Alexander von Humboldt
Ansichten der Natur
Alexander von Humboldt

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Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse

Wenn der Mensch mit regsamem Sinne die Natur durchforscht oder in seiner Phantasie die weiten Räume der organischen Schöpfung mißt, so wirkt unter den vielfachen Eindrücken, die er empfängt, keiner so tief und mächtig als der, welchen die allverbreitete Fülle des Lebens erzeugt. Überall, selbst nahe an den beeisten Polen, ertönt die Luft von dem Gesang der Vögel wie von dem Summen schwirrender Insekten. Nicht die unteren Schichten allein, in welchen die verdichteten Dünste schweben, auch die oberen, ätherischreinen sind belebt. Denn sooft man den Rücken der peruanischen Kordilleren oder, südlich vom Leman-See, den Gipfel des Weißen Berges bestieg, hat man selbst in diesen Einöden noch Tiere entdeckt. Am Chimborazo, fast achttausend Fuß höher als der Ätna, sahen wir Schmetterlinge und andere geflügelte Insekten. Wenn auch, von senkrechten Luftströmen getrieben, sie sich dahin als Fremdlinge verirrten, wohin unruhige Forschbegier des Menschen sorgsame Schritte leitet, so beweist ihr Dasein doch, daß die biegsamere animalische Schöpfung ausdauert, wo die vegetabilische längst ihre Grenze erreicht hat. Höher als der Kegelberg von Teneriffa auf den schneebedeckten Rücken der Pyrenäen getürmt, höher als alle Gipfel der Andeskette, schwebte oft über uns der Kondor, der Riese unter den Geiern. Raubsucht und Nachstellung der zartwolligen Vicuñas, welche gemsenartig und herdenweise in den beschneiten Grasebenen schwärmen, locken den mächtigen Vogel in diese Region.

Zeigt nun schon das unbewaffnete Auge den ganzen Luftkreis belebt, so enthüllt noch größere Wunder das bewaffnete Auge. Rädertiere, Brachionen und eine Schar mikroskopischer Geschöpfe heben die Winde aus den trocknenden Gewässern empor. Unbeweglich und in Scheintod versenkt, schweben sie in den Lüften: bis der Tau sie zur nährenden Erde zurückführt, die Hülle löst, die ihren durchsichtigen wirbelnden Körper einschließt, und (wahrscheinlich durch den Lebensstoff, welchen alles Wasser enthält) den Organen neue Erregbarkeit einhaucht. Die atlantischen gelblichen Staubmeteore (Staubnebel), welche von dem Kapverdischen Inselmeere von Zeit zu Zeit weit gegen Osten in Nordafrika, in Italien und Mitteleuropa eindringen, sind nach Ehrenbergs glänzender Entdeckung Anhäufungen von kieselschaligen mikroskopischen Organismen. Viele schweben vielleicht lange Jahre in den obersten Luftschichten und kommen bisweilen durch die obern Passate oder durch senkrechte Luftströme lebensfähig und in organischer Selbstteilung begriffen herab.

Neben den entwickelten Geschöpfen trägt der Luftkreis auch zahllose Keime künftiger Bildungen, Insekteneier und Eier der Pflanzen, die durch Haar- und Federkronen zur langen Herbstreise geschickt sind. Selbst den belebenden Staub, welchen, bei getrennten Geschlechtern, die männlichen Blüten ausstreuen, tragen Winde und geflügelte Insekten über Meer und Land den einsamen weiblichen zu. Wohin der Blick des Naturforschers dringt, ist Leben oder Keim zum Leben verbreitet.

