Jens Peter Jacobsen
Novellen
Jens Peter Jacobsen

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Ein Schuß in den Nebel

Das kleine grüne Zimmer auf Stavnede war offenbar im Grunde dazu eingerichtet, als Durchgang zu der übrigen Zimmerflucht zu dienen. Auf alle Fälle luden die Stühle mit den niedrigen Lehnen, die längs der perlgrauen Täfelung aufgestellt waren, nicht zu längerem Verweilen ein. In der Mitte der Wand saß ein Hirschgeweih, es krönte eine helle Stelle, deren Form deutlich verriet, daß ein ovaler Spiegel hier einmal seinen Platz gehabt hatte. Die eine von den Zacken trug einen breitrandigen Damenstrohhut mit langen celadongrünen Bändern. In der Ecke rechts standen eine Vogelflinte und eine dürftige Kalla, in der andern ein Bündel Angelruten, und in eine von den Schnüren war ein paar Handschuhe eingeknüpft. Mitten im Zimmer stand ein kleiner runder Tisch mit vergoldetem Fuß; ein großer Strauß Farnkräuter lag auf der schwarzen Marmorplatte.

Es war spät am Vormittage. In einem großen und goldenen Schwaden strich das Sonnenlicht durch eine der obersten Fensterscheiben und fiel mitten zwischen die Farnkräuter hinab; einige davon waren üppig grün, die meisten waren welk, nicht trocken und zusammengeschrumpft, sie hatten ganz ihre Form, aber die grüne Farbe war einer Unendlichkeit von gelben und braunen Schattierungen gewichen, von dem zartesten Weißgelb bis zu dem kräftigsten Rotbraun.

Am Fenster saß ein Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren und starrte auf die lustigen Farben. Die Tür zu dem Nebenzimmer stand weit offen, und an dem Klavier da drinnen saß eine große junge Dame und spielte. Das Klavier stand dicht an dem offenen Fenster, und das Fensterbrett war so niedrig, daß sie auf den Rasenplatz und den Weg hinaussehen konnte, wo ein junger Mann in reichlich stilvollem Reitanzug beschäftigt war, einen Schimmel zuzureiten. Der Reiter war ihr Verlobter, Niels Bryde hieß er; sie war die Tochter des Hauses. Der Schimmel da draußen gehörte ihr, und es war ein Vetter von ihr, der da drinnen im Vorzimmer saß, ein Sohn von ihres Vaters Bruder, Gutsbesitzer Lind auf Begtrup, der arm und verschuldet gestorben war und von dem zu seinen Lebzeiten nie ein gutes Wort gesagt worden war, was er übrigens auch nicht verdiente. Des Sohnes Henning hatte sich Lind auf Stavnede angenommen und ihn auf seine Kosten erzogen, jedoch nur so einigermaßen, denn obwohl Henning gut begabt war und viel Lust zum Studieren hatte, wurde er doch aus der Lateinschule genommen, sobald er glücklich konfirmiert war, und kam dann zurück nach Stavnede, um die Landwirtschaft zu erlernen. Jetzt war er eine Art Verwalter auf dem Gut, hatte aber keine rechte Autorität, da der alte Lind sich nicht enthalten konnte, überall mit dreinzureden.

Seine Stellung war überhaupt sehr unangenehm. Das Gut war in schlechter Verfassung, und es konnte nichts getan werden, um es aufzubessern, da es an Kapital fehlte. Es konnte gar keine Rede davon sein, Schritt zu halten, nicht mit der Zeit, aber auch nicht einmal mit den Nachbarn. Alles mußte gehen, wie es, Gott weiß wie lange, gegangen war: so viel wie möglich für so wenig wie möglich. In schlechten Jahren mußte dann auch Ackerland verkauft werden, damit man doch bares Geld zu sehen bekam. Es war überhaupt ein äußerst trübseliger Betrieb für einen jungen Mann, um seine Zeit und seine Kräfte dafür einzusetzen; hierzu kam noch, daß der alte Lind sehr heftig und wenig umgänglich war, und da er Henning die erwähnten Wohltaten erwiesen hatte, glaubte er, ihm keinerlei Rücksichten schuldig zu sein. So entblödete er sich nicht, wenn er heftig wurde, ihn hören zu lassen, was für ein verhungerter Junge er gewesen sei, als er sich seiner annahm, und wurde er wirklich böse, so ging er sogar so weit, daß er mit allerdings wahrheitsgemäßen, aber auch höchst schonungslosen Andeutungen auf das Treiben seines Vaters kam.

