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Die deutschen Truppen sind abgezogen, sie haben uns verlassen, die wir wie Boten des Himmels vor einem Jahr begrüßten, als sie, uns von heißer Not errettend, siegreich in die Tore unserer Stadt einzogen.

Nun sind sie fort. »Was gehen uns die Balten an?« war ihr Abschiedswort. Wir sind verlassen und dem Heer der Bolschewiken preisgegeben, die langsam und unaufhaltsam wie das Verderben durchs Land auf unsere alte Stadt vorrücken. Flüchtlinge vom Lande, die nur ihr nacktes Leben gerettet haben, erzählen von dem Entsetzen, das dieses Hunnenheer verbreitet. Was fliehen kann, flieht aus der Stadt, mit Schiffen, mit Schlitten, ja, zu Fuß. Ich kann nicht fliehen, es bleiben zu viele, die mir lieb sind, weil sie bleiben müssen. Es ist keine Unsicherheit in mir, so sehr die Freunde drängen, ich fühle es, mein Platz ist hier.

Ein kleines Heer tapferer Söhne unseres Landes hat sich gebildet, die Landeswehr. Männer und Knaben, sie wollen dem Feinde entgegensetzen. Ungeübte Kinder darunter, aber mit glühender Begeisterung, mit stolzem Siegesmut. »Sie sollen unsere liebe deutsche Stadt nicht haben, wir schützen sie!«

Es war ein kalter, harter Wintertag. Die letzten Schiffe mit Flüchtlingen waren fort, und das Grausen der Verlassenheit stieg einem an die Seele. Ich stand auf meinem Balkon, der einen weiten Blick über Straßen und Plätze gewährte. Von dort aus hatte ich vor wenig Tagen unser junges Heer dem Feinde entgegen ziehen gesehen. Die schweren Kanonen knirschten auf dem Schnee, die Pferde dampften, man hörte die starken jungen Schritte taktmäßig durch die schweigenden Straßen hallen. Jetzt fangen sie an zu singen, es ist das Heimatlied. Jauchzend klingen die jungen Stimmen im schönen vollen Chor durch die Dämmerung. Es kommt über mich, daß ich weinen muß, mein Schluchzen erstirbt in der eisigen Winterluft. »Mein Gott, hab Erbarmen mit unseren jungen Knaben und laß sie nicht zugrunde gehen!« Nun ist es still geworden, man hört keinen Laut weit und breit. Die Dunkelheit umhüllt die Stadt, nur der Schnee leuchtet. froh unsere jungen Herzen waren, wie voll Licht und Freude die Welt um uns.

Die Glocke ist verstummt, ich blicke um mich, die Nacht liegt schwer und dunkel über der Stadt.

Dieser Tag hat abgenommen,
Bald wird auch der Tod herkommen.
Drum, o Mensch, so schicke dich.
Daß du stirbest seliglich!

 

*

Die Bolschewiken haben die Stadt erobert, ohne Kampf. Denn unsere junge Schar, die ihnen entgegenzog, lag blutend draußen im Schnee. Man hatte es wie Kinderweinen durch die dunkle Nacht klingen gehört. Es waren ja unter ihnen auch viele noch Kinder, die in der Todesstunde schluchzend nach einer Hand riefen, die die ihre faßte. Der Rest war nach Deutschland geflohen. Die ungeübten Truppen vermochten nichts gegen die erbarmungslose Übermacht.

Die Eroberer beginnen ihr Werk! Welche Feder vermag ihr Wüten und Würgen zu schildern?

Es ist Sonntag. Ich bin in der Kirche, eine große Gemeinde umgibt mich. Wie viel Leid, Hunger und Angst liest man in den Gesichtern ringsum. Hier ist's aber, als gäbe es noch ein Stück Frieden, als hätte man hier noch eine Zuflucht in der furchtbaren Not. Wir singen unsere alten Lieder und hören die Predigt, die so tröstend und eindringlich von den Lippen unseres lieben Predigers in unsere Herzen dringt. Viele gebeugte Gestalten richten sich langsam wieder auf, viele müde Augen leuchten, und hoffnungslose Gesichter bekommen Leben.

Der Gottesdienst ist zu Ende, der Pastor hat eben vom Altar den Segen gesprochen, da unterbricht ein wilder Lärm die heilige Stille. Männer in Waffen umringen den Altar, sie zerren den Prediger von seinem Platz. Rohe Gesichter voller Haß, wir wissen alle: Hier ist keine Hilfe möglich. Ruhig folgt ihnen der Prediger, voller Hoheit geht er inmitten der tobenden Rotte. Jetzt spricht er mit ihnen, sie treten zurück und geben ihn frei für einen Augenblick. Er will noch einmal auf die Kanzel und seiner Gemeinde ein Abschiedswort sagen. Nun steht er oben. In atemlosem Schweigen erstarrt, sitzt die Gemeinde. Wie schön und hell ist sein stilles Gesicht, wie viel Würde liegt auf seiner schlichten Erscheinung. Er spricht mit ruhiger, klarer Stimme, er bittet seine Gemeinde: nicht zu vergessen, was er sie gelehrt, er bittet sie an Gott festzuhalten, auch in Not und Tod und für ihn zu beten. Dann nimmt er Abschied.

Da erhebt sich in der drückenden Stille eine Stimme, voll und klar singt sie:

Ein feste Burg ist unser Gott,
Ein gute Wehr und Waffen.

Es geht wie ein Rauschen von großen unsichtbaren Flügeln durch die Kirche, die ganze Gemeinde erhebt sich und singt mit:

Er hilft uns frei aus aller Not,
Die uns jetzt hat betroffen.

Unter diesen Klängen verläßt der Prediger die Kanzel, er wird von den Bewaffneten umringt und fortgeführt.

In langer Gefängnishaft ist er später vielen ein Tröster und Helfer geworden.

Als die Befreier kamen und Leben und Freiheit mit sich brachten, da fand man ihn mit vielen seiner Mitgefangenen ermordet im Hof des Gefängnisses. Ohne Zagen, still und mutig ist er in den Tod gegangen. Er hatte gelebt, was er gelehrt und ist gestorben wie ein Christ.

*

 

Es ist ein heller eisiger Wintertag. Ich komme von einem Besuch heim, in meinem Körbchen trage ich einige Zwiebacke, die mir eine gute Freundin gab.

Ich gehe eilig, denn es ist kalt, der Schnee knirscht unter den Füßen, man kann in der scharfen Luft nur schwer atmen.

