Victor Hugo
Die Elenden. Fünfter Theil. Jean Valjean
Victor Hugo

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Neuntes Buch. Durch Nacht zum Licht

I.
Seid mitleidig gegen die Unglücklichen, aber nachsichtig gegen die Glücklichen

Es ist ein schreckliches Ding um das Glück! Wie rasch begnügt man sich damit. Wie leicht vergißt man, wenn man das falsche Ziel des Lebens, das Glück, erreicht hat, das wahre, die Pflicht!

Indessen müssen wir sagen, daß man Marius mit Unrecht anklagen würde.

Wir haben erklärt, daß Marius vor seiner Verheiratung keine Fragen an Herrn Fauchelevent gerichtet und auch nach jener Zeit davor zurückscheute Jean Valjean auszuforschen. Er bereute es, daß er sich dazu hatte hinreißen lassen ihm ein unüberlegtes Versprechen zu geben und sagte sich unaufhörlich, daß es Unrecht von ihm gewesen sei, der Verzweiflung solch ein Zugeständniß zu machen. Er beschränkte sich demgemäß darauf, sich Jean Valjeans allmählich zu entledigen und ihn Cosetten so viel wie möglich zu entfremden. Er stellte sich gewissermaßen zwischen Cosette und Jean Valjean in der sichern Erwartung, daß sie ihn nicht bemerken und allmählich nicht mehr an ihn denken würde. In der That gelang es ihm auch, Jean Valjeans Bild in Cosettens Seele nicht bloß zu trüben, sondern ganz zu verdunkeln.

Marius that damit nur, was er für nothwendig und gerecht hielt. Indem er ohne Härte, aber auch ohne Schwäche die nöthigen Maßregeln ergriff, um Jean Valjean bei Seite zu schieben, glaubte er sich dazu berechtigt durch die schwerwiegenden Gründe, die wir schon auseinandergesetzt haben, und noch andre, die der Leser noch erfahren wird. So hatte er anläßlich eines Processes, den er zu führen übernommen, zufälliger Weise einen ehemaligen Buchhalter der Firma Laffitte kennen gelernt und, ohne sich speziell darum zu bemühen, merkwürdige Dinge erfahren, denen er allerdings, um nicht sein Wort zu brechen und nicht Jean Valjeans Sicherheit zu gefährden, nicht auf den Grund gehen durfte. Er glaubte eben damals, er habe eine heilige Pflicht zu erfüllen, nämlich die sechshundert tausend Franken einem Unbekannten den er unter Beobachtung der größten Vorsicht suchte, wieder zu erstatten. Mittlerweile tastete er dieses Geld nicht an.

Was Cosette anbetrifft, so war sie in alle diese Geheimnisse nicht eingeweiht; aber auch sie durfte man nicht verurtheilen.

Zwischen ihr und Marius bestand ein unwiderstehlicher Magnetismus, vermöge dessen sie instinktiv und beinah maschinenmäßig alles that, was er wünschte, und als sie fühlte, daß Marius in Bezug auf »Herrn Jean« irgend etwas energisch wollte, fügte sie sich diesem Willen. Ihr Mann brauchte ihr hierüber nichts zu sagen; sie empfand den ihr unbegreiflichen, aber unleugbaren Druck seiner Absichten und gehorchte blindlings. Ihr Gehorsam bestand in diesem Falle einfach darin, daß sie sich dessen, was Marius vergaß, nicht erinnerte. Es bedurfte ihrerseits dazu keiner Anstrengung. Ohne selber zu wissen warum und ohne daß man ihr deswegen hätte Vorwürfe machen können, hatte sie sich so sehr nach ihrem Mann gemodelt, daß jeder Schatten, der in Marius Gemüth fiel, auch das ihrige verdunkelte.

Gehen wir indessen nicht zu weit. In Bezug auf Jean Valjean war ihre Vergeßlichkeit nur eine oberflächliche. Sie war eher unbesonnen, eher leichtfertig, als undankbar. Im Grunde genommen liebte sie den Mann sehr, den sie so lange Zeit ihren Vater genannt hatte. Aber sie liebte ihren Mann doch noch mehr und dies hatte die Wage ihres Herzens gefälscht, nach der einen Seite allein hingeneigt.

Es geschah bisweilen, daß Cosette auf Jean Valjean zu sprechen kam und Verwundrung äußerte. Dann beschwichtigte Marius sie: »Er ist jetzt nicht in Paris, glaube ich. Er sagte ja, er würde verreisen.« – »Ach richtig!« dachte dann Cosette. Er hatte ja die Gewohnheit von Zeit zu Zeit Paris zu verlassen, Aber nicht so lange. Einige Male schickte sie auch Nicolette nach der Rue de l'Homme-Armé und ließ anfragen, ob Herr Jean von seiner Reise zurückgekehrt sei, worauf Jean Valjean Nein antworten ließ.

Damit gab sich denn Cosette zufrieden; hatte sie doch auf Erden nur ein Interesse, ihre Liebe zu Marius.

Außerdem muß auch noch erwähnt werden, daß Marius und Cosette ihrerseits nicht die ganze Zeit über in Paris geblieben waren. Sie waren nach Vernon gereist, wo Marius seine Frau zu dem Grabe seines Vaters führte.

Marius hatte also Cosette allmählich von Jean Valjean abwendig gemacht und sie hatte sich dabei passiv verhalten.

Uebrigens verdient das, was man viel zu strenge die Undankbarkeit der Kinder nennt, in manchen Fällen keineswegs besonders herben Tadel. Dieser Undank muß der Natur zur Last gelegt werden. Die Natur sieht, wie wir schon an einer andern Stelle bemerkt haben, vor sich hin. Sie theilt die menschlichen Wesen in Kommende und Gehende. Die Gehenden sind der Todesnacht, die Kommenden dem Licht des Lebens zugewendet. Daher eine Entfremdung zwischen beiden Theilen, die von den Alten nicht vermieden werden kann und die von den Jungen nicht beabsichtigt ist. Diese Trennung, die anfangs eine unmerkbare ist, nimmt langsam zu, wie die zwischen verschiednen Baumästen, die sich von einander entfernen, ohne sich darum vom Stamm los zu machen. Das ist nicht ihre Schuld. Die Jugend geht dahin, wo Fröhlichkeit herrscht, geht dahin, wo Festesglanz, wo Liebe winkt. Die Greise eilen dem Ende zu. Beide Theile verlieren sich nicht gerade aus den Augen, aber die Verbindungen zwischen ihnen ist keine feste mehr. Die jungen Leute fühlen die Abkühlung des Lebens, die Alten die Kühle des Grabes. Tadeln wir also nicht die armen Kinder.