Dient aber auch das bewegliche Luftmeer, in das wir getaucht sind und über dessen Oberfläche wir uns nicht zu erheben vermögen, vielen organischen Geschöpfen zur notwendigsten Nahrung, so bedürfen dieselben dabei doch noch einer gröberen Speise, welche nur der Boden dieses gasförmigen Ozeans darbietet. Dieser Boden ist zwiefacher Art. Den kleineren Teil bildet die trockene Erde, unmittelbar von Luft umflossen; den größeren Teil bildet das Wasser – vielleicht einst vor Jahrtausenden durch elektrisches Feuer aus luftförmigen Stoffen zusammengeronnen und jetzt unaufhörlich in der Werkstatt der Wolken wie in den pulsierenden Gefäßen der Tiere und Pflanzen zersetzt. Organische Gebilde steigen tief in das Innere der Erde hinab: überall, wo die meteorischen Tagewasser in natürliche Höhlen oder Grubenarbeiten dringen können. Das Gebiet der kryptogamischen unterirdischen Flora ist früh ein Gegenstand meiner wissenschaftlichen Arbeiten gewesen. Heiße Quellen nähren kleine Hydroporen, Conferven und Oszillatorien bei den höchsten Temperaturen. Dem Polarkreise nahe, an dem Bärensee im Neuen Kontinent, sah Richardson den Boden, der in 20 Zoll Tiefe im Sommer gefroren bleibt, mit blühenden Kräutern geschmückt.

Unentschieden ist es, wo größere Lebensfülle verbreitet sei, ob auf dem Kontinent oder in dem unergründeten Meere. Durch Ehrenbergs treffliche Arbeit »über das Verhalten des kleinsten Lebens« im tropischen Weltmeere wie in dem schwimmenden und festen Eise des Südpols hat sich vor unseren Augen die organische Lebenssphäre, gleichsam der Horizont des Lebens, erweitert. Kieselschalige Polygastren, ja Coscinodisken, mit ihren grünen Ovarien, sind, 12° vom Pole, lebend, in Eisschollen gehüllt, aufgefunden worden; ebenso bewohnen der kleine schwarze Gletscherfloh, Desoria glacialis, und die Podurellen enge Eisröhren der von Agassiz erforschten schweizerischen Gletscher. Ehrenberg hat gezeigt, daß auf mehreren mikroskopischen Infusionstieren (Synedra, Cocconeis) wieder andere läuseartig leben; daß von den Gallionellen, bei ihrer ungeheuren Teilungskraft und Massenentwickelung, ein unsichtbares Tierchen in vier Tagen zwei Kubikfuß von dem Biliner Polierschiefer bilden kann. In dem Ozean erscheinen gallertartige Seegewürme, bald lebendig, bald abgestorben, als leuchtende Sterne. Ihr Phosphorlicht wandelt die grünliche Fläche des unermeßlichen Ozeans in ein Feuermeer um. Unauslöschlich wird mir der Eindruck jener stillen Tropennächte der Südsee bleiben, wenn aus der duftigen Himmelsbläue das hohe Sternbild des Schiffes und das gesenkt untergehende Kreuz ihr mildes planetarisches Licht ausgossen und wenn zugleich in der schäumenden Meeresflut die Delphine ihre leuchtenden Furchen zogen.

Aber nicht der Ozean allein, auch die Sumpfwasser verbergen zahllose Gewürme von wunderbarer Gestalt. Unserem Auge fast unerkennbar sind die Cyclidien, die Euglenen und das Heer der Naiden: teilbar durch Äste, wie die Lemna, deren Schatten sie suchen. Von mannigfaltigen Luftgemengen umgeben und mit dem Lichte unbekannt, atmen die gefleckte Ascaris, welche die Haut des Regenwurms, die silberglänzende Leucophra, welche das Innere der Ufer-Naide, und ein Pentastoma, welches die weitzellige Lunge der tropischen Klapperschlange bewohnt. Es gibt Bluttiere in Fröschen und Lachsen, ja nach Nordmann Tiere in den Flüssigkeiten der Fischaugen wie in den Kiemen des Bleies. So sind auch die verborgensten Räume der Schöpfung mit Leben erfüllt. Wir wollen hier bei den Geschlechtern der Pflanzen verweilen, denn auf ihrem Dasein beruht das Dasein der tierischen Schöpfung. Unablässig sind sie bemüht, den rohen Stoff der Erde organisch aneinanderzureihen, und vorbereitend, durch lebendige Kraft, zu mischen, was nach tausend Umwandlungen zur regsamen Nervenfaser veredelt wird. Derselbe Blick, den wir auf die Verbreitung der Pflanzendecke heften, enthüllt uns die Fülle des tierischen Lebens, das von jener genährt und erhalten wird.