Da höre ich aus der Ferne eine schrille, jammervolle Stimme, sie durchschneidet die klare, helle Luft. Als ich näher komme, erblicke ich eine alte Frau, mitten auf der Straße. Graues Haar hängt ihr in Strähnen über die eingefallenen Wangen, müde und hoffnungslos sieht sie aus den alten Augen. Sie hat den Kopf in den Nacken gebogen, ihr bescheidenes schwarzes Hütchen ist ihr aus der Stirn geglitten, ihr Anzug ist peinlich sauber und ordentlich, die Hände stecken in schwarzwollenen Handschuhen, sie hält sie über der Brust gefalten. Ich bleibe stehen, ist sie krank? In ihrer Stimme ist ein Laut wie von einem klagenden Tier. Was schreit sie: »Ich bin hungrig!« Immer wieder dasselbe: »Ich bin hungrig!« Ich stürze zu ihr hin und lege meine Zwiebacke in ihre Hände. Verwirrt blickt sie mich an, einen Augenblick ist sie still, die alten trockenen Augen sehen mich an, einen Augenblick nur, ratlos, dann sieht sie auf die Zwiebacke in ihren Händen. »Essen Sie etwas«, sage ich zitternd, und »ach bitte, schreien Sie nicht mehr«.

Sie hört nicht auf mich. Sie erhebt wieder ihre jammervolle Stimme: »Sie sagen mir, ich sei alt, unnütz in der Welt, ich solle doch sterben, denn in dieser Zeit sollen Unnütze nicht leben. Mein Gott, mein Gott, warum nimmst du mich nicht! Kann man denn sterben wie man will? Kann ich denn aufhören zu leben nach meinem Willen? Darf ich mir denn das Leben nehmen? Das ist doch Sünde! Wie darf man denn immer sagen, ich soll sterben! Tötet mich doch, ich wäre ja dankbar!«

Ich gehe weiter, die Stimme in ihrem Jammer läßt mir keine Ruhe, sie nimmt mir den Atem, sie macht mir Qual, ich laufe, ihr zu entfliehen. Nun stehe ich an der Düna, der Fluß mit seiner Eisdecke ist still, man sieht weit hinüber über die verschneite Fläche, die Sonne ist untergegangen, purpurn glüht das Abendrot hinter den dunklen Fichten des gegenüber liegenden Ufers. Alles still, freundlich, ein Bild, das sich einem vertraut und lieb in die Seele legt.

Man fühlt plötzlich wieder die Heimat, die fremd, grauenhaft und fern geworden war. Man ahnt, daß hinter Winterleid ferne Frühlingstage liegen können, und tröstlich dringt der Gedanke in die Seele, daß auch dieses Elend einmal vorübergehen wird.

Geht alles zu End, nur du nicht allein
Sollst Gott mir Ein und Alles sein.

*

 

Ich sitze am Klavier und gebe eine Gesangstunde. Holdselig und silberklar klingt die junge Stimme meiner Schülerin durch den Raum. Es ist etwas Reines und Heiliges in ihr, die wie losgelöst vom Irdischen schwingt. Da höre ich ein Brüllen und Schreien, Stampfen und Zanken im Nebenzimmer. Ich weiß, nun sind sie da. »Singen Sie ruhig weiter«, flüstere ich ihr zu. Die Stimme schwankt einen Augenblick, dann hebt sie wieder ihre reinen Silberschwingen. Das Gebrüll im Nebenzimmer verstummt, die Tür zu meinem Zimmer wird vorsichtig geöffnet, und wilde bewaffnete Gestalten stehen auf der Schwelle. Sie singt weiter. Acht Mann füllen das Zimmer, aber sie schweigen und horchen. Und gehen dann auf Fußspitzen an mir vorüber ins Nebenzimmer. Das Lied ist zu Ende, ich gehe ihnen nach. Sie stehen vor meinem Schreibtisch, rohe Hände reißen die Schubladen auf, greifen hinein, und schleudern ihren Inhalt auf den Boden. »Was wollen Sie hier?« frage ich. »Wir brauchen einen Schreibtisch«, ist die in fast höflichem Ton gegebene Antwort. »Wir wollen sehen, ob wir den Ihren brauchen können.« Einer von ihnen winkt mir mit den Augen zu, ich folge ihm ins Nebenzimmer: »Seien Sie ruhig, ich will Ihnen Ihren Schreibtisch retten«. Er tritt wieder zu den anderen: »Der Schreibtisch ist zu klein«, sagt er befehlend. »Gehen wir in ein anderes Haus.« Er grüßt und wendet sich zum Ausgang. Sie zögern, sehen sich betreten an. »Hört Ihr's nicht!« ruft ihnen ihr Führer ungeduldig zu. »Ich kann den Schreibtisch nicht brauchen, gehen wir.« Da grüßen sie und gehen einer nach dem anderen hinaus. Wir Hausgenossen sehen uns sprachlos an. Von einer solchen Haussuchung hatten wir noch nie gehört. Was machte sie so still, was schüchterte sie so ein?

War es die schöne klare Stimme, die ihnen von einer heiligen Welt sprach, die hoch über dem stand, was ihr blutiges Leben erfüllte? Lag auch in diesen rohen Menschenseelen doch noch ein Fünkchen, das ausleuchten konnte und von einem Leben erzählte, das verschüttet war?

*

 

Ich gehe durch die Straßen der Stadt, ein seltsamer Aufzug kommt mir entgegen. Ein Lastwagen, hoch mit Unrat und dem Inhalt der Müllgruben gefüllt, fährt langsam dahin. Nicht Pferde ziehen ihn, sondern Männer, es sind die Gefangenen der Bolschewiken, Herren aus unserer Intelligenz, Edelleute, Prediger, Beamte. Einige ziehen an der Deichsel, andere ziehen und stoßen ihn von allen Seiten. Man sieht ihnen die Anstrengungen an. Viele gehen gekrümmt von der Last, andere wischen sich den Schweiß von den blassen Stirnen; stehen bleiben darf keiner, denn der ganze Zug ist umgeben von Bolschewiken, die ihre Flinten auf der Schulter tragen, und mit rohem Zuruf die Ermatteten antreiben! Welch ein Leiden liegt in den blassen Gesichtern! Hunger, Herzeleid und Kerkerluft haben ihre Schrift in sie hinein geschrieben, nie aber sah ich so viel schlichte Würde, so viel Hoheit wie hier. Gebrochen, verzweifelt, sieht keiner von ihnen aus! Ich darf nicht stehen bleiben, ich darf sie nicht grüßen, aber mir ist, als müßte ich mich tief, tief neigen vor diesen Duldern, die mir so hoch erscheinen, so voller Würde in ihrer Erniedrigung.

