein sind.

Unsere deutsche Sprache besitzt einen solchen Reichthum an schönen, sinnigen Sprüchen, daß dieselben einen besondern Zweig unserer Literatur, unter dem Namen der sog. Spruch-Poesie ausmachen.

Wie die meisten unserer deutschen Sprichwörter uralt, man möchte sagen, so alt wie unser deutsches Volk selbst sind, so besitzen wir auch sehr alte Spruchsammlungen. Schon im zwölften Jahrhundert gab es Dichter, welche die Lehren der Lebensweisheit in poetische Form kleideten.

Die berühmteste alte Spruchsammlung, welche wir besitzen, führt den Namen: » Freidank's Bescheidenheit.« Das Wort »Bescheidenheit« bezeichnet in der ältern Sprache die rechte, echte christliche Weltklugheit, diejenige, welche der Herr Jesus meint, wenn er sagt: »Seid klug wie die Schlangen, aber ohne Falsch wie die Tauben.«

Den Verfasser dieses Buches kennen wir nicht; der Name »Freidank« ist nur ein angenommener. Doch, wer auch der Verfasser gewesen sein mag, er hat jedenfalls Kopf und Herz auf dem rechten Flecke gehabt, und wenn wir auch seinen Namen nicht kennen, so wollen wir ihm doch für sein Buch von Herzen dankbar sein. Dasselbe ist ein wahrer Schatz; fast jeder Spruch darin ist eine Perle, ein Edelstein und von solcher Tiefe, daß er einen ganzen Tag lang zu sinnen und zu denken giebt. Unsere Vorfahren haben diesen Schatz auch zu würdigen gewußt. Von seinem Erscheinen an war »Freidank's Bescheidenheit« eines der gelesensten Bücher; ja, man that ihm sogar die Ehre an, es die weltliche Bibel zu nennen, und in der That führt es diesen Namen nicht mit Unrecht.

Um Euch ein wenig mit diesem vortrefflichen Buche bekannt zu machen, lasse ich einige Sprüche desselben folgen:

»Gott dienen und nicht wanken d'rin,
Ist aller Weisheit Anbeginn.«

»Wer da für diese kurze Zeit
Die Freude giebt der Ewigkeit,
Der hat sich selber sehr betrogen
Und zimmert auf den Regenbogen.«

»Heute lieb und morgen leid,
Das ist der Welt Beständigkeit.«

»Wie groß der Erde Freude sei,
Die Furcht des Todes steht dabei.«

»Schelten wider Schelten –
Ein schmähliches Vergelten.«

»Mit Weisheit sprechen ist ein Glück,
Gesproch'nes Wort kommt nie zurück.«

»Aus einem jeden Fasse fließt
Das, was in seinem Innern ist.«

»Zu manchen Dingen hab' ich Eile,
Und reuet mich nach kurzer Weile.«

Und nun zum Schluß noch einige andere Reimsprüche aus alter und neuer Zeit:

»Mit Gott in einer jeden Sach'
Den Anfang und das Ende mach'.«

»So oft ich hör' den Glockenschlag,
Hilf, Gott, daß ich bedenken mag,
Daß wieder meines Lebens Frist
Ein Stündlein kürzer worden ist.«

»Willst du dein eignes Herz bewahren,
So laß das Seh'n auf And're fahren.
Wer viel von Andern spricht und richt't,
Der kennet noch sich selber nicht.«

»Gewiß ist der Tod, doch ungewiß der Tag,
D'rum ein Jeder sich wohl bereiten mag.«

»Habe nur Geduld in Noth,
Trau und bau auf deinen Gott,
Halte das Gewissen rein,
So wird dir nichts schädlich sein.«

»Zuletzt vergeht die ganze Welt,
Doch der nicht, der zu Christo hält.«

Dies sind einige von den vielen schönen Sinnsprüchen, welche wir besitzen und auf welche wir mit Recht stolz sein dürfen.

Manche legen sich eine Sammlung von Sprichwörtern und schönen Kernsprüchen an, wie man sich auch wohl eine Marken- oder Siegelsammlung anlegt. Sie schreiben alle schönen Sprüche, die sie wissen, in ein kleines Buch, und wenn sie neue kennen lernen, tragen sie dieselben dazu hinein.

Eine solche Sammlung scheint mir noch werthvoller und nützlicher zu sein, als Marken-, Siegel-, Eiersammlungen u. dgl. m. Diese kurzen, sinnreichen Sprüche eignen sich auch gar wohl zu Stammbuch- oder Album-Versen und sind den gewöhnlichen, wie z. B.:

»Rosen und Nelken
Die verwelken,
Aber, wie das Immergrün
Soll stets unsere Freundschaft blühn«,

welche nichts sind, als Geklingel, mit hochtönenden Worten ohne Sinn und Gehalt, gewiß bei weitem vorzuziehen.

Es sollte mich freuen, wenn auch Ihr Lust bekämt, Euch ein solches Spruch-Album anzulegen. Ich kann Euch die Versicherung geben, daß Ihr je länger, je mehr Eure herzinnige Freude daran haben werdet.

25. Brief.
Elsbeth an Maria

H......., den 11. Octbr. 18..

Endlich, meine geliebte Maria, erübrige ich ein Stündchen, um mit Dir plaudern zu können. Du mußt nämlich wissen, daß die Briefe an Dich jetzt zu meinen liebsten Erholungen zählen; ich glaube, es kommt daher: früher wußte ich Dir nur aus meinem äußern Leben zu erzählen, jetzt aber schöpfen meine Briefe ihren Inhalt tiefer, aus den Erlebnissen und Erfahrungen meines innern Lebens.

Es ist schon spät, wir haben heute Wäsche gehabt, Mutter ruht längst in ihrem Bette, auch Heinrich hat sehr müde sein Lager aufgesucht. Der gute Junge giebt sich jetzt im Lernen große Mühe; er hat es aber auch nöthig, da er leider – und ich muß es gestehen, nicht ohne meine Schuld – im Wissen sehr zurück ist. Jetzt lernt er freilich nur noch, um Bergmanns und mir eine Freude zu machen, ich hoffe aber, bald wird er für seinen Fleiß eine neue Triebfeder kennen lernen.

Liebste Maria, denke Dir, ich fange an, an dem stillen, zurückgezogenen, arbeitsreichen Leben, das ich jetzt führe, Geschmack zu finden. Ist das nicht sonderbar? Ich begreife es selbst nicht, aber ich glaube, ich werde mich mit der Zeit noch sehr glücklich in diesen beschränkten Verhältnissen fühlen, und um keinen Preis möchte ich in mein früheres Leben zurückkehren, auch wenn ich es könnte. Langeweile kenne ich jetzt gar nicht mehr, und Gereiztheit und üble Laune kommen immer seltener vor. Ja, theuerste Freundin, ich bin durch Gottes Gnade so weit gekommen, daß ich dem Herrn für Seine Züchtigungen danken kann, denn ich fühle, es ist zu meinem Heile, daß Er mich demüthigt und klein macht. Wohin wäre ich gerathen, wenn des Herrn Hand mich nicht ergriffen und wie einen Brand aus dem Feuer gerissen hätte! Ich mag den Gedanken nicht ausdenken, mir schaudert!

Ist mein jetziges Leben auch arbeitsreich und von den Freuden der Welt abgeschlossen, so ist es doch – um Deinen Ausdruck zu gebrauchen – nicht ohne Blumen und ohne Sonnenschein; und ich bücke mich jetzt gern, um jedes Blümchen zu pflücken, das mir an meinem Wege erblüht, und freue mich in Dankbarkeit über jeden warmen Sonnenstrahl der Liebe und Freundschaft, der auf meinen Pfad fällt. Bergmanns sind es hauptsächlich, welche mein Leben schmücken und erhellen. Gott segne sie dafür! –

Deinen Aufsatz über unsere deutschen Sprichwörter, für dessen Sendung ich Dir von Herzen danke, habe ich Frau Bergmann vorgelesen. Sie schien sich über denselben zu freuen und läßt Dir sagen, Du möchtest nur in derartigen Stylübungen fortfahren; es sei eine nützliche und heilsame Beschäftigung, die Gedanken über einen Gegenstand niederzuschreiben; man gelange dadurch über manche Dinge viel rascher zur innern Klarheit, als dies auf anderm Wege geschehen könne, und schärfe außerdem Urtheil und Nachdenken.

Da Frau Bergmanns Ansicht mit Deiner Neigung zusammentrifft, so hoffe ich, meine liebe Maria, daß Du uns noch öfter Gelegenheit geben wirst, uns an Deinen Stylübungen zu erfreuen. Ich bin leider für dergleichen Stylübungen nicht angelegt, so gern ich auch Deine Aufsätze lese; mein Styl wird daher, fürchte ich, Zeit meines Lebens viel zu wünschen übrig lassen.

Die gute Nachricht über das Befinden und Gedeihen Deines Myrthenbäumchens hat mich sehr erfreut, auch das meinige – welches nebenbei bemerkt, dem Deinigen freundliche Grüße sendet – befindet sich sehr wohl und wächst und gedeiht, wie es einem wohlgezogenen und wohlgepflegten Bäumchen zukommt.

Frau Bergmann interessirt sich in ihrer freundlichen Weise auch für unsere Myrthenbäumchen und jedesmal, wenn sie mein Stübchen betritt, beschaut sie das meinige, und ich glaube, der Blick aus ihren freundlichen grauen Augen thut meinem Bäumchen eben so wohl wie mir selbst.

Doch da verkündet der Wächter die elfte Abendstunde; nun muß ich mich auch zur Ruhe legen, damit ich morgen mein Tagewerk mit den erforderlichen Kräften und der erforderlichen Frische wieder aufnehmen kann.

Schlafe wohl, mein Herz, Gott behüte Dich!

Deine
Elsbeth.

26. Brief.
Maria an Elsbeth

Breitenstein, zum 30. Octbr. 18..

»Labt Dich Freude, drückt Dich Plage –
Grüß' Dich Gott, Geburtstagskind!«

In diese Worte faßte ich vor fünf Jahren zu Deinem vierzehnten Geburtstage meine Wünsche für Dich, und auch heute zu Deinem neunzehnten Geburtstage weiß ich Dir, meine geliebte Elsbeth, nichts Besseres zu wünschen als:

Grüß' Dich Gott, Geburtstagskind!

Der Herr grüßt uns in allem, das Er uns sendet, in Freude und in Leid; aber nur die wenigsten Menschen verstehen Seinen Gruß und danken Ihm. Du, meine Elsbeth, gehörst zu den begnadigten Seelen, die Gottes Gruß im Leiden verstehen, und hast Ihm den richtigen Gegengruß gesendet: »Ich bin Dein und Du bist mein, ich will keines Andern sein.« – Gott sei gedankt für diese Gnade! –

Meine liebste Elsbeth, der Herr hat Dich eine schwere Schule durchmachen lassen müssen, um Dich dahin zu bringen, wohin Er Dich haben wollte. Nun, da Du Seinen Ruf verstehst und Ihm folgst aus freier Entschließung, wird er Dich gewiß bald aus Seiner Leidensschule entlassen und Dich in eine andere Classe versetzen. Ja, mir sagt es eine Ahnung, daß dies Lebensjahr, in welches Du jetzt eintrittst, einen Wendepunkt in Deinem Leben bilden wird. Der Herr segne Dich, mein geliebtes Herz!

Er hat Dich gegrüßt durch Schmerz und durch Plage,
Er grüße Dich jetzt durch glückliche Tage! –

Ich wollte Dir gern eine kleine Geburtstagsfreude machen, liebste Elsbeth, und habe daher versucht, unser Haus von der Parkseite zu zeichnen. Die beiden Fenster links im zweiten Stockwerke bezeichnen Dir mein Zimmer. Vor dem einen Fenster siehst Du ein Bäumchen stehen, das Du vielleicht ohne große Mühe als mein Myrthenbäumchen erkennen wirst. Etwas mehr Phantasie, fürchte ich, gehört dazu, um in der Gestalt, welche Dir aus dem andern Fenster Grüße zuwinkt, mich selbst zu erkennen.

Meine beiden kleinen Mädchen – in diesem Falle bis jetzt meine einzigen Kunstrichter – finden die Zeichnung sehr gelungen und besonders meine Gestalt ganz erstaunlich ähnlich. Hedwig hat sich zu ihrem nächsten Geburtstage eine Copie der Zeichnung ausgebeten.

Wenn nun auch von Deiner Seite die Kritik wahrscheinlich etwas anders ausfallen wird, so hoffe ich doch, daß Dir das Bildchen Spaß macht, und damit ist mein Zweck erreicht.

Fräulein Georgine's Abneigung gegen mich scheint immer größer zu werden. Ihr Benehmen gegen mich bei ihrem letzten Besuche muß sogar Herrn von Hallendorf aufgefallen sein, denn als ich ihm Abends eine gute Nacht wünschte, reichte er mir die Hand, was er sonst nicht thut, und sagte sehr freundlich: »Nehmen Sie sich Fräulein von Strahlenau's Ungezogenheit nur nicht zu Herzen; die junge Dame schien heute ohne ihre Sonntagslaune ausgefahren zu sein; ich glaube, wir haben alle darunter zu leiden gehabt.« –

Dein letzter Brief, meine geliebte Elsbeth, hat mich ganz ungemein erfreut, weshalb, brauche ich Dir wohl nicht erst zu sagen. Schreibe mir bald wieder.

Der Herr segne Deinen Ausgang aus dem alten und Deinen Eingang in das neue Lebensjahr!

Treu
Deine Maria.

27. Brief.
Elsbeth an Maria

H......., den 1. Novbr. 18..

Meine liebe, liebe Maria!

Wo soll ich heute nur anfangen und wo soll ich aufhören zu erzählen! O Maria, Maria, Du hast Recht:

»Gott hat mich gegrüßt durch Noth und durch Plage,
Jetzt will Er mich grüßen durch glückliche Tage!«

Ich bin Braut, bin mit Dr. Bergmann verlobt! Was wirst Du, geliebtes Herz, sagen, wenn Du es liesest! Mir selbst klingt es so neu, so seltsam, ich fürchte fast, es könnte nur ein Traum sein, der plötzlich wieder verschwinden muß und mich in Nacht und Dunkelheit zurückläßt. Aber nein! ich träume nicht, ich sehe ja den Sonnenschein, ich höre das Leben und Treiben da unten auf der Straße mit meinem leiblichen Ohre, ich fühle die Wonne und Freude in meinem Herzen. Ja, ich bin gewiß:

Gott will mich grüßen durch glückliche Tage!

Den Verlauf der Sache kann ich Dir nicht genau beschreiben und erzählen. Es war mir seit längerer Zeit so wunderseltsam, wenn ich mit ihm zusammenkam, aber ich habe wirklich nicht daran gedacht, daß er mich wählen könnte, mich armes, thörichtes Mädchen! O wie glücklich, wie unbeschreiblich glücklich bin ich! Ich will es Dir nur gestehen, ich habe ihn lange still im Herzen geliebt und mit Trauer an die Zeit gedacht, da ich ihn würde an der Seite einer Frau sehen müssen. Zuweilen war es mir zwar, als ob auch ich ihm nicht gleichgültig sei, aber ich mochte meinem Herzen, ich mochte meinen Augen nicht trauen. Jetzt ist es vorbei mit Herzeleid und Zweifel, ich bin seine Braut! – O Herr, wie wunderbar hast Du es mit mir gemacht, wie hast Du mich so sicher geleitet, seit ich Deine Hand erfaßt, und hast mich durch die Nacht zum Licht geführt! Ja, durch die Nacht der Eitelkeit und der Sünde und durch viel Traurigkeit hindurch zu dem Lichte Deiner Wahrheit, – zum Glauben, zur Liebe, zur Seligkeit! Herr, ich will Dir in meinem Herzen dafür einen Tempel bauen und will Dich darin ewiglich loben und Preisen!

Deinen Brief, geliebtes Herz, habe ich am Morgen meines Geburtstages erhalten. Ich las ihn und wurde dabei seltsam bewegt. Klangen mir doch Deine Worte wie eine Prophezeihung. Gleich darauf erschien er und hielt um mich an – am Morgen meines Geburtstages; – wie hübsch, daß er es gerade an diesem Tage that, nicht wahr? Ich weiß aber nicht, was er gesagt und was ich geantwortet habe; ich weiß nur, er hielt mich in seinen Armen, und ich habe vor Glück und Freude geweint und gelacht. Frau Bergmann kam auch und segnete uns als ihre Kinder – es war eine unbeschreiblich glückliche Stunde! Sie ist jetzt in Wahrheit und auch vor der Welt mein Mütterlein geworden – ich habe mir das nicht träumen lassen, als ich sie am Krankenbette meines Bruders kennen lernte.

Meine arme Mutter hat mir keinen Segen ertheilen können; sie saß theilnahmlos dabei und wußte nicht, was vor sich ging. Ihr Geist ist jetzt ganz in Dunkelheit und Nacht gehüllt, sie vermag Freude und Leid weder zu unterscheiden noch zu verstehen. Ich nahm sie in meine Arme und erzählte ihr alles. Sie sah mich an – aber nur einen Augenblick – als verstände sie mich; ich hielt vor Freuden inne – ach, ich sehnte mich so sehr nach einem verstündnißinnigen, nach einem Segensworte von ihren Lippen. Aber ach, die Dunkelheit behielt die Oberhand in ihrem Geiste, müde lehnte sie sich zurück, schloß die Augen und schlief ein. Die Wege des Herrn sind wunderbar, aber ich weiß, Er führt es herrlich hinaus. Deshalb will ich angesichts dieses schweren Leidens mit David sprechen: »Ich will schweigen und meinen Mund nicht aufthun, Du wirst es wohl machen.« Mir hat der Herr unaussprechlich große Gnade erzeigt, Er wird auch meiner armen Mutter gnädig sein, wenngleich die Wege sehr verschieden sind, die Er uns führt.

Mein Verlobter, seine Mutter und ich haben einen Rath zusammen gehalten und beschlossen, daß die Hochzeit im Frühjahr sein soll.

Süße Maria, wirst Du mir den Brautkranz winden? Meine kranke Mutter und Heinrich werden bei uns bleiben. Mein Verlobter sagt, ich habe an beiden noch große Pflichten zu erfüllen, und er wolle mir dabei gewiß fördernd und nicht hindernd zur Seite stehen. Er ist so gütig gegen mich, ach, und wie nachsichtig gegen meine Fehler! Ich will Gott bitten, mir zu helfen, ihn so glücklich zu machen, wie er es verdient.

Ich danke Dir, liebste Maria, für die allerliebste Zeichnung, die Du mir geschickt. Ich werde sie in einen Rahmen fassen und über meinem Bücherbrette aufhängen. In der Gestalt mit den wallenden Locken am Fenster habe ich meine Maria erkannt, noch ehe ich ihren Brief gelesen.

Weiter kann ich Dir heute nichts schreiben, alle meine Gedanken gehen in dem einen unaussprechlich glücklichen Gedanken auf, daß er mich liebt und daß ich nun ihm gehöre. Ich muß mich erst allmälig wieder an andere Gedanken gewöhnen.

Leb' wohl, mein theures Herz!

Deine glückliche
Elsbeth.

28. Brief.
Maria an Elsbeth

Breitenstein, den 4. Novbr. 18..