Ein unverheirateter Oheim unten im Schleswigschen, der einen ausgedehnten Holzhandel betrieb, hatte mehrmals versucht, Henning zu sich hinzunehmen, und der hätte auch das Leben auf Stavnede schon längst verlaufen, wenn er nicht so verliebt in die Tochter gewesen wäre, daß er sich nicht die Möglichkeit denken konnte, an einem andern Ort zu leben wie sie. Es war indessen keine glückliche Liebe. Agathe konnte ihn gut leiden, sie hatten als Kinder zusammen gespielt, gewissermaßen auch als Erwachsene; aber als er eines Tags, es war jetzt ein Jahr her, sich ihr erklärt hatte, war sie sowohl böse als auch erstaunt geworden und hatte ihm gesagt, daß sie dies für einen unüberlegten Scherz halte und daß sie hoffe, er werde ihr keine Veranlassung geben, dies als eine fixe Wahnidee zu betrachten, indem er jemals wieder auf etwas Ähnliches anspiele.

Die Sache war nämlich die, daß die entwürdigende Behandlung, der sie ihn beständig ausgesetzt sah und die er sich gefallen ließ, freilich aus Rücksicht auf seine Liebe zu ihr, ihn wirklich in ihren Augen herabgesetzt hatte, so daß sie ihn als zu einer niedrigeren Klasse als ihre eigene gehörend betrachtete, nicht niedriger in Rang oder weil er arm war, sondern niedriger in Gefühl, niedriger in Ehrbegriff.

Sodann kam einige Zeit darauf die Verlobung mit Bryde.

Was hatte Henning nicht in dem Vierteljahr gelitten, seit sich das ereignet hatte! Und doch blieb er; er konnte den Gedanken nicht aufgeben, sie zu gewinnen, er hoffte, es müsse irgend etwas geschehen, ja er hoffte eigentlich kaum, er phantasierte von merkwürdigen Begebenheiten, die eintreten und der Verbindung ein Ende machen würden, aber er erwartete nicht, daß seine Phantasien zu Wirklichkeit werden würden, er bedurfte ihrer als Vorwand, um zu bleiben.

»Agathe!« rief der Reiter da draußen und hielt sein Pferd vor dem offenen Fenster an, »du siehst ja gar nicht nach uns hin, und nun machen wir unsere Sache doch so hübsch!«

Agathe wandte den Kopf nach dem Fenster um, nickte ihm zu und sagte, während sie fortfuhr zu spielen: »Wohl sehe ich nach euch hin, ihr wäret ja da drüben bei dem Schneeballenbusch beinahe gefallen«; und sie spielte einige schnelle Läufe oben im Diskant.

»Geht jetzt! – Hüh!« und sie ging in eine lärmende Galoppade über. Aber der Reiter hielt noch immer.

»Nun?«

»Sag mal, willst du den ganzen Vormittag da am Klavier sitzen bleiben?«

»Ja.«

»Hm, dann glaube ich, versuchen wir es einmal – ja, wir können doch wohl nach Hagestedgaard hinüberreiten und zu Tisch wieder hier sein?«

»Ja, wenn ihr euch beeilt. Adieu, dicker Bläß, adieu, Niels!«

Und dann ritt er, sie schloß das Fenster und spielte weiter, hörte aber bald auf; es war doch viel amüsanter zu spielen, wenn er da draußen ritt und ungeduldig war.

Henning saß da und sah dem Fortreitenden nach. Wie er diesen Menschen haßte; wäre er nur nicht gewesen ... und sie paßten gar nicht zueinander; wollte da doch nur eine kleine Uneinigkeit kommen, so daß sie einander so recht zeigen konnten, wie sie wirklich waren ...

Agathe kam in das grüne Zimmer, das Motiv der Nocturne summend, die sie soeben gespielt hatte, sie trat an den kleinen Tisch und begann den Farnenstrauß zu ordnen. Das Sonnenlicht fiel auf ihre Hände, sie waren groß und weiß, wunderschön geformt. Henning war immer bezaubert von diesen schönen Händen, und heute trug sie sehr weite Ärmel, so daß man den runden Arm bis an den Ellbogen hinauf sah; sie waren so üppig, diese Hände, mit ihrer rundlichen Weichheit, der blendenden Weiße und den kräftigen Formen; und dann das feine, wechselnde Muskelspiel, die anmutigen Bewegungen – da war eine so allerliebste, wogende Bewegung, wenn sie über ihr Haar hinstrichen. Wie oft hatten sie ihm nicht leid getan, wenn sie über die dummen Tasten springen und sich strecken mußten, dazu eigneten sie sich gar nicht, sie sollten still im Schoß eines dunkeln seidenen Kleides liegen, mit großen Ringen geschmückt wie nackte Haremfrauen.