Ich gehe an ihnen vorüber und folge dann langsam dem Wagen aus der Ferne. Sie fahren aus der Stadt hinaus, auf die Stadtweide, wo sie die Wagen ausleeren müssen. Als ich ankomme, ist die Arbeit in vollem Gange. Ich stehe am Rande der Wiese und sehe dem Leben zu, das sich da vor meinen Augen abspielt. Die beladenen Wagen stehen umher, auf ihnen sehe ich einige von den Herren, die ihren Inhalt mit Schaufeln herabwerfen. Andere stehen unten und breiten den Unrat auf den Wiesen aus. Zwischen den Arbeitenden bewegen sich Damen mit Körben und mit Kannen. Sie speisen und tränken die Gefangenen. Ergreifende Bilder sieht man. Manche haben ihre Kinder mit, die jubelnd zu den Vätern streben und die Tränen der Mütter nicht begreifen, die ihnen über die traurigen Gesichter rinnen, während sie zusehen, wie die verhungerten Männer hastig vom Mitgebrachten essen. Dort in einiger Entfernung sehe ich ein rührendes Bild. Es sind einige Balken zusammengeschoben, auf denen einer der Gefangenen sitzt. Ein blasses, feines Gesicht, aus dessen Augen es hell strahlt mit einem Licht, das nicht aus dieser Welt ist. Müde hat er die Schaufel beiseite gestellt, er ruht einen Augenblick. In seinen Armen hält er sein Kind, einen Knaben von vier Jahren. Der Kleine sitzt still und ernsthaft da, das Köpfchen an die Brust des Vaters gedrückt. Neben ihm sehe ich seine Frau, mit Augen so blau und klar, als spiegelte sich der Himmel drein, und einen Jüngling, fast noch Knaben, mit schönem klarem Gesicht und einem Ausdruck voll heiliger, tiefer Trauer, der in dem jungen Gesicht erschütternd wirkt. Auf den Knien des Gefangenen liegt ein neues Testament, er liest mit leiser Stimme daraus den Seinen vor. Bolschewiken mit Flinten auf dem Rücken umschleichen wie hungrige Wölfe die Gefangenen. Man hat ihnen Geld und zu essen gegeben, daher lassen sie es geschehen, daß man die Gefangenen hier besucht und speist.

Über allem aber lacht ein blauer Himmel, strahlt eine goldene Sonne. Es ist ein heller, junger Frühlingstag, das Gras keimt grün an den Grabenrändern, und die ersten Lerchen steigen jubelnd in den Himmel. Und über den Erniedrigten, Gefangenen, und über den Traurigen liegt es, wie ein leises, frohes Hoffen, wie eine schöne klare Zuversicht, ja, fast wie Fröhlichkeit. Und ich, die ich still am Rande der Wiese stehe, fühle, wie die Trauer und der Druck, die auch auf meiner Seele gelegen, weichen. Es ist mir, als käme es von denen dort auf der Wiese, wie ein starker Strom von stiller Leidensfreudigkeit, von freudiger Ergebung, von starkem Vertrauen:

Nehmen sie uns den Leib,
Gut, Ehr', Kind und Weib,
Laß fahren dahin.
Sie haben's kein Gewinn,
Das Reich muß uns doch bleiben!

*

 

Viele Tage bin ich ohne Brot gewesen. Eine Verwandte hat mir ein Stück Brot geschenkt mit der strengen Weisung, es selbst zu essen. Sorgfältig verpackt halte ich meinen Schatz im Arm und freue mich darauf, ihn am Abend zu meiner Wassersuppe zu verzehren. Ich halte mein Päckchen verborgen aus Furcht, jemand könnte es mir nehmen. Da steht ein Herr vor mir und vertritt mir den Weg. Er lüftet den Hut, ich sehe erschrocken zu ihm auf. Was will er? Ich blicke in ein scharfes, schmales Gesicht, durch Brillengläser schauen ein Paar durchdringende Augen in die meinen, mit einem merkwürdig brennenden Blick. »Ich bin hungrig«, sagte er leise, »bitte, geben Sie mir etwas!« »Ich hungere selbst«, sage ich traurig, »ich kann Ihnen nichts geben!« »Sie tragen da ein Päckchen«, sagt er, die Augen halten mich fest, »ist nicht Brot darin?« »Ja«, sage ich, »ich habe es eben erhalten, ich habe Tage lang schon kein Brot gegessen!« »Aber Sie haben was anderes gegessen«, sagt er scharf, »gewiß hatten Sie eine Suppe heute mittag! Ich habe seit gestern nachmittag nichts Warmes über die Lippen gebracht.« »Kommen Sie«, sage ich nach kurzem Kampf, »wir wollen in diese Haustür treten; ich mußte versprechen, dieses Stück Brot selbst zu essen, ein Stückchen davon muß ich nehmen, das übrige sollen Sie haben.« Wir traten ein, ich wickelte das Brot aus seiner Umhüllung, sein ganzer Jammer lag in dem Blick, mit dem er meine Hände nicht aus den Augen ließ, es war etwas von einem Raubtier darin und in der Bewegung der Hände, die er ausstreckte. Ich brach ein kleines Stück vom Brot für mich ab und gab ihm den Rest; er strich sorgfältig die Krümchen von meinen Händen, nahm das Brot und band es mit zitternden Händen in sein Taschentuch, das er zu sich steckte. Ich sah ihn traurig an: »Es ist wenig genug«, sagte ich, »Sie werden nicht einmal satt heute abend!« Er sagte nichts, nicht einmal »Danke«. Er sah an mir vorüber mit einem sonderbar kalten, harten Blick, griff an seinen Hut und ging fort. Ich trat aus der Haustür und blickte ihm nach. Nur wenige Schritte war er gegangen, er stand an der nächsten Straßenecke, hatte das Brot aus seinem Tuch gewickelt und steckte ein Stück nach dem andern langsam in den Mund. Da erblickte er mich. Ein feindseliger Blick traf mich, er steckte sein Tuch zu sich und ging eilig davon.

*

 

Wildes Geschrei erfüllt unser Haus, Kommissare der Bolschewiken sind da, und stürmen die Wohnung. Sie fluchen und schreien, heben ihre Flinten gegen wehrlose alte Damen, reißen Sachen aus den Schränken, Uhren und Schmuckgegenstände den Menschen vom Leibe.

»In zwei Stunden müssen Sie Ihre Wohnung verlassen« ist das Ende der Verhandlungen. Jeden Augenblick müssen sie auch bei mir sein. Es wird geklingelt, ich öffne; eine Dame in kostbare Pelze gehüllt steht vor mir. Sie nennt ihren Namen, es ist eine bekannte Varieteesängerin, deren Mann eine furchtbare Rolle beim Bolschewikentribunal gespielt hat, sie gilt für eine gefährliche Persönlichkeit. Sie will bei mir Gesangstunden nehmen.

»Ich kann Sie eben nicht empfangen«, sage ich, »Sie hören selbst, was im Hause vorgeht. Die Kommissare sind da, ich erwarte sie jeden Augenblick!« Sie richtet sich auf und horcht, in dieser Bewegung liegt etwas von einer Schlange. Wilder Lärm dringt aus der Nebenwohnung, in der eine alte Dame von 90 Jahren lebt. »Ich bleibe«, sagt sie dann entschlossen, »ich will Ihnen helfen!« Ich bin so überrascht, daß ich kein Wort sagen kann. Sie tritt bei mir ein, und wir versuchen eine Unterhaltung zu führen. Da ertönt ein wilder Schlag gegen die Türe mit Flintenkolben, die Tür springt auf, und ins Zimmer stürzen drei Bewaffnete. Der Anführer brüllt wie ein wildes Tier, sein Gesicht ist verzerrt, er stampft mit den Füßen, er schlägt mit dem Kolben seiner Flinte auf den Boden: »Heraus, heraus!« schreit er, »in zwei Stunden müssen Sie Ihr Haus verlassen! Zwei Taschentücher, zwei Handtücher, ein Kleid, ein Kopfkissen dürfen Sie mitnehmen, alles andere bleibt hier!« Er stürzt, so schreiend, von einem Zimmer in das andere, erstarrt sitzen wir da.