Meine geliebte Elsbeth!

Ja, das war eine Freudennachricht! –

Als ich Deinen Brief gelesen, flimmerte es mir vor den Augen, in meinem Kopfe wirbelten die Gedanken und in meinem Herzen wirbelte es noch stärker von wunderseltsamen Gefühlen. Es war, als könnte ich den Inhalt Deines Briefes nicht fassen, ich mußte denselben noch einmal lesen. Nein, es war keine Täuschung, da stand es ja schwarz auf weiß: Du, meine Elsbeth, bist eine glückliche Braut! – O, was würde ich darum gegeben haben, hätte ich zu Dir eilen und Dich in meine Arme schließen können! Ich lief im Zimmer umher und wußte vor Aufregung und Freude nicht, was ich thun sollte, ich glaube, ich habe mich geradezu unsinnig benommen.

Meine liebe, liebe Elsbeth, Gott sei Dank für Seine große Gnade und Freundlichkeit! Er entläßt Dich aus Seiner Leidensschule und versetzt Dich in eine andere Classe.

»Er hat Dich gegrüßt durch Schmerz und durch Plage,
Er grüßt Dich jetzt durch glückliche Tage!«

Als ich Dir vor einigen Tagen meinen Glückwunsch zu Deinem Geburtstage schrieb, da ahnte ich nicht, daß der Herr bereits Sein Amen zu demselben gesprochen.

O Elsbeth, welch einen gnädigen, freundlichen Gott haben wir doch! »Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er Dir Gutes gethan hat!« –

Leid und Kummer liegen hinter Dir und zerrinnen wie der Morgennebel und Du stehst im Sonnenglanze des Glückes und schaust entzückten Auges in die Zukunft, die wie eine herrliche, lichtumflossene Landschaft sich vor Dir ausbreitet. Gott segne Dich, meine Freundin! Wie Er Dir Leid und Schmerz hat zum Segen werden lassen, so segne Er Dir von jetzt an Freude und Glück!

Als Deine Freundin habe ich Leid und Kummer ehrlich und richtig mit Dir getheilt, dafür beanspruche ich nun aber auch den mir gebührenden Antheil Deiner Freude. Ja, meine geliebte Elsbeth, ich freue mich Deines Glücks, als wäre es mein eigenes. Die Freude meines Herzens muß wohl sehr deutlich auf meinem Gesichte zu lesen gewesen sein, denn heute Mittag bei Tische sagte Herr von Hallendorf zu mir: »Ist Ihnen etwas besonders Fröhliches begegnet? Sie sehen ja so ungewöhnlich heiter aus.« Da erzählte ich Deine Verlobung. Die Unterrichtsstunden sind mir heute Nachmittag sehr sauer geworden, denn während mein Körper am Schultische gebannt saß, schweiften meine Gedanken in die Ferne. Sie suchten Dich in Deinem Stübchen auf und flüsterten Dir Worte der Liebe und der theilnehmenden Freude zu. Doch Kinder sind scharfe Beobachter, das mußte ich hier zu meiner Beschämung erfahren; denn ich hörte, wie Hedwig zu Elisabeth sagte: »Höre, unser Liebchen« – diesen Namen führe ich nämlich seit einiger Zeit bei ihnen – »scheint heute in einer erstaunlich gütigen Laune zu sein, denn sie hat nichts gesagt, als ich eben den großen Dintenfleck machte, und als Du vorhin Dein Rechenbuch auf die Erde fallen ließest, that sie, als bemerke sie es nicht; ich wollte, sie wäre immer so gnädig.«

Dies zweifelhafte Lob meiner Güte rief indeß meine Gedanken von ihren Spaziergängen zu ihrer Pflicht zurück, und ich suchte sie nun mit Energie am Schultische festzuhalten, aber sauer wurde es mir, herzlich sauer, und ich habe, glaube ich, in den zwei Stunden öfter nach meiner Uhr gesehen, als sonst in zwei Tagen.

Ob ich Dir den Brautkranz winden will? Natürlich will ich das! Dir den Brautkranz zu winden ist ein Recht, welches mir als Deiner ältesten und vertrautesten Freundin allein zusteht und das ich mir unter keinen Umständen würde nehmen lassen. Jetzt wird es mir auch klar, weshalb mein Myrthenbäumchen so auffallenden Fleiß im Wachsen entfaltet hat, es hat gewußt, daß es Dir bald würde den Brautkranz liefern müssen. Liebes Bäumchen, welch eine Ehre steht Dir bevor! Das soll aber auch ein stattlicher Kranz werden! – Geliebte Elsbeth, wie werde ich mich freuen, Dich erst in Deinem eigenen trauten Daheim zu wissen! Wenn auch aus der Ferne, so werde ich doch Dein Leben in allen seinen Stufen genau verfolgen und mir von jeder neuen Freude meinen richtigen Antheil ausbitten. So wird Dein Glück auch über mein Leben einen hellen Schein verbreiten, und nehme ich dann noch die Blumen hinzu, die mir auf meinem Lebenswege als Erzieherin erblühen, ich denke, dann kann auch ich zufrieden und glücklich sein. –

Grüße Deinen Verlobten und sein trautes Mütterlein so recht herzlich von mir und erzähle ihnen, welch' innige Freude ich an Deinem Glück habe.

Der Herr nehme Dich und Deine Liebe in Seinen besondern Schutz!

Unverändert
Deine
Maria.

29. Brief.
Elsbeth an Maria

H......., den 19. Decbr. 18..

Geliebte Maria!

Was denkst Du wohl von mir, daß ich Dich so lange ohne Nachricht von mir lassen konnte? Vielleicht denkst Du: »Nun die Liebe in Elsbeth's Herz eingezogen ist und sich daselbst so recht breit auf den Thron gesetzt hat, bleibt für die arme Freundschaft kein Raum mehr in der engen Behausung, die muß sich nun kümmerlich in die Ecke drücken oder gar still und unbemerkt zur Hinterthüre hinausschleichen.« –

Doch, geliebte Freundin, verzeihe mir, daß ich auch nur im Scherze Dir solche Gedanken zuschreiben konnte. Nein, ich weiß, Du wirst mich stets unverändert lieb behalten und wirst auch nie an meiner Liebe zweifeln. Unsere Freundschaft ist beinahe so alt wie wir selbst sind, sie hat schon manchen Sturm erlebt und sich tapfer gehalten. Hat Trübsal und Noth ihr nichts anhaben können, so wird Freude und Glück ihr noch weniger gefährlich werden.

Die Ursache meines langen Schweigens ist lediglich in den äußeren Verhältnissen zu suchen. Die Tage sind, wie Du weißt, reichlich mit Arbeit besetzt, und die Abendstunden, welche ich sonst zum Schreiben an Dich benutzte, verlebe ich jetzt gewöhnlich mit Bergmann's.

Geliebtes Herz, wie freue ich mich darauf, Dich, will's Gott, nächstes Jahr in meinem eigenen trauten Daheim – wie Du es so glücklich bezeichnest – willkommen heißen zu dürfen! – Denn Deine nächsten Sommerferien, das nehme ich mit Gewißheit an, verlebst Du jedenfalls bei uns. Rudolph – so heißt nämlich mein Verlobter – freut sich sehr auf Deine Bekanntschaft; denke Dir, er hat nachträglich alle Deine Briefe gelesen! Es ist Dir doch nicht unlieb, mein süßes Mariechen? – Er, so wie auch sein Mütterchen, senden Dir die allerschönsten und freundlichsten Grüße.

O, meine liebe Maria, wie glücklich bin ich! Ich kann es Dir gar nicht beschreiben. Ich glaube, ich verstehe jetzt das Wort der heiligen Schrift, daß Gottes Güte uns zur Buße leitet. Alle Schläge und Züchtigungen hätten mich nicht so in Demuth beugen und mir die Augen über mich selbst öffnen können, als es diese Güte und Freundlichkeit meines Gottes gethan hat.

Wie werde ich dem Herrn je genug danken können! Mein ganzes Leben ist zu kurz dazu. Nun, Gott sei Dank, daß noch eine Ewigkeit folgt, in der wir loben und danken können.

Alle Menschen und Verhältnisse erscheinen mir jetzt in einem ganz neuen Lichte. Die ganze Welt sieht anders aus. Es ist mir, als finge ich erst jetzt an zu leben. In meinen alten Bekannten mache ich lauter neue Bekanntschaften, wobei es meinerseits nie ohne ein Gefühl der Beschämung abgeht.

Fräulein Hillmer gehört auch zu diesen neuen Bekanntschaften. Ich habe sie besucht und ihr gesagt, wie ich früher über sie gedacht und gelegentlich auch gesprochen habe, und sie gebeten, mir beides zu verzeihen. Die alte Dame war sehr bewegt, sie nahm mich in ihre Arme, küßte mich und sagte: »Ich danke Gott, daß Er mich diese Stunde noch erleben läßt. Liebe Elsbeth, von unserm ersten Begegnen an fühlte ich mich zu Ihnen hingezogen, obgleich wir damals noch so verschiedene Wege gingen; und ich habe es nicht unterlassen können, täglich für Sie zu beten, daß der Herr Ihnen die Augen öffnen und das Herz wenden möge. Er hat es gethan, Ihm sei Lob und Dank.«

Die alte Dame besucht mich jetzt zuweilen, und ich glaube, wir werden noch sehr gute Freunde werden.

Manche meiner alten Bekannten, die sich nach Vaters Tode von uns zurückgezogen, nähern sich mir wieder; sie scheinen zu glauben, daß ich jetzt mein früheres Leben fortsetzen werde. Nun, es wird einige Verwunderung geben, wenn sie sehen müssen, daß dies nicht der Fall ist, und dann werden sie mich bald zu den Vergessenen zählen.

Meine liebe Maria, aus der Zahl meiner alten Bekannten bist Du die einzige, deren Freundschaft ich mir in meinen neuen Verhältnissen zu erhalten wünsche. Zu allen übrigen passe ich nicht mehr. Das schadet auch nicht, hat mir doch der Herr schon im Voraus so reichen Ersatz für die alten sogenannten Freunde – denn wahre Freundschaft, das merke ich jetzt, findet man auf dem breiten Wege nicht – gegeben.

Ja, ich bekenne es jetzt ohne Scheu, wenn auch nicht ohne Beschämung, im Hinblick auf meine früheren Aeußerungen, deren Du leider auch einige schwarz auf weiß besitzest, daß die Freundschaft einer einzigen alten Dame, wie Fräulein Hillmer, mir jetzt mehr gilt als das Freundlichthun von zwei Dutzend meiner früheren Freundinnen.

Rudolph wünschte insofern eine Aenderung meines jetzigen Lebens, als er mir ein Dienstmädchen miethen wollte; ich habe ihn aber gebeten, unser jetziges Leben bis zu unserer Hochzeit unverändert fortsetzen zu dürfen, und er hat eingewilligt. Sein Mütterchen war zu meiner Freude auf meiner Seite.

Lieber Schatz, erhalte ich bald wieder eine Probe Deiner Stylübungen?

Lebe wohl, der Herr bescheere Dir ein fröhliches und gesegnetes Weihnachtsfest!

In alter unveränderter Liebe

Deine
Elsbeth.

30. Brief.
Maria an Elsbeth

Breitenstein, 31. Decbr. 18..

Das liebe Weihnachtsfest, auf welches seit Wochen all unser Denken und Schaffen gerichtet war, liegt mit seiner Herrlichkeit und Freude schon wieder hinter uns; und auch das alte Jahr schickt sich an, auf Nimmerwiederkehr von uns Abschied zu nehmen. Ein Jahr! – wie schnell fließt es dahin, und wie viel umfaßt es! Mir tönt heute beständig die kleine Strophe Tersteegens durch die Seele:

»Ein Tag, der sagt dem andern,
Mein Leben sei ein Wandern
Zur großen Ewigkeit.
O Ewigkeit, so schöne,
Mein Herz an dich gewöhne,
Mein Heim ist nicht in dieser Zeit.«

Für Dich, meine geliebte Elsbeth, ist dies alte Jahr ein besonders ereignißreiches gewesen; es hat Dir viel Schmerz und Weh, aber auch viel Glück und Segen gebracht. »Gott sei gelobt für alles!«

Diesen Wahlspruch des heil. Chrysostomus habe ich erst so recht in Deiner Lebensführung kennen gelernt. Ja ich glaube, Gott segnet uns noch viel mehr im Leiden, das Er uns schickt, als in der Freude.

Du schreibst, geliebte Elsbeth, alle Schläge und Züchtigungen Gottes hätten Dich nicht so zur Selbsterkenntniß führen können, als es Seine Güte und Freundlichkeit gethan. Da hast Du Recht, aber Gottes Liebe und Güte hätte nicht diese Wirkung in Dir hervorbringen können, wenn Gott nicht zuvor den Acker Deines Herzens durch Leid und Trübsal dazu vorbereitet hätte.

Mein Leben hat sich in dem nun bald verflossenen Jahre, einem stillen, klaren Strome gleich, ruhig fortbewegt. Auch dafür sei dem Herrn Lob und Dank! Mein äußeres Leben hat wenige Veränderungen aufzuweisen; besondere Lichtpunkte in demselben bilden die Reisen nach Kronsdorf und Norderney. Außerdem aber sind mir viele Blumen stiller Freude auf meinem Wege erblüht, die, gesammelt und zusammengestellt, einen ganz ansehnlichen Strauß bilden.

Meine Kinder machen mir große Freude. Es hat sich ein inniges, herzliches Verhältniß zwischen uns gebildet; sie fangen an, mein Arbeiten an ihnen zu verstehen, und kommen mir helfend entgegen. So machen wir uns das Dasein gegenseitig nicht sauer und unser Zusammenleben und Arbeiten wird, denke ich, für uns alle drei von Segen sein.

Der Gedanke, meine Erdenlaufbahn als Erzieherin zu beschließen, hat nichts Drückendes mehr für mich.

Das Arbeitsfeld einer Erzieherin ist ein weites und ihre Verantwortung ist nicht gering. In den unsterblichen Seelen der Kinder hat der Herr uns Großes anvertraut. Er wird daher einst strenge Rechenschaft von uns fordern. Das verhehle ich mir keinen Augenblick, aber dennoch bin ich getrosten Muthes. Meine eigene Kraft in dieser Beziehung ist zwar gering, sehr gering, ist, so zu sagen, gleich Null zu schätzen, aber der Herr hat ja verheißen, daß Seine Kraft in den Schwachen mächtig sein soll. Darauf hin habe ich es gewagt und des Herrn Wort hat mich bis jetzt nicht im Stich gelassen; ich darf täglich neue Erfahrungen von der gnädigen Hülfe meines Gottes machen. Ich weiß, daß ich da stehe, wohin mich der Herr gestellt hat, das ist die Hauptsache. Mein Bestreben und mein Bitten geht dahin, in dem mir befohlenen Amte treu erfunden zu werden! Das ist meine Sorge, damit habe ich auch genug zu thun, für alles übrige lasse ich Gott sorgen; Er mache es mit mir, wie es Ihm wohlgefällt!

Aeußerlich gestaltet sich mein Leben hier immer freier, angenehmer, behaglicher; ich habe über nichts zu klagen. Herr und Frau von Hallendorf sind sehr freundlich, ja, ich möchte sagen, herzlich gegen mich und zeigen es mir deutlich, daß sie wünschen, mich noch länger zu behalten.

Nun, ich bleibe auch gern; wohin sollte ich mich denn auch sehnen? Eine Heimath habe ich nicht, die ganze übrige Welt ist mir fremd.

Hedwig und Elisabeth scheinen ein Fortgehen meinerseits auch nicht für möglich zu halten. Erstere sagte neulich zu mir: »Es ist gut, daß wir Dich haben, wenn ich groß bin und mich verheirathe, dann gehst Du mit mir und erziehst meine Kinder auch; Du willst doch?« Ich willigte lachend ein.

Du siehst also, liebste Elsbeth, es ist Aussicht für mich vorhanden, mit der Zeit so ein altes achtbares Familienerbstück zu werden, das von Generation zu Generation wandert und zuletzt in irgend einem überflüssigen Erkerstübchen, im wohlgepolsterten Lehnstuhle sein Gnadenbrot verzehrt, von der jüngsten Generation – ich stelle mir vor, daß dies in meinem Falle vielleicht Hedwigs Enkelkinder sein werden – mit einer halb neugierigen, halb ehrfurchtsvollen Scheu wie ein Gedenkstein aus grauer Vorzeit betrachtet.

Nun, wie Gott will, so halt ich still. Es ist mir lieb, daß Er mir meinen Lebensweg zu bestimmen hat, und nicht ich selbst.

Für mein geistiges Leben ist hier ebenfalls, Dank der Güte meines Gottes, gut gesorgt. Der Abend, welchen ich regelmäßig einmal in der Woche – es pflegt jetzt der Sonntag Abend zu sein – in unserm lieben Pfarrhause verlebe, enthält stets so viel Anregendes für mich, daß er mir Stoff zum Nachdenken und häufig auch zum Niederschreiben für die übrigen sechs Wochentage giebt.

Auf Gespräche im Pfarrhause stützen sich auch die beiden Aufsätze, welche ich Dir hierneben abschriftlich mittheile und die ich, wie Du siehst, für meine Kinder geschrieben habe. Die Originale hatte ich, um sie als Weihnachtsgeschenke ansehnlicher zu machen, mit mehreren kleinen Federzeichnungen geschmückt.

Der Aufsatz über das zweite Gebot ist durch Elisabeth, welche ungeachtet meiner Ermahnungen sich in ihrer großen Lebhaftigkeit häufig zum Mißbrauch des Namens Gottes hinreißen läßt, hervorgerufen und deshalb auch ihr geschenkt.

Den andern Aufsatz: »Die Betglocke« habe ich auf besondern Wunsch Hedwigs geschrieben und daher auch für sie bestimmt.

Die Fassung der Aufsätze ist übrigens, wie Du sehen wirst, so gewählt, daß ich mich an beide Kinder wende, denn im Grunde sind ja beide Aufsätze für beide Kinder bestimmt und werden von ihnen auch als Gemeingut betrachtet.

Der letzte Aufsatz enthält ein Stück meines innern Lebens. Als ich hierher kam, war mir die Sitte des Betens beim Schalle der Betglocke ganz neu. Ich fand sie zuerst im Pfarrhause, später auch noch in einigen Bauernhäusern. Ich äußerte einmal meine Verwunderung über diese Sitte gegen Pastor Rollmann. Dies führte zu einem längern Gespräch über diesen Gegenstand, und seit der Zeit fing auch ich an, beim Schalle der Betglocke zu beten. Bald wurde mir dieses Gebet sehr lieb und ich veranlaßte Hedwig und Elisabeth gleichfalls zu demselben. Im vorigen Herbst bat mich Hedwig, ihr etwas über die Betglocke niederzuschreiben, wie ich es über unsere deutschen Sprichwörter gethan.

Bitte, liebste Elsbeth, schreibe mir, was Du über beide Aufsätze denkst.

Lebe wohl; der Herr sei mit Dir! auch im neuen Jahre

Deine alte
Maria.

 

Das zweite Gebot.