Wie sie dastand, langsam die Farnen ordnend, lag in ihrem Antlitz ein Ausdruck gleichgültigen Glücks, der Henning reizte. Warum mußte das Leben für sie so hell und leicht sein, die ihm jeden Schimmer von Licht geraubt hatte? Wenn er sie aus dieser lichten Ruhe aufscheuchte, wenn er einen kleinen Schatten über ihren Weg jagte! Sie hatte seine Liebe in den Staub geworfen vor seine Füße und war darüber hinweggeschritten, als sei sie ein lebloses Ding, als sei es nicht eine Menschenseele, die sehnsuchtsvoll und krank nach Glück in dieser Liebe sich krümmte und ächzte ...

»Jetzt kann er bald in Borreby sein«, sagte er und sah zum Fenster hinaus.

»Nein, er wollte nach Hagestedgaard«, erwiderte sie.

»Nun, ja, das andre ist ja nicht sehr aus dem Wege.«

»Wie? es liegt ja gar nicht auf seinem Wege.«

»Nein, das tut es ja eigentlich auch nicht – verkehrt er da noch immer so viel?«

»Wo?«

»In Borreby natürlich, bei dem Holzwärter!«

»Das weiß ich wirklich nicht, was sollte er dort wohl suchen?«

»Ach, es ist wohl nur Gerede der Leute, – du weißt, sie haben die schöne Tochter.«

»Nun, und?«

»Ja, Herr Gott! Alle Männer sind doch nicht Mönche.«

»Sagt man so etwas?«

»Ach was, irgend etwas wird ja von allen Menschen gesagt, aber er könnte ja gern ein wenig vorsichtiger sein.«

»Aber was sagt man denn? Was sagt man?«

»Ach, Zusammenkünfte und ... das Gewöhnliche!«

»Du lügst, Henning! Das sagt kein Mensch, das ist etwas, was du dir allein ausdenkst.«

»Warum fragst du denn? – Welch Vergnügen sollte ich übrigens davon haben, herumzugehen und den Leuten zu erzählen, was für Glück er bei den Mädchen in Borreby macht!«

Sie ließ die Farnen liegen und ging zu ihm hin. »Für so gemein hätte ich dich doch nicht gehalten, Henning!« sagte sie.

»Ja, Liebste, ich kann es so gut verstehen, daß es dich empört, es muß ja auch unangenehm für dich sein, daß er sich nicht so viel Zwang antun kann – wenigstens jetzt.«

»Pfui, Henning! das ist niedrig und unwürdig von dir, aber ich glaube deine Lügen nicht.«

»Ja, ich sage es ja doch nicht,« sagte er und sah vor sich nieder, »ich habe sie sich nicht küssen sehen.«

Agathe beugte sich zu ihm hinüber und schlug ihn verächtlich auf die Wange.

Er wurde leichenblaß und sah sie mit einem Blick an, der halb der eines kranken Hundes und nur halb der eines gekränkten Mannes war. Agathe barg ihr Antlitz in den Händen und ging auf die geöffnete Tür zu. Dort blieb sie eine kleine Weile stehen und stützte sich, als sei ihr schwindlig, dann sah sie über die Schulter zu ihm hin und sagte kalt und ruhig: »Henning, ich will dir nur sagen, ich bereue nicht, was ich getan habe.«

Dann ging sie.