Die Sängerin ist ganz still, und steht mit kalten Augen dem Toben zu. Plötzlich erhebt sie sich und nähert sich dem Anführer der Rotte. Sie steht vor ihm, schlank und elegant, in ihren kostbaren Pelzen, mit funkelnden Brillanten in den Ohren. Sie streckt ihm die Hand entgegen: »Guten Tag, Kameraden«, sagt sie lächelnd. Das Geschrei verstummt, sprachlos erstaunt sieht der Kommissar sie an: »Guten Tag!« sagt er dann verwirrt und nimmt ihre Hand. »Kommen Sie ins Nebenzimmer« sagt sie kurz und geht voraus, noch immer sprachlos folgen ihr die Männer. Sie schließt die Tür, ich höre sie eine Weile miteinander verhandeln. Ich höre eine zornige Männerstimme sich erheben, aber die helle, kalte Frauenstimme bleibt Siegerin. Die Männerstimmen schweigen, es wird still; da öffnet sich die Tür des Nebenzimmers, sie steht auf der Schwelle, ihre Augen funkeln mit ihren Brillanten um die Wette. »Er ist fort«, sagt sie und lacht. »Ihre Wohnung müssen Sie wohl verlassen, aber nehmen Sie Ihre persönlichen Sachen ruhig mit, einen Koffer dürfen Sie haben. Er wollte nicht gehen, er wollte auf nichts eingehen, aber ich nannte ihm einen Namen – da hat er gezittert!«

Ich fasse ihre Hand und danke ihr; da geht eine merkwürdige Veränderung in ihrem Gesicht vor, es wird weich, fast lieblich, und mit einem plötzlichen Impuls streckt sie ihre Arme aus, umarmt mich und küßt mich: »Ich bin so froh, daß ich Ihnen helfen konnte«, sagte sie warm, »wenn Sie mich weiter brauchen, bin ich jederzeit für Sie da.« Sie gibt mir ihre Adresse und geht fort.

Nun muß ich aufs Kommissariat, um die Adresse der mir bestimmten Wohnung zu erhalten. Es ist ein Gang in die Hölle und ich fürchte mich. In einer vornehmen Wohnung hat es sein Büro eingerichtet. Ich gehe durch verwüstete Räume, zertrümmerte Möbel, zerbrochene kostbare Sachen stehen und liegen umher. Ich stehe vor einem roh aussehenden Mann, der vor einem kostbaren Schreibtisch sitzt, er fragt nach meinem Namen, und schreibt dann einige Worte auf einen Zettel, den er mir zuschiebt. Es ist die Adresse meines neuen Wohnortes. Ich lese den Namen einer Halbinsel an der Düna, die fast nur von Arbeitern bewohnt ist. Sie liegt weit aus der Stadt.

»Dort kann ich nicht hinziehen«, sage ich ruhig, »die Wohnung liegt zu weit aus der Stadt. Ich bin Lehrerin, dort kann ich meine Arbeit nicht tun. Ich bitte Sie, mir zu erlauben, in folgendes Haus zu ziehen.« Ich nenne die Adresse meiner Verwandten.

Er lacht höhnisch, lehnt sich in seinen Stuhl zurück und scherzt: »Dort ist die Luft besser, die Vögel werden bald singen, der Frühling kommt, Sie können spazieren gehen und Blumen pflücken, es ist mir eine Freude, Sie dort zu wissen!« So höhnt und spottet er, rohes Lachen seiner Gefährten lohnt jeden wüsten Scherz. Ich stehe mit einer alten Lehrerin mitten im Geschrei und Gelächter. Sie ist 70 Jahre alt, silberweißes Haar umrahmt ihr Gesicht; ein Leben voll Arbeit für ihre Nebenmenschen liegt hinter ihr, sie wird verhöhnt wie ich. Endlich ist der Witz des Kommissars erschöpft, nach einigem scherzhaften Zögern reicht er uns neue Wohnungszettel; unsere Wünsche sind erfüllt, wir können in der Stadt bleiben, in den Wohnungen, um die wir gebeten. Es liegt aber solch ein böses Lachen in seinen Augen, daß mein Herz erschrickt. Nun müssen wir noch eine Unterschrift vom obersten Kommissaren haben, dazu müssen wir in einen anderen Raum, und stehen vor einem Manne, bei dessen Anblick mir der Atem stockt. Das ist kein Menschenantlitz, das sind keine Menschenaugen, die mich anblicken. Grausame, blutige Wolfsaugen sind es, in einem gedunsenen Gesicht, ein furchtbarer Mund mit spitzen Raubtierzähnen und einem Ausdruck von Haß – der nicht mehr menschlich ist. Nun erkläre ich mir auch das böse Lachen des ersten Kommissars. Mir ist, als könnte ich kein Glied rühren, keinen Laut hervorbringen, dann reichen wir ihm unsere Zettel. Er sieht sie an und reißt sie mitten durch: »Sie werden nicht hier bleiben, Sie sollen fort«, schreit er. »Ich will es so! Und was ich will geschieht! Und wenn es mir gefällt, jage ich Sie auch von dort fort und noch viel weiter!« Ich schweige, aber die alte Lehrerin bittet. Mit ruhiger Würde spricht sie: »Ich habe über vierzig Jahre hier in der Stadt gelehrt« – er läßt sie nicht weiter sprechen, er schlägt auf den Tisch, er brüllt wie ein Tier: »Ja, mit Gottes Wort? So haben Sie gelehrt, und dafür gesorgt, daß Dummheit und Dunkelheit verbreitet werden! Dafür sollen Sie gestraft werden! Und dafür sollen Sie büßen!«

Es ist, als würden seine Augen blutunterlaufen, rot vor Haß, er wirft sich im Stuhl hin und her, er krümmt sich vor Wut, dann schreibt er einige Worte auf ein Papier, schiebt uns die Zettel zu und kehrt uns den Rücken. Wir gehen und stehen bald auf der Straße. Was nun beginnen? »Ich gehe zur Sängerin«, sage ich entschlossen, »vielleicht hilft sie!« Wir suchen sie in ihrer Wohnung auf und finden sie sofort bereit, für uns einzutreten. Sie hüllt sich in ihre Pelze und bittet uns sie zu erwarten.

»Das wird ein Kampf!« sagte sie lachend und siegesgewiß. »Das ist ein Böser, ich kenne ihn. Nun, wir werden ja sehen, wer stärker ist.«

Nach einer halben Stunde ist sie wieder da, strahlend und triumphierend; sie hat die Erlaubnis für die erbetenen Wohnungen erhalten, denn sie war auch gleich für die alte Lehrerin mit eingetreten.