»Du sollst den Namen des Herrn, Deines Gottes nicht unnützlich führen, denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht.«

Gegen kein Gebot wird wohl so oft und leichtsinnig gesündigt, wie gegen dieses. Fast bei jedem Gange über die Straße müssen wir hören, wie der Name Gottes durch leichtfertiges, achtloses Aussprechen desselben gemißbraucht wird; und wo Kinder sich zusammenfinden zum fröhlichen Spiel, da fehlt auch selten der Mißbrauch des Namens Gottes.

Es zeugt von einer großen, allgemeinen Gottentfremdung und Gottvergessenheit, daß die Menschen haben überhaupt dahin kommen können, den Namen des großen und heiligen Gottes, der »in einem Lichte wohnet, da niemand zu kommen kann«, und vor dessen Majestät und Herrlichkeit die Seraphime, die doch wahrlich an Glanz und Hoheit gewöhnt sind, ihr Antlitz mit den Flügeln bedecken, und den wir armen Erdgebornen nur mit der allergrößten Ehrfurcht, ja mit einer heiligen Scheu auf unsere sündigen Lippen nehmen sollten, so gedankenlos und geringschätzig auszusprechen, als wäre er die Bezeichnung des gleichgültigsten Dinges von der Welt.

Kein Name wird so gemißbraucht und verunehrt, als der, welcher doch vor allen andern heilig und werth gehalten werden sollte.

Welche Empfindungen würde es wohl in uns erwecken, wenn wir den Namen einer von uns besonders geliebten Person, z. B. den Namen unserer Eltern als Ausrufungswort gebrauchen hörten? Mit Recht würden wir eine Beschimpfung darin erblicken, es würde unsern ganzen Zorn erregen und wir würden aus allen Kräften gegen eine solche Behandlung des uns theuren Namens protestiren. Und der Name desjenigen, den wir über alle Dinge fürchten und lieben sollen, wird vielleicht von uns selbst auf diese Weise verunehrt!

Wahrhaft betrübend ist es zu hören, wie schon kleine Kinder, auf die doch das Auge ihres himmlischen Vaters gewiß mit besonderem Wohlgefallen herabblicken möchte, sich durch Mißbrauch des Namens Gottes versündigen. »Aus dem Munde der Unmündigen hast Du Dir Lob zugerichtet«, heißt es in der heiligen Schrift; solch gedankenloses Aussprechen des Namens Gottes ist aber kein Lob, sondern eine arge Beleidigung des Allerhöchsten.

Wir wissen, daß kein Name den Menschen gegeben ist, darin wir sollen selig werden, als allein der hochgelobte Name unseres Herrn und Heilandes; wir wissen ferner, daß in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Kniee, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind; und deshalb neigen wir auch wohl das Haupt, wenn dieser hochheilige Name im Gotteshause genannt wird. Aber daheim in unserm eigenen Hause, im gewöhnlichen Leben, da schämen wir uns nicht, den theuren Jesusnamen durch gedankenloses Aussprechen zu entheiligen und zu entweihen. Wie oft hört man den Ausruf: Herr Jesus! oder: O Gott! – oder was dasselbe ist: Herr Je! und: Eh Gitte! Letzteres, nebenbei ein an und für sich überaus unschönes Wort, ist nichts als eine Ausartung und Entstellung von: »Ach Gott!« und wird noch dazu gebraucht, um Abscheu und Ekel auszudrücken. Nur die allergrößte Gedankenlosigkeit kann solches thun. Man bedenke doch, Gottes heiliger Name in Verbindung gebracht mit dem Gefühl des Abscheus und Ekels, welcher Widerspruch! welche Sünde!

Keine Gelegenheit ist so geringfügig und alltäglich, daß sie nicht zur leichtfertigen Nennung des allerheiligsten Namens Veranlassung geben könnte. Jeder kleine Schreck, jede noch so kleine Verwunderung läßt uns gegen das zweite Gebot sündigen. Die verschiedenartigsten Stimmungen und Gefühle werden durch Ausrufung des Namens Gottes ausgedrückt, mir nicht die Stimmung, welche die Nennung dieses Namens fordert. Wir können mit Gewißheit annehmen, daß in dem Augenblicke, in welchem die Lippen den Namen Gottes leichtfertig nennen, das Herz seiner gerade am wenigsten gedenkt.

Ein Christ, der bei allem was er thut, sagt und denkt, Gott vor Augen und im Herzen hat, wird sich dieser Sünde nicht theilhaftig machen.

So leichtsinnig es die Menschen mit der Uebertretung des zweiten Gebotes nehmen, so streng nimmt es Gott selbst damit, das beweist uns die besondere Fassung dieses Gebotes. Unter den zehn Geboten zeichnen sich zwei durch ihre Fassung vor den übrigen aus: das vierte Gebot durch die demselben angehängte liebliche Verheißung: »auf daß es Dir wohlgehe und Du lange lebest auf Erden«; und das zweite durch die nachgefügte Drohung: »denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der Seinen Namen mißbraucht.«

In Bezug auf das ganze Gesetz spricht der Herr 5. Mos. 27, 26: »Verflucht sei, wer nicht alle Worte dieses Gesetzes erfüllt, daß er darnach thue!« Daß Gott nun die Androhung der Strafe bei dem zweiten Gebote noch besonders wiederholt, zeigt uns, wie ernst und streng Er es gerade mit diesem Gebote nimmt.

In der Erklärung des zweiten Gebotes wird uns gesagt, was wir mit dem Namen Gottes thun sollen, nämlich: ihn an rufen, beten, loben und danken.

Ja, im Gebete sollen wir Gott mit Seinem Namen anrufen und er hat uns zugesagt, daß er uns alsdann hören will. Aber unmöglich können wir erwarten, daß Gott am Abend der Anrufung Seines Namens in unserm Gebete ein gnädiges Gehör schenken werde, wenn wir den Tag über Seinen hochheiligen Namen schnöde gemißbraucht haben!

Mit der Versündigung gegen das zweite Gebot geht es wie mit allen bösen Gewohnheiten: sie sind nicht ohne Mühe abzulegen. Fester Wille, Achtsamkeit auf sich selbst und vor allem das Gebet, helfen aber auch hier zum Ziele. Und welches Gebet sollte Gott wohl lieber erhören als das, in welchem wir Ihn um Seinen Beistand zur Heiligung Seines Namens bitten!

Aber auch mit dem besten Willen werden wir diese, wie jede andere böse Gewohnheit selten mit einem Male ablegen können. Noch öfter werden wir, nachdem wir bereits das Sündhafte der unzeitigen Nennung des Namens Gottes eingesehen und uns fest vorgenommen haben, diese Sünde nicht wieder zu begehen, die niederschlagende Erfahrung machen müssen, daß wir uns dennoch in unbewachten Augenblicken zu derselben haben hinreißen lassen. Das ist zwar sehr betrübend und demüthigend für uns, darf uns aber nicht muthlos machen; vielmehr müssen wir die Achtsamkeit auf uns selbst verdoppeln und vor allem nicht versäumen, den lieben Gott sofort recht inbrünstig um Seine Vergebung zu bitten.

Eltern und Lehrer können wohl ermahnen und erinnern; das Hauptstück der Erziehung aber, die Anwendung und Befolgung der ertheilten Lehren müssen die Kinder selbst übernehmen. Will daher ein Kind sich nicht selbst erziehen, so arbeiten Eltern und Lehrer ganz umsonst. Jeder Mensch hat Zeit seines Lebens – und würde er hundert Jahre alt – an sich selbst zu arbeiten und zu erziehen. Je früher wir nun dieses selbständige Arbeiten an unserer Seele beginnen, desto besser für uns. –

Ein Knabe, welcher auch die böse Gewohnheit hatte, Gottes Namen zur Unzeit auszusprechen, und deswegen von seinem Lehrer in der Schule war ermahnt worden, verfiel auf ein höchst wirksames Mittel, sich diese Sünde abzugewöhnen. So oft ihm nämlich noch der Ausruf »O Gott!« entfuhr, gab er sich selbst rasch und entschlossen eine derbe Ohrfeige, und er that dies, wo er auch sein mochte. Seine kleine Schwester wollte in der Selbsterziehung nicht hinter ihrem Bruder zurückstehen und strickte daher, so oft sie sich diese Sünde zu Schulden kommen ließ, zur Strafe eine gewisse Anzahl Touren an ihrem Strumpfe. Das Stricken war nämlich keineswegs ihre Lieblingsbeschäftigung. Und außerdem spielte sie an dem Tage nicht mit ihrer großen Lieblingspuppe.

Beide Kinder genossen bald die Früchte ihrer Selbsterziehung; nach wenigen Wochen waren weder Ohrfeigen noch Straftouren nöthig. Ja noch mehr, es ging ein Segen von ihnen über das ganze Haus aus.

Eines Tages nämlich sah der Vater, wie sein Sohn sich selbst mit der größten Entschiedenheit eine tüchtige Ohrfeige gab. Verwundert fragte er: »Karl was machst Du? was bedeutet das?«

Offen erzählte nun der Knabe, was der Lehrer ihm über den Mißbrauch des Namens Gottes gesagt hatte, und wie er, um sich denselben abzugewöhnen, auf dieses Mittel verfallen sei.

Der Vater antwortete nichts, sondern ging schweigend im Zimmer auf und ab. Er selbst hatte es bis dahin in dieser Beziehung nicht allemal so ganz genau mit der Befolgung des zweiten Gebotes genommen. Das, was er jetzt aus dem Munde seines Kindes darüber hörte, machte einen tiefen Eindruck auf ihn. Und bald hörte man im ganzen Hause, auch von den Dienstboten, keine Versündigung mehr gegen das zweite Gebot. – Das war eine gesegnete Ohrfeige gewesen, über die sich auch die Engel im Himmel gefreut haben werden!

Haben wir es nun mit Gottes Hülfe dahin gebracht, daß wir uns durch keinen Mißbrauch des Namens Gottes gegen das zweite Gebot versündigen, dann müssen wir aber auch, zur Erfüllung des ganzen Gebotes, das Beten, Loben und Danken nicht vergessen. Ursache zu Lob und Dank haben wir ja täglich, stündlich so reichlich:

Lobe den Herrn, o meine Seele:
Ich will Ihn loben bis in den Tod,
Weil ich Stunden auf Erden zähle,
Will ich lobsingen meinen Gott.
Der Leib und Seel' gegeben hat,
Werde gepriesen früh und spat:
Halleluja! Halleluja!

Rühmet, ihr Menschen, den hohen Namen
Des, der so große Wunder thut,
Alles, was Odem hat, rufe Amen,
Und bringe Lob mit frohem Muth.
Ihr Kinder Gottes lobt und preist
Vater und Sohn und heil'gen Geist.
Halleluja! Halleluja!

 

Die Betglocke.

Die Sitte, dreimal täglich, Morgens, Mittags und Abends die Betglocke zu ziehen, findet sich noch an vielen Orten.

Die meisten Menschen hören die Betglocke schlagen, ohne überhaupt etwas dabei zu denken und zu empfinden. Andere dagegen finden diese alte Sitte recht hübsch und feierlich; sie hören gern den lauten, weithin schallenden Ton der Betglocke und wissen auch, daß in früherer Zeit die Menschen, sobald die Betglocke schlug, die Hände gefaltet und ein kurzes Gebet gesprochen haben. Daß aber die Betglocke noch jetzt, auch für uns eine Mahnung zum Gebete enthalten könne, das fällt nur wenigen Menschen ein. Ja, viele würden, wollte man ihnen vom Beten beim Schlagen der Betglocke sprechen, solches für sehr lächerlich erklären, für etwas, das sich für unsere jetzige aufgeklärte und fortgeschrittene Zeit gar nicht mehr passe und schicke.

Die Sitte, die Betglocke zu ziehen, ist eine sehr alte. Sie stammt aus einer Zeit, da unser deutsches Volk im Großen und Ganzen noch mehr Glauben und Gottesfurcht besaß; da man dem lieben Gott nicht nur dann und wann des Sonntags in der Kirche einen Besuch machte, um sich dann eine lange Zeit gar nicht um Ihn zu kümmern, sondern wo man bei allem, was man that und unternahm, seines Gottes gedachte, wo Beten und Arbeiten noch zusammen gehörte, wo man den Spruch kannte und befolgte: »Ein jedes Ding, soll es gedeihn, muß mit Gebet begonnen sein«; wo jeder Haus vater auch zugleich Haus priester war, wo man sich des Gebetes überhaupt noch nicht schämte und auch vor andern und mit einander betete; wo z. B. gottesfürchtige Feldherren und Kriegsleute vor Beginn der Schlacht vom Pferde stiegen, sich angesichts des ganzen Heeres vor ihrem Gott auf die Kniee warfen und Ihn um Seinen Beistand anriefen. Aus einer solchen Zeit stammt die Sitte, die Betglocke zu ziehen. Und wenn der laute mahnende Ruf dieser Glocke ertönte, dann hielt man inne mit der weltlichen Beschäftigung und gedachte seines Gottes in einem kurzen, inbrünstigen Gebete. Man betete, wo man auch war, auf dem Felde und in der Werkstatt, in der Küche und im Keller, auf dem Boden und am Schreibtisch; und mit einem fröhlichen Gott geheiligten Herzen wandte man sich nach diesem Gebete seiner Arbeit wieder zu. Und gewiß, das Arbeiten ist alsdann noch einmal so gut und rasch von Statten gegangen und den Menschen viel weniger sauer geworden.

Erst gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, als gar vieles Gute verschwand, als in den Kirchen nicht mehr das reine Wort Gottes gepredigt wurde und aus den Häusern der Morgen- und Abendsegen und das Tisch-Gebet verschwanden, da betete man auch nicht mehr beim Schalle der Betglocke. Ach, das war eine überaus öde, traurige Zeit für Kirche und Haus! Das geistliche Leben war fast gänzlich erloschen. Der Herr hat ein gnädiges Einsehen gethan. Seit Jahren regt sich wieder neues geistliches Leben in Kirche und Haus. In den Kirchen hören wir wieder – wenn ja auch leider noch lange nicht überall – das reine, lautere Gotteswort von den Kanzeln erschallen; singen wir wieder die alten herrlichen Kernlieder; in vielen Schulen lernen die Kinder wieder den alten allein seligmachenden Glauben, und in vielen Häusern hält der Hausvater wieder mit seiner Familie und seinem Gesinde Morgen- und Abendandachten und bei Tisch wird wieder das Tischgebet gesprochen. Mit diesem neuerwachten geistlichen Leben kehrt nun auch allmälig das Gebet beim Schalle der Betglocke zurück. Und o! es ist gerade dieses Gebet ein ganz besonders seliges! Bei unsern übrigen täglichen Gebeten wählen wir uns selbst Zeit und Stunde; hier aber, bei der Betglocke, ist's nicht anders, als riefe uns der Herr selbst vor Sein heiliges Angesicht, und wer wollte nicht kommen, mit tausend Freuden kommen, wenn ihn der Herr ruft! Deshalb, wer es nur erst angefangen hat, bei'm Schall der Betglocke zu beten, der wird sich dieses selige Gebet so leicht nicht wieder nehmen lassen.

Aber, was beten, wenn die Betglocke ruft? Ein Christ ist nie verlegen um das, was er beten soll; er hat immer genug für sich und andere zu beten.

Von Alters her haben die Christen es im Allgemeinen so gehalten, daß sie beim Schalle der Betglocke für Kirche und Vaterland beteten; sie haben gebetet um Frieden im Lande und um Frieden in der Kirche, um Gedeihen und Wohlergehen des bürgerlichen Lebens und um Erhaltung der reinen Lehre in der Kirche. Dies haben unsere frommen Voreltern mit gutem Bedacht gethan. Vaterland und Kirche sind unsere größten Güter hier auf Erden. Steht es im Staate und in der Kirche wohl, so steht's auch wohl in den Häusern und Familien. Und umgekehrt, weicht Friede und Wohlfahrt aus Kirche und Staat, so sieht es auch in den Häusern und Familien bald gar traurig aus. Darum wissen auch wir jetzt beim Schalle der Betglocke nichts Besseres zu beten als um Fried und gut Regiment in Kirche und Staat. Jedoch dürfen und können wir alsdann auch je nach Trieb und Verlangen unserer Seele unsere eigenen persönlichen Wünsche und Anliegen vor den Herrn bringen und es ist solches auch zu aller Zeit von frommen Christen geschehen.

Aber nicht nur die Erwachsenen sollen beten, sondern auch schon die Kinder. Dem Herrn, vor dem kein Unterschied ist zwischen reich und arm, gelehrt und ungelehrt, groß und klein, ist das gläubige Gebet eines Kindes ebenso wohlgefällig wie das eines erwachsenen Menschen. Durch die leibliche Geburt seid Ihr, wenn auch nur erst kleine Bürger Eures Vaterlandes, durch die heilige Taufe aber Glieder der christlichen Kirche und Bürger im Reiche Gottes geworden. Also, Staat und Kirche gehen Euch so gut an, wie den Erwachsenen, und für beide könnt und müßt Ihr deshalb auch schon beten. Und sagt, ist es nicht ein überaus lieblicher, seliger Gedanke, daß, wenn die Betglocke ruft, nicht wir allein, sondern mit uns eine große Schaar gläubiger Christen, alt und jung, hoch und niedrig, Herzen und Hände zu Gott empor hebt und Ihn anruft! Ich wenigstens bekenne meinentheils, daß ich um keinen Preis nicht mit dabei sein möchte. Versucht es nur einmal; habt Ihr erst angefangen, so recht mit Ernst und Andacht beim Schalle der Betglocke zu beten, so laßt Ihr nicht wieder davon, Euer ganzes Lebenlang nicht, deß bin ich gewiß.

Luther sagt: »Das Gebet ist des Christen bestes Handwerk.« Das ist und bleibt wahr für alle Zeiten. Menschen, die weder Gott noch Gottes Wort achten, lachen freilich über das Beten, wie über so manches andere, das einem Christen zukommt und geziemt; aber laßt sie lachen, sie wissen es ja nicht besser. »Laßt sie spotten, laßt sie lachen, Gott, mein Heil, kann in Eil' sie zu Schanden machen.« Wir aber, die wir den Segen und die Seligkeit des Gebetes erfahren haben, lassen nicht davon; wir beten so lange wir hier auf Erden pilgern, und droben im Himmel, da wird das Beten und Lobsingen erst recht angehen!

Das Beten ist das Athmen, also das Leben der Seele. Ohne Gebet könnten und möchten wir gar nicht leben. Leben und beten gehört für einen Christen zusammen, wie für den natürlichen Menschen leben und athmen. Und einst, wenn die Stunde des Scheidens für uns kommt, dann schicken wir auf den Flügeln des letzten irdischen Gebets unsere Seele hinauf in die ewige Heimath! –

Folgende Gebete passen beispielsweise sehr wohl zur Betglocke:

Das Gebet Luthers:

Verleih uns Frieden gnädiglich,
Herr Gott, zu unsern Zeiten.
Es ist doch ja kein andrer nicht,
Der für uns könnte streiten,
Denn Du, unser Gott, alleine.