II.
Das letzte Aufflackern der Lampe

Eines Tages ging Jean Valjean auf die Straße hinab, that einige Schritte und setzte sich auf einen Prellstein, denselben, auf dem ihn, in der Nacht vom 5. zum 6. Juni, Gavroche gefunden hatte. Hier blieb er einige Minuten sitzen und stieg dann wieder in seine Wohnung hinauf. Dies war die letzte Schwingung des Pendels. Am folgenden Tage ging er nicht aus. Am zweitnächsten Tage stand er nicht einmal aus dem Bett auf.

Seine Portierfrau, die ihm seine bescheidne Mahlzeit bereitete, ein wenig Kohl oder Kartoffeln mit Speck, sah in den irdenen Napf und rief:

»Sie haben ja gestern nichts gegessen, Sie armer Mann!«

»Doch!« entgegnete Jean Valjean.

»Der Napf ist noch ganz voll.«

»Sehen Sie Sich den Wasserkrug an. Der ist leer.«

»Das beweist, daß Sie getrunken, aber nicht, daß Sie was gegessen haben.«

»Wenn ich aber nur Hunger auf Wasser gehabt habe?«

»Das nennt man Durst, und wenn Einer zu gleicher Zeit nichts ist, so heißt das Fieber.«

»Ich werde morgen etwas essen.«

»Ja wohl, morgen, oder an irgend einem andern Tage. Warum nicht heute? Gehört sich das, daß einer sagt: Morgen werde ich essen? Das ganze, schöne Kartoffelgericht haben Sie mir stehen lassen!«

Jean Valjean ergriff die Hand der alten Frau.

»Ich verspreche Ihnen es aufzuessen,« sagte er freundlich.

»Ich bin nicht zufrieden mit Ihnen,« erwiederte die Portierfrau.

Jean Valjean bekam jetzt kaum ein andres, menschliches Wesen zu sehen, als diese gute Frau. Es giebt in Paris Straßen, wo Niemand entlang kommt, und Häuser wo sich Niemand sehen läßt. In einer solchen Straße und in einem solchen Hause wohnte Jean Valjean.

Zu der Zeit, wo er noch aus dem Hause ging, hatte er einem Kesselflicker für einige Sous ein kleines, kupfernes Kruzifix abgekauft, das er an einem Nagel, seinem Bett gegenüber, befestigt hatte. Ein Blick auf das Kreuz thut immer wohl.

Eine Woche verstrich, ohne daß Jean Valjean einen Schritt in seinem Zimmer that. Er blieb die ganze Zeit über im Bett liegen. Die Portierfrau sagte zu ihrem Mann: »Die gute, alte Haut steht nicht mehr aus dem Bett auf und ißt nichts mehr. Der lebt nicht mehr lange. Gewiß hat er Kummer. Ich lasse es mir nicht ausreden, daß seine Tochter unglücklich in ihrer Ehe ist.«

Der Portier antwortete mit dem Bewußtsein jener geistigen Ueberlegenheit, die dem Ehemann einer Frau gegenüber so wohl ansteht:

»Wenn er Geld hat, kann er einen Arzt kommen lassen. Hat er keins, so lasse er es bleiben. Wenn er aber keinen Arzt konsultirt, so stirbt er.«

»Und wenn er einen Arzt konsultirt?«

»Stirbt er auch!« entschied der Mann.

Die Portierfrau kratzte mit einem alten Messer Gras aus dem Steinpflaster heraus und bemerkte dabei:

»Schade um den alten Mann! Er machte Einem nie Schmutzerei. Und aussehen thut er, wenn er ausgeht, als wäre er aus dem Ei gepellt.«

Da sah sie am Ende der Straße einen Arzt, der in der Gegend wohnte; sie bat ihn auf ihre Verantwortung zu Jean Valjean hinaufzugehen.

»Zwei Treppen hoch. Gehen Sie nur hinein. Da der alte Mann nicht mehr aus seinem Bett aufsteht, steckt der Schlüssel immer im Schloß.«

Der Arzt besuchte Jean Valjean.

Als er wieder herunterkam, fragte ihn die Portierfrau:

»Nun, Herr Doktor, wie steht's mit dem Patienten?«

»Schlecht genug.«

»Was fehlt ihm?«

»Alles und nichts. Allem Anschein nach hat er Jemand verloren, der seinem Herzen nahe steht. An derartigem Herzenskummer ist schon Mancher gestorben.«

»Was hat er zu Ihnen gesagt?«

»Er wäre gesund.«

»Kommen Sie wieder, Herr Doktor?«

»Ja,« antwortete der Arzt. »Aber es müßte noch ein Andrer als ich wiederkommen.«

III.
Wo ist die alte Hünenkraft geblieben?

Eines Abends wurde es Jean Valjean schwer, sich auf dem Ellbogen aufzurichten; er griff nach seinem Puls und fand ihn nicht; sein Athem war kurz und stockte zeitweise ganz; er erkannte, daß er schwächer war, als je zuvor. Da raffte er, getrieben von Todesahnungen, alle Kraft zusammen, richtete sich im Bett auf und kleidete sich an. Er nahm dazu seinen alten Arbeiteranzug. Seitdem er nicht mehr ausging, hatte er ihn wieder in Gebrauch genommen und bevorzugte ihn. Er mußte beim Ankleiden mehrere Male anhalten; die Anstrengung, die es ihm kostete, die Jackenärmel über seine Arme zu streifen, brachte ihn schon in Schweiß.

Seitdem er allein war, hatte er sein Bett im Vorzimmer aufgestellt, um von der öden Wohnung so wenig Räume wie möglich zu bewohnen.

Er schloß den Handkoffer auf und zog Cosettens Kleider heraus, um sie auf das Bett zu legen.

Die Leuchter des Bischofs standen aus dem Kamingesims an der gewohnten Stelle. Nahm er aus einer Schublade zwei Wachskerzen und steckte sie in den Leuchter. Dann zündete er sie an, obgleich es noch hell – mitten im Sommer – war. So sieht man ja bisweilen am Tage brennende Kerzen in einem Zimmer, wo ein Toter liegt.

Jeder Schritt, den er that, indem er von einem Möbel zum andern ging, ermüdete ihn über die Maßen und er war genöthigt, sich zu setzen. Es war nicht die gewöhnliche Müdigkeit, bei welches auf die Verausgabung von Kraft eine neue Einsammlung derselben erfolgt, sondern nur ein schwacher Rest von möglichen Bewegungen, von gewaltigen Anstrengungen, deren Wiederholung nicht möglich war.

Einer der Stühle, auf den er niedersank, stand vor dem Spiegel, der ihm einst so verhängnißvoll geworden war, demjenigen, in dem er Cosettens umgekehrte Schrift auf der Schreibunterlage gelesen hatte. In diesen Spiegel blickte er jetzt und erkannte sich nicht wieder. Er war achtzig Jahre alt; vor Marius Vermählung hätte man ihn kaum auf fünfzig geschätzt; so daß dieses eine Jahr für dreißig zählte. Was er da an der Stirn hatte, war nicht eine Runzel des Greisenalters, sondern ein Zeichen, das der Tod mit seiner unbarmherzigen Klaue eingegraben hatte. Seine Wangen waren gelb! Die Haut auf seinem Gesicht hatte eine Farbe, als wenn Erde darauf läge; die beiden Mundwinkel hingen abwärts wie bei den Masken, die man auf den Gräbern der alten Griechen sieht; er schaute ins Leere mit einem vorwurfsvollen Blick, als wäre da Jemand, der an seinem tragischen Geschick schuld sei.