Wir danken ihr, sie küßt mich und sagt wieder, wie glücklich sie gewesen sei, mir helfen zu können.

Mag sie schlecht gewesen sein, für mich war sie ein Bote von Gott, eine Helferin in der Not, an die ich immer mit wärmster Dankbarkeit denken werde.

Ich gehe heim, taumelnd vor Mattigkeit und Hunger, denn seit dem Morgen habe ich weder gegessen noch getrunken.

Welch ein Anblick aber erwartet mich, als ich heimkomme! Es leben in unserem Hause viele alte Lehrerinnen, auch ein Altersheim für Lehrerinnen ist da. Alle, alle müssen bis zum Abend hinaus. Kranke werden aus ihren Wohnungen getragen, auf Handkarren werden sie fortgeführt; alte Damen laufen verwirrt treppauf, treppab, mit kleinen Bündeln in den Händen, die ihre Habe enthält. Eine alte Lehrerin zerrt ihre Badewanne die Treppe hinunter, das einzige, was sie in der Aufregung retten will, eine andere sitzt schluchzend auf der Treppe: »Ich besitze nur 17 Rubel, wo soll ich damit hin?«

Man kann das Leid nicht mehr Mitempfinden.

Mit einem Herzen voll Müdigkeit stehe ich in meinem Heim, das ich nun verlassen muß.

Alles, was ich mir in einem Leben voll Arbeit erworben, alles, was von Urvätern her mein liebes Eigentum war, mußte ich zurücklassen. Was ich mitnehmen durfte, lag bald auf einem Karren, der von einem Edelmann und von einem Magister der Theologie gezogen wurde, die sich jetzt auf diese Weise ihren Unterhalt verdienten. Ich ging hinterher, meinem neuen Heim entgegen.

Am Morgen dieses Tages war mir der Spruch in die Hände gefallen: »Wer verläßt Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Äcker um meines Namens willen, der wird es hundertfältig nehmen und das ewige Leben erwerben« (Matthäus 19, 39). Ich hatte drum gebangt, ob ich dieses Opfer würde bringen können, ohne Klagen. Und nun war es von mir gefordert, und mein Herz war voll Dank, daß ich es freudig bringen konnte, denn über allem stand hell die Erkenntnis: Was dem Leben den höchsten Wert gibt, das können sie einem doch nicht nehmen.

*

 

Ich kannte sie, als sie noch ganz jung war. Schneewittchen nannte man sie, denn sie hatte ein Gesicht weiß wie Schnee, rot wie Blut, und Haar dunkel wie Ebenholz.

Sie war eine Träumerin, weltfremd, in Poesie und Musik versponnen, träumte sie von einem Künstlerberuf, von strahlendem Glück, wie man es in Märchen liest, von Erfolgen, die über Nacht im Schlaf zu einem kommen. Ich hatte sie viele Jahre aus dem Gesicht verloren, der Krieg hatte ihr alles genommen und sie mit einem Bruder in die Eisgefilde Sibiriens verschleppt.

Nun saß sie vor mir, ein graues, kleines, vergrämtes Ding. Nichts von ihrer früheren Schönheit war in den blassen starren Zügen zu lesen, hart und grau war das ehemals so feine Gesicht, und die Augen, die mich anblickten, waren tot und tränenlos. Ich muß mich sammeln, so tief erschüttert mich ihr Anblick.

Sie spricht mit heiserer Stimme, ohne Bewegung, ohne Klage: »Mein Bruder, mein Einziges auf Erden stirbt«, sagt sie, »wir hungern und frieren! Er liegt mit Wunden bedeckt schon seit Wochen da, ich weiß nicht, was beginnen. Wir gehören zu keinem Verbande, so erhalten wir nicht einmal die Kriegssuppe und kein Brot. Helfen Sie mir!« Es würgt mich in der Kehle, so quälen mich die Tränen, das Schluchzen, das ich zurückdrängen will. Sie sitzt schweigend da, die Hände ineinander gelegt, ein Bild hartnäckiger, zäher Geduld, sie wartet. – Das Mitleid stürzt wie eine Welle über mich, ich greife in meine Tasche; eben habe ich die Einnahme der Woche erhalten, ich lege alles in ihre Hände, angesichts dieses Jammers kann ich nicht fragen: »Wovon werde ich dann leben?«

Ich suche von meinen spärlichen Vorräten etwas zusammen, und sage mir dabei: »Was nützt es? Wie lange hält das für zwei Verhungerte vor?« Sie geht, nicht ein Strahl hat ihr Gesicht erhellt. Die Zeiten werden immer grausamer, nagender Hunger quält einen, die spärlichen Vorräte sind verbraucht und noch immer keine Rettung! Da, eines Tages, ist sie wieder da. Die kleine Gestalt ist noch mehr zusammengesunken, sie sitzt wieder vor mir mit ineinander gelegten Händen, mit dem Ausdruck zäher, hartnäckiger Geduld, der nicht nur auf dem Gesicht, nein auf der ganzen Gestalt liegt.

»Ich kann Ihnen nichts mehr geben«, sage ich, »alle meine Hilfsquellen sind erschöpft. Ich habe selbst kaum so viel, um mein Leben zu fristen, es handelt sich auch für mich vielleicht nur noch um kurze Zeit, ich kann nichts mehr fortgeben!«

Sie sieht mich mit den tränenlosen Augen an: »Dann müssen wir beide sterben«, sagt sie hart.

Habe ich denn noch ein Herz in der Brust, das fühlt und mitleidet? Nein, es ist ein Stein, den ich in mir trage, schwer und quälend. »Ja, dann müssen Sie sterben«, sage ich still. Sie sagt kein Wort, sie sieht sich um, wie ein Vogel, der aus seinem Kerker will, dann aber die Flügel zusammenlegt und sich ergibt. Nein, es gibt keine Rettung. Ich habe mein Mittagessen auf dem Tisch, eine graue Kriegssuppe, die teile ich noch mit ihr. Sie ißt schweigend; ich würge kaum einen Löffel hinunter, ich weiß, daß ich ihr nicht helfen kann und doch liegt es auf mir, als wäre ich irgendwie schuldig!

Sie reicht mir die Hand, ich habe noch ein klein wenig Geld für sie zurecht gelegt, sie nimmt es, und flüstert etwas, ich verstehe nicht was, dann geht sie. – Ich habe sie nicht mehr wieder gesehen, wie ein wundes Tier hat sie sich verkrochen, sie mit dem Bruder, dann sind sie beide gestorben.

*

 

Es ist Palmsonntag. Wir halten den Gottesdienst nicht in der Kirche, die uns von den Bolschewiken genommen ist. So haben wir uns in einem Raum unter der Kirche versammelt. Es ist halbdunkel, ein Harmonium leitet den Gesang. Aber Kopf an Kopf, dicht gedrängt sitzt die Gemeinde.

Der Pastor steht auf der Kanzel und spricht über den Text: Jesus Einzug in Jerusalem. Er ist fast der einzige Pastor, der uns noch geblieben ist, die anderen sind fort, tot, oder im Gefängnis!