Der braunschweigische Hofprediger, Nicolaus Selnecker, welcher zu Ende des 16. Jahrhunderts lebte, pflegte täglich folgendes Gebet, das er selbst verfaßt hatte, zu beten:

Herr laß mich Dein sein und bleiben,
Du treuer Gott und Herr!
Von Dir laß nichts mich treiben,
Halt mich in reiner Lehr!
Herr laß mich nur nicht wanken,
Gieb mir Beständigkeit.
Dafür will ich Dir danken
In alle Ewigkeit! –

Beschütz, Herr, Deine Kirch',
Und weil sie stets muß kämpfen,
So hilf der Feinde Macht
Und list'gen Anschlag dämpfen.

Erhalte bis an's End'
Auch Herr an unserm Ort
Den reinen Gottesdienst,
Dein selig machend Wort.

Gott, gieb Fried in Deinem Lande,
Glück und Heil zu jedem Stande.
Wehre aller Feinde Macht:
Herr Jesu, nimm Dein Volk in Acht!

Gott, Dir sei Dank, Lob, Preis und Ehr!
Erhalt uns nur bei Deiner Lehr,
Und unser Herz zu Dir bekehr!

Müde und hungrig vom langen, beschwerlichen Marsche, trat ein Handwerksbursche in ein stattliches Bauernhaus, um sich eine kleine Erquickung zu erbitten. Auf der Diele fand er niemand, den er darum hätte ansprechen können. Deshalb näherte er sich nach einigem Zögern der nur angelehnten Stubenthür. Auf sein leises bescheidenes Pochen erhielt er keine Antwort. Er öffnete die Thür und blickte in die Stube. Auch hier gewahrte er niemand. Schon wollte er sich zurückziehen, da fiel sein Auge auf eine silberne Taschenuhr, welche an der Wand hing. Er blieb stehen. Der Versucher schaute ihn aus derselben an und flüsterte ihm in das Herz: »Greif zu! Es hat Dich niemand gesehen, eine so gute Gelegenheit kommt Dir so leicht nicht wieder.«

Dagegen sprach die Stimme seines Gewissens: »Wenn Du fromm bist, so bist Du Gott angenehm, bist Du aber nicht fromm, so ruhet die Sünde vor der Thür. Aber laß Du ihr nicht ihren Willen, sondern herrsche über sie. Und weiter: »Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?« –

Der Versucher entgegnete: »Sei kein Dummkopf! Noth kennt kein Gebot! Du bist doch auch ein Mensch und willst leben. Acht Wochen hast Du im Krankenhause gelegen, da ist all' Dein bischen Hab' und Gut darauf gegangen. Deine Stiefel sind entzwei und Deine wunden Füße wollen Deinen müden Leib nicht weiter tragen. Dazu keinen Groschen in der Tasche, um in der Herberge ein Nachtlager und eine Abendsuppe zu bezahlen. Sei kein Narr; greif zu, so ist Dir geholfen. Der reiche Bauer wird's überdies wenig merken in seinem Beutel, wenn er sich eine neue Uhr kaufen muß.«

Die Stimme Gottes sprach: »Du sollst nicht stehlen! Ihr sollt auch nicht sorgen und sagen: was werden wir essen, was werden wir trinken? Euer himmlischer Vater weiß, daß ihr des alles bedürfet. Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes, so wird euch solches alles zufallen.« –

So entspann sich ein heftiger Kampf in der Seele des armen Handwerksburschen. Es wurde zwar kein Blut vergossen, man sah keine Schwerter blitzen, und doch war es ein Kampf auf Leben und Tod. Himmel und Hölle kämpften hier um eine Menschenseele. Der Sieg neigte sich auf die Seite des Bösen. Mit tausend Entschuldigungsgründen und losen Reden wußte dieser die Stimme des Gewissens so zu übertönen, daß dieselbe bald gar nicht mehr gehört wurde. Die Uhr an der Wand glänzte immer verlockender. Der arme Handwerksbursche stand wie festgebannt, die Augen stier auf die Uhr geheftet. Der Angstschweiß perlte in dicken Tropfen auf seiner Stirn. Noch ein Flüstern des Versuchers – und er streckte die Hand nach der Uhr aus. Zwar zitterte diese Hand, denn sie griff zum ersten Male nach fremdem Eigenthum, zwar schlug ihm das Herz gewaltig in der Brust, denn der Finger Gottes klopfte daran. Es war eine letzte schwache Mahnung seines Gewissens, aber er konnte nicht mehr zurück, der Versucher hatte ihn bereits gepackt, seine Kraft zum Widerstande war erlahmt – er faßte die Uhr und wollte sie von der Wand nehmen. Da plötzlich – schlug im nahen Kirchthurme die Betglocke. Er stutzte. Und hinter ihm in dem Gardinenbette betete eine Kinderstimme:

»O, lieber Gott, wie gut bist Du!
Gieb, daß ich niemals Böses thu!
Mach' mich den lieben Engeln gleich
In Deinem großen Himmelreich.

Amen!«

Die Posaune des Gerichts hätte in diesem Augenblicke nicht mächtiger auf die Seele des Handwerksburschen wirken können, als dies einfältige Kindergebet. Sünde, Tod, Ewigkeit und Gericht standen vor seiner Seele. Einen Augenblick starrte er regungslos vor sich hin, dann fiel er auf feine Kniee und rief schluchzend:

»Herr Gott, sei auch mir armen Sünder gnädig!« –

Der Versucher floh; er war gerettet. –

Mit einem freundlichen: »Gott grüße Euch!« trat nun die Hausfrau, welche, in der offenen Thür stehend, den ganzen Vorgang mit angesehen hatte, zu dem armen Handwerksburschen. Er sprang auf und wollte alles bekennen, sie aber sprach: »Ihr braucht mir nichts zu sagen; ich habe alles gesehen. Unser lieber Herr Gott im Himmel hat's auch gesehen und ich denke, Er verzeiht Euch, da er Euch ja selbst die Rettung in dem Gebete meines kranken Kindes geschickt hat.«

Als am andern Morgen der arme Handwerksbursche erquickt und gestärkt, mit heilen Stiefeln an den Füßen und etwas Reisegeld in der Tasche, der braven Bauersfrau und seinem kleinen Schutzengel im Gardinen-umhangenen Bette zum Abschiede die Hand bot, da pochte wieder sein Herz laut in der Brust und die Hand zitterte und in seinen Augen standen Thränen, aber wie ganz anders sah es jetzt in seiner Seele aus, als da er am vergangenen Abend vor der Uhr gestanden! Ihm war es, als hätte er einen schweren, wüsten Traum gehabt, aus dem ihn eine freundliche Stimme geweckt; als hätte er über einem schauerlichen Abgrunde geschwebt, von dem ihn, gerade in dem Augenblicke, in welchem er, unfähig sich länger zu halten, in Begriff gewesen, hinunter zu stürzen, ein starker Arm zurückgezogen. Zwar schauderte ihm bei dem Gedanken an das, was aus ihm geworden sein würde, wenn nicht im Augenblicke seiner größten Schwachheit und höchsten Noth die Gnade des Herrn sich seiner so sichtlich erbarmet, wie es dem Geretteten ja noch lange schaudert, wenn er der überstandenen Todesgefahr gedenkt. Aber dennoch war es friedlich, still und hell in seiner Seele. So hatte er sich noch nie in dem unmittelbaren Schutze seines Gottes gewußt wie jetzt. Nun wußte er gewiß, daß der, vor dem kein Ansehen der Person gilt, und ohne dessen Willen kein Sperling vom Dache fällt, auch für ihn, den armen, unbekannten und verachteten Handwerksburschen ein treues Vaterauge habe. Und durch die Sabbathsstille seines Herzens tönte es wie liebliches Glockengeläute: »Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist Seinen heiligen Namen; lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht was Er dir Gutes gethan hat.«

Der arme Handwerksbursche hat es nicht vergessen. Das Gebet des kranken Kindes ward nun auch sein Gebet, das ihn auf allen seinen ferneren Wanderungen begleitete, und nie hörte er die Betglocke schlagen, ohne mit einem Dankgebete der Rettung seiner Seele zu gedenken.

31. Brief.
Elsbeth an Maria

H......, den 28. Februar 18..

Halte mich nicht für undankbar, daß ich Deinen lieben Brief, der mich so sehr erfreut hat, so lange unbeantwortet lassen konnte. Die Entschuldigungsgründe für mein Schweigen sind dieselben, welche ich Dir in meinem letzten Briefe schrieb, deshalb wiederhole ich sie hier nicht.

Deine beiden Aufsätze habe ich bei Bergmanns vorgelesen und wir alle drei haben Freude daran gehabt.

In Bezug auf »die Betglocke« sagte Rudolf:

»Es ist sehr zu beklagen, daß in den großen Städten die Sitte, die Betglocke zu läuten, aufgehört hat, und wo dieselbe noch besteht, da verhallt ihr mahnender Klang in Straßenlärm und dringt nicht zu den Ohren der Menschen; und doch hätten die Menschen in den großen Städten es doppelt nöthig, im Getreibe und Gewirre der irdischen Geschäfte und der irdischen Lustbarkeit einige Mal des Tages inne zu halten und sich auf ihre höhere, ewige Bestimmung zu besinnen.«

Sein Mütterchen meinte:

»Könnte man denn aber nicht auch ohne die auffordernde Stimme der Betglocke sich Zeiten zu einem kurzen Gebete am Tage festsetzen?«

Rudolf entgegnete:

»Ja, gewiß, das könnte man, aber leider ist ja der Mensch so geartet, oder um mich richtiger auszudrücken, durch die Sünde so entartet, daß er das, was ihm das Wichtigste sein sollte, sein Verhältniß zu Gott, am ersten vergißt und zu nichts mehr Anmahnung und Aufforderung bedarf, als die Angelegenheit seiner Seele nur so einigermaßen in Ordnung zu halten.«

Wir sprachen noch länger über diesen Gegenstand und das Endresultat unserer Unterredung war, daß sein Mütterchen und ich uns vornahmen, von jetzt an auch ohne den Ruf der Betglocke uns täglich zweimal, Mittags um zwölf Uhr und Abends um sechs Uhr, im Geiste bei der großen Betgemeinde einzufinden, welche alsdann vor dem Herrn steht und Ihm ihr Anliegen darbringt. –

Sieh, liebstes Herz, so hat Dein Aufsatz schon Nutzen geschafft; freut Dich das nicht?

Unser Hochzeitstag – wir haben für denselben den 3. Mai in Aussicht genommen – wird rasch herankommen. Voriges Jahr sah ich auch einer Hochzeit entgegen, aber mit ganz andern Gefühlen als jetzt. Damals suchte ich nichts als rauschende, betäubende Lust und konnte den Tag kaum erwarten, der mich, wie ich meinte, einmal über die alltägliche Langeweile hinaus, auf die Höhe sprudelnder Freude tragen sollte. Meinem eigenen Hochzeitstage gehe ich, wenngleich mit festem, getrostem Schritte, so doch nicht ohne tiefen Ernst entgegen. Es ist aber doch auch, scheint mir, für ein Mädchen keine leichte Sache, so gänzlich mit dem früheren Leben zu brechen, daß sie von demselben nicht einmal ihren Namen behält, und von da an keinen eigenen Willen mehr, sondern in allen Dingen den Willen des Mannes über sich zu haben. Ich glaube, ich würde diesen Schritt, ungeachtet meiner großen Liebe zu Rudolf, nicht ohne Beben thun können, wüßte ich mich nicht auf dem mir von Gott vorgezeichneten Wege, auf welchem Er mich geführt und auf dem Seine Vaterhand mich auch leiten und stützen wird. Ja diese Vaterhand will ich halten im Leben und im Tode.

Es ist mir ein etwas drückender Gedanke, daß ich meinem Manne keinen andern Brautschatz zubringen werde, als eine kranke Mutter und einen noch unerzogenen Bruder. Ich äußerte dies einmal gegen Rudolf, da schloß er mich lächelnd in seine Arme und sagte:

»Als Erwiderung hierauf will ich Dir eine zweisilbige Charade aufgeben. Höre: Wohl dem Manne, dem die erste Silbe so sehr die zweite ist, daß er darüber das Ganze vergißt. Nun rathe.«

Ich rieth und traf auch bald das Richtige. Meine kleine gescheidte Freundin wird die Auflösung auch bald finden, deshalb schreibe ich dieselbe nicht.

Von unserm Georg ist Nachricht da. Das Unglück unseres Hauses und die Schläge, die er direct von Gott empfangen hat, scheinen Eindruck auf ihn gemacht zu haben. Ich glaube, er sieht seinen früheren Leichtsinn ein und bereut ihn. Er hat sich in den ersten Jahren furchtbar kümmerlich durchschlagen müssen; er hat Stiefel geputzt, Holz gespalten, Wasser getragen, Steine geklopft. Jetzt hat er eine Anstellung auf einem Bureau gefunden und ist aus der drückendsten Noth heraus.

Ach Maria, würde doch auch seine Seele gerettet! Ich hoffe, daß Gottes Erbarmen meinen Bruder nicht lassen wird, bis auch er den gesegneten Gang des verlorenen Sohnes antritt.

Lebe wohl, mein süßes Mariechen, es küßt Dich zur guten Nacht

Deine
Elsbeth.

32. Brief.
Maria an Elsbeth

Breitenstein, 20. März 18..

Deinen Brief, geliebte Elsbeth, fand ich bei unserer Rückkehr von Kronsdorf auf meinem Schreibtische vor; er begrüßte mich wie eine liebe Stimme aus der alten Heimath.

Habe Dank für Deine treu bewahrte Freundschaft! Ja, auch ich werde Dich mit Gottes Hülfe immer lieb behalten. Deine Freundschaft ist der schönste Schmuck meines Lebens. Ich kann jetzt nicht an Dich denken, meine Elsbeth, ohne daß sich mein Denken in ein Danken verwandelt. Du bist mir der anschaulichste Beweis der wunderbaren Güte unsers Gottes. »Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu Mir gezogen aus lauter Güte!« Das ist auch an Deiner Seele wahr geworden, dem Herrn sei Dank!

Die Charade, welche Dein Rudolf Dir aufgegeben, ist von mir – obgleich ich mich sonst, wie Du weißt, im Räthselrathen nie besonders hervorgethan habe – ebenfalls gelöst worden: Wohl dem Manne, dem die Braut so sehr Schatz und Perle ist, daß er darüber den Brautschatz vergißt. –

Wie herzlich freut es mich, liebste Elsbeth, daß Ihr bessere Nachricht von Deinem Bruder aus Amerika habt. Ja gewiß, der Herr wird auch seiner Seele nachgehen und sie nicht lassen.

Auf sehr verschiedenen Wegen führt der Herr die Menschen zu dem Einen Ziele. Für jede einzelne Seele bringt Er, glaube ich, eine besondere Erziehungsmethode in Anwendung. Einst, wenn alle Geretteten beisammen sein und sich gegenseitig die Wege erzählen werden, auf denen der Herr sie aus der Irre in die Heimath geführt, welch' wunderseltsame Geschichten werden wir da noch zu hören bekommen!

Meine Lebensführung, so einfach und natürlich sie auch im Vergleich zu vielen andern erscheinen mag, bietet mir schon viel Stoff zur anbetenden Bewunderung der – ich möchte sagen – eigenthümlichen Gedanken meines Gottes, daß ich oft gar nicht damit fertig werden kann. Es gewährt mir ein ganz unbeschreibliches Vergnügen, dem lieben Gott gleichsam auf die Finger zu sehen und zu beobachten, wie Er es nun weiter mit mir fügt. Zuweilen bin ich in dieser Beziehung neugierig wie ein Kind und denke: was der liebe Herr Gott nun wohl wieder für Dich ausgesonnen hat! und kann es dann kaum erwarten bis ich's weiß.

Wie bequem haben es doch die Kinder Gottes vor den Kindern dieser Welt! Während die letzteren meinen, in ihrer Lebensführung alles selbst besorgen zu müssen, und sich daher oft ganz unsinnig mühen, sorgen und quälen – womit sie im Grunde doch nichts zum Guten fördern, sondern nur etwas verderben können –, gehen die Kinder Gottes still ihres Weges, thun die ihnen befohlene Arbeit – wodurch sie auch hinreichend beschäftigt sind – und kümmern sich nicht um Dinge, die sie nichts angehen. Diese überlassen sie Dem, der alle Dinge trägt mit Seinem starken Arm, und dem ihre Lebensführung neben den viel tausend andern nicht die geringste Mühe macht, und der alles, was Ihm überlassen bleibt, auf's Beste hinausführt.

»Wenn's doch alle Menschen wüßten, alle Menschen würden Christen!«

Unser Besuch in Kronsdorf hat länger gedauert, als es Anfangs beabsichtigt war: aus den 14 Tagen, die uns zuerst nur bewilligt, sind nach und nach 6 Wochen geworden. Es waren wieder unbeschreiblich schöne, erquickende, genußreiche Wochen. Ich werde in der Erinnerung noch lange, lange Freude daran haben.

Das Familienleben in Kronsdorf erscheint mir wirklich als ein ideales; so möchte auch ich mir mein häusliches Leben einrichten, wenn mir der Herr dereinst noch einen eigenen Herd bescheeren sollte.

Doch, was sind das für Träumereien? Mir ist mein Lebensweg klar genug vorgezeichnet, und ich bin's auch wohl zufrieden.

Denke Dir, liebste Elsbeth, der Regierungs-Assessor kam auch nach Kronsdorf; er blieb 8 Tage. Diesmal fürchtete ich mich aber nicht mehr vor seinem Kommen, sondern freute mich. Wir sind jetzt sehr gute Freunde. Wir haben oft vierhändig zusammen gespielt und sogar einige Duette gesungen.

Herr von Rautenberg, dessen Gesundheit sich etwas gebessert hat, war Nachmittags und Abends immer bei uns im großen Wohnzimmer.

Wenn wir vier so gemüthlich beim Kaffee oder Thee saßen, wurden sehr häufig Norderneyer Erinnerungen aufgefrischt und wir lachten und scherzten dann wieder so fröhlich wie damals am Strande des Meeres. Es waren ganz herrliche Stunden! –

Nachmittags zur Kaffeezeit pflegte der Bote, der jeden Morgen in die Stadt geschickt wurde, um Briefe von der Post zu holen und nebenbei allerlei Besorgungen zu machen, heimzukehren. Der Diener brachte dann die verschlossene Posttasche mit den Briefen. Herr von Rautenberg öffnete dieselbe und vertheilte die Briefe. Es war immer ein erwartungsvoller Augenblick für Alle, die Unterhaltung stockte unwillkürlich und Aller Augen richteten sich auf die unscheinbare Mappe, die in ihrem Innern so gar verschiedene Nachrichten bergen konnte. Ich sah dieser Briefvertheilung wohl am ruhigsten zu, und wurde daher auch am wenigsten getäuscht.

Eines Nachmittags befand sich unter den Briefen, welche die Adresse des Herrn von Rautenberg trugen, einer, dessen Siegel seine besondere Aufmerksamkeit zu erregen schien; er betrachtete dasselbe aufmerksam und öffnete dann das Couvert mit einer gewissen Hast. Er las und rief:

»Eine Verlobung! Denkt Euch, Fräulein Georgine von Strahlenau hat sich verlobt und zwar mit Freiherrn Kuno von Grimmelswald. Nun, wir wollen ihnen alles Gute und dem Herrn insonderheit hinreichende Geduld wünschen.«

Der Assessor war aufgesprungen und rief lachend:

»Diese Verlobung freut mich, freut mich ganz außerordentlich! Ja, auch ich wünsche dem Brautpaare alles erdenkliche Gute!«

Aus diesen Worten sah ich klar, auch wenn ich es sonst noch nicht gewußt hätte, daß der Assessor Fräulein Georgine nie geliebt hat, und daß seine gewünschte Verlobung mit derselben nichts als ein gegenseitiges Familienabkommen gewesen ist, bei welcher seine Neigung gar nicht in Frage gekommen.