Henning saß lange wie betäubt da, dann schwankte er auf sein Zimmer hinauf und warf sich auf sein Bett. Es ekelte ihm vor ihm selber. Jetzt war alles aus – das Klügste, was er tun konnte, war, daß er sich eine Kugel vor den Kopf schoß; leben – sich durch das ganze Leben zu schleichen mit schielendem Blick wie ein mit Füßen getretener Hund? – Nein! – Sie hatte ihn durch ihren Schlag mit dem Abzeichen des Sklaven gestempelt, und sie hatte recht, da war nichts anderes zu tun, einer solchen Gemeinheit gegenüber. Wie hatte er sie nicht geliebt! – brennend wahnsinnig; aber nicht wie ein Mann, wie ein Hund, im Staub zu ihren Füßen wie vor einem Götterbild. Sie standen im Garten, sie schnitt ihren Namen in einen Baum, der Wind spielte mit ihrem Haar, er küßte verstohlen eine der flatternden Locken und war glücklich in den Tagen darauf; nein, seine Liebe hatte niemals männlichen Mut oder freudige Hoffnung gehabt, er war ein Sklave in allem, in seiner Liebe, seiner Hoffnung, seinem Haß. – Warum hatte sie nicht geglaubt, was er erzählte, sondern blind auf Niels vertraut? Er hatte ihr nie etwas vorgelogen, dies war die erste niedere Handlung, die er je begangen hatte, und sie hatte das sofort gesehen! Das war, weil sie ihm nie etwas anderes zugetraut hatte, als was niedrig und gemein war. Sie hatte ihn niemals verstanden, und um ihretwillen hatte er dies lange, kümmerliche Leben auf Stavnede ertragen, wo jeder Bissen Brot, den er in den Mund gesteckt hatte, ihm verbittert worden war durch die Erinnerung, daß es ein Geschenk war. Er konnte rasend werden bei dem Gedanken. Wie er sich selbst haßte um seiner wahnwitzigen Geduld, seines demütigen Hoffens willen. Er hätte sie morden können um das, wozu sie ihn gemacht hatte, und er wollte sich rächen, sie sollte ihm die langen Jahre der Erniedrigung, die Tausende von qualvollen Stunden bezahlen. Rache für seine verlorene Selbstachtung, Rache für seine sklavische Liebe und für den Schlag auf die Wange.

So wiegte er sich jetzt in Racheträumen wie ehedem in Träumen von Liebe, und er erschoß sich nicht, er reiste auch nicht weg.


Eines Vormittags, zwei oder drei Tage später, stand Henning unten auf dem Hofe mit Flinte und Jagdtasche. Wie er dastand, kam Niels Bryde geritten, ebenfalls für die Jagd ausgerüstet, und obwohl beide einander jetzt äußerst wenig schätzten, sprachen sie doch freundlich zusammen und schienen ganz besonders entzückt darüber, daß es sich so glücklich traf, daß sie den Jagdausflug gemeinsam machen konnten. Sie gingen dann zusammen nach der »Rönne«, einer ziemlich großen, heidebewachsenen, niedrigen und flachen Insel draußen in der Fjordmündung. Die »Rönne« war im Herbst viel von Seehunden besucht, die sich auf den niedrigen, vom Strande hinauslaufenden Sandbänken tummelten, oder auf den großen, platten Steinen schliefen, die am Strande lagen. Und diesen Seehunden galt die Jagd. Als sie den Ort erreicht hatten, ging jeder seiner Wege, am Wasser entlang. Das graue, nebelige Wetter hatte viele Seehunde hereingelockt, und sie hörten einander häufig schießen. Allmählich nahm der Nebel zu, und um die Mittagszeit lag er so dick und dicht über Insel und Fjord, daß es nicht möglich war, auf zwanzig Schritt Abstand Steine und Seehunde voneinander zu unterscheiden.

Henning setzte sich unten an den Strand und starrte in den Nebel hinein. Es war ganz still, nur ein leises, plätscherndes Geräusch von dem Wasser und das ängstliche Pfeifen eines einsamen Strandläufers tauchten dann und wann aus dem schweren, drückenden Schweigen auf.

Er war müde von allen diesen Gedanken, müde vom Hoffen, müde vom Hassen, krank vom Träumen. Ganz stillsitzen und schläfrig vor sich hinstarren, sich die Welt als etwas vorzustellen, das weit fort in der Ferne lag, als etwas, das überstanden war, hier ganz stillzusitzen und die Stunden eine nach der andern sterben zu lassen, das war Friede, das war beinahe Seligkeit. Da ertönte ein Lied durch den Nebel, fröhlich, jubelnd:

»Zum Maitag führe ich heim die Maid,
Die Rosenblüte im Lilienkleid.
Spielt, Spielleute, spielt!
Am Hute des Waldes das Grün uns dann lacht,
Es schmücke die Au ihre Brust,
Und hell der Mond uns erleuchte die Nacht,
Die Sonne, die tanze vor Lust.
Der Kuckuck soll rufen und Glück prophezein,
Der Buchfink soll pfeifen, und froh soll er sein,
Doch heim soll die Sorge sich halten!«

Es war Niels Brydes klare Stimme. Henning sprang auf; wie der Blitz schlug der Haß in ihn ein, seine Augen brannten, er lachte heiser, dann legte er die Flinte an die Wange.

»Doch heim soll die Sorge sich halten!«

ertönte es wieder; er zielte dem Ton nach in den Nebel hinein, die letzten Worte erstarben im Knall – dann war alles still wie zuvor.