Er spricht über die Bereitschaft zum Leiden.

Ich habe ihn in den letzten Wochen oft gehört, und bin seinen Predigten mit dem Herzen gefolgt und bin mit ihm gegangen durch Zeiten der Angst und des Verzagens, ich bin ihm gefolgt, wenn seine Seele mit ihrem Gott rang: »Laß diesen Kelch an mir vorüber gehen«. Jetzt war seine Seele frei von Angst geworden, in freudiger Bereitschaft: »Nicht wie ich will, sondern wie du willst«, klang es durch jedes seiner Worte. Nicht nur Friede und Stille, nein wie ein Jubel klang es hindurch; die Freudigkeit eines Sieges, der Jubel einer frei gewordenen Seele, die durch alle Tiefen gegangen ist, und nun auf der Höhe steht, wo sie Gott von Angesicht geschaut hat.

Ich gehe im Herzen tiefbewegt heim: Nun ist er reif, nun wird seine Stunde bald schlagen!

Noch wenige Tage darf er seine Arbeit tun, es ist in seinem Hause wie ein großes, stilles Warten, es ist, als umfaßte ihn und die Seinen eine Liebe, stark und tief, wie sie sie nie gekannt. Es ist Nacht, alles ist zur Ruhe gegangen, da erklingen die bekannten wütenden Schläge mit Flintenkolben an der Tür. Sie sind da und verlangen, der Pastor solle mit ihnen gehen. Er hat lang auf diese Stunde gewartet, nun ist sie gekommen und findet ihn bereit.

Während er sich ankleidet, stehen Bewaffnete in der Tür des Schlafzimmers, sie durchsuchen das Zimmer, sie drohen die kranke Pastorin aus ihrem Bett zu reißen, um es zu durchsuchen.

Die kleinen Kinder sitzen aufgeschreckt in ihren Bettchen, keins weint, mit großen, entsetzten Augen schauen sie auf die fremden Männer.

Die großen Kinder stehen mit blassen Gesichtern dabei. Was sie suchen, weiß keiner, am wenigsten wohl die Männer selbst. Sie führen den Pastor in sein Arbeitszimmer, das sie verwüsten. Sein Schreibtisch wird geöffnet, der Boden ist bald mit Papieren bedeckt, die Schränke werden aufgerissen, ihr Inhalt verstreut, dabei überhäufen sie den Pastor mit Schmähungen.

Er steht blaß und schlank in der Tür, schweigend hört er ihre Beschimpfungen an, seine Seele spricht mit Gott und das Licht weicht nicht aus seinen Augen.

Sein Blick sucht den Spruch, der über seinem Schreibtisch hängt: »Ihr habt mich nicht erwählet, sondern ich habe Euch erwählet und gesetzt, daß Ihr hingehet und Frucht bringet und Eure Frucht bleibe« (Ev. Johannes 15,16).

Einmal ist's, als wollten Kraft und Ruhe ihn verlassen, sie beschimpfen sein Amt, sie schmähen und besudeln es. Da sprühen seine Augen in dem blassen Gesicht, er richtet sich hoch auf, als wollte er unter sie treten und sie züchtigen, aber er schweigt. Denn er weiß es, daß dann ihm und den Seinen die Vernichtung sicher ist.

Nun ist die Haussuchung beendet, er soll fort. Erst darf er aber von den Seinen Abschied nehmen. Er küßt und segnet die Kinder, nun steht er am Krankenbett seiner Frau. Er beugt sich über sie. Welch eine starke Liebe spricht aus ihren blauen Augen: »Heute siehst du mich an wie an unserem Verlobungstage«, sagt er, »so voll Vertrauen und Liebe!«

Sie kann lächeln, ein mutiges Lächeln, er nimmt die Erinnerung daran mit sich in die Nacht und das Grauen seines Kerkers.

*

 

Ein Freund von mir, das Haupt einer kinderreichen Familie, ist im Gefängnis. Wir haben immer wieder Nachrichten von ihm, wir haben ihn gesehen, wie er mit anderen Gefangenen durch die Straßen der Stadt geführt wurde.

Immer hatte er ein mutiges Lächeln für die Seinen, wenn sie ihm auf diesen traurigen Gängen begegnen, aber sein Gesicht wird schmaler und blasser. Eines Tages haben wir die Nachricht erhalten, daß er um eine bestimmte Stunde am Fenster seines Gefängnisses stehen wird, um uns zu sehen, wir sollen dort vorübergehen.

Es ist Frühling, die Kinder tragen Zweige mit grünen Blätterknospen in den Händen. Nun ist das Gefängnis erreicht, wir gehen langsam, aber in einiger Entfernung daran vorüber, wir dürfen nicht stehen bleiben, nicht näher gehen, sonst schießen die Wächter in die Fenster des Gefängnisses.

Wir streifen angstvoll mit unseren Blicken die langen, vergitterten Fensterreihen; hoch oben sehen wir fest ans Gitter gedrückt ein weißes Gesicht.

»Er ist es«, flüstert die junge Frau.

Wir gehen weiter und setzen uns an den Rand eines Grabens, auf einige Balken, die dort liegen. Von dort aus können wir das Fenster des Gefängnisses im Auge behalten und können auch von dort aus gesehen werden. Die Sonne ist warm, die Sträucher und Bäume voller Knospen, am Rande des Grabens sprießt das erste Grün, und die Kinder spielen im Sonnenschein. Ob der Gefangene dort oben die hellen Stimmchen vernehmen kann?

Wir sitzen schweigend beisammen, die Herzen voll tiefer Trauer, und doch voller Trost.

Unbeweglich schaut das blasse Gesicht dort hoch oben am Fenster zu uns herüber, wie ein dunkles Kreuz liegt das Gitter auf der weißen Stirn.

*

 

Kann man dieses Leben noch tragen? fragt man sich morgens, wenn man erwacht!

Aber man muß es tragen!

Täglich steht man größere oder kleinere Gefangenenzüge durch die Straßen der Stadt geführt werden. Man erkennt seine Freunde, die inmitten der bewaffneten Banden, mit einem Kopfkissen und mit einer Decke unter dem Arm, blaß und still, aber erhobenen Hauptes durch die Straßen wandern. –

Jeden Morgen kommen neue Schreckensberichte: Der oder die sind in der Nacht im Gefängnis ermordet. Oft haben die Gefangenen das Wimmern der Sterbenden vor ihren Fenstern gehört, und wußten nicht, ob es nicht Sterbeseufzer ihrer nächsten Verwandten oder Freunde waren; andere sind fortgebracht worden, man weiß nicht wohin. Menschen sterben, man erhält keine Erlaubnis sie zu beerdigen, die Leichen stehen wochenlang in den Wohnungen.

Kommt die Erlaubnis, so erhält man keine Pferde für den Leichenwagen. Die Angehörigen spannen sich davor, und bringen ihre Toten zu Grabe.

