Victor Hugo
Notre-Dame in Paris. Zweiter Band
Victor Hugo

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4. Heirath des Quasimodo.

Wir haben soeben erzählt, daß Quasimodo am Todestage der Zigeunerin und des Archidiakonus aus Notre-Dame verschwunden war. Man sah ihn in der That nicht wieder, und man wußte nicht, was aus ihm geworden war.

In der Nacht, welche auf die Hinrichtung der Zigeunerin folgte, hatten die Henkersknechte ihren Leichnam vom Galgen abgenommen und ihn, dem Gebrauche gemäß, in die Gruft von Montfaucon gebracht.

Montfaucon war, wie Sauval sagt, »der älteste und prächtigste Galgen des Königreichs.« Zwischen den Vorstädten Le-Temple und Saint-Martin, ungefähr einhundertundsechzig Klafterlängen von den Mauern von Paris, einige Armbrustschüsse von La-Courtille, sah man aus dem Gipfel einer sanften, niedrigen Anhöhe, die hoch genug war, um einige Meilen in der Umgegend gesehen zu werden, ein Gebäude von seltsamer Gestalt, welches so ziemlich einem keltischen Druidentempel glich, und wo auch Menschenopfer dargebracht wurden.

Man denke sich auf dem Gipfel eines Kalkhügels ein großes Rechteck aus Mauerwerk, fünfzehn Fuß hoch, dreißig Fuß breit und vierzig Fuß lang, mit einer Thür, einer Rampe nach außen, und einer Plattform; auf dieser Plattform sechzehn ungeheuere, aufrecht stehende Säulen aus unbehauenem Steine von dreißig Fuß Höhe, die an drei der vier Seiten des Steinbaues, welcher sie trug, in Säulenordnung aufgestellt, und unter sich an ihrer Spitze durch starke Balken verbunden waren, an denen von Zwischenraum zu Zwischenraum Ketten herabhingen; an allen diesen Ketten Menschengerippe; in der Nähe in der Ebene ein steinernes Kreuz und zwei Galgen zweiten Ranges, die rings um das Hauptjoch Schößlinge zu treiben schienen; über dem allen, am Himmel, ein beständiges Geschwirr von Raben – und man kennt Montfaucon.

Am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts war der furchtbare Galgen, der vom Jahre 1328 herdatirte, schon sehr verfallen; die Balken waren wurmstichig, die Ketten verrostet, die Pfeiler mit Schimmel bedeckt; die Grundschichten aus behauenem Steine waren aus ihren Fugen gewichen, und das Gras wucherte auf der Plattform, wo kein menschlicher Fuß mehr wandelte. Es gab keinen schrecklichern Anblick in der Ferne, als denjenigen dieses Bauwerkes, vor allem des Nachts, wenn ein schwaches Mondlicht auf diese bleichen Schädel fiel, oder wenn der Nachtwind Ketten und Gerippe an einander schlug, und das alles sich im Dunkel bewegte. Die Gegenwart jenes Galgens reichte hin, um die ganze Umgegend in eine unheimliche Stätte zu verwandeln.

Die steinerne Mauermasse, welche dem verhaßten Bauwerke als Grundlage diente, war hohl. Man hatte dort eine weite Gruft angelegt, die mit einem alten, zerbrochenen Eisengitter verschlossen war, und wohinein man nicht allein die menschlichen Ueberreste warf, die von den Ketten von Montfaucon herabfielen, sondern auch die Körper der Unglücklichen, die an den übrigen stehenden Galgen von Paris hingerichtet worden waren. In dieses tiefe Beinhaus, wo so viel menschlicher Staub und so viele Verbrechen zusammen vermodert sind, sind nach und nach unzählige Unschuldige gekommen, um ihre Gebeine zur Ruhe zu bringen – von Enguerrand von Marigni an, der Montfaucon einweihete und ein Gerechter war, bis zum Admiral von Coligny, der den Schluß davon machte, und der auch ein Gerechter war.

Was nun das geheimnisvolle Verschwinden Quasimodos betrifft, so ist Folgendes alles, was wir haben entdecken können.

Ohngefähr zwei oder anderthalb Jahre nach den Begebenheiten, welche diese Erzählung beschließen, als man in der Gruft von Montfaucon den Leichnam Oliviers-le-Daim aufsuchen wollte, der zwei Tage zuvor gehangen worden war, und dem Karl der Achte die Gnade gewährte, zu Saint-Laurent in besserer Gesellschaft beerdigt zu werden, fand man unter all den scheußlichen Gerippen zwei Skelette, von denen das eine das andere in sonderbarer Weise umarmt hielt. Das eine dieser beiden Skelette, welches dasjenige einer Frau war, hatte noch einige Kleiderfetzen eines Stoffes an sich, der weiß gewesen war, und man sah um seinen Hals eine Kette von Adrezarachperlen mit einem kleinen Säckchen aus Seidenstoff, das mit grünen Glassteinen verziert, und das offen und leer war. Diese Gegenstände hatten so wenig Werth, daß der Henker zweifelsohne kein Verlangen danach getragen hatte. Das andere, welches dieses eng umarmt hielt, war ein männliches Skelett. Man machte die Bemerkung, daß seine Wirbelsäule gekrümmt war, der Kopf zwischen den Schulterblättern saß, und ein Bein kürzer als das andere war. Es zeigte überdies keinen Bruch der Wirbelsäule am Genick; und es lag zu Tage, daß er nicht gehangen worden war. Der Mann, welchem es angehört hatte, war also hierher gekommen, und er war hier gestorben. Als man es von dem Skelette, welches es umfaßt hielt, losmachen wollte, zerfiel es in Staub.

 

Ende des zweiten und letzten Bandes.

 


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