Frau von Rautenberg war auch aufgestanden und sagte:

»Ja, auch ich freue mich von ganzem Herzen für alle Betheiligte.«

Dann trat sie zu mir und fuhr fort:

»Und Sie, liebe Maria, was sagen Sie denn zu dieser Verlobung? Sie sind ja ganz blaß geworden, freuen Sie sich denn nicht auch?«

Durch diese Anrede auf mich selbst aufmerksam gemacht, fühlte ich, daß mir ganz sonderbar zu Muthe war und daß ich deshalb wohl blaß aussehen konnte. Ich nahm mich zusammen und erwiderte:

»Ja, auch ich freue mich.«

Und ich freute mich wirklich, denn in dem Zukunftsbilde, in welchem ich als altes Familien-Erbstück zu figuriren haben werde, war mir Fräulein Georgine als Herrscherin auf Breitenstein die einzige störende Figur.

Der Assessor war an's Fenster getreten, trommelte gegen die Scheiben und pfiff einen Marsch dazu, ein Manöver, welches er auszuführen pflegt, wenn ihn innerlich etwas besonders bewegt.

Nach einigen Augenblicken, in welchen keiner von uns gesprochen, trat er an's Piano und sagte zu seiner Schwester:

»Wo hast Du Dein Choralbuch?«

Ich gab es ihm, er setzte sich und spielte die Melodie: »Nun danket alle Gott.«

Ja, ich glaube, er dankte Gott von ganzem Herzen, denn zu einer Verlobung mit Fräulein Georgine, wie es seine Eltern wünschten, hat er sich offenbar nicht entschließen können, und doch ist es ihm, wie mir scheint, sehr unangenehm gewesen, dem Wunsche seines Vaters direct entgegentreten zu müssen. Fräulein Georgine hat ihm nun selbst aus dieser Verlegenheit geholfen.

Als der Choral beendet, sagte Herr von Rautenberg lächelnd:

»Kinder, ein solches Familien-Ereigniß will nach Gebühr gefeiert werden, deshalb, liebe Therese«, wandte er sich an seine Frau, »besorge uns auf heute Abend eine Ananas-Bowle comme-il-faut

»Das ist ein goldener Gedanke von Dir, liebes Männchen«, rief Frau von Rautenberg und küßte ihren Mann, »ich bin so recht in der Stimmung, ein Gläschen auf die Gesundheit des neuen Brautpaares zu leeren.«

Als am Abend die Bowle auf dem Tische stand, haben wir Alle nach besten Kräften den Verlobten unsere Huldigung dargebracht. Nun erfuhr ich auch noch einiges Nähere über den glücklichen Bräutigam.

Herr von Grimmelswald ist ein schon älterer Herr, seit mehreren Jahren Witwer und hat acht Kinder, von denen das jüngste erst vier Jahre zählt. Ob Fräulein Georgine ihren Stiefkindern wohl eine gute Mutter werden wird? Und ob sie wohl geahnt hat, daß in Kronsdorf ihre Verlobung mit so herzlicher Theilnahme gefeiert wurde?

Doch nun lebe wohl, mein Herz, ich bin heute wieder sehr in's Plaudern hinein gerathen, und es wird Zeit, daß ich schließe.

Deinem Wunsche gemäß, sende ich Dir hieneben eine Probe meiner letzten Schreiberei. Es sind »Lose Blätter.«

Deine
Maria.

 

Lose Blätter.

Erstes Blatt.

Ein Knabe schritt über die Haide. Er war, um Medicin für seine kranke Mutter zu holen, nach der Apotheke gewesen und hatte nun einen Rückweg von beinahe zwei Stunden vor sich. Es war ein Frühlingstag, aber ein solcher, an welchem das Wetter mit der Blätter- und Blüthenpracht um uns und den Frühlingsansprüchen in uns eine empfindliche Disharmonie bildet, und alte Creaturen sehnsüchtig, aber vergebens der warmen Sonnenstrahlen warten, welche allein diese Dissonanz aufzulösen vermögen.

Der Knabe empfand diese Disharmonie im vollsten Maße. Der Wind trieb ihm den kalten Regen in das Gesicht, so daß er häufig die Augen schließen mußte; seine Kleidung schützte ihn nur mangelhaft gegen die Unbilden des Wetters, er fühlte die Nässe schon an verschiedenen Stellen bis zu seinem Körper durchdringen; vom langen, beschwerlichen Marsche war er ermüdet, aber nirgends bot sich ihm ein geschütztes Plätzchen zum Ausruhen; und über dies alles war er sehr hungrig, denn in der Eile, mit der er fortgeschickt worden, hatte man vergessen, ihm ein Butterbrod mitzugeben.

Traurig und mißmuthig ging er seines Weges, die Welt erschien ihm in diesem Augenblicke unsäglich öde, und das Leben unaussprechlich schwer. Er senkte das Haupt und seufzte.

So mochte er eine halbe Stunde gewandert sein, da erblickte er, als er an einem Erlengebüsche vorüberkam, vor sich auf dem Wege einen Gegenstand, der sich schwach bewegte. Der Knabe bückte sich, um darnach zu fassen. Es war ein junges Vöglein, das aus dem Neste gefallen war und sich nun nicht zu helfen wußte; von Nässe und Kälte erstarrt, war es dem Tode nahe.

»Armes Thierchen«, sagte der Knabe mitleidig, »wie elend Du aussiehst! Du bist ja noch weit schlimmer daran als ich; Du hättest sterben müssen, wenn ich nicht gekommen wäre.«

Er hob das Vöglein auf. Vorsichtig und leise trocknete er es mit dem Futter seiner Jacke; dann schob er es behutsam in den Schlitz seines Hemdes, denn hier auf seiner bloßen Brust war so ziemlich der einzige trockne, warme Platz, den er ihm zu bieten hatte.

Rascher setzte er nun seinen Weg fort, von Zeit zu Zeit durch den Schlitz seines Hemdes lugend, um nach seinem Schützlinge zu sehen. Er dachte sich aus, wie er es dem Vöglein daheim in einem alten leeren Vogelbauer wohnlich machen und ihm Futter reichen wolle. Hierüber ward sein Gemüth fröhlich und guter Dinge; die Welt schien ihm nicht mehr öde, und das Leben gar nicht mehr beschwerlich zu sein. Zuletzt pfiff er sich, Wind und Wetter zum Trotz, sein lustigstes Lied.

Was war's, das diese Veränderung in ihm hervorgebracht hatte? War es das arme halbtodte Vöglein? Es war ein Abglanz der göttlichen Barmherzigkeit in einer armen Menschenseele!

In diesem Augenblicke zertheilte sich das Gewölk über ihm, und ein Sonnenstrahl fiel warm und hell auf des Knaben Antlitz. –

Zweites Blatt.

Zwei kleine Kinder, Bruder und Schwester, saßen vor der Thür auf einer niedrigen Bank, Sie hatten ihr Vesperbrot verzehrt und blickten nun beide träumerisch – wie nur Kinder zu blicken vermögen – zum Himmel empor.

»Ich möchte wissen«, begann der Knabe, »wie hoch wohl der Himmel ist.«

»Das kann ich Dir sagen«, antwortete das kleine Mädchen, »er ist nicht höher, als daß man mit einer Leiter hineinsteigen kann.« –

»Das glaube ich nicht, er muß viel höher sein.« –

»Nein, höher ist er nicht, ich weiß es ganz gewiß.« –

»Woher weißt Du es denn?«

»Aus unserer biblischen Geschichte. Jacob hat ja die Leiter gesehen, welche die Engel vom Himmel aus auf die Erde herabgesetzt haben, und hat sie darauf auf- und niedersteigen sehen.« –

»Ja, das ist wahr, daran dachte ich nicht, aber es ist mir doch, als müßte er höher sein.«

»Nein«, schloß das kleine Mädchen, »höher ist er nicht.« –

Beide standen auf und gingen in das Haus.

Drittes Blatt.

Ein Briefträger ging am frühen Morgen durch die Straßen, ein großes Packet Briefe in der Hand. Es war in den ersten Tagen des Januars und bitterkalt.

Der Mann mußte täglich viele, viele Treppen steigen; um einen einzigen kleinen Brief oft vier hohe, steile Treppen. Bei jeder Treppe seufzte der Mann, das Steigen ward ihm sehr sauer, denn er war brustkrank.

»So viele Briefe muß ich täglich bestellen«, dachte er jetzt, »und bekomme selbst nie einen. Ich möchte auch einmal einen Brief erhalten, aber mit einer erfreulichen Nachricht. Ich sehne mich nach einer erfreulichen Nachricht; ach, das Leben ist so schwer! Aber mich kennt keiner, keiner hat mich lieb und keiner schreibt mir einen Brief!«

Er ging weiter.

In dem dritten Stock eines Hauses hatte das Dienstmädchen ein Fenster geöffnet. Vor dem offnen Fenster lag ein Stapel Schulbücher. Der Wind hob den Deckel des obersten Buches und nahm ein loses Blättchen Papier, welches zwischen den Deckel und das Titelblatt des Buches gelegt worden war, heraus. Das Blatt senkte sich zur Erde und fiel gerade vor die Füße des Briefträgers. Er hob es auf; es war einer jener Neujahrswünsche, welche alljährlich zu vieltausenden verschenkt und verschickt werden, und welche den Briefträgern so viel Mühe machen. Der Mann hatte das Blättchen, welches er jetzt in der Hand hielt, vor einigen Tagen selbst dort hinaufgetragen; aber das wußte er nicht. Er blickte auf das Blatt; es standen nur fünf kleine Wörter auf demselben; aber sie waren mit goldenen Buchstaben gedruckt und lauteten: »Immer heiter, Gott hilft weiter!«

Der Briefträger las; dann blickte er nach oben, es war niemand zu sehen. Er las wieder: »Gott hilft weiter!« Wie, sollte dies eine Antwort sein auf seine Klage: »Niemand kennt mich, niemand hat mich lieb und niemand schreibt mir?« Ihm fiel ein Spruch ein, den er als Knabe gelernt, an den er aber seitdem nicht wieder gedacht hatte, und welcher lautet: »Du machest Deine Engel zu Winden.« – Er steckte das Blatt in seine Brusttasche und da blieb es.

Jedesmal wenn die vielen Wege ihm sauer wurden, und er seufzend vor einer Treppe stand, dachte er an den Brief in seiner Tasche und wiederholte sich die Worte: »Gott hilft weiter!«

Und Gott half weiter. Als der Frühling kam, konnte der Briefträger seinen Dienst nicht mehr versehen, er lag auf seinem letzten Lager. Und bald bettete man den müden Mann zur letzten Ruhe; in seinen gefalteten Händen hielt er ein zerknittertes Blättchen Papier; so hatte er es bestimmt.

Viertes Blatt.

Der französische Gesandte gab einen glänzenden Ball. Die Elite der Gesellschaft war geladen. Die Sterne funkelten bereits am Himmel, und Carossen fuhren durch die Straßen. Die reiche Gräfin X. saß im Fond eines weich gepolsterten Wagens; vor ihr auf dem Rücksitze hatten zwei junge Mädchen Platz genommen. Die eine war ihre Tochter, die junge, schöne, geistreiche und lebenslustige Comtesse Alma; die andere war deren Freundin und Gesellschafterin, Comtesse Clara. Beide Mädchen waren schön, und auf ihren Gesichtern lag der Ausdruck freudiger Erwartung. Comtesse Alma trug in dem üppigen braunen Haar einen Kranz von weißen Rosen mit Silberblättern, der ihr, neben den rothen Rosen der Gesundheit auf den vollen Wangen, vortrefflich stand.

Vor der stolzen Carosse fuhr langsam ein leerer Wagen. Als der Kutscher in raschem Trabe an demselben vorbeifuhr, bemerkten die Mädchen, daß es ein Todtenwagen war.

»Hu!« sagte schaudernd Comtesse Clara, »das bedeutet nichts Gutes! Daß uns der auch gerade jetzt begegnen muß!«

»Hasenherzchen, bist Du bange?« fragte lachend Comtesse Alma. »Ich fürchte mich nicht; dieser Todtenwagen soll mich in meiner Freude nicht stören. Das Leben ist lustig, und ich bin heute sehr lustig. Es ist mein zwanzigster Geburtstag, und ich will tanzen, wie ich noch nie getanzt habe. Wäre doch das ganze Leben ein Tanz! – Sollte ich mich aber diese Nacht todt tanzen, dann, Clara, sorge Du dafür, daß ich auf diesem Todtenwagen in unsere alte Familiengruft draußen auf dem Gute gebracht werde; auch will ich in diesem Ballanzuge, der mir so gut steht, begraben werden; hörst Du?«

»Kind«, warf hier die Mutter verweisend ein, »was redest Du da wieder für tolles Zeug! Sprecht von etwas anderem!«

»Ja, Mama, das wollen wir; vom Tode zu reden ist immer noch Zeit; erst wollen wir leben und fröhlich sein!« –

Der Wagen hielt vor dem Gesandtschafts-Hotel. Teppiche waren bis auf die Straße gelegt, damit die Atlas-Stiefelchen der Damen mit der gemeinen Erde nicht in Berührung kämen.

Die Musik ertönte schon, und tanzende Paare wirbelten durch den Saal. Comtesse Alma wurde gleich bei ihrem Eintritt in den Saal engagirt; sie war eine der gefeiertsten Balldamen.

Nach Mitternacht, da die lärmende, sinnbethörende Lust bereits ihren höchsten Gipfel erreicht hat, entsteht plötzlich an einem Ende des Saales eine Verwirrung. Die Menschen drängen sich und fliehen auseinander.

»Was ist geschehen?« –

»Eine Dame ist ohnmächtig geworden und wird hinaus gebracht.« –

»Wer ist es?« –

»Comtesse Alma von X.« –

»Es ist kein Wunder, daß jemand ohnmächtig wird, der so unsinnig tanzt.« –

»Nun, sie wird sich schon erholen; lassen wir uns nicht stören.« –

Der Tanz ward nicht unterbrochen, die Lust nicht gestört; von Comtesse Alma ward nicht weiter gesprochen. Der Geber dieses Festes wollte, daß dasselbe würdig schließen sollte; die Diener hatten ihre Instruction. –

Vier Tage nach diesem »entzückenden Balle«, wie ihn die jungen Damen nannten, fuhr ein Leichenwagen, mit einem großen Gefolge hinter sich, langsam durch die Straßen. Auf demselben stand ein reich geschmückter Sarg. Und in dem Sarg lag im vollen Ballanzuge, aber bleich und kalt, Comtesse Alma. Sie war nicht ohnmächtig geworden, wie man gesagt, ein Herzschlag hatte ihrem jungen, übermüthigen Leben ein jähes Ende gemacht.

Jetzt steht der Sarg zwischen vielen anderen Särgen in der alten Familiengruft, draußen auf dem Gute. Die übrigen Kränze und Guirlanden sind längst verwelkt, aber ein Kranz von weißen Rosen mit Silberblättern liegt noch auf dem Sarge und erzählt in dieser stillen, ernsten Gesellschaft von der Lust des irdischen Lebens.

Fünftes Blatt.

Der alte Bürger und ehemalige Sattlermeister R. saß im warmen Sonnenschein vor seiner Thür und rauchte aus einer kurzen Pfeife. 85 Jahre waren über seinen Scheitel dahin gegangen und hatten die letzten spärlichen Haare desselben mit hinweggenommen, aber seine norddeutschen blauen Augen blickten noch hell und klar, und zwischen den Runzeln seines alten Gesichts schaute eine tiefwurzelnde Zufriedenheit hervor.

»Guten Morgen, Herr Nachbar, wie geht's?« –

»Danke, Frau Nachbarin, wie immer, heil-prächtig.« –

»Ja, wer das sagen kann! Herr Nachbar, Ihr seid ein glücklicher Mensch!« –

»Gott sei Dank, das bin ich. Frau Nachbarin, setzt Euch ein wenig zu mir; es plaudert sich so gut im lieben warmen Sonnenschein.« –

»Ja, wer dazu Zeit hätte! Das Leben ist eine Hetzjagd, man kommt aus der Arbeit gar nicht heraus. Doch einen Augenblick will ich mich setzen. Herr Nachbar, sagt mir doch, seid Ihr immer so zufrieden und vergnügt gewesen?« –

»So viel ich weiß, ja.« –

»Aber sagt doch, wie habt Ihr's angefangen? Ich möchte mein Leben auch so in Zufriedenheit und Ruhe genießen können, wie Ihr.« –

»Das könnt Ihr leicht haben, Frau Nachbarin. Wenn Ihr mein Recept gebrauchen wollt, will ich es Euch sagen.« –

»Nun, laßt hören.« –

»Erstens habe ich mich nie mit Sorgen abgegeben. Frau Nachbarin, Sorgen ist ein schlechtes Geschäft, mit dem kein Christenmensch sich befassen sollte. Das Sorgen habe ich allewege unserm Herr Gott überlassen, der weiß mit der Art Sachen ganz anders umzuspringen, als unsereins. Und zum Zweiten habe ich mich nie geärgert. Wo andere Menschen sich ärgern, da habe ich mich stets nur gewundert. Aerger zehrt am Leben und an der Gesundheit, aber ein Bischen Verwunderung schadet nicht, dabei kann man alt werden, wie Ihr seht. Habt Ihr nicht Lust, mein Recept auch einmal zu probiren, Frau Nachbarin?« –

»O ja, das habe ich wohl. – Doch da schreit schon wieder eines der Kinder, was nur wieder passirt sein mag! Guten Morgen, Herr Nachbar, man kommt aus der Angst und dem Aerger doch gar nicht heraus!«

Sechstes Blatt.

Am Tage nach seiner Confirmation – es war der 5. April – wanderte ein Knabe durch die Straßen der Residenzstadt. Er hatte sein Heimathdorf verlassen, um in der Stadt sein Glück zu versuchen. Seine Eltern waren todt; er war auf sich selbst gestellt. Seine wenigen Habseligkeiten trug er in einem Bündel unter dem Arme. Er kam an einer Kirche vorbei und blieb stehen, dieselbe zu betrachten. Ueber der Haupteingangsthür befand sich ein Crucifix aus Stein. Andächtig schaute der Knabe zu dem Bilde empor, und das Bild schaute wie segnend zu ihm hernieder. Dann setzte er seinen Weg fort, er war ja gekommen, sein Glück zu versuchen. Er suchte und fand es, denn er war ein gewitzter Kopf und wußte die gegebenen Verhältnisse zu benutzen.

Dreißig Jahre sind vergangen. Es ist wieder der 5. April. Eine elegante Equipage rollt leicht durch die Straßen. Kutscher und Bediente sind in neuer, glänzender Livrée. In dem Wagen sitzt der reiche Banquier S. in weißer Atlasweste und weißer Cravatte, und die Orden auf dem neuen Frack stehen ihm gut. Der Ausdruck hoher Befriedigung liegt auf seinem Gesichte. Er hat heute Morgen den zweiten Orden erhalten, ist baronisirt und gleichzeitig zum ersten Male zur Königlichen Tafel befohlen worden. Hiermit ist ein Ziel erreicht, nach welchem er seit Jahren männlich und kühn mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln gestrebt hat.