Jeden Augenblick stürzen Kommissare in die Wohnungen, setzen die Menschen auf die Straße; man sieht diese dann hinter einem Karren hergehen, der ihre wenigen Habseligkeiten führt. Manche dürfen nur so viel mit sich nehmen, wie sie in ihren Händen tragen können. Die Wohlhabenden, Gebildeten, die sogenannten »Burjuis«, werden aus ihren schönen Wohnungen verbannt, in Arbeiterviertel, in Proletarierhäuser, auf Inseln, die nur Fischerhütten als Wohnstätten haben; in ihre Wohnungen werden Proletarier gesetzt.

Legt man sich abends in sein Bett, macht man sich jedesmal bereit, es in der Nacht wieder verlassen zu müssen.

Menschen werden wie wahnsinnig durch diese grauenhafte Unsicherheit des Lebens. Man hört von einer ganzen Familie, die in einer Nacht durch den geöffneten Gashahn diesem Leben ein Ende gemacht hatte, das sie nicht mehr tragen konnte. Eine Dame, die alles verloren hatte, ihren Mann, ihr Heim, besaß noch eine große Geldsumme, die sie vor der Gier der Räuber hatte verbergen können.

Eines Tages lieferte sie sie freiwillig aus: »Nun kann ich endlich einmal aufatmen«, sagte sie, »nun können sie mir nichts mehr nehmen als mein Leben.«

Man ging wie mit einem Joch auf seinem Nacken durch sein mühsames Leben. Aber neben diesem mühsamen Leben, oder vielmehr über ihm, erwachte ein Leben, still, groß und herrlich, wie wir es nie gekannt. Es ging von den Gefängnissen aus, es strahlte durch die Mauern, es brach durch die vergitterten Fenster; ich kann es nicht anders nennen, als ein Leben im ewigen Licht.

Es kommen dazwischen aus den Gefängnissen Berichte, durch bestochene Wärter. Alle erzählen von wunderbarer Weise, wie die Leiden ertragen werden, wie groß und still die Opfer in den Tod gehen. Sogar manche der rohen Wärter sind davon erfaßt. In Schmutz und Elend, in Hunger und Kälte, leiden die Gefangenen unverzagt, stärken sie einer den anderen.

Abends halten sie Andachten in ihren Zellen und singen ihre Lieder miteinander. Von einer Zelle zur anderen klingt es, tröstend und hell durch die Dunkelheit.

»Ich habe einen Brief von meinem Mann aus dem Gefängnis«, sagt mir eine junge Frau mit strahlenden Augen, in denen dabei Tränen stehen, »er schreibt glücklich! Das Leben dort hat so große leuchtende Schwingen. Bin ich nicht eine selige Frau? Ich habe einen Mann, der im Gefängnis glücklich sein kann!«

Schlichte Menschen werden zu Helden, helfen, trösten, führen. Kräfte erwachen und teilen sich den anderen mit.

Wir, die wir noch in der Freiheit sind, fühlen das Licht, das aus dem Kerker strahlt, tief in unser mühseliges Leben hineinscheinen.

Auch wir versuchen unser Leben, so voller Gefahr und Not, in das ewige Licht zu stellen, auch wir versuchen ihm Schwingen zu geben. Auch wir erleben Großes und Schönes; einer steht für den anderen ein, man gibt nicht nur, sondern man teilt, was man hat. Es ist oft wie in den Zeiten der ersten Christenverfolgung.

Die Kirchen werden geschändet, aber jeden Sonntag werden sie wieder neu geweiht. In den Schulen werden die Morgenandachten verboten, jeden Morgen vor Beginn der Schule halten die Pastore die Andachten in der Kirche. Keiner der Schüler fehlt. – Auch das wird verboten. Ein Pastor nach dem andern wird ins Gefängnis gebracht. Laien treten vor den Altar, lesen aus der Bibel oder aus Predigtbüchern vor, die Kirchen sind gefüllt.

Wir fühlen alle, es ist eine große Zeit, wir erleben einen persönlichen Gott.

Ein hohes Zeugnis gaben uns ungewollt unsere Peiniger. Einer der haßerfülltesten Führer der Bolschewiken sagte in einem Ausbruch schäumender Wut: »Man kann an diese deutsche Balten nicht herankommen! Man nimmt ihnen alles, sie klagen nicht. Man treibt sie aus ihren Häusern, sie gehen schweigend. Man führt sie in die Gefängnisse, ja, man treibt sie in den Tod, klaglos und gefaßt gehen sie auch da hinein. Es ist, als umgäbe sie ihr Christentum wie eine Mauer, über die man nicht hinüber kommt.«

Es wurde Frühling, man fühlte es nicht. Die Sonne strahlte, man sah sie nicht.

Da ein Ton! Woher kam er? Leise pflanzt er sich fort, einer flüstert es dem anderen zu: »Die Rettung naht, die Befreier kommen!« Wer hat es gesagt? Wo kam die Nachricht her?

Man hebt sein Haupt, horcht – man sieht die Sonne wieder, sieht den Frühling, der die Bäume und Sträucher in lichtgrüne Schleier gehüllt hat. Sollte es möglich sein? Dürfen wir es glauben?

Eine Unruhe hat auch die Bolschewiken erfaßt, man fühlt es! Sie packen, sie bringen die geraubten Sachen in Autos und Wagen fort, sie rüsten zum Abzug!

Ja, ja, es ist Wahrheit! Aber nun Vorsicht, daß man nichts ahnen läßt von dem Jubel, der einem die Brust zersprengen will. Auf der Straße wagt man kaum seine Bekannten zu grüßen, aus Furcht etwas von der namenlosen Freude, die einen erfüllt, zu verraten, denn man ist von Spionen umgeben.

Die Wut der Bolschewiken steigt. Sie schleppen in die Gefängnisse, was ihnen unter die Hände kommt, Kinder und Greise.

Da, wieder ein Laut: »Sie kommen, sie sind nicht mehr fern! Es handelt sich nur noch um wenige Tage!«

Keiner glaubt nun diesen Nachrichten, müde und hoffnungslos lebt man weiter.

Und da bricht sie plötzlich über uns herein, die Erlösung!

Wie ein Sturm kommen sie, es ist unsere Landeswehr, verstärkt von Deutschen und geführt von deutschen Offizieren.

Der Donner der Geschütze braust über unsere Stadt: »Sie sind es wirklich, sind wir gerettet?«

Ja, ja, sie kämpfen schon an der Brücke! Sie dringen in die Stadt!

Was sich ihnen widersetzt, wird niedergemacht!«

Man läuft auf die Straße und denkt nicht an die Gefahr. Wir glauben nicht, daß deutsche Kugeln uns treffen können!

Da braust ein Auto heran, ja, nun sehen wir es mit unseren eigenen Augen, sie sind da! Kopf an Kopf stehen sie drin, unsere Feldgrauen, mit den Stahlhelmen über den jungen, strahlenden Gesichtern, die Gewehre im Anschlag.

»Zurück in die Häuser! Fenster und Türen zu! Es wird geschossen!«

»Hurra! Hurra!« ist die jauchzende Antwort.