Er befand sich in der letzten Phase der Verzweiflung, in jenem Gemüthszustande, wo der Schmerz so zu sagen nicht mehr flüssig, sondern erstarrt, geronnen und die Seele von Stumpfheit umfangen ist.

Mittlerweile war es dunkel geworden. Er schleppte mühsam einen Tisch und den alten Lehnstuhl an den Kamin heran und legte eine Feder, Tinte und Papier bereit.

Nach dieser Anstrengung befiel ihn eine Ohnmacht. Als er wieder zur Besinnung kam, dürstete ihn. Zu kraftlos um den Wasserkrug empor zu heben, neigte er ihn mühsam nach seinem Munde hin und trank.

Dann wandte er sich, immer noch sitzend, denn er konnte nicht stehen, nach dem Bett um und betrachtete das schwarze Kleidchen und die andern, lieben Erinnrungen.

Diese Betrachtung dauerte Stunden lang, die ihm jedoch schnell wie Minuten verrannen. Plötzlich schauderte er zusammen; er fühlte Fieberfrost; da stützte er die Arme auf den Tisch, den die Leuchter des Bischoffs erhellten, und ergriff die Feder.

Weil er das Schreibmaterial lange nicht gebraucht hatte, war die Spitze der Feder verbogen und die Tinte eingetrocknet; er mußte aufstehen und einige Tropfen Wasser in das Tintenfaß gießen, was er nicht zu Stande brachte, ohne sich mehrere Mal auszuruhen, und die Feder mußte er, um schreiben zu können, umkehren. Er trocknete sich von Zeit zu Zeit die Stirn ab.

Seine Hand zitterte. Er schrieb langsam einige Zeilen, die folgendermaßen lauteten:

»Cosette, ich segne Dich. Ich will Dir die Sache auseinandersetzen. Dein Mann hat Recht gehabt, indem er mir zu verstehen gab, daß ich wegbleiben sollte; indessen ist Manches, was er glaubt, irrthümlich. Aber er hat Recht gehabt. Er ist ein guter Mann. Liebe ihn stets von ganzem Herzen, wenn ich tot sein werde. Herr Baron, lieben Sie gleichfalls mein innigst geliebtes Kind. Cosette, man wird diese Zeilen finden; ich habe Dir Folgendes zu sagen. Du wirst nachrechnen können, wenn mir noch die Kraft bleibt, mich auf die Zahlen richtig zu besinnen. Also merke Dir, das Geld gehört Dir und keinem Andern. Die Sache verhält sich nämlich so: Der weiße Jet kommt aus Norwegen, der schwarze aus England, die schwarzen Glaswaaren aus Deutschland. Der Jet ist leichter, kostbarer, theurer. Man kann in Frankreich so gut wie in Deutschland Imitationen herstellen. Man braucht dazu einen kleinen, zwei Quadratzoll großen Amboß und eine Spirituslampe, um die Masse weich zu machen. Früher wurde die Masse aus Harz und Kienruß fabrizirt und kostete vier Franken das Pfund. Ich habe die Erfindung gemacht, daß man auch Gummilack und Terpentin dazu nehmen kann. Da kostet sie nur noch anderthalb Franken und ist weit besser. Die Schnallen werden aus einem violetten Glas gemacht, das man mittelst dieser Masse auf einen schwärzen Eisenrahmen klebt. Das Glas muß violett sein für die Eisensachen und schwarz für die Goldsachen. In Spanien findet es großen Absatz. Da liebt man Jetsachen sehr . . .«

Hier hielt er inne, die Feder entfiel seiner Hand und er schluchzte heftig. Dann nahm der Arme seinen Kopf in beide Hände und überließ sich seinen wehvollen Gedanken.

»Ach!« schrie er, aber innerlich, so daß nur Gott diesen Jammerschrei hörte, »es ist vorbei. Ich werde sie nicht wiedersehen. Sie war ein Lichtblick in meinem Leben. Jetzt werde ich in die Nacht eingehen, ohne sie auch nur noch einmal wiederzusehen. Ach, nur eine Minute, nur einen Augenblick ihre Stimme hören, ihr Kleid berühren, sie ansehen, den Engel! und dann sterben! Der Tod ist nichts, aber schrecklich ist, daß ich sterben muß, ohne daß sie dabei ist. Sie würde mir zulächeln, mit mir sprechen. Geschehe denn damit irgend Jemand ein Schade? Aber nein, das ist vorbei. Für immer. Nun stehe ich allein da in der Welt. Mein Gott! Mein Gott! Ich werde sie nicht wiedersehen!

In demselben Augenblick klopfte es an die Thür.

IV.
Ein Anschwärzer, der weiß brennt

An demselben Tage, oder richtiger gesagt, an demselben Abend, als Marius eben von der Tafel aufgestanden war und sich in sein Arbeitskabinet zurückgezogen hatte, wo er einen Stoß Akten durchsehen wollte, übergab ihm Baske einen Brief mit den Worten: »Der Schreiber dieses Briefes wartet im Vorzimmer.«

Cosette hatte den Großvater untergefaßt und ging mit ihm während der Zeit im Garten spazieren.

Ein Brief kann so gut wie ein Mensch vulgär aussehen. Wenn er auf grobem Papier geschrieben, schlecht zusammengefaltet ist, kann er beim ersten Anblick mißfallen. Der Brief, den Baske brachte, gehörte auch zu dieser Gattung.

Marius nahm ihn in Empfang. Er roch nach Taback. Ein Geruch kann Erinnrungen wecken. Marius erkannte den Tabacksgeruch. Er sah die Adresse an: »An den Herrn Baron Pommerci. In seinem Privathause.« Der wohlbekannte Tabacksgeruch half ihm die Schrift erkennen. Im Nu blitzte eine Fülle von Erinnrungen in Marius Hirn auf. Ja, ja, dieselbe Sorte Papier, dieselbe Art, den Brief zusammen zu legen, dieselbe blasse Tinte, dieselbe Schrift, vor allem aber derselbe Taback. Die ganze Jondrette'sche Räuberhöhle lag wieder vor seinem geistigen Auge da.

Merkwürdige Fügung des Zufalls! Eine von den beiden Spuren, die er so lange gesucht, diejenige, die so viel Anstrengungen gekostet und die er für verloren hielt, bot sich ihm auf ein Mal von selber dar.