Der Wagen führt an der Kirche mit dem steinernen Crucifix vorbei. Das Kreuz schaut auch heute segnend hernieder, aber der Mann im Wagen hat weder Blick noch Gedanken hinauf zu senden. Sein Blick haftet auf seiner decorirten Brust, und seine Gedanken sind den schnellen Pferden vorausgeeilt und bewegen sich schon im Empfangszimmer des Schlosses zwischen den besternten Herren, denen er sich jetzt glaubt gleichberechtigt an die Seite setzen zu dürfen.

Wieder sind 30 Jahre verflossen. Die Glocken läuten, und ein Leichenzug bewegt sich ernst und langsam durch die Straßen. Vor dem Zuge her schreitet ein Musikchor und spielt Trauermelodien. Einem reichen und für die Geschäftswelt bedeutenden Manne soll die letzte Ehre erwiesen werden. Auch dieser Zug nimmt seinen Weg an der Kirche mit dem steinernen Crucifix vorüber. Das Kreuz grüßt segnend aus alle herab, aber keiner erwiedert dankend den Gruß, sie haben alle etwas anderes zu sehen und zu denken. Und der stille, bleiche Mann im Sarge? Ob er wohl in der Scheidestunde das Kreuz erfaßt und damit den Grund gefunden hat, der seinen Anker ewig hält?

Siebentes Blatt.

In dem Dachstübchen eines Hinterhauses wohnte eine Nätherin. Das Stübchen war klein und unfreundlich. Durch das niedrige Fenster blickte man entweder auf die Schornsteine der Nachbarhäuser, oder in einen engen, düstern Hof hinab. Vom Himmel sah man des vorspringenden Daches wegen nur dann ein Weniges, wenn man sich weit zum geöffneten Fenster hinausbeugte und das Gesicht nach oben wandte. Hierzu hatte die Nätherin weder Zeit noch Lust, und so ward sie in ihrem Stübchen nichts vom Himmel gewahr, nur Rauch und Dunst der Erde stieg zu ihr empor.

Sie selbst trug das Gepräge ihrer Umgebung, sie war klein, häßlich und in einem hohen Grade verwachsen. Aber sie war noch jung und besaß ein reiches, warmes Herz. Sie hätte die ganze Welt in Liebe umfassen mögen, aber es mochte sich niemand von ihr lieben lassen, sie besaß nicht eine Freundin, sie war allen zu häßlich.

Die arme Nätherin empfand diese innere Einsamkeit tief und schmerzlich, und dieser Schmerz gab ihrem ganzen Wesen eine Unfreundlichkeit und Bitterkeit, welche sie in den Augen der Menschen noch unliebenswürdiger machte.

Sie war geschickt und fleißig, deshalb nahm man sie ihrer Arbeit wegen gern in's Haus, ihre Persönlichkeit aber war allen, und besonders den Kindern, höchst unangenehm.

»Wie man in den Wald ruft, so erhält man Antwort.« Die arme Nätherin gab und empfing in ihrem Verkehre mit den Menschen nur Unfreundlichkeit und Bitterkeit. Und doch hätte sie, während sie sich innerlich in Groll und Haß verzehrte, alle Menschen lieben mögen, sie wußte es nur nicht anzufangen.

Da blickte einst Gott der Herr in besonderer Huld und Erbarmung auf dieses einsame Menschenherz herab. Er winkte einem Engel und gab ihm einen Befehl. Der Engel schwebte zur Erde hernieder und trat in's Stübchen der Nätherin. Es war in der heiligen Weihnachtszeit. Sie schlief.

Was brachte der Engel dem einsamen Mädchen? Reichthum? Schönheit? – Nein, und doch brachte er ihr den ganzen Himmel auf die Erde hernieder. Er berührte mit seinem Finger ihr Herz und wies dabei nach oben, wohin er selbst wieder seinen Flug nahm. Und das unruhige Feuer, welches bis dahin verheerend im Herzen gebrannt hatte und in Groll und Bitterkeit nach allen Seiten hin ausgeschlagen war, brannte jetzt in einer klaren, stillen Flamme und stieg gerade zum Himmel empor. –

Es war um die Osterzeit, da begegneten sich zwei Freundinnen – Bekannte der armen Nätherin – auf der Straße.

»Guten Tag, woher kommst Du?« –

»Von Susanne Z.« –

»Von der! besuchst Du denn die unfreundliche Person?« –

»Ja, sie ist jetzt aber nicht mehr unfreundlich. Ich weiß nicht, wie es zugeht, aber so häßlich, wie früher, ist sie auch nicht mehr. Sie ist so still und gut, und ihre Augen blicken so freundlich. Ich bin jetzt gern mit ihr zusammen.« –

»Ist es möglich? Bitte, dann nimm mich einmal mit, wenn Du zu ihr gehst.« –

»Gern, sie hat mich gebeten, Sonntag Nachmittag wieder zu kommen, dann gehen wir zusammen.«

Achtes Blatt.

Frau Geheimräthin schellt, das Dienstmädchen tritt in's Zimmer.

»Rieke, gehe jetzt mit der Kleinen spazieren. Auf dem Heimwege kaufe einige Bonbons für sie, hier ist Geld.« –

Drei Jahre sind vergangen. Die fünfjährige Rosa, ein allerliebstes Lockenköpfchen, kommt zu ihrer Mama gelaufen.

»Mama, liebe Mama, bitte, schenke mir einen Groschen.« –

»Wozu, mein Herzchen?« –

»Rieke geht aus, sie soll mir Boltjes mitbringen.« –

»Du süßes Naschkätzchen, wie viele Groschen hast Du mir schon auf diese Weise abgebettelt! Na, hier hast Du einen.« –

Rosa empfängt den Groschen und eilt, ohne Dank, schnell wie sie gekommen, zur Thür hinaus. Die Geheimräthin blickt ihrem Töchterchen mit mütterlichem Entzücken nach und lispelt: »Das reizende Kind! man kann ihr doch nichts abschlagen.« –

Zehn Jahre sind vergangen. Zwei junge Mädchen, mit Schulbüchern unter dem Arme, schlendern eifrig plaudernd durch die Straßen. Plötzlich bleiben sie stehen.

»Sieh, Franziska, hier wohnt der Conditor, der den schönsten Apfelkuchen backt. Wollen wir ein Stück essen ?« –

»Ich habe kein Geld bei mir.« –

»Das schadet nicht, ich habe Geld und kann es für Dich auslegen.« –

»Aber, Rosa, denkst Du nicht daran, daß Herr Pastor B. uns erst in der letzten Stunde gesagt hat, wir Confirmanden möchten diesen Winter weder in's Theater, noch in eine Conditorei gehen?« –

»Nun ja, das ist so seine strenge Ansicht. Es kann aber doch unmöglich eine Sünde sein, ein Stück Apfelkuchen zu essen, besonders wenn man so hungrig ist, wie ich es bin. D'rum, Franziska, sei keine Thörin und komm mit!« –

Beide Mädchen traten in die Conditorei. –

Andere zehn Jahre sind vergangen. Es ist Januar. Der Obergerichtsrath H. sitzt am Schreibtische; auf demselben liegen eine Menge Papiere. Die Stirn des Obergerichtsraths ist gerunzelt, und sein Auge blickt finster. Da öffnet sich die Thür, und seine junge, schöne Frau tritt herein, strahlend von Gesundheit und Lebenslust.

»Aber, liebe Rosa, was ist dies? Ich erhalte hier eine Menge Rechnungen, von denen ich nichts weiß. Bitte, sage mir, hast Du dies alles gekauft?« –

»Ja, lieber August, das wird wol so sein.« –

»Aber, liebe Rosa, Du scheinst eine ganz irrige Vorstellung von dem Gehalte eines Obergerichtsraths zu haben. Ich weiß wirklich nicht, wovon ich alle diese Rechnungen bezahlen soll. Fahren wir so fort, dann sind wir in kurzer Zeit ruinirt.« –

»Lieber August, sei nicht böse; ich will mich gewiß einschränken!« –

Wieder sind zehn Jahre vergangen und wieder ist es Januar. Zwei Herren begegnen sich auf der Straße.

»Guten Morgen! Haben Sie denn schon gehört, daß der Obergerichtsrath H. diese Nacht gestorben ist, am Herzschlage, wie es heißt?« –

»Ist es möglich? Er war ja gestern Abend noch im Club, und wie es schien, ganz gesund.« –

»Gesund vielleicht, aber sehr düster und in sich gekehrt.« –

»Die arme Frau mit ihren fünf kleinen Kindern!« –

»Ja, die ist sehr übel daran, denn die Vermögensverhältnisse stehen so schlecht, daß ein Concurs unvermeidlich sein wird.« –

»Die arme Frau! Ja, H's. haben wol ein bischen zu großartig für ihre Verhältnisse gelebt. Aber es waren charmante Leute, und ihre Gesellschaften ließen nichts zu wünschen übrig. Schade, daß die jetzt aufhören!«

Neuntes Blatt.

In einem einfach aber geschmackvoll eingerichteten Zimmer saß im Lehnstuhle am Fenster eine Matrone. Murr, ihr grauer Kater, schnurrte zusammengerollt zu ihren Füßen. Es war in der Abenddämmerung, jener behaglichen Stunde, in welcher die Geister der Erinnerung am liebsten die Menschen besuchen, um ihnen Bilder aus längst vergangenen Tagen vorzuführen. Der Mond schien klar und voll in's Zimmer und erfüllte dasselbe mit seinem magischen Lichte, so daß die alte Straßenlaterne, welche gewohnt war, um diese Zeit ihren freundlichen Dämmerschein im Zimmer zu verbreiten, heute gar nicht zur Geltung kam.

Die Bewohnerin des Zimmers saß in ihrem Sessel zurückgelehnt und schaute mit ihrem inneren Auge dem Treiben der Erinnerungsgeister zu, welche heute besonders geschäftig waren, Bilder aus einer fernen Vergangenheit vor ihr aufzurollen.

Das erste Bild zeigte ihr ein blühendes Mädchen im hellen, leichten Gesellschaftskleide. Dieselbe stand in der Mitte eines Zimmers und hielt eine Rose in ihrer Hand, welche sie mit dem Lächeln des Glücks und der Freude betrachtete. Leise hauchte sie einen Kuß auf die Rose und stellte sie dann in ein Glas mit Wasser auf die Kommode.

Das Bild verschwand, und ein zweites wurde ausgerollt.

Es war Abend, und eine Lampe brannte auf dem Tische. Vor dem Tische saß dasselbe junge Mädchen, aber im dunkeln, einfachen Hauskleide, und las in einem großen Buche. Es war die Bibel. Sie lernte an einem Spruche. Derselbe lautete: »Gieb Mir, mein Kind, Dein Herz und laß Deinen Augen Meine Wege Wohlgefallen!« –

Sie saß lange und lernte; das Lernen ward ihr schwer. Der Kopf hatte den Spruch schon lange begriffen, aber sie sollte ihn auch mit dem Herzen erfassen, und das ging langsamer.

Endlich war sie fertig und stand auf. Sie war älter geworden, denn das Lernen hatte mehrere Jahre gedauert. Die Farbe ihrer Wangen war gebleicht, ihr Auge aber blickte hell und zufrieden, sie hatte ja ihre Aufgabe gelernt. Jetzt schaute sie sich im Zimmer um. Da stand die Rose, verblichen und vertrocknet, im leeren Glase. Sie faßte die Rose. Von der Berührung ihrer Hand fielen die trocknen Blätter alle zur Erde. Sie sammelte dieselben, ließ ihren Blick noch einmal auf diesen Erinnerungsresten einer glücklichen Zeit ruhen, und warf sie dann in den Kamin.

Jetzt verschwand auch dieses Bild, ein neues wurde aufgerollt.

Eine Matrone stand im Zimmer. Sie war so eben erst hereingetreten und legte Schirm und Hut bei Seite. Der Weg, den sie gemacht, schien ihr sauer geworden zu sein, denn sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und setzte sich mit der Geberde der Ermüdung in einen Sessel. Es war ihr Lebensweg, den sie zurückgelegt und auf welchem sie nicht immer leichte Arbeit gehabt hatte. Jetzt aber war ihre Arbeit gethan, sie durfte ausruhen, und sie that es mit dem Gefühle dankbarer Zufriedenheit; Murr schnurrte zu ihren Füßen.

Das Bild sank, und das Schlußbild sollte aufgerollt werden, da klopfte es an die Thür, und herein traten zwei junge Mädchen.

»Guten Abend, liebe Tante, sitzest Du noch im Dunkeln? Man sieht Dich ja kaum. Wenn wir Murr auf den Schwanz treten, darf er es uns nicht übel nehmen.«

»Tretet unbesorgt näher, Kinder, Murr weiß sich in die Verhältnisse zu schicken, er wird Euch seinen Schwanz nicht vor die Füße legen. Was führt Euch denn aber in dieser Stunde noch zu mir?«

»Einen schönen Gruß von der Mama, und Du müßtest morgen Abend jedenfalls zu unserer kleinen Gesellschaft kommen.«

»Aber, Kinder, ich passe wirklich nicht mehr in die Gesellschaft. Was soll ein Stück graues Alterthum in der blühenden Gegenwart?« –

»Wie seltsam Du sprichst, liebstes Tantchen! Du weißt doch, daß unsere Eltern beide nicht zufrieden sind, wenn Du nicht dabei bist, und wir, Deine Nichten, sind es erst recht nicht.« –

»Gut, Kinder, dann werde ich kommen.« –

Zehntes Blatt.

Ein Knabe von sechszehn Jahren, Sohn einer Witwe, arbeitete in einer Fabrik. Er war der Maschine zu nahe gekommen, und diese hatte ihm die rechte Hand zerquetscht. Die Hand mußte abgenommen werden.

Nun lag er bleich und traurig im Bette; er bedachte seine Zukunft und wußte nicht, was aus ihm werden solle.

Sein alter Schulmeister, der ihn lieb hatte und ihn jetzt oft besuchte, hatte gestern am Fußende seines Bettes ein Blatt Papier an die Wand geheftet, auf welchem in großer Fracturschrift der Spruch geschrieben stand Marc. 9, 43:

»Es ist dir besser, daß du ein Krüppel zum Leben eingehest, denn daß du zwei Hände habest und fahrest in die Hölle, in das ewige Feuer.«

Der Knabe hatte seitdem den Spruch wol schon hundertmal gelesen, war aber durch denselben wenig getröstet worden.

Heute hatte seine Mutter einen Weg ausgehen und ihn allein lassen müssen. Er war eingeschlafen und hatte folgenden Traum:

Er war gestorben und schwebte als lichter Geist zum Himmel empor. Je höher er stieg, desto heller und schöner wurde es um ihn her. Er dachte: Jetzt muß bald der Himmel kommen. Ihm war unaussprechlich wohl zu Muthe, aber er wunderte sich, nirgends einem Engel oder einem anderen seligen Geiste zu begegnen. Da – o, wer war das! Das konnte niemand anders als unser Herr Jesus selber sein! Ja, so hatte er sich denselben stets gedacht; aber Er war noch viel, viel schöner und herrlicher, als er Ihn sich je vorgestellt.

Ehrfürchtig blieb er stehen.

Der Herr Jesus – denn Er war es wirklich – kam näher und blickte ihn an voll unaussprechlicher Milde und Güte. Es durchschauerte den Knaben selig.

Der Herr Jesus trug in Seiner allmächtigen Hand die zerquetschte Hand des Knaben; dieselbe war aber nicht mehr verstümmelt, sondern schön und licht, wie er selbst es war. Und der Herr reichte ihm die Hand und sprach:

»Da, nimm deine Hand! Ich habe sie dir verwahrt, sie ist rein geblieben; hättest du sie behalten, du würdest sie befleckt haben. Nimm sie jetzt und sei fröhlich in Ewigkeit!«

Er nahm seine Hand; nun war er kein Krüppel mehr! Er fiel vor dem Herrn Jesu nieder auf seine Kniee und faltete seine Hände; und o, mit welcher Wonne faltete er sie! Er wollte dem Herrn danken – da erwachte er.

Es wollte ihm traurig scheinen, daß er dem Herrn nicht noch erst hatte danken dürfen, doch er sann dem Traume nach und sagte sich: »Der Herr Jesus hat dir denselben gesandt, um dich in deinem Unglück zu trösten, es wird also auch nicht ohne Seinen Willen sein, daß du aufgewacht bist, ehe du Ihm hast danken können. Schenken will Er dir den Dank gewiß nicht, du sollst Ihm jetzt danken. Und das will ich; ich will Ihm danken mein Lebenlang. Ich soll fröhlich sein in Ewigkeit, hat der Herr Jesus gesagt. Soll ich das, dann kann ich's hier auch schon sein!« –

Und der Knabe ward fröhlich, so fröhlich, daß er ein Loblied anstimmte; zuerst mit leiser, schwacher Stimme, bald aber laut und kräftig, daß es durch's offene Fenster weit auf die Straße hinausschallte.

Seine heimkehrende Mutter traute ihren Ohren nicht, als sie ihren Sohn singen hörte. Er aber erzählte ihr, was ihn so fröhlich gemacht.

33. Brief.
Elsbeth an Maria

H ......., den 16. April 18..

Heute, meine liebe Maria, kann ich Dir unsern Hochzeitstag als endgültig auf den 6. Mai festgesetzt, melden. Dies wird also voraussichtlich der letzte Brief sein, den ich als Elsbeth Walter an Dich schreibe.

Die letztverflossenen Wochen sind sehr unruhig und arbeitsreich gewesen. Ein paar Mal bin ich schon nahe daran gewesen, es zu bedauern, daß ich Rudolf's Anerbieten, mir ein Mädchen zu miethen, nicht angenommen habe. Rudolf's Mütterchen ist indeß ganz guten Muthes, wenn sie mich so tüchtig arbeiten sieht. Gestern Abend, als ich müde und erschöpft neben ihr im Sofa saß, sagte sie zu mir:

»Mein liebes Kind, es schadet nicht, wenn Du Dich auch am Tage recht müde arbeiten mußt; nach jedem Tage kommt ja eine Nacht, in welcher Dein jugendlicher Körper durch Schlaf hinreichend gestärkt und erquickt wird. In diesem letztverflossenen Jahre hast Du arbeiten gelernt und das wird Zeit Deines Lebens ein Segen für Dich sein. Glaube mir, es befiehlt sich als Hausfrau ganz anders, wenn man die Arbeiten, welche man von seinen Dienstboten verlangt, aus eigener praktischer Uebung kennt. Ich habe inniges Mitleid mit den kleinen feinen Dämchen, welche in die Ehe gehen und die häuslichen Arbeiten nur vom Hörensagen kennen. Selbst bei gutem Willen kann es nicht ausbleiben, daß sie sich, wenigstens in der ersten Zeit, oft gründlich blamiren. Und ist ein solches überfeine, arbeitsunkundige und in der Regel auch arbeitsscheue Frauchen schon zu bedauern, so sind es Mann und Dienstboten noch viel mehr. Von jedem Menschen erwartet man doch sonst, daß er, wenn er ein Amt übernimmt, auch die zu demselben erforderliche Tüchtigkeit besitzt und also die hierzu nöthige Ausbildung genossen hat. Das Amt einer Hausfrau aber meinen so viele Mädchen übernehmen zu können, ohne sich im Geringsten auf dasselbe vorbereitet zu haben. Und doch hängt das Wohlbefinden und Gedeihen einer ganzen Familie davon ab, daß die Hausfrau ihr Amt gewissenhaft und einsichtsvoll verwaltet. Welchem Mädchen der Herr die Würde einer Hausfrau verleiht, der überträgt Er ein köstliches, aber auch ein sehr verantwortungsvolles Amt. Weil Er uns viel anvertraut, muß Er auch viel von uns fordern!