Man stürzt in die Häuser zurück, aber sofort ist wieder alles vor den Türen! Man will sie sehen, immer wieder sehen, unsere Retter!

In wilder Hast fliehen die Bolschewiken, ein furchtbares Gericht bricht über sie herein.

Im Augenblick hat sich eine Sicherheitspolizei von unseren Herren gebildet; sie binden ihre Taschentücher um den Arm, entreißen den Toten ihre Gewehre und ziehen als Patrouillen durch die Straßen, für Ordnung sorgend.

Es ist Abend geworden, ein heller, wunderbarer Frühlingsabend. Es ist still, hie und da fällt noch ein Schuß.

Alles ist auf der Straße, und von Mund zu Mund geht die bange Frage: »Sind unsere Gefangenen befreit?«

Um die Gefängnisse hat der Kampf am wildesten getobt, nun ist's auch dort still.

Ich gehe mit meiner Freundin hin, wir wollen die Befreiung der Gefangenen erleben.

Eine Wache will uns zurückweisen, wir achten nicht auf sie.

Jetzt stehen wir vor den Toren des Frauengefängnisses. Es ist ganz still, kein Wächter vor der Tür, nur dunkle Blutlachen überall. Und da steht man sie auch liegen in ihrem Blut, die stumm gewordenen Männer und Frauen, die unser Leben mit Entsetzen erfüllten.

Man geht an ihnen vorüber, als wären es keine Menschenleiber. Nein, wie giftige Reptilien sieht man sie an, die ein starker Fuß zertreten. Nun können sie keinem mehr schaden –, und ihre Seelen stehen vor Gottes Richterstuhl!

Das Gefängnistor ist halb geöffnet, der Vorraum ist leer. Wir gehen weiter und stehen bald im großen Korridor, auf den die Zellen alle münden.

Ein Wogen von Menschen, ein Schluchzen, ein Jauchzen, ein Grüßen und Händeschütteln! Man kann die Hände nicht alle fassen, die sich einem entgegenstrecken, man stürmt aus einer Umarmung in die andere.

Ich blicke in die Zellen. Auf den Pritschen sitzen noch einige, die still wie die Träumenden blicken. Sie können es nicht begreifen, daß sie frei sind und rühren sich nicht.

Ich bin in der Zelle einer, die ich lieb habe. Schmal und grau ist ihr Gesicht, nur ihre Augen strahlen in hellem Licht. Ich helfe ihr ihre Sachen zusammen suchen. Wir machen ein Bündel daraus und schweigen beide.

Nun wollen wir die Zelle verlassen. An der Tür wendet sie sich noch einmal um, und ihre leuchtenden Augen umfassen den engen Raum. Sie zögert; es ist mir fast, als würde ihr das Scheiden schwer. Und da bricht es von ihren Lippen in Lob und Dank für all das Große, was sie hier erlebt.

»Ich habe Gott erlebt«, sagt sie immer wieder, »ich habe Gott geschaut. Ich fürchte mich vor dem Leben da draußen, ich fürchte mich, das wieder zu verlieren, das ewige Große, das ich hier errungen! Helfen Sie mir, ach helfen Sie mir, daß ich's in meiner Seele bewahre, bis der Tod mich ruft! Nie, nie möchte ich diese Zeit aus meinem Leben verlieren! Ich habe hier Menschen in ihrer Größe kennen gelernt! Wie schön und herrlich sind doch Menschenseelen, ich habe es ja gar nicht gewußt!«

Schluchzend wendet sie sich dem Ausgang zu, ich folge ihr erschüttert.

Im langen Zuge gehen wir durch die Gefängnisräume in die Freiheit! Nun stehen wir draußen, Frühlingsluft umfängt uns. Alles bleibt stehen. Sie stellen ihre Bündel auf den Boden, sie stehen wie berauscht. Sie heben ihre Hände empor, dem scheidenden Lichte entgegen.

Frühling, Frühling und Freiheit!

Wir gehen zum Männergefängnis, dort stellen wir uns auf und warten.

Auch hier liegen Leichen von Bolschewiken, sie liegen still da, die Gesichter mit ihren Mänteln zugedeckt.

Man beachtet sie nicht, denn aller Blicke hängen am Gefängnistor, das noch geschlossen ist. Da wird es geöffnet, weit, weit. Jubelschreie, lautes Schluchzen – man erkennt die Seinen! Auf der Schwelle stehen die Männer, viele von ihnen fast unkenntlich, so lang sind ihnen Bart und Haar in der Gefängnishaft gewachsen.

Ihre Füße stecken in großen Strohschuhen, sie stehen wie geblendet vom Licht und von der Freiheit.

Endlich sind sie alle draußen, ich gehe mit mehreren befreiten Freunden heim.

Wir gehen durch die Anlagen, immer wieder bleiben sie stehen, stellen ihre Bündel auf den Boden und strecken ihre Arme in die laue Luft.

»Keiner kann uns stoßen und schlagen, sagen sie, »ach, wie hell und schön ist die Welt!« Wir gehen weiter. Wer uns entgegenkommt, ruft uns zu: »Gott sei gelobt, Sie sind frei!«

Junge Mädchen kommen uns nachgelaufen, wollen den Gefangenen ihre Sachen tragen, andere folgen unserem Zuge, es ist wie ein großes Ehrengeleite.

Man trennt sich endlich! Die Stimmen verklingen, jeder sucht sein Heim auf. Ach, mancher findet eine völlig zerstörte Stätte.

Ich mag noch nicht heimgehen, die Straßen sind voll froher Menschen. Jeder will jeden sehen, jeder will dem anderen die Hand drücken. Man ist wie eine große glückliche Familie.

Deutsche Posten in Stahlhelmen stehen an den Straßenecken, Sicherheit, Friede, Freude liegen über der noch eben so verstörten Stadt.

Da, ein Gerücht taucht auf, man flüstert es nach und schweigt dann, mit erblaßten Lippen. Nicht alle Gefängnisse sind zur rechten Zeit geöffnet worden. Das Auto, das die Retter ins ferner gelegene Zentralgefängnis bringen sollte, erlitt einen Aufenthalt unterwegs. Dadurch kamen die Retter zu spät.

Früh am Morgen wandern die hinaus, die liebe Angehörige dort hatten. Das Gerücht, daß ein großes Blutbad im Gefängnishof gewesen ist, bestätigt sich.

Da liegen sie noch alle, wie der Tod sie ereilt, mit zerfetzten Gesichtern und Körpern. Männer, darunter acht Pastoren, Frauen und junge Mädchen. Aus nächster Nähe sind die Geschosse auf sie gerichtet gewesen und haben sie in Stücke gerissen. Manche von ihnen erkennt man nur noch an den Kleidern.

Gott hat den Jammer der verwaisten Kinder, Mütter, Frauen und Männer gesehen, und er hat ihre Tränen gezählt.

Aber Märtyrerblut ist nie umsonst geflossen. So wird auch diese blutige Saat aufgehen und ihre Früchte tragen.

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