Er riß hastig das Schreiben auf und las:

»Herr Baron!«

Wenn das höchste Wesen mir die dazu nöhtigen Talente gegeben hätte, so hätte ich, der Baron Thénard, Mitglied des Instituhts, (Akademie der Wissenschaften) sein können, allein ich bin es nicht. Ich führe nur denselben Namen wie er, glücklich, wenn diese Erinnrung mich dem Wohlwollen Ihrer Güte empfiehlt. Die Wohltaht, die sie mich spenden werden, wird auf Gegensaitigkeit beruhen. Ich kenne ein Geheimniß, das ein Individuhum betrifft, das Sie betrifft. Dieses Geheimniß steht Ihnen zur Verfügung, indem ich die Ehre zu haben wünsche, dem Herrn Baron einen untertähnigen Dienst zu erweisen. Ich werde Sie mit einem einfachen Mittel ausrüsten, das Individuhum, welches der großen Ehre gänslich unwürdig ist, da die Frau Baronin vornehmer Herkunft sind, aus Ihrer hochachtbaren Famielie wegzujagen. Der Schrein der Tugend kann nicht lenger mit dem Verbrechen zusammenhausen, ohne Seiner Hoheit Abbruch zu thun.

Ich erwarte im Vorzimmer die Befehle des Herrn Barons.

Mit tiefster Hochachtung

Thénard.

Die Unterschrift war keine absolut falsche; es fehlten nur einige Buchstaben.

Im Uebrigen bestätigten der verzwickte, schwülstige Stil und die eigenartige Orthographie Marius' Vermuthung. Alle Umstände vereinigten sich zu einem Ursprungszeugniß, dessen Echtheit keinen Zweifel zuließ.

Marius war tief erregt. Nach dem ersten Erstaunen wallte ein hohes Glücksgefühl in ihm auf. Jetzt brauchte er nur noch den Andern wieder zu finden, denjenigen, der ihm das Leben gerettet hatte, so blieb ihm nichts mehr zu wünschen übrig.

Er zog eine Schublade seines Sekretärs auf, nahm einige Kassenscheine heraus, steckte sie in seine Tasche, machte den Sekretär wieder zu und klingelte. Baske erschien in der Thür.

»Lassen Sie den Herrn hereinkommen!« befahl Marius.

Baske rief:

»Herr Thénard.«

Ein Mann trat ein, der Marius – zu dessen nicht geringem Erstaunen – durchaus unbekannt schien!

Es war ein alter Mann mit grauen Haaren. Eine grobe Nase; das Kinn hinter dem Halstuch; eine grüne Brille mit einem doppelten Tafftschirm; glatte Haare, die über die Stirn fielen, wie die Perrücken der Kutscher des englischen High Life. Er war von Kopf bis zu Fuß schwarz gekleidet; ein sehr schäbiges, aber saubres Schwarz. Eine Menge Berloques ließen auf das Vorhandensein einer Uhr schließen. In der Hand hielt er einen alten Hut. Er ging krumm, eine Krümmung, die durch seine tiefe Verneigung in erstaunlichem Grade zunahm.

Was beim ersten Blick auffiel, war, daß der zu weite, obgleich zugeknöpfte Rock des Menschen offenbar nicht für ihn zugeschnitten war. Hier ist eine kurze Abschweifung geboten.

In Paris wohnte damals in der Rue Beautreillis, unweit des Arsenals, ein pfiffiger Jude, dessen Geschäft es war, Gesindel in anständige Menschen zu verwandeln. Nicht auf lange Zeit, weil dem Gesindel die Anständigkeit bald lästig wird. Die Verwandlung erstreckte sich nur auf die äußere Erscheinung, dauerte nur einige Tage à dreißig Sous pro Tag und wurde bewerkstelligt mittelst eines Kostüms, das den Kunden zum Niveau der besseren Stände emporhob. Dieser Kleidervermiether hieß der »Verwandler«; so nannten ihn die Pariser Gauner und manche Leute kannten ihn bei keinem andern Namen. Er besaß eine ziemlich vollständige Garderobe und der Plunder, den er seinen Kunden umhängte, präsentirte sich nicht allzu schlecht. Er hatte Specialitäten und Kategorien; an jedem Nagel in seinem Laden hing, abgenutzt und abgeschabt, eine gesellschaftliche Stellung; hier der Rock einer Gerichtsperson, dort der Talar eines Pfarrers, hier ein Anzug für einen Bankier, dort in der Ecke einer für einen ehemaligen Militär, für einen Litteraten, einen Politiker. Dieser Kerl war der Garderobenaufseher an dem Theater, dessen Schauspieler die Pariser Hochstapler sind. Seine Spelunke war die Bühne, von der die Gaunerei abging und der Diebstahl auftrat. Ein zerlumpter Halunke kam in dieses Kleidermagazin, legte dreißig Sous hin, wählte je nach der Rolle, die er an dem betreffenden Tage spielen wollte, den Anzug, und wenn er dann wieder die Treppe hinunterstieg, war der Halunke ein feiner Mann. Am nächsten Tage wurden die Sachen ehrlich zurückgebracht und der Verwandler, der alles Dieben anvertraute, wurde nie bestohlen. Die Kleider hatten allerdings einen Uebelstand, sie paßten nicht, da sie nicht für diejenigen, die sie trugen, gearbeitet waren; dem Einen klebten, dem Andern schlotterten sie am Leibe, paßten aber Keinem, wie es sich gehörte. Jedem Gauner, dessen Länge über das menschliche Durchschnittsmaß hinausging, oder dahinter zurückblieb, war in den Kleidern des Verwandlers unbehaglich zu Muthe. Zu dick oder zu dünn durfte man auch nicht sein. Der Verwandler hatte nur an den Mittelschlag gedacht. Er hatte der Gattung in der Person der ersten besten, weder magern noch fetten, weder großen noch kleinen Kanaille Maß genommen.

Unter den Kostümen des Verwandlers befand sich auch ein »Staatsmannsanzug«, der in dem von uns eingesehenen Katalog folgendermaßen beschrieben ist: »Ein schwarzer Tuchrock, eine schwarze Buckskinhose, eine seidene Weste, ein Paar Stiefel und Leibwäsche.« Und am Rande der Vermerk: »Ehemaliger Botschafter« und eine Anmerkung, die wir hier gleichfalls citiren wollen: »In einem besondern Carton eine sauber gekräuselte Perrücke, eine grüne Brille, Uhrgehänge, und zwei, einen Zoll lange, mit Baumwolle umwickelte Federspulen.« Alles dies bekam der »Staatsmann«, der »ehemalige Botschafter«. Das ganze Kostüm war, wenn man sich so ausdrücken darf, sehr entkräftet; die Nähte waren verblichen; an dem einen Ellbogen gähnte ein unbefugtes Knopfloch; außerdem fehlte an dem Rock ein Knopf, was freilich eine Nebensache war, denn da ein Staatsmann seine Hand auf dem Herzen und unter dem Rock tragen muß, so konnte sie ja zugleich auch den Mangel eines Knopfes verdecken.