Henning mußte sich auf die rauchende Flinte stützen, er hielt den Atem an, um zu horchen – nein, Gott sei Dank! Das war nur das Plätschern des Wassers und der ferne Schrei aufgescheuchter Möven. – Ja! es wimmerte da drinnen im Nebel. Er warf sich auf die Erde nieder, preßte das Gesicht in das Heidekraut und hielt sich die Ohren zu. Deutlich sah er das verzerrte Gesicht, die krampfhaften Zuckungen der Glieder und das rote Blut, das unaufhaltsam aus der Brust quoll, Strom auf Strom, durch jeden Herzschlag hervorgetrieben – auf den braunen Heidebüschel niederfallen, an Zweigen und Stämmen herabrieseln und dann zwischen den schwarzen Wurzeln wegsickern.

Er erhob den Kopf und lauschte: es wimmerte noch immer, aber er hatte nicht den Mut, dahin zu gehen, nein, nein! er zerrte mit seinen Zähnen in dem Heidekraut, wühlte mit den Händen in dem lockern Boden, wie um ein Versteck zu suchen, wälzte sich wie ein Wahnsinniger hin und her, aber noch immer war es da drinnen nicht vorbei, noch immer hörte er es klagen.

Endlich verstummte es. Er lag lange und lauschte, dann kroch er langsam auf allen Vieren in den Nebel hinein. Es währte lange, ehe er etwas sehen konnte, dann fand er ihn schließlich am Fuße eines kleinen Erdhügels. Er war tot wie ein Stein; der Schuß hatte ihn gerade in die Herzgrube getroffen.

Henning nahm die Leiche in die Arme und trug sie quer über die Rönne in das Boot hinein, mit dem sie herübergekommen waren, dann nahm er die Ruder und ruderte an Land. Von dem Augenblick an, wo er die Leiche gesehen, hatte seine Erregung sich gelegt, und eine stille, dumpfe Wehmut war an ihre Stelle getreten. Er dachte an die Vergänglichkeit des Lebens und daran, wie er sie zu Hause schonend vorbereiten wollte.

Als er an Land gekommen war, ging er nach einem Bauernhof, um ein Fuhrwerk zu beschaffen. Der Mann fragte, wie das Unglück geschehen sei. Der Bericht bildete sich fast wie von selbst auf Hennings Lippen: Bryde war da draußen auf der Westseite mit der Flinte in der Hand über einen Erdhügel gekrochen, der Hahn hatte wahrscheinlich auf halb gestanden, es mußte sich etwas darin verfangen haben, und der Schuß war losgegangen. Henning konnte an dem Schuß hören, daß sie nahe beieinander waren, und hatte Bryde angerufen; als er keine Antwort erhielt, wurde er unruhig und ging dem Knall nach, da fand er ihn gerade unterhalb des Erdhügels liegen, aber da war er bereits tot.

Er erzählte das Ganze ruhig in einem gedämpften, betrübten Ton und hatte gar keine Empfindung von Schuld, während er es erzählte; aber als sie die Leiche in den Wagen gelegt hatten und sie in das Stroh sank, fiel der Kopf auf die Seite und schlug mit einem schwachen Bums gegen den Wagenkasten: – da wäre Henning fast ohnmächtig geworden, und er war ganz herzkrank, während sie die Leiche über Borup nach Hagestedgaard fuhren.

Sein erster Gedanke, nachdem er die Leiche abgeliefert hatte, war, davonzulaufen, und nur mit der allergrößten Selbstüberwindung zwang er sich zu bleiben, bis das Begräbnis vorüber war. Es lag in dieser Wartezeit eine fieberhafte Unruhe äußerlich über ihm, und etwas seltsam Schreckhaftes in seinen Gedanken, das bewirkte, daß sie an nichts Bestimmtem festhalten konnten, sondern von dem einen zu dem andern schweiften. Dieses ihr rastloses Wirbeln und Kreisen, dem er nicht Einhalt zu gebieten vermochte, war nahe daran, ihn wahnsinnig zu machen, und wenn er allein war, fing er an zu zählen, oder er summte eine Melodie vor sich hin und schlug den Takt mit dem Fuß, um auf diese Weise gleichsam die Gedanken zu fesseln und zu verhindern, daß er in ihren entsetzlichen, ermattenden Rundtanz hineingewirbelt wurde.

Endlich kam denn das Begräbnis.

Am Tage darauf war Henning auf dem Wege zu seinem Onkel, dem Holzhändler, um ihn zu bitten, er möge ihm eine Anstellung in seinem Geschäft geben. Er traf den Onkel in einer sehr niedergeschlagenen Gemütsstimmung. Seine alte Haushälterin war nämlich vor einem Monat gestorben, und er hatte in diesen Tagen seinen Geschäftsführer wegen Veruntreuung verabschieden müssen. Henning war daher höchst willkommen. Er arbeitete sich nun mit Eifer in das Geschäft ein, und nach Verlauf eines Jahres übernahm er die Leitung desselben.