Ungleich ist der Teppich gewebt, welchen die blütenreiche Flora über den nackten Erdkörper ausbreitet: dichter, wo die Sonne höher an dem nie bewölkten Himmel emporsteigt, lockerer gegen die trägen Pole hin, wo der wiederkehrende Frost bald die entwickelte Knospe tötet, bald die reifende Frucht erhascht. Doch überall darf der Mensch sich der nährenden Pflanzen erfreuen. Trennt im Meeresboden ein Vulkan die kochende Flut, und schiebt plötzlich (wie einst zwischen den griechischen Inseln) einen schlackigen Fels empor, oder erheben (um an eine friedlichere Naturerscheinung zu erinnern) auf einem unterseeischen Gebirgsrücken die einträchtigen Lithophyten ihre zelligen Wohnungen, bis sie nach Jahrtausenden, über den Wasserspiegel hervorragend, absterben und ein flaches Koralleneiland bilden, so sind die organischen Kräfte sogleich bereit, den toten Fels zu beleben. Was den Samen so plötzlich herbeiführt, ob wandernde Vögel oder Winde oder die Wogen des Meeres, ist bei der großen Entfernung der Küsten schwer zu entscheiden. Aber auf dem nackten Steine, sobald ihn zuerst die Luft berührt, bildet sich in den nordischen Ländern ein Gewebe sammetartiger Fasern, welche dem unbewaffneten Auge als farbige Flecken erscheinen. Einige sind durch hervorragende Linien bald einfach, bald doppelt begrenzt; andere sind in Furchen durchschnitten und in Fächer geteilt. Mit zunehmendem Alter verdunkelt sich ihre lichte Farbe. Das fernleuchtende Gelb wird braun, und das bläuliche Grau der Leprarien verwandelt sich nach und nach in ein staubartiges Schwarz. Die Grenzen der alternden Decke fließen ineinander, und auf dem dunkeln Grunde bilden sich neue, zirkelrunde Flechten von blendender Weiße. So lagert sich schichtenweise ein organisches Gewebe auf das andere; und wie das sich ansiedelnde Menschengeschlecht bestimmte Stufen der sittlichen Kultur durchlaufen muß, so ist die allmähliche Verbreitung der Pflanzen an bestimmte physische Gesetze gebunden. Wo jetzt hohe Waldbäume ihre Gipfel luftig erheben, da überzogen einst zarte Flechten das erdenlose Gestein. Laubmoose, Gräser, krautartige Gewächse und Sträucher füllen die Kluft der langen, aber ungemessenen Zwischenzeit aus. Was im Norden Flechten und Moose, das bewirken in den Tropen Portulaca, Gomphrenen und andere fette niedrige Uferpflanzen. Die Geschichte der Pflanzendecke und ihre allmähliche Ausbreitung über die öde Erdrinde hat ihre Epochen, wie die Geschichte der wandernden Tierwelt.

Ist aber auch die Fülle des Lebens überall verbreitet, ist der Organismus auch unablässig bemüht, die durch den Tod entfesselten Elemente zu neuen Gestalten zu verbinden, so ist diese Lebensfülle und ihre Erneuerung doch nach Verschiedenheit der Himmelsstriche verschieden. Periodisch erstarrt die Natur in der kalten Zone; denn Flüssigkeit ist Bedingnis zum Leben. Tiere und Pflanzen (Laubmoose und andere Kryptogamen abgerechnet) liegen hier viele Monate hindurch im Winterschlaf vergraben. In einem großen Teile der Erde haben daher nur solche organische Wesen sich entwickeln können, welche einer beträchtlichen Entziehung von Wärmestoff widerstehen und ohne Blattorgane einer langen Unterbrechung der Lebensfunktionen fähig sind. Je näher dagegen den Tropen: desto mehr nimmt Mannigfaltigkeit der Gestaltung, Anmut der Form und des Farbengemisches, ewige Jugend und Kraft des organischen Lebens zu.