Wenn Marius in die Geheimnisse von Paris besser eingeweiht gewesen wäre, so würde er in dem Anzug des Besuchers, den Baske eben hereingeführt hatte, das dem Verwandler entliehene Staatsmannskostüm erkannt haben.

Marius Enttäuschung klang alsbald in üble Laune aus, die der Unbekannte entgelten mußte. Er musterte ihn von Kopf bis zu Fuß und fragte barsch:

»Was wollen Sie?«

Der Andre antwortete mit einem liebenswürdigen Grinsen, von dem das freundliche Lächeln eines Krokodils eine annähernde Vorstellung geben kann.

»Es scheint mir unmöglich, daß ich noch nicht die Ehre gehabt haben sollte, den Herrn Baron in irgend einem Salon der feinen Welt gesehen zu haben. Ich lebe der festen Ueberzeugung, daß ich ihn vor einigen Jahren bei der Fürstin Bagration und bei Sr. Herrlichkeit dem Vicomte Dambray, Pair von Frankreich, kennen gelernt habe.«

Es gilt nämlich bei Hallunken für eine gute Taktik, sich so zu benehmen, als erkenne man jemand wieder, den man nicht kennt.

Marius paßte auf die Sprache des Mannes, seine Betonung und seine Geberden, gut auf; fand sich aber in seinen Erwartungen nur noch mehr getäuscht. Die näselnde Aussprache des Unbekannten erinnerte durchaus nicht an die scharfe und harte Stimme, die er zu hören gehofft hatte. Er wußte nicht mehr, was er denken sollte.

»Ich kenne weder die Fürstin Bagration, noch den Vicomte Dambray,« sagte er, »In meinem ganzen Leben bin ich weder bei dem Einen noch bei dem Andern gewesen.«

Die Antwort klang unwirsch. Aber die Liebenswürdigkeit des Andern ließ sich nicht so leicht entmuthigen.

»Nun so werde ich den Herrn Baron bei Chateaubriand gesehen haben. Ich bin mit Chateaubriand sehr gut bekannt. ›Freund Thénard,‹ sagt er oft zu mir, ›wollen wir nicht zusammen eins trinken?‹«

Marius Stirn wurde immer strenger:

»Ich habe nie die Ehre gehabt, von Herrn von Chateaubriand empfangen zu werden. Fassen wir uns kurz. Was wollen Sie?«

Der Unbekannte antwortete auf die herbe Erwiederung mit einer noch tieferen Verbeugung:

»Herr Baron, geruhen Sie mich anzuhören. In Amerika, in der Nähe von Panama, liegt ein Dorf, Namens La Joya. Dieses Dorf besteht aus einem einzigen Hause, einem großen, viereckigen, dreistöckigen Hause aus Backsteinen, die an der Sonne getrocknet sind. Jede Seite des Vierecks ist fünfhundert Fuß lang. Jedes Stockwerk springt hinter das darunter gelegne um zwölf Fuß zurück, so daß eine Terrasse entsteht, die sich um das ganze Gebäude herumzieht. In der Mitte ein Hof, wo die Munition und die Vorräthe lagern. Keine Fenster, bloß Schießscharten. Keine Thür, nur Leitern, um von der ebnen Erde auf die erste Terrasse, von einen Terrasse zur andern und in den Hof hinabsteigen zu können. Keine Zimmerthüren, nur Klappen. Keine Treppen im Innern, sondern wieder Leitern. Des Abends werden die Klappen heruntergelassen, die Leitern eingezogen, die Schießscharten mit Blunderbüchsen und Karabinern bewehrt. Keine Möglichkeit, in das Gebäude hineinzukommen. Achthundert Einwohner hat das Dorf. Wozu nun die vielen Vorsichtsmaßregeln? Weil in dem Lande große Unsicherheit herrscht; es ist voller Menschenfresser. Warum gehen denn aber die Leute dahin? Weil das Land wunderbar reich ist; es enthält Gold.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Marius, der ungeduldig zu werden begann.

»Ich wollte sagen, daß ich ein maroder Diplomat bin, der des Kulturlebens herzlich überdrüssig ist. Ich möchte es einmal mit den Wilden versuchen.«

»Und?«

»Herr Baron, der Egoismus ist das Gesetz, das die Welt beherrscht. Die arme Tagelöhnerin wendet sich um, wenn die Postkutsche vorbeifährt; die Bäuerin, die auf ihrem eignen Felde arbeitet, thut es nicht. Der Hund des Bettlers bellt dem Reichen, der Hund des Reichen dem Armen nach. Jeder für sich. Der persönliche Vortheil ist der Zweck der menschlichen Handlungen, das Gold der stärkste Magnet.«

»Kommen Sie zur Sache.«

»Ich möchte nach La Joya auswandern. Wir sind unsrer Drei. Ich habe eine Gattin und eine Tochter, ein sehr schönes Mädchen. Zu der weiten und kostspieligen Reise brauche ich Geld.«

»Was geht das mich an?« fragte Marius.

Der Unbekannte reckte den Hals hinter der Kravatte empor, eine dem Geier eigne Bewegung und erwiderte mit einem verstärkten Lächeln:

»Haben der Herr Baron nicht meinen Brief gelesen?«

Dies war so ziemlich richtig. Der Inhalt des Schreibens war Marius entgangen. Er hatte mehr die Handschrift studirt, als den Brief gelesen, so daß er sich kaum darauf besinnen konnte. Dazu kam, daß seine Aufmerksamkeit eben durch etwas Andres wieder angeregt worden war. Durch die Worte: »eine Gattin und eine Tochter« stutzig gemacht, fixirte er den Unbekannten so scharf wie ein Untersuchungsrichter. Vorläufig aber begnügte er sich mit der Aufforderung:

»Sagen Sie mir, worum es sich handelt.«

Der Unbekannte schob die Hände in die Taschen, hob den Kopf empor, ohne das Rückgrat gerade zu machen, und indem er Marius mit seinem grünen Brillenblick prüfend ansah:

»Sehr wohl, Herr Baron. Ich komme zur Sache. Ich habe ein Geheimniß zu verkaufen.«

»Ein Geheimniß?«

»Ein Geheimniß!«

»Das mich betrifft?«

»Ich sollte meinen!«

»Was für ein Geheimniß ist das?«

Währenddem sah sich Marius den Mann immer genauer an.

»Ich beginne gratis,« sagte der Unbekannte. »Sie werden sehen, daß ich interessante Sachen zu berichten habe.«

»Reden Sie.«

»Herr Baron, Sie haben in Ihrem Hause einen Raubmörder.«

Marius fuhr zusammen.

»In meinem Hause? Nein,« sagte er.