Vier Jahre später sind mancherlei Veränderungen vor sich gegangen. Der Holzhändler ist gestorben, und Henning ist zu seinem Universalerben eingesetzt. Der alte Lind auf Stavnede ist auch zu seinen Vätern heimgegangen, hat aber das Gut so verschuldet hinterlassen, daß es hat verkauft werden müssen, und bei dem Verkauf ist so gut wie nichts für Agathe übriggeblieben. Der neue Besitzer von Stavnede ist Henning, der den Holzhandel aufgegeben hat und zur Landwirtschaft zurückgekehrt ist. Auf Hagestedgaard ist ein gewisser Klausen Niels Brydes Nachfolger geworden, er soll in allernächster Zeit Hochzeit mit Agathe feiern, die jetzt bei den Pfarrersleuten wohnt. Sie ist noch schöner als früher. Mit Henning ist es anders. Es ist ihm nicht anzusehen, daß ihm das Glück hold gewesen ist. Er sieht beinahe alt aus, die Gesichtszüge sind scharf, der Gang ist matt, er geht etwas gebeugt, spricht wenig und sehr leise, sein Auge hat einen wunderlich trockenen Glanz bekommen, und der Blick ist unruhig und wild geworden. Wenn er sich allein glaubt, spricht er leise mit sich selbst und gestikuliert dazu. Die Leute dort in der Gegend glauben infolgedessen, daß er trinkt.

Aber das ist es nicht. Tag und Nacht, zu jeder Zeit, niemals weiß er sich sicher vor dem Gedanken an Niels Brydes Mord. Sein Geist und seine Fähigkeiten sind dahingewelkt in dieser ewigen Angst, denn wenn dieser Gedanke kommt, so ist es nicht Reue oder dunkler Kummer, sondern wie lebendiges, flammendes Grauen, ein schreckliches Delirium, wo der Blick wirr wird, so daß sich alles bewegt: strömend, tropfend, seltsam rieselnd, und alles hat Farbe gewechselt, es ist leichenblaß oder dunkelblutig rot. Und da ist ein Ziehen in all diesem Strömen, als söge es aus allen Adern, als nähre es sich aus allen den feinen Fasern der Nerven, und die Brust keucht in namenloser Angst, aber kein erlösender Schrei, kein erleichternder Seufzer kann sich einen Weg über die bleichen Lippen bahnen.

Solche Gefühle sind die Folge des Gedankens, deshalb fürchtet er ihn, deshalb ist sein Blick unruhig und sein Gang so matt. Diese Furcht hat ihn entkräftet, und die Kraft, die ihm noch geblieben ist, lebt in seinem Haß. Denn er haßt Agathe, haßt sie, weil seine Seele durch seine Liebe zu ihr zugrunde gegangen ist, sein Lebensglück durch sie zerstört ist, sowie sein Friede; am meisten aber haßt er sie, weil sie nichts ahnt von dieser ganzen Welt von Qual und Elend, die sie geschaffen hat; und wenn er nun unter drohenden Gebärden mit sich selber redet, so ist es Rache, woran er denkt, sind es Rachepläne, über denen er brütet. Aber er läßt sich nichts merken, er ist die Freundlichkeit selbst gegen Agathe, er trägt die Kosten ihrer Aussteuer, und später war er ihr Führer an den Altar, und seine Freundlichkeit erkaltete auch nicht nach der Hochzeit; er half und riet Klausen in jeder Weise, und sie machten gemeinsam mehrere große Spekulationsgeschäfte, die ein vorzügliches Ergebnis hatten. Henning hielt dann auf, aber Klausen hatte Lust, fortzufahren, und Henning versprach, ihn mit Rat und Tat zu unterstützen. Das tat er auch. Er streckte ihm sehr bedeutende Geldsummen vor, und Klausen ging von einer Spekulation zur andern. Er gewann bei einigen, verlor bei mehreren, aber je mehr er spekulierte, um so eifriger wurde er. Ein sehr großes Unternehmen sollte ihn endlich zum reichen Manne machen. Es forderte mehrere große Auszahlungen, und Henning half ihm beständig; die letzte stand noch aus, da zog sich Henning zurück. Die Aussichten erschienen Klausen vielversprechend, und zog er sich jetzt von der Sache zurück, so war er ruiniert, bezahlen konnte er aber nicht. So schrieb er denn Hennings Namen auf ein paar Wechseln nach, niemand würde Verdacht schöpfen, und der Gewinn würde bald kommen.