Es ist nach meinem Dafürhalten schon für eine praktisch gebildete Frau nicht leicht, einem etwas größeren Hauswesen so vorzustehen, daß sie mit ihrem Regiment nur so einigermaßen vor Gott und Menschen bestehen kann. Wie viel weniger wird dies aber einer Frau gelingen können, welche die häuslichen Arbeiten nur vom Ansehen kennt! Deshalb, mein Töchterlein, danke es dem Herrn, daß Er Dich dieses saure Lehrjahr hat durchmachen lassen, ehe Er Dich mit der Würde einer Hausfrau bekleidet. Du wirst noch oft Gelegenheit haben, Dich der in demselben erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse zu freuen.«

Rudolf hat dicht vor dem Altstädter Thore ein Haus gekauft. Es ist nicht groß, aber bequem und hübsch eingerichtet, und liegt in einem Gärtchen. Wir werden die erste Etage beziehen; Rudolf's Mütterchen aber wird mit meiner Mutter und Heinrich zur ebenen Erde wohnen.

Wie freundlich und lieblich gestaltet sich nun doch noch mein Leben! Herr, ich bin nicht werth aller Barmherzigkeit und Treue, die Du an mir thust; aber ich will Deine Güte immer vor Augen haben und streben, Dir durch mein ganzes Leben zu danken!

Dein lieber letzter Brief, mein theures Mariechen, hat mich sehr erfreut, und ich danke Dir von ganzem Herzen für denselben. Es sieht Dir zwar sehr ähnlich – und deshalb sollte es mir eigentlich lieb sein – daß Du an Deinem »Zukunftsbilde« nichts auszusetzen hast; sollte ich indes; die Zeichnung zu demselben entwerfen, so würde sich die Gruppirung der Figuren doch noch etwas anders gestalten. Nun, wer weiß, wie unser lieber Herr Gott über diese Sache denkt! Vielleicht neigt Er Sich mit Seiner Ansicht mehr auf meine Seite und dann – ja dann wirst Du Dir doch noch eine kleine Aenderung Deines Zukunftsbildes gefallen lassen müssen.

Mein süßes Mariechen, ich kann es Dir nicht aussprechen, wie leid es mir ist, gerade Dich an meinem Hochzeitstage nicht bei mir haben zu können!

Unsere Hochzeit wird natürlich ganz still gefeiert werden. Von meinen übrigen Freundinnen aus alter Zeit wünsche ich niemand dabei zu haben; zu denen passe ich nicht mehr – Gott sei Dank!

Fräulein Hillmer habe ich eingeladen, sie hat auch zugesagt. Außerdem erwarten wir einen Bruder Rudolf's mit seiner Frau aus M.

Unser lieber Pastor G., welcher Dich und mich confirmirt hat, wird mich auch trauen. Als Rudolf und ich ihm unsern Besuch machten und das Aufgebot bestellten, war er so herzlich und freundlich, gerade wie damals, als er uns aus der letzten Confirmandenstunde entließ. Ich fühlte, daß er sich freut, mich jetzt auf anderm Wege zu wissen. Meine liebe Maria, ich fange an, etwas von der »Gemeinschaft der Heiligen« zu ahnen. Ja, es giebt ein unsichtbares Band, welches alle Glieder Christi hier auf Erden umschlingt, und dessen Enden der Herr Selbst in Seiner Hand hält.

Eine Hochzeitsreise, welche von den meisten für unerläßlich gehalten wird, werden wir nicht machen, sondern gleich – die Hochzeitsfeierlichkeit wird in Rudolf's jetziger Wohnung stattfinden – unser neues Daheim beziehen. Rudolf sagt, er begreife diejenigen nicht, welche, anstatt es sich im eigenen neuen trauten Daheim wohl sein zu lassen, es vorziehen, die Mängel und Unbequemlichkeiten des Gasthauslebens zu ertragen.

So lebe wohl, mein liebes Mariechen; ich weiß, Du wirst im Geiste den Tag meiner Hochzeit mit feiern, und Deine Gebete werden mich begleiten.

Es grüßt und küßt Dich innig

Deine
Elsbeth.

34. Brief.
Maria an Elsbeth

Breitenstein, zum 6. Mai 18..

Meine geliebte, theure Elsbeth!

So ist denn der Tag herangekommen, der Dein bisheriges Leben abschließen und Dir die Pforte zu einem neuen aufthun soll. Gott segne Dich! Er segne Dir alles, was Dir in Deiner Ehe begegnen wird. Er segne Dir Freude und Leid! –

O meine Elsbeth, wie getrost und ruhig sehe ich Dich diesen Schritt thun! Du thust ihn ja an der Hand Gottes und in Seinem Namen.

Auch mir ist es sehr leid, daß ich nicht zu Deiner Hochzeit kommen kann! Es würde hier nicht passen, wenn ich jetzt Ferien machen wollte; aber so Gott will, sehen wir uns bald wieder. Eine Badereise wird für die Kinder nicht gewünscht, und so darf ich dem Zuge meines Herzens folgen und in den Juli-Ferien zu Dir eilen.

Wie freue ich mich auf das Wiedersehen mit Dir, meine Elsbeth, und auf die Bekanntschaft Deines Rudolf und seines herzlieben Mütterleins!

Euren Hochzeitstag feiere ich im Geiste mit Euch. An diesem Tage darf Breitenstein es nicht übel nehmen, wenn ich nur dem Leibe nach hier weile. Hedwig und Elisabeth werden vielleicht wieder Veranlassung haben, sich über ihr »ungewöhnlich gnädiges Liebchen, das ihre Dummheiten nicht zu bemerken scheint«, zu freuen. Nun, das sei dann ihre Feier.

Mein Myrthenbäumchen sieht aus wie einer, dem vom Friseur die Winterperrücke genommen; es ist gestutzt, gewaltig gestutzt worden, aber es steht da so stolz wie noch nie und hat auch volle Ursache zu solchem Stolz, denn es hat meiner liebsten Freundin den Brautkranz liefern dürfen. Du glaubst nicht, meine Elsbeth, welche Freude es mir gewesen ist, Dir von meinem Myrthenbäumchen, unserm bewährten Freundschaftsbäumchen, den Brautkranz winden zu dürfen! Ja, der muß Dir Glück und Segen bringen! Jedes Blättchen desselben kann Dir von einer treu bewahrten Jugendfreundschaft erzählen und jede kleine weiße Blüthenknospe birgt einen besondern Wunsch für Dich.

Wenn der Kranz Dir auf's Haupt gesetzt wird, dann denke, daß meine Segenswünsche Dich umgeben und sich wie ebenso viele Gebete auf Dein bräutliches Haupt legen.

Bald schreibe ich Dir wieder und erzähle Dir von mir; heute kann ich nichts denken und schreiben als nur dies Eine:

Gott segne Dich!
Deine
Maria.

 

Nachstehendes Gedicht findet sich als specielle Beigabe zum Brautkranz neben dem obenstehenden Briefe.

Gedicht zum Brautkranz.

Der Freundschaft Gabe nimm sie von mir:
Ich habe gewunden den Brautkranz Dir!
Und wand viel fromme Wünsche hinein,
Die sollen Dir allzeit ein Segen sein.
Ich brachte sie vor Gott unsern Herrn,
Der hört fromme Wünsche der Seinen gern.
Er will Dein Leben nehmen in Hut
Und lenken das Herz Deines Mannes gut.
Und will zum Himmel Euch führen ein,
Und lassen Euch beide dort selig sein.
So kränze, Freundin, muthig Dein Haar,
Und schreite mit Freuden zum Traualtar.
Vom Himmel liebend Gott auf Dich schaut,
Und segnet Dich heute und allzeit, Braut!

 

Elsbeth's und Maria's Wunsch ging in Erfüllung: sie sahen sich wieder.

Maria durfte ihre Sommerferien, den ganzen Monat Juli, bei ihrer Freundin verleben. Das war für beide eine frohe, glückliche Zeit!

Bei ihrem ersten Begegnen war jede erstaunt über die Veränderung, welche in dem Aeußern der andern vor sich gegangen. Beide waren größer, kräftiger und – hübscher geworden.

Diese Verschönerung hatte bei Elsbeth ihren Grund hauptsächlich in dem vergeistigten Ausdruck, den ihre Züge bekommen, und in einer Ruhe und Sicherheit, welche setzt wohlthuend ihr ganzes Wesen durchdrangen und ihrer Erscheinung etwas Harmonisches gaben, während man früher in Elsbeth's hübschen, frischen Zügen den Ausdruck eines tieferen geistigen Lebens vermissen mußte und eine gewisse Hast, ein Jagen und Suchen nach einem unbestimmten Etwas ihrer Persönlichkeit den Stempel der Ruhelosigkeit aufdrückten.

Bei Maria hingegen hatte eine wirkliche Verschönerung der ganzen Erscheinung stattgefunden: sie sah gesunder, kräftiger und – glücklicher aus.

»Du bist ja eine vollendete Dame geworden! Man sieht es Dir an, in welchen Kreisen Du jetzt lebst!« hatte Elsbeth bei ihrem ersten Begegnen mit Maria bewundernd ausgerufen.

»Und Du bist eine gar stattliche Frau geworden!« hatte Maria ihr heiter entgegnet.

Zwischen der alten Frau Bergmann und Maria bildete sich begreiflicher Weise rasch ein sehr herzliches, verständnißinniges Verhältniß, so daß Elsbeth zuweilen lachend versicherte, sie empfinde gelinde Anwandlungen von Eifersucht.

Elsbeth's Bruder Heinrich fand Maria sehr zu seinem Vortheil verändert. Er war, groß und kräftig gebaut, in seiner äußern Erscheinung ganz das Ebenbild seines Vaters. Auch in seiner geistigen Veranlagung war er seinem Vater ähnlich, nur mit dem Unterschiede, daß er jetzt auf dem Wege war, das zu werden, was sein Vater auch hätte werden können, durch die Ungunst der Verhältnisse aber leider nicht geworden war. Heinrich hatte offenbar ein Verständniß für die glückliche Wendung seines Schicksals, und er dankte seinem Schwager die ihm zu Theil werdenden Wohlthaten durch sein ganzes Benehmen.

Der einzige Gegenstand, durch welchen Schatten auf dies glückliche Familienleben geworfen wurden, war Elsbeth's Mutter. Die arme Frau befand sich in einem äußerst traurigen Zustande. Ihr Geistesleben schien vollständig erloschen und auch ihr leibliches Leben ging augenscheinlich seiner baldigen Auflösung entgegen.

Frau Bergmann widmete sich der speciellen Pflege dieser unglücklichen Frau mit einer seltenen Hingebung und Ausdauer.

»Ich bewundere Ihr Talent als Krankenpflegerin, Sie sind wirklich eine geborene Diakonissin«, sagte einst Maria zu ihr.

»Ebendeshalb ist es auch nicht der Rede werth«, entgegnete Frau Bergmann und ging auf einen andern Gesprächsgegenstand über; sie liebte es nicht, über sich und ihr Thun zu sprechen. »Alles in der Stille und ohne Geräusch«, war ihr Wahlspruch.

Maria machte auch Fräulein Hillmer ihren Besuch, einestheils um diese alte Dame kennen zu lernen und andererseits um die Stätte wiederzusehen, welche alle Erinnerungen ihrer Kindheit umschloß.

Von Fräulein Hillmer wurde Maria wie eine liebe alte Bekannte empfangen.

Als sie mit der alten Dame im Sofa saß und ihren Blick im Zimmer umher schweifen ließ, da war es ihr, als würde die Vergangenheit noch einmal zur Gegenwart, tausend Erinnerungen stiegen in ihr auf und führten ihre ganze Kindheit wie in einem Panorama an ihrer Seele vorüber. Ja, dort am Fenster hatte der Sessel ihres theuren Mütterleins gestanden; es war als sähe sie die liebe Gestalt mit dem feinen, blassen Gesicht dort sitzen und als höre sie wieder den Klang der weichen, melodischen Stimme; und sich selbst sah sie auf einem Schemel zu den Füßen der Mama sitzen; sie legte im Geiste wieder ihr Haupt auf deren Schoß, wie sie es als Kind so gern gethan, und fühlte die weiche, zarte Hand leise über ihre Locken streichen. – Dort hatte der Schreibtisch gestanden mit den vielen Büchern, welche ihrem jugendlichen Geiste Nahrung geboten, und über dem Schreibtische der dorngekrönte Christuskopf, zu dem sie, von ihrer Arbeit aufblickend, so gern emporgeschaut hatte.

Einen Augenblick lang fürchtete sie, die Erinnerungen, welche so von allen Seiten auf sie eindrangen, könnten zu mächtig werden, um sie mit äußerer Ruhe zu ertragen; sie fühlte, wie Thränen ihre Augen füllten. Da fiel ihr Blick auf ein Piano, welches an derselben Stelle des Zimmers stand, die früher ihr eigenes eingenommen hatte. Rasch erhob sie sich, trat an's Piano, öffnete dasselbe und bat Fräulein Hillmer, ein Stück spielen zu dürfen. Ein kurzes Vorspiel gab ihr die gewohnte Ruhe und Fassung wieder. Darauf sang sie, nach einer ihr bekannten Melodie, der Eingebung des Augenblicks folgend, nachstehende Strophen:

Darf ich noch einmal die Stätte betreten,
Wo ich, ein Kindlein, so fröhlich einst war?
Herr, ich nahe mit Danken und Beten,
Da Du geführet mich wunderbar!

Treulich beschirmt mich auf dunkelen Wegen;
Ohne Dich wär' ich gestorben in Noth;
Hast beschüttet mich reichlich mit Segen –
Dank Dir, o Dank Dir, mein Herr und Gott!

Führe mich weiter durch Freuden und Leiden,
Lasse mich allzeit Dein eigen nur sein! Kommt die Stunde, von hinnen zu scheiden,
Führe mich selig zum Himmel ein! –

Die schöne Ferienzeit ging, wie alle Zeit, schnell dahin, für Elsbeth und Maria natürlich viel zu schnell. Mit innigem Bedauern sahen die beiden Freundinnen den Tag des Abschieds herankommen. Sie hatten sich von Neuem so ganz miteinander eingelebt, und wie viel besser verstanden sie sich jetzt als früher! Sie wandelten jetzt auf demselben Wege und betrachteten alle Dinge um sich und über sich von demselben Standpunkte aus.

Am Tage vor Maria's Abreise forderte Elsbeth ihre Freundin auf, mit ihr noch einmal einen Spaziergang zu wiederholen, den sie an ihrem Confirmationstage gemacht hatten und der beiden noch so lebhaft in der Erinnerung war.

Maria ging mit Freuden auf Elsbeth's Vorschlag ein und nach eingenommenem Nachmittagskaffee wandelten die beiden Freundinnen wie damals Arm in Arm den einsamen Weg zwischen blühenden Gärten und wogenden Kornfeldern dahin.

Anfangs gingen sie schweigend neben einander, wie damals an ihrem Confirmationstage. Das Reden war auch heute nicht nöthig, denn auch heute verstanden sie sich ohne Worte und wußten, daß ihre Seelen von gleichen Gedanken bewegt wurden.

Sie machten heute den Spaziergang unter wesentlich andern Umständen wie damals vor vier Jahren.

Damals hielt erst der Frühling seinen Einzug; es war ein Werden, Schaffen und Sichhervordrängen rings um sie her in der Natur; warm und lockend schien die Frühlingssonne auf die eben aus dem Winterschlafe erwachte Erde hernieder; Büsche und Bäume zeigten dicke, schwellende Knospen, zu ihren Füßen sproßten die ersten Frühlingsblumen und über ihrem Haupte erklang verheißend das Lied der ersten Frühlingssänger.

In ihrem Leben war es ebenfalls erwachender Frühling gewesen. Neu und vielversprechend hatte das Leben vor ihnen gelegen; erwartungsvoll hatten sie in die Zukunft geblickt, und in ihrem Herzen hatte es sich geregt von mancherlei Wünschen und Hoffnungen.

Draußen in der Natur war es jetzt Sommer. Die Sonne sandte ihre heißen Strahlen fast senkrecht zur Erde nieder, der Vogelgesang war verstummt; Büsche und Bäume standen im vollen, dunklen Laubschmuck; auf den Feldern reiften bereits in den Aehren die Körner, und in den Gärten ernteten die Menschen schon lange die Früchte ihres Fleißes.

In ihrem Leben war es ebenfalls Sommer geworden. Die Träume und Schwärmereien der Jugend waren vor der Wirklichkeit des Lebens geschwunden, wie der Morgennebel weicht, wenn die Sonne höher steigt. Sie waren beide vom Herrn gewürdigt worden, in die ganze, volle Sommer-Arbeit des Lebens eingeführt und mit der Verantwortlichkeit eines bestimmten Berufes belegt zu werden.

Als sie an die Bank kamen, auf der sie am Tage ihrer Confirmation gesessen hatten, setzten sie sich als selbstverständlich auch heute auf dieselbe nieder.

Elsbeth legte ihren Arm um die Schultern der Freundin und sagte:

»Weißt Du noch, mein liebes Mariechen, hier war es, wo wir uns vor vier Jahren ewige Freundschaft gelobten? Der Tag unserer Confirmation war doch ein ganz wunderschöner Tag! Derselbe hat sich aber auch meinem Gedächtnisse so tief eingeprägt, daß ich keine seiner kleinen Einzelheiten vergessen werde, und sollte ich achtzig Jahre alt werden.«

»Ja«, entgegnete Maria, »es war ein schöner Tag, und ich danke es noch immer dem Herrn, daß derselbe in allen Theilen so ungetrübt verlief, daß er Zeit unsers Lebens einen Glanzpunkt in unserer Erinnerung bilden wird.«

»Und welch ein glücklicher Gedanke war es von Deiner lieben Mama, daß sie uns die Blumentöpfe hinstellte und uns aufforderte, Myrthenreiser aus unserm Confirmationsbouguet zur Erinnerung an diesen Tag hineinzupflanzen!«

»Es war ein ungemein glücklicher Gedanke, bei welchem es aber meinem theuren Mütterchen gewiß nicht in den Sinn gekommen ist, daß dieser kleine Umstand zu einer Quelle so vieler stiller Freuden für mich werden würde. In den ersten Jahren beobachtete ich das Wachsen und Gedeihen meines Bäumchens mit einem wahren Entzücken, und jedes neue kleine Blättchen wurde mit einem Jubel begrüßt. Als mein Mütterchen starb und ich mit ihr die Heimath verlor, wanderte mein Myrthenbäumchen mit mir in die Fremde und ist mir ein treuer Freund, ja ein Stück meines Lebens selbst gewesen. Ich habe es angeschaut in den verschiedensten Stimmungen, und mein Bäumchen hat zu mir geredet, wie es die Umstände verlangten. Trete ich zu ihm mit Sonnenschein und Freude im Herzen, dann glänzen auch seine dunkelgrünen Blätter mir fröhlich entgegen und jedes einzelne derselben scheint zu sagen: »Freue Dich und sei fröhlich in Deinem Gott!« Und der feine, gewürzige Duft, welcher von denselben aufsteigt, mahnt mich daran, ein Dankgebet hinauf zu senden, Gott zu einem süßen Geruch.