Mit unerschütterlicher Ruhe wischte der Unbekannte seinen Hut mit dem Ellbogen ab und fuhr fort:

»Raubmörder. Wohlbemerkt, Herr Baron, ich spreche hier nicht von alten Verbrechen, die vor dem Gesetz durch – Verjährung und vor Gott durch die Reue ausgelöst sein können. Ich meine Thatsachen, die neueren Datums sind. Aber ich fahre fort. Der Betreffende hat sich unter einem falschen Namen in Ihr Vertrauen, ja beinahe in Ihre Familie eingeschlichen. Ich will Ihnen seinen wahren Namen sagen. Und zwar umsonst.«

»Ich höre.«

»Er heißt Jean Valjean.«

»Ich weiß es.«

»Ich will Ihnen auch, ebenfalls umsonst, sagen, was für ein Mensch er ist.«

»Nun?«

»Ein ehemaliger Galeerensklave.«

»Ich weiß es.«

»Sie wissen es, seitdem ich die Ehre gehabt habe, es Ihnen zu sagen.«

»Nein, ich wußte es vorher.«

Marius kalter Ton, das doppelte »Ich weiß es,« sein wenig ermuthigender Lakonismus reizten den Unbekannten zum Zorn. Er schleuderte Marius verstohlen einen wüthenden Blick zu, den er aber sofort wieder zurücknahm. Indessen so rasch dies auch geschah, Marius bemerkte und erkannte diesen Blick. Gewisse Flammen können nur in gewissen Seelen auflodern und was sich im Auge wiederspiegelt, verdeckt die Brille nicht. Versuche es doch Einer, die Hölle mit einer Fensterscheibe unsichtbar zu machen.

Der Unbekannte fuhr lächelnd fort:

»Ich erdreiste mich nicht, den Herrn Baron Lügen zu strafen. Jedenfalls werden Sie sehen, daß ich Bescheid weiß. Was ich Ihnen aber jetzt mitzutheilen habe, ist nur mir bekannt. Es handelt sich um das Vermögen der Frau Baronin. Ein großartiges Geheimniß. Es ist zu verkaufen, Ihnen biete ich es zuerst an. Sehr billig. Zwanzigtausend Franken.«

»Das Geheimnis kenne ich so gut wie die andern,« erwiederte Marius.

Der Hallunke sah die Nothwendigkeit ein, mit seiner Forderung herunter zu gehen.

»Herr Baron, geben Sie zehntausend.«

»Ich wiederhole Ihnen, daß Sie mir nichts Neues zu erzählen haben. Ich weiß, was Sie mir sagen wollen.«

Wieder flammte ein Blitz in dem Auge des Mannes auf. Er rief:

»Ich habe aber heute noch nichts gegessen. Es ist ein großartiges Geheimniß, sage ich Ihnen, Herr Baron. Geben Sie zwanzig Franken.«

Marius sah ihm scharf in die Augen.

»Ich kenne Ihr großartiges Geheimniß wie ich auch den Namen Jean Valjean kannte, wie ich auch Ihren Namen weiß.«

»Meinen Namen?«

»Ja.«

»Das ist nicht schwer, Herr Baron. Ich habe die Ehre gehabt ihn aufzuschreiben und ihn Ihnen zu sagen. Thénard.«

»Dier?«

»Wa–as«

»Thénardier?«

»Was für ein Thénardier?«

In der Gefahr streckt der Igel seine Stacheln empor, stellt der Käfer sich tot, bilden Soldaten ein Carré. Thénardier lachte.

Dann knippste er mit dem Finger ein Stäubchen von seinem Aermel weg.

Marius fuhr fort:

»Sie sind auch Arbeiter Jondrette, der Schauspieler Fabantou, der Dichter Genflot, der Spanier Don Alvares und Frau Balizard.«

»Frau Was?«

»Und Sie haben in Montfermeil eine Kneipwirthschaft gehabt.«

»Eine Kneipe? Nun und nimmermehr.«

»Und ich sage Ihnen, Sie sind Ténardier.«

»Ich bestreite es.«

»Und endlich sage ich Ihnen, daß Sie ein Lump sind. Da!«

Marius griff in die Tasche, holte einen Fünfhundertfrankenschein heraus und warf ihm denselben ins Gesicht.

»Danke! Verzeihung! Fünfhundert Franken! Herr Baron!«

Fassungslos und mit vielen Verbeugungen griff er nach dem Tresorschein und prüfte ihn.

»Fünfhundert Franken!« wiederholte er aufs äußerste verblüfft. Und halblaut stammelte er: »Echt! – Allehand Achtung!«

Dann plötzlich mit lauter Stimme:

»Nun meinetwegen! Machen wir's uns bequem!«

Und indem er mit affenartiger Geschwindigkeit seine Perrücke abnahm, die Brille herunterriß, die beiden oben erwähnten Federspulen, deren Zweck an einer andern Stelle dieses Buches schon erklärt worden ist, aus der Nase zog, nahm er sein Gesicht ab, so wie man seinen Hut abnimmt.

Seine Augen blitzten schärfer; die ungleiche, stellenweise beulige, oben von abstoßenden Runzeln durchfurchte Stirn trat vor; die Nase wurde spitz und scharf wie ein Vogelschnabel; das wilde und kluge Profil des menschlichen Raubthiers kam wieder zum Vorschein.

»Der Herr Baron sind unfehlbar,« sagte er mit klarer Stimme und ohne zu näseln. »Ich bin Thénardier.«

Und er machte seinen gewölbten Rücken gerade.

Thénardier war fröhlich überrascht; er wäre verwirrt gewesen, wenn er solch ein Gefühl überhaupt hätte empfunden können. Er war gekommen, um in Erstaunen zu setzen und nun widerfuhr ihm etwas Erstaunliches. Diese Demüthigung wurde ihm mit fünfhundert Franken bezahlt und so ließ er sie sich gefallen; aber er war wie betäubt.

Er sah diesen Baron Pontmercy zum ersten Mal und trotz seiner Verkleidung erkannte ihn dieser Baron Pontmercy und erkannte ihn gründlich. Und nicht nur Thénardier, auch Jean Valjean war ihm bekannt. Was war es denn mit diesem, fast noch bartlosen, jungen Mann, der sich so eisig und so großmüthig benahm, der die Namen der Leute, alle Namen kannte, der einen Gauner so strenge wie ein Richter abkanzelte und so gutmüthig sein Geld verschenkte?

Wie man sich erinnern wird, hatte Thénardier, obgleich er mit Marius in demselben Hause gewohnt hatte, ihn doch nie gesehen, was in Paris häufig vorkommt. Er hatte nur seiner Zeit seine Töchter oberflächlich von einem sehr armen, jungen Mann, Namens Marius, sprechen hören, der nebenan wohne. Er hatte auch, ohne ihn zu kennen, den schon erwähnten Bettelbrief geschrieben. Der Gedanke also, daß jener Marius mit diesem Baron Pontmercy identisch sei, lag ihm vollständig fern.

Was den Namen Pontmercy anbetrifft, so hatte er auf dem Schlachtfeld von Waterloo nur die letzten, zwei Silben gehört und sie mit jener Geringschätzung behandelt, die ein bloßes »Merci!« verdient.