Das Unternehmen mißglückte. Klausen war fast ruiniert. Der Verfalltag der Wechsel rückte heran, das Letzte mußte versucht werden, so schickte er denn Agathe nach Stavnede. Henning war erstaunt, sie zu sehen, denn es war noch gar nicht lange her, seit sie Wochenbett gehalten hatte, und das Wetter war rauh und regnerisch. Er führte sie in die grüne Stube, und dort erzählte sie von der mißglückten Spekulation und von den Wechseln.

Henning schüttelte den Kopf und sagte ruhig und milde, daß sie ihren Mann mißverstanden haben müsse, man schreibe nicht anderer Leute Namen unter Wechsel, das sei nämlich ein Verbrechen, geradezu ein Verbrechen, das von dem Gesetz mit Zuchthaus bestraft werde.

Nein, nein, sie habe ihren Mann nicht mißverstanden, sie wisse, daß es ein Verbrechen sei, gerade deswegen müsse er helfen; wenn er nur keine Einsprache gegen die Unterschrift erhebe, dann sei alles wieder gut.

Ja, aber dann müsse er den Wechsel bezahlen, und das könne er nicht, er habe schon so viel Geld in Klausens Unternehmung, daß er über die Kraft belastet sei. Er könne nicht.

Sie weinte und bat.

Aber sie müsse doch wirklich bedenken, daß er ungeheure Verluste durch Klausen erlitten habe. Als sie ihm erzählte, daß das Unternehmen mißglückt war, sei ihm wirklich gewesen, als habe ihm jemand einen Schlag ins Gesicht versetzt, so überrascht und verwirrt sei er geworden. Bei der Benutzung dieses Ausdruckes sei ihm eingefallen, daß sie ihn einmal geschlagen habe, ob sie sich dessen noch erinnern könne? Nein! ... es war an einem Tage gewesen, als er sie damit geneckt hatte, daß Bryde – könne sie sich dessen wirklich nicht mehr erinnern? Ja, sie habe ihn in liebenswürdigem Eifer auf die Wange geschlagen, auf die Wange da.

Ja, aber konnte er denn nicht helfen?

Es war hier in diesem Zimmer. Ach, das war eine andere Zeit, eine merkwürdige Zeit. Er glaube sogar, daß er ihr einmal einen Antrag gemacht habe, es komme ihm so vor. Den Fall gesetzt, sie hätte ihn genommen, aber es war töricht, davon zu reden, nein, Bryde, das war ein schöner Mann, und dann mußte er so traurig ums Leben kommen, der hübsche Kerl!

Ja, ja, aber gab es denn wirklich keinen Ausweg, gar keinen?

Sie solle das mit den Wechseln nicht glauben, das sei etwas, was Klausen ihr eingebildet habe, um aus ihm herauszulocken, ob er nicht noch ein wenig helfen könne, das sei ein Pfiff, Klausen sei pfiffig, sehr fein, sehr fein.

Nein, es war wirklich so, wie sie sagte. Wenn sie mit einer abschlägigen Antwort zurückkam, so müßte Klausen nach Amerika flüchten, der Wagen, der ihn nach der Eisenbahnstation in Voer bringen sollte, war schon herausgezogen, als sie hierhergegangen sei.

Nein, das habe er nicht von Klausen geglaubt. Das sei doch der gemeinste Schurkenstreich! Den Mann in Ungelegenheit zu bringen, der ihm wieder und wieder geholfen und geholfen hatte. Er müsse sehr schlecht sein. Es sei empörend, und dann Unehre über seine Frau und das unschuldige Kind zu bringen. Sie solle nur hören, was die Leute sagen würden! Arme Agathe! Arme Agathe!

Sie warf sich vor ihm nieder und bat: »Henning, Henning, habe Mitleid mit uns!«

»Nein, und tausendmal nein, mein Name soll ohne Makel sein, ich helfe einem Verbrecher nicht.«

Dann ging sie.

Henning setzte sich hin und schrieb an die Polizei in Voer, daß man Klausen wegen Wechselfälschung anhalten solle, wenn er sich auf der Eisenbahnstation blicken lasse. Ein reitender Bote wurde mit dem Brief abgesandt.

Am Abend hörte er, daß Klausen abgereist sei, am nächsten Tage, daß man ihn in Voer angehalten habe.