Nahe ich mich aber meinem Bäumchen, wenn ich mich einmal einsam fühle und traurig bin, dann kann ich gewiß sein, bei ihm ein tröstliches Mitleiden zu finden. Seine feinen dunklen Blätter schauen mich wie ebenso viele Augen verständnißinnig an; seine Zweiglein aber streckt es wie Finger nach oben weisend empor, als wollte es sagen: »Dorthin mußt Du mit Deinem Kummer gehen, denn dort wohnt Einer, der Dich liebt und der die geheimsten Wünsche Deines Herzens versteht.«

So handelt mein Bäumchen in allen Fällen wie ein wahrer Freund an mir, und deshalb habe ich es so lieb und deshalb hat es auch Dir, meiner liebsten Freundin, den Brautkranz liefern dürfen.«

»Was mir eine ganz unaussprechlich große Freude und eine hohe Ehre gewesen ist«, fiel hier Elsbeth ein. »Ich kann es Dir gar nicht beschreiben, liebste Maria, welch ein Gefühl es für mich war, als mir der Kranz, von Deinem Myrthenbäumchen geschnitten und von Deiner Hand gewunden, auf's Haupt gesetzt wurde. Ich konnte nicht anders, ich bat Alle, hinaus zu gehen, und da kniete ich nieder und habe lange und innig zu Gott gebetet. Ich meinte, ich bete für mich und mein Liebesglück, als ich aber geendet, da merkte ich, daß ich eine lange Zeit über Dich, mein geliebtes Herz, mit Gott geredet hatte.«

»Dank Dir, meine Elsbeth, für dies Gebet! Das wird nicht ohne Segen für mich bleiben.«

Maria küßte ihre Freundin, und beide wanderten Arm in Arm heim.

Als sie nach Hause kamen, hatte Frau Bergmann den Theetisch in ihrem Zimmer bereitet; sie wollte am letzten Abend vor Maria's Abreise gern noch einmal Alle unten bei sich versammelt sehen.

Am andern Morgen begleitete Elsbeth ihre Freundin nach dem Bahnhofe; diesmal aber zu Fuß, denn der Bahnhof war nur wenige Minuten von der Bergmannschen Wohnung entfernt. Sie gingen auch früh genug, um die gebührende Zeit auf den Abschied verwenden zu können.

Auf der Station St. wurde Maria von Hedwig und Elisabeth empfangen, welche ihr jubelnd in die Arme flogen. Als sie mit den Kindern in den bereitstehenden Wagen steigen wollte, trat Herr von Hallendorf in Begleitung seines Sohnes auf sie zu. Durch diese unerwartete Begegnung wurde Maria im ersten Augenblicke so verwirrt, daß sie Mühe hatte, ihre Verlegenheit zu verbergen. Beide Herren begrüßten sie herzlich. Der alte Herr von Hallendorf und Maria nahmen den Hauptsitz des Wagens ein, während der Assessor mit seinen beiden kleinen Schwestern auf dem Rücksitze Platz nahm.

Die Unterhaltung wurde bald sehr lebhaft und heiter. Der Assessor schien seine beste Laune – von Maria als Norderneyer Laune bezeichnet – mitgebracht zu haben. Das Erste, was er Maria erzählte, war seine Ernennung zum Regierungsrath, welche Beförderung ihm eine außerordentliche Freude zu machen schien.

Hedwig und Elisabeth waren etwas unglücklich, daß sie so wenig zu Worte kommen konnten, und sie hatten doch gerade heute nach so langer Trennung so ungewöhnlich viel zu erzählen. Maria tröstete sie mit der Versicherung, daß sie morgen den Unterricht noch nicht wieder beginnen, sondern den ganzen Tag dazu benutzen wollten, sich gegenseitig ihre vielen Erlebnisse zu erzählen. Diese Aussicht verfehlte ihre Wirkung nicht.

Die Fahrt war auch bald beendet und Maria trat wieder in die gewohnten Verhältnisse ein.

35. Brief.
Maria an Elsbeth

Breitenstein, den 3. Ang. 18..

Meine liebe, liebe Elsbeth!

Am 1. November vorigen Jahres fingst Du Deinen Brief an mich mit den Worten an: »Wo soll ich heute anfangen und wo soll ich aufhören zu erzählen?« Und heute am 3. August weiß ich auch keinen Anfang meines Briefes als diesen: »Wo soll ich anfangen und wo soll ich aufhören!«

Ich glaube, hier könnte ich einen Punkt machen und meinen Brief schließen, denn was jetzt noch folgen kann, wirst Du jedenfalls wissen. Doch laß es mich Dir mit klaren Worten sagen, liebe Elsbeth: ich bin Braut, bin eine ganz unbeschreiblich glückliche Braut! – Aber wessen? – Das erräthst Du nicht! Denke Dir, Friedrich von Hallendorf, der Erbherr auf Breitenstein, ist mein Verlobter! – Begreifst Du das? – Nein, Du kannst es nicht begreifen, ich selbst begreife es noch nicht. Zuweilen stelle ich mich vor den Spiegel, um zu sehen, ob ich denn wirklich noch die alte bekannte Maria bin, und fasse an meinen Verlobungsring, um mich zu überzeugen, ob's denn auch kein Trugbild ist, daß ich Braut bin. Nein, es ist Wirklichkeit, unverfälschte Wirklichkeit: ich bin noch die alte bekannte Maria und Braut bin ich auch, eine über alle Beschreibung glückliche Braut! –

Doch nachdem ich gelesen, was ich bis hierher geschrieben habe, sehe ich ein, daß ich den Ton meines Briefes ändern muß, d. h. ich muß wieder in der gewohnten vernünftigen Weise schreiben, oder ich laufe Gefahr, daß auch Du in mir nicht mehr Deine alte Maria erkennst und alles, was ich Dir erzähle, für das Trugbild einer wirren Phantasie hältst.

So will ich denn meine mir wirklich abhanden gekommene Ruhe und Besonnenheit bestmöglichst wieder zusammensuchen und Dir, so gut ich es vermag, den Hergang der Sache erzählen. Höre also:

Gestern Morgen um zehn Uhr, als wir, d. h. Hedwig, Elisabeth und ich, unsere Freiviertelstunde dazu benutzten, so recht mit Behagen und Appetit unser Butterbrod zu verzehren, kam der Diener und beschied mich zu Frau von Hallendorf in ihr Zimmer. Hier fand ich außerdem Herrn von Hallendors und seinen Sohn.

Nach der gewöhnlichen Begrüßung fragte mich Herr von Hallendorf ohne weitere Einleitung, ob ich Friedrich, seinen Sohn, heirathen wolle.

Liebe Elsbeth, ich bin in meinem Leben schon oft erschrocken und verwirrt gewesen, aber noch nie so wie in diesem Augenblicke. Ich glaubte, man wolle sich einen Scherz mit mir erlauben, und fand die Art desselben sehr unpassend; ich fing an zu weinen.

Da trat Friedrich auf mich zu, reichte mir seine Hand und bat mich, ihn anzusehen. Ich blickte auf. O Elsbeth, ich wollte, Du hättest in diesem Augenblicke seine Augen gesehen! Diese Augen, vor denen ich mich so oft gefürchtet hatte, sie blickten so lieb und gut; ich konnte nicht anders, als meine Hand in die seinige zu legen; und als er mich in seine Arme schloß und mich küßte, ließ ich es geschehen; und als er mich fragte, ob ich denn sein liebes Weibchen werden wolle, da sagte ich Ja, setzte aber hinzu, es sei unmöglich, daß er mich heirathe, denn ich sei ja nichts als eine arme Gouvernante. Da lachte er – es war wieder das helle fröhliche Lachen, das ich auf Norderney so gern hörte – und sagte, ja, wenn es nicht so beinahe unmöglich sei, dann würde er mich schon längst gefragt haben, aber eben weil so viele Bedenken und Schwierigkeiten zu überwinden gewesen wären, hätte er mir diese Frage erst heute vorlegen können. Er selbst sei aber schon lange entschlossen gewesen, keine andere als mich zu heirathen. Das habe er auch seinen Eltern und allen verehrten Verwandten, die möglicher Weise ein Wort mit darein zu reden haben könnten, gesagt, und nachdem jedes pro und contra gebührend gegen einander abgewogen, seien seine lieben Eltern mit unserer Verbindung zufrieden.

Nun kam Herr von Hallendorf, umarmte mich und sagte, er heiße mich mit Freuden als seine Schwiegertochter willkommen, denn er habe mich vom ersten Augenblicke unsers Begegnens an gern gehabt und habe außerdem in den zwei Jahren, welche ich in seinem Hause verlebt, die Ueberzeugung gewonnen, daß ich seinem Sohne eine liebe, treue Gefährtin und den Gutsunterthanen eine wohlwollende, fürsorgende Herrin werden würde.

Auch Frau von Hallendorf begrüßte mich sehr freundlich und herzlich als Tochter.

Nun nahm Friedrich zwei Ringe aus seiner Tasche und steckte sich und mir einen Verlobungsring an den Finger. Denke Dir, so wenig hat er es für möglich gehalten, daß ich Nein sagen könne, daß er gleich unsere Verlobungsringe mitgebracht hat.

Zunächst wurden nun Hedwig und Elisabeth gerufen. Es war nicht leicht, ihnen meine beabsichtigte Standeserhöhung begreiflich zu machen; und als sie dieselbe begriffen hatten, schien das Bedauern, mich als Erzieherin zu verlieren, die Freude, mich als Schwägerin wiederzufinden, ziemlich aufzuwiegen.

Darauf wurde das sämmtliche Dienstpersonal des Gutes auf's Schloß beordert und ich ihnen in aller Form als die Braut ihres künftigen Gutsherrn vorgestellt. Ich gab einem jeden die Hand und bemerkte bei keinem ein Zeichen des Mißvergnügens über das eben Gehörte.

Als wir wieder allein waren, wurde ein Familienrath gehalten, in welchem ich bereits als stimmberechtigtes Mitglied fungiren durfte. Das Endergebniß unserer Berathung war folgendes: Im October findet unsere Hochzeit statt; bis dahin versehe ich nach wie vor meinen Dienst an Hedwig und Elisabeth. Wir werden zunächst in B. wohnen; denn so lange Friedrichs Vater kräftig genug bleibt, behält er die Verwaltung des Gutes und Friedrich selbst bleibt im Staatsdienste.

Nachmittags machten wir bei Pastors unsern Besuch als Brautleute. Pastor Rollmann war über Land gegangen und die beiden alten Pastorsleute zeigten gar nicht die Verwunderung über unsere Verlobung, wie ich sie erwartet hatte.

Sagst Du mir jetzt, liebste Elsbeth, daß Du nicht begreifst, wie ich so schnell habe mein Jawort geben können, da ich doch gewiß nie zuvor daran gedacht habe, daß diese Entscheidung je an mich herantreten könne, so antworte ich Dir, daß ich es selbst nicht begreife; aber ich glaube, ich habe, ohne es zu wissen, Friedrich schon lange geliebt, und deshalb hatte, als mein Kopf anfing, über die Sache nachzudenken, mein Herz schon alles in Richtigkeit gebracht.

O Elsbeth, wie freundlich hat doch der Herr auch mein Schicksal geleitet! Er hat mich in die Fremde geführt, um mir eine Heimath zu geben! Er hat mich förmlich mit Glück und Segen beschüttet! O daß ich Ihm so danken könnte, wie ich möchte und müßte! Bis jetzt bin ich von dem Neuen und Ungewohnten so hingenommen, daß ich keinen klaren Gedanken zu fassen vermag, und daher dem Herrn meinen Dank auch gar nicht so aussprechen kann wie ich es möchte, aber man betet am Ende ja auch nicht mit dem Kopfe, sondern mit dem Herzen, und mein Herz dankt dem Herrn, das weiß ich.

Ich weiß auch, meine geliebte Elsbeth, daß Du Dich meines Glückes von ganzem Herzen mit mir freuen wirst und daß Du – – – –

Hier kommt Friedrich und fordert mich zu einem Spaziergange auf; er sagt, ich möchte doch meinem Schreiben ein Ende machen, seine Geduld sei schon lange zu Ende.

So muß ich wohl für heute schließen. Grüße alle die Deinigen viel tausendmal von mir und sei Du selbst gegrüßt und geküßt von

Deiner glücklichen
Maria.

36. Brief.
Elsbeth an Maria

H…, den 8. August 18…

Meine liebe, liebe Maria!

O mit welcher Freude, mit welchem Jubel hat mich Dein Brief erfüllt! Dem Herrn sei Lob und Dank, daß Er auch Deinen Lebensweg so lieblich geführt! O Maria, wie glücklich sind wir nun beide!

Als ich Deinen Brief gelesen hatte, war ich in einem solchen Zustande von Aufregung und Freude, daß ich kaum wußte, was ich that. Ich stürmte mit Deinem Briefe in der Hand hinunter zu meinem Mütterchen. Mein Aussehen muß wohl sehr ungewöhnlich gewesen sein, denn ehe ich noch ein Wort gesprochen, sagte sie besorgt:

»Kind, was ist geschehen? Du scheinst ja ganz außer Fassung zu sein.«

»Ja Mütterchen, rein aus dem Häuschen bin ich vor Vergnügen, denke Dir, Maria ist Braut! Und nun rathe, wer ihr Verlobter ist?«

»Natürlich Herr Friedrich von Hallendorf, das ist nicht schwer zu errathen: ich habe es mir schon lange gedacht, daß es so kommen würde.«

»Ich auch, Mütterchen, wenigstens habe ich es gewünscht und gehofft, und deshalb wollte mir die Gruppirung in Maria's Zukunftsbilde, so wie dieselbe von ihr entworfen worden, nicht gefallen. O wie freut es mich, daß die von mir gewünschte Veränderung auch höchsten Ortes beschlossen worden!«

Ja, geliebte Maria, ein Familien-Erbstück auf Breitenstein, und noch dazu mit der Zeit ein recht altes und würdiges wirst Du hoffentlich; aber nicht im kleinen entlegenen Erkerstübchen, mit dem Teller voll Gnadensuppe auf dem Schoße, sondern in den Hauptgemächern des Schlosses als geehrte und geliebte Herrin an der Seite Deines hohen, edlen Gemahls! Ja, das ist ein Bild, das mir in allen Theilen gefallen kann!

Aber, nicht wahr, geliebtes Herz, unsere Freundschaft besteht doch fort? Die kann ich unter keinen Umständen entbehren.

Und wie wird's nun mit dem Brautkranz? Ich selbst darf ihn Dir nicht winden, weil bekanntlich nur jungfräuliche Hände den Brautkranz winden dürfen, aber die Myrthenzweige zu dem Kranze sende ich Dir von meinem Myrthenbäumchen, das ist selbstverständlich; das Uebrige wirst Du schon einzurichten wissen.

Rudolf, sein Mütterchen und Heinrich senden Dir die allerherzlichsten Grüße und Glückwünsche.

Leb wohl, mein liebes, süßes Mariechen! Behalte auch ferner lieb

Deine
Elsbeth.

 

Im October wurde, wie im Familienrathe beschlossen, Maria's Hochzeit gefeiert. Elsbeth sandte zu derselben eine große Schachtel voll Myrthenreiser, und Hedwig und Elisabeth wanden ihr unter Anleitung des Gärtners den Brautkranz. Dies war für die beiden kleinen Mädchen nach ihrem eigenen Dafürhalten eine unerhörte Ehre, von der noch die spätesten Geschlechter in Sagen berichten würden.

Pastor Rollmann traute das Paar in der kleinen schmucklosen Dorfkirche, welche an diesem Tage in einen Blumengarten verwandelt schien. Kein Platz in der Kirche blieb unbesetzt, denn fast alle Gutsangehörige, groß und klein, waren gekommen, der Feier beizuwohnen. War auch der junge Herr von Hallendorf den meisten Gutsunterthanen bis jetzt ziemlich unbekannt geblieben, so war Maria ihnen dafür desto bekannter geworden. Ihr Herz hatte sie gleich anfangs in die Hütten der Armen und Kranken geführt; sie wurde von allen Gutsangehörigen geliebt und geehrt.

Wie Maria jetzt vor dem Altare stand in dem weißseidenen Brautgewande und dem langen wallenden Spitzenschleier, den grünen Myrthenkranz in den lichtblonden Locken und mit dem Ausdruck des Glücks und der Demuth in den reinen jungfräulichen Zügen, war sie eine ungemein liebliche Erscheinung, und gewiß keiner der Anwesenden blickte sie an, ohne ihr im Herzen gut zu sein. Und ihr Verlobter neben ihr, in der glänzenden Gala-Uniform der Räthe, mit dem Ausdrucke der Siegesfreudigkeit und des festen Muthes auf dem hübschen, männlichen Gesichte, war eine imponirende und zugleich anziehende Erscheinung: es war ein wirklich hübsches Paar! –

Als Gäste waren von Rautenbergs und einige Familien aus der Umgegend gegenwärtig. Von der Familie von Strahlenau war begreiflicher Weise niemand anwesend.

Die Mittagstafel, welche heute zur Feier des Tages den reichen Silberschatz der Familie zur Schau stellte, war im großen Ahnensaale, der ebenfalls einem orientalischen Blumengarten glich, gedeckt worden. Es war ein sehr heiteres Mahl, Glück und Zufriedenheit strahlte von allen Gesichtern. Und als Maria einmal ihren Blick über die Ahnenbilder an der Wand gleiten ließ, da war es ihr, als grüßten die alten, steifen Herren und Damen sie heute ganz besonders freundlich und in ihren Augen glaubte sie zu lesen, daß sie jetzt auch von allen Ahnen der Familie von Hallendorf als vollberechtigtes Familien-Mitglied angesehen wurde.

Der Abschied von Breitenstein, besonders aber von Hedwig und Elisabeth ward Maria nicht leicht. Die beiden kleinen Mädchen waren ganz untröstlich, laut schluchzend warfen sie sich in Maria's Arme und wollten sich nicht von ihr trennen lassen. Nur die Versicherung, daß Friedrich und Maria zum Weihnachtsfeste wiederkommen und sie dann auf einige Wochen mit nach B. nehmen würden, beruhigte sie einigermaßen.

So fuhr das junge Ehepaar seiner neuen Heimath zu, in welcher Maria an der Seite des geliebten Mannes sich bald heimisch und unaussprechlich glücklich fühlte. Es begann ein neues, schöneres Leben für sie, in welchem aber die alten Beziehungen nicht aufhörten, und insbesondere die Freundschaft mit Elsbeth unverändert fortbestand.


 << zurück