Im Uebrigen war es ihm geglückt, durch seine Tochter Azelma, die er mit der Ausspionirung des Brautpaars beauftragt hatte und Dank seinen persönlichen Nachforschungen, vielerlei Dinge in Erfahrung zu bringen und die Fäden mehrerer Geheimnisse in die Hand zu bekommen. Er hatte mit einem großen Aufwand von Mühe entdeckt oder mittels vieler Schlußfolgerungen errathen, wer der Mann war, dem er an einem gewissen Tage in der Großen Kloake begegnete und nachdem er den Mann erkannt hatte, war es keine Schwierigkeit für ihn gewesen, auch den Namen herauszubringen. Er wußte ferner, daß die Baronin Pontmercy Cosette war. Aber in Bezug auf diesen Punkt war er gesonnen, Verschwiegenheit zu beobachten. Wer war Cosette? Das wußte er selber nicht genau. Er hielt sie für ein uneheliches Kind, denn die Geschichte mit Fantine war ihm immer verdächtig vorgekommen; aber wozu diese Sache aufrühren? Um sich sein Stillschweigen bezahlen zu lassen? Er hatte etwas Besseres zu verkaufen oder bildete es sich wenigstens ein. Und aller Wahrscheinlichkeit nach wäre er, wenn er ohne Beweise zu dem Baron Pontmercy gekommen, um ihm zu erzählen, seine Frau sei ein uneheliches Kind, für seine Mühe von dem wüthenden Ehemanne mit Fußtritten die Treppe hinunterbefördert worden.

Nach Thénardiers Auffassung hatte die Verhandlung mit Marius eigentlich noch garnicht angefangen. Er hatte wohl zurückweichen, eine Stellung aufgeben, seinen Plan ändern müssen, aber der Hauptsache nach war noch nichts verloren und er hatte fünfhundert Franken in der Tasche. Ferner hatte er etwas Entscheidendes zu sagen und hegte die Ueberzeugung, daß er sogar gegen einen so gut unterrichteten und vortrefflich ausgerüsteten Gegner, wie den Baron von Pontmercy, ausreichende Waffen besitze. Für Leute wie Thénardier ist jedes Gespräch ein Kampf und Marius gegenüber stand er so, daß er zwar nicht wußte, mit wem er es zu thun hatte, wohl aber, was er zu sagen hatte. Mit dieser innerlichen Musterung seiner Streitkräfte wurde er rasch fertig und wartete nach dem Geständnis, daß er Thénardier sei, ruhig der Dinge, die da kommen würden.

Marius seinerseits war sehr nachdenklich geworden. Er hatte also endlich den so lange gesuchten Thénardier vor sich und konnte der Verbindlichkeit nachkommen, die ihm der Oberst Pontmercy ans Herz gelegt hatte. Es verdroß ihn freilich, daß solch ein Held solch einem Halunken etwas verdankte und daß der Wechsel, den sein Vater auf ihn gezogen hatte, so lange uneingelöst geblieben war. Es wollte ihm auch in Folge der komplizirten Gedanken und Gefühle, die er Thénardier gegenüber hegte, scheinen, als müsse der Oberst für das Unglück, daß er von einem solchen Schurken gerettet worden war, gerächt werden. Wie dem aber auch sein mochte, er war zufrieden. Konnte er doch nun endlich den Schatten des Obersten von diesem gemeinen Gläubiger befreien.

Neben dieser Pflicht hatte er noch eine andre, nämlich die sich über die Herkunft von Cosettens Vermögen Aufklärung zu verschaffen. Die Gelegenheit dazu schien günstig. Vielleicht wußte Thénardier etwas. Es konnte von Nutzen sein, wenn man dem Menschen auf den Grund der Seele blickte. Er begann hiermit.

Thénardier hatte unterdessen den »echten« Kassenschein in seine Tasche versenkt und sah Marius mit einer Art zärtlicher Rührung an.

Marius brach das Stillschweigen.

»Thénardier, ich habe Ihnen Ihren Namen genannt. Soll ich Ihnen jetzt auch sagen, worin das Geheimniß besteht, das Sie mir enthüllen wollen? Ich habe auch Erkundigungen angestellt und Sie werden sehen, daß ich besser Bescheid weiß als Sie. Jean Valjean ist allerdings ein Spitzbube und ein Mörder. Ein Spitzbube, denn er hat sich das Vermögen eines reichen Fabrikanten, Herrn Madeleine's, angeeignet. Ein Mörder, weil er den Polizeiinspektor Javert umgebracht hat.«

»Ich verstehe nicht, Herr Baron,« antwortete Thénardler.

»So will ich es Ihnen ausführlicher erklären. Hören Sie zu. In einem Arrondissement des Pas-de-Calais lebte um 1822 ein Mann, der einmal mit den Gerichten etwas zu thun gehabt, aber später unter dem Namen Madeleine ein neues Leben begann und sich emporarbeitete. Dieser Mann wurde ein Gerechter, im strengsten Sinne des Wortes. Durch die Förderung eines Industriezweiges, der Fabrikation von schwarzen Glassachen, hob er den Wohlstand einer ganzen Stadt. Persönlich erwarb er dabei gleichfalls ein Vermögen, aber nebenbei, so zu sagen gelegentlich. Er war der Vater der Armen. Er gründete Spitäler, Schulen; besuchte die Kranken, gab armen, jungen Mädchen eine Aussteuer, unterstützte die Wittwen, ernährte die Waisenkinder; er war gleichsam der Vormund des Landes. Er schlug das Kreuz der Ehrenlegion aus und wurde zum Bürgermeister ernannt. Nun wußte aber ein ehemaliger, entlassener Zuchthaussträfling, daß dieser Mann vor Zeiten zu einer ehrenrührigen Strafe verurtheilt worden war, denunzirte ihn und machte sich seine Festnahme in der Weise zu nütze, daß er nach Paris kam und sich von dem Bankier Laffitte – ich habe dies von dem Kassirer selber erfahren – mittelst einer falschen Unterschrift über eine halbe Million, die Madeleine gehörte, aushändigen ließ. Dieser Sträfling, der Madeleine's Geld gestohlen hat, ist Jean Valjean. Was die andere Thatsache betrifft, so lehren Sie mich damit auch nichts Neues. Jean Valjean hat den Polizeiinspektor Javert umgebracht, erschossen. Ich, der ich mit Ihnen spreche, war bei dem Vorfall zugegen.«

Thénardier warf auf Marius den stolzen Blick eines Ueberwundenen, der den Sieg wieder in seine Hand bekommt und in einer Minute das eben verlorne Terrain zurückerobert. Aber sofort nahm er auch wieder eine lächelnde Miene an, denn der Schwächere darf über den Stärkeren nur schmeichelnd triumphiren, und Thénardier begnügte sich mit der Bemerkung:

»Herr Baron, wir sind auf falschem Wege.«

Und er verlieh diesen Worten einen sieghaften Nachdruck, indem er seinen Berloquebund im Kreise schwenkte.