Agathe mußte sich zu Bett legen, als sie nach Hause kam. Geschwächt wie sie war von der kürzlich überstandenen Krankheit, hatte sie die Anstrengung und die heftige Gemütsbewegung nicht ertragen können. Die Nachricht, daß Klausen verhaftet sei, knickte sie vollständig. Die Krankheit nahm einen heftigen, fieberartigen Charakter an, und drei Tage später wurde nach Stavnede die Meldung gesandt, daß sie tot sei.

Am Tage vor dem Begräbnis ging Henning nach Hagestedgaard. Das Wetter war dunkel und nebelig, das Laub fiel in dichten Massen, es lag ein scharfer, erdiger Geruch in der Luft.

Sie führten ihn in das Sterbezimmer, die Fenster waren mit weißen Tüchern verhängt, am Kopfende der Leiche brannten ein paar Lichter. Die Luft war schwer von dem Blumenduft der vielen Kränze und von dem Firnisgeruch des Sarges.

Er wurde beinahe feierlich gestimmt, als er sie in der phantastisch weißen Leichenkleidung daliegen sah. Sie hatten ein weißes Tuch über ihr Antlitz gebreitet; er ließ es liegen. Die Hände lagen über der Brust gefaltet; sie hatten ihr weiße, baumwollene Handschuhe angezogen. Er nahm die Hand, zog den Handschuh ab und schob ihn in seine Brust hinein. Dann betrachtete er neugierig die Hand, bog die Finger und hauchte sie an, wie um sie zu erwärmen. Lange hielt er ihre Hand in der seinen, es wurde dunkler und dunkler im Zimmer, der Nebel da draußen nahm zu. Dann beugte er sich über ihr Antlitz und flüsterte: »Leb wohl, Agathe! ich will dir etwas sagen, ehe wir scheiden, ich bereue auch nicht, was ich getan habe!« Dann ließ er die Hand fallen und ging.

Als er hinauskam, konnte er kaum die Scheune sehen, so dicht war der Nebel. Er ging am Strand entlang nach Hause. – Jetzt war er gerächt, und dann? Was dann morgen und übermorgen, was dann? – Es war so still, nur ein klein wenig Geräusch von dem Wasser da unten; – aber er konnte sein Herz nicht hören, ja, es schlug doch, aber so matt, so matt, – wie? das klang wie ein Schuß! und noch einer! Er schüttelte den Kopf, lächelte und murmelte: »Nein, nicht zwei, nur einer, nur einer!« Er war so müde, aber ruhen – er hatte keine Ruhe, um zu ruhen. Er blieb einen Augenblick stehen und sah sich um: es war nicht viel zu sehen, der Nebel bildete eine Mauer um ihn, Nebel oben, Nebel ringsumher, Sand unten; da lagen seine Fußspuren im Sande in einer geraden Linie; bis mitten in den Nebelkreis hinein reichten sie, nicht weiter; er ging wieder ein wenig, nein, sie kamen nicht weiter als bis zur Mitte, aber hinter ihm, da, wo er gegangen war, da waren Kreise voll von seinen Fußstapfen. – Er war doch sehr müde! Das machte der Sand, es war so schwer, darin zu gehen – jede Fußspur hatte ihn etwas von seinen Kräften gekostet, ja! es war eine Reihe von Gräbern für seine entschwundenen Kräfte – und auf der anderen Seite, da lag der Sand eben und glatt und wartete, – ein Schauer überlief ihn: es schreitet jemand über mein Grab – es geht jemand in meinen Fußstapfen, es raschelt da hinten im Nebel wie von Frauengewändern, es ist etwas Weißes da drinnen in dem weißen Nebel! Er ging wieder weiter, so schnell er konnte. Die Beine schlotterten unter ihm, es wurde ihm schwarz vor Augen, aber vorwärts mußte er, dahin durch den Nebel, denn das da drinnen verfolgte ihn beständig. Es kam näher und näher, die Kräfte waren nahe daran, ihn zu verlassen, er schwankte von der einen Seite auf die andere, seltsame Blitze zuckten an seinen Augen vorüber, scharfe, gellende Laute klangen ihm ins Ohr, der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn, seine Lippen öffneten sich in Entsetzen; dann sank er im Sande um. Und aus dem Nebel heraus kam es, formlos und doch erkennbar, sich über ihn schleichend, schwer und langsam. Er versuchte sich aufzurichten, da packte es ihn mit eiskalten, weißen Fingern an der Kehle ...

Am nächsten Tage, als Agathe begraben werden sollte, mußte das Gefolge eine Weile warten, aber es kam doch niemand aus Stavnede, um ihr das Geleit zu geben.


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