Diese Zunahme kann leicht von denen bezweifelt werden, welche nie unsern Weltteil verlassen oder das Studium der allgemeinen Erdkunde vernachlässigt haben. Wenn man aus unsern dicklaubigen Eichenwäldern über die Alpen- oder Pyrenäen-Kette nach Welschland oder Spanien hinabsteigt, wenn man gar seinen Blick auf einige afrikanische Küstenländer des Mittelmeeres richtet, so wird man leicht zu dem Fehlschlusse verleitet, als sei Baumlosigkeit der Charakter heißer Klimate. Aber man vergißt, daß das südliche Europa eine andere Gestalt hatte, als pelasgische oder karthagische Pflanzvölker sich zuerst darin festsetzten; man vergißt, daß frühere Bildung des Menschengeschlechts die Waldungen verdrängt und daß der umschaffende Geist der Nationen der Erde allmählich den Schmuck raubt, welcher uns in dem Norden erfreut, und welcher (mehr als alle Geschichte) die Jugend unserer sittlichen Kultur anzeigt. Die große Katastrophe, durch welche das Mittelmeer sich gebildet, indem es, ein anschwellendes Binnenwasser, die Schleusen der Dardanellen und die Säulen des Herkules durchbrochen: diese Katastrophe scheint die angrenzenden Länder eines großen Teils ihrer Dammerde beraubt zu haben. Was bei den griechischen Schriftstellern von den samothrakischen Sagen erwähnt wird, deutet die Neuheit dieser zerstörenden Naturveränderung an. Auch ist in allen Ländern, welche das Mittelmeer bespült und welche Tertiärkalk und untere Kreide (Nummuliten und Neocomien) charakterisieren, ein großer Teil der Erdoberfläche nackter Fels. Das Malerische italienischer Gegenden beruht vorzüglich auf diesem lieblichen Kontraste zwischen dem unbelebten öden Gestein und der üppigen Vegetation, welche inselförmig darin aufsproßt. Wo dieses Gestein minder zerklüftet, die Wasser auf der Oberfläche zusammenhält, wo diese mit Erde bedeckt ist (wie an den reizenden Ufern des Albaner Sees), da hat selbst Italien seine Eichenwälder, so schattig und grün, als der Bewohner des Nordens sie wünscht.

Auch die Wüsten jenseits des Atlas und die unermeßlichen Ebenen oder Steppen von Südamerika sind als bloße Lokalerscheinungen zu betrachten. Diese findet man, in der Regenzeit wenigstens, mit Gras und niedrigen, fast krautartigen Mimosen bedeckt; jene sind Sandmeere im Innern des alten Kontinents, große pflanzenleere Räume, mit ewig grünen waldigen Ufern umgeben. Nur einzeln stehende Fächerpalmen erinnern den Wanderer, daß diese Einöden Teile einer belebten Schöpfung sind. Im trügerischen Lichtspiele, das die strahlende Wärme erregt, sieht man bald den Fuß dieser Palmen frei in der Luft schweben, bald ihr umgekehrtes Bild in den wogenartig zitternden Luftschichten wiederholt. Auch westlich von der peruanischen Andeskette, an den Küsten des Stillen Meeres, haben wir Wochen gebraucht, um solche wasserleere Wüsten zu durchstreichen.

Der Ursprung derselben, diese Pflanzenlosigkeit großer Erdstrecken, in Gegenden, wo umher die kraftvollste Vegetation herrscht, ist ein wenig beachtetes geognostisches Phänomen, welches sich unstreitig auf alte Naturrevolutionen (auf Überschwemmungen, oder vulkanische Umwandlungen der Erdrinde) gründet. Hat eine Gegend einmal ihre Pflanzendecke verloren, ist der Sand beweglich und quellenleer, hindert die heiße, senkrecht aufsteigende Luft den Niederschlag der Wolken, so vergehen Jahrtausende, ehe von den grünen Ufern aus organisches Leben in das Innere der Einöde dringt.


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