»Wie?« rief Marius, »Bestreiten Sie das? Es handelt sich um Thatsachen.«

»Um Chimären. Das Vertrauen, womit mich der Herr Baron beehren, macht es mir zur Pflicht, diese Behauptungen zu berichtigen. Vor allen Dingen muß der Wahrheit und Gerechtigkeit die Ehre gegeben werden. Ich liebe es nicht, daß man Leute fälschlich anklagt, Herr Baron, Jean Valjean hat Javert nicht umgebracht.«

»Das ist stark! – Wie so?«

»Aus zwei Gründen.«

»Welche? Reden Sie!«

»Der erste Grund ist: Er hat Madeleine nicht bestohlen, dieweil Jean Valjean selber Madeleine ist.«

»Was reden Sie da?«

»Und der zweite Grund lautet: Er hat Javert nicht ermordet, weil Javert das selbst besorgt hat.«

»Was meinen Sie damit?«

»Daß Javert sich das Leben genommen hat.«

»Beweisen Sie, was Sie da behaupten!« rief Marius außer sich.

Thénardier fuhr fort, indem er seine Worte wie einen antiken Vers skandirte:

»Man hat den Po–li–zei–in–spek–tor Ja–vert un–ter ei–nem Prahm, un–weit des Pont-au-Change ertrun–ken ge–funden.«

»Die Beweise! Die Beweise!«

Thénardier nahm aus seiner Seitentasche einen großen, grauen Briefumschlag, der zusammengefaltete Blätter von verschiedener Größe zu enthalten schien.

»Ich habe alle erforderlichen Dokumente,« sagte er gelassen.

Dann fuhr er fort:

»Herr Baron, ich habe mich in Ihrem Interesse mit Jean Valjean gründlichst beschäftigt. Ich behaupte, daß Jean Valjean und Madeleine ein und dieselbe Person ist, und ich behaupte, daß Javert von keinem Andern umgebracht worden ist, als von Javert, und wenn ich das sage, so habe ich Beweise. Keine schriftlichen, – die Schrift ist verdächtig und läßt sich zu allem Möglichen herbei – sondern gedruckte Beweisstücke.«

Während er dies sagte, entnahm Thénardier dem Couvert zwei vergilbte, lappige und stark mit Tabaksgeruch gesättigte Zeitungen. Die eine, die an den Falten brüchig geworden war und in viereckige Stücke zu zerfallen drohte, war älteren Datums als die andre.

»Zwei Thatsachen, zwei Beweisstücke,« sagte Thénardier und hielt Marius die Zeitungen auseinander gefaltet hin.

Die beiden Zeitungsnotizen kennt der Leser schon. In der einen, einem Exemplar des Drapeau blanc vom 5. Juli 1823, stand ein abgedruckter Bericht, in dem die Identität Madeleines und Jean Valjeans konstatirt war. Die zweite Zeitung, der Moniteur vom 15. Juni 1833, enthielt die Notiz über den Selbstmord Javert's und erzählte, Javert habe in einem Bericht an den Polizeipräfekten angegeben, er sei in der Rue de la Chanvrerie zum Gefangnen gemacht und durch einen Insurgenten, der ihn vor dem Lauf seines Pistols hatte, es aber großmüthiger Weise in die Luft abschoß, gerettet worden.

Diese Notizen las Marius. Die Daten, die Beweisstücke überhaupt waren unanfechtbar; die beiden Zeitungsexemplare waren doch nicht speziell gedruckt worden, um Thénardiers Behauptungen zu bestätigen; die im Moniteur abgedruckte Notiz war eine offizielle Mittheilung der Polizeipräfektur. Marius konnte sie nicht in Zweifel ziehen. Die von dem Kassirer gegebene Auskunft war falsch und er selber hatte sich geirrt. Jean Valjeans Vergangenheit war dem Dunkel entrissen, er stand gerechtfertigt da. Marius konnte einen Freudenschrei nicht zurückhalten:

»Dann verdient aber der Unglückliche die höchste Bewundrung! Das ganze Vermögen gehört ihm wirklich. Er ist die Vorsehung eines ganzen Landes, Javert's Retter gewesen. Jean Valjean ist ein Heiliger und ein Held!«

»Kein Heiliger und kein Held,« sagte Thénardier. »Ein Raubmörder.«

Und in dem Tone eines Mannes, der da weiß, was er sagt, fuhr er fort: »Bewahren wir unser kaltes Blut.«

Raubmörder! Dieses Wort, das Marius für endgültig widerlegt gehalten hatte, übte auf ihn die Wirkung einer eisigen Douche aus.

»Kommen Sie mir wieder damit?« sagte er.

»Noch immer,« erwiederte Thénardier. »Jean Valjean hat Madeleine nicht beraubt, und ist doch ein Räuber; er hat Javert nicht umgebracht und ist doch ein Mörder.«

»Meinen Sie,« fragte Marius, »den erbärmlichen Raub, den er vor vierzig Jahren verübte, und den er, wie dies aus Ihren Zeitungsnotizen selber hervorgeht, mit einem Leben voller Reue, Selbstverleugnung und Tugend gesühnt hat?«

»Ich sage Raub und Mord. Und ich wiederhole, daß ich von unsrer Gegenwart spreche. Was ich Ihnen offenbaren will, ist eine durchaus unbekannte Thatsache. Und vielleicht werden Sie bei Gelegenheit den Grund kennen lernen, warum Jean Valjean schlauer Weise der Frau Baronin sein Vermögen angetragen hat. Ich sage schlauer Weise, denn wenn ein Verbrecher sich in eine achtbare Familie einschleicht, und sich dadurch Wohlleben und Sicherheit schafft, so ist das nichts weniger als unschlau.«

»Ich könnte Sie hier unterbrechen,« bemerkte Marius; »aber fahren Sie fort.«

»Herr Baron, ich werde alles sagen, indem ich es Ihnen überlasse, wie Sie mich belohnen wollen. Das Geheimniß ist massives Gold wert. Sie werden sagen: Warum hast Du Dich nicht an Jean Valjean gewendet? Aus einem sehr einfachen Grunde. Ich weiß, daß er sein Vermögen aus den Händen gegeben, es Ihnen übertragen hat, und finde, daß es ein gescheidter Gedanke ist; aber er hat keinen Heller mehr und würde mir seine leeren Hände zeigen und da ich zu meiner Reise nach La Joya Geld brauche, ziehe ich Sie, der alles hat, ihm vor, der nichts mehr sein Eigen nennt. Ich bin etwas müde; erlauben Sie, daß ich mich setze.«

Marius setzte sich und winkte ihm, gleichfalls Platz zu nehmen.

Thénardier ließ sich auf einen gepolsterten Stuhl nieder, nahm die beiden Zeitungen, steckte sie wieder in den Briefumschlag und murmelte, indem er mit dem Fingernagel auf das Exemplar des Drapeau blanc klopfte: »Das hier hat mir Mühe gekostet, ehe ich's bekommen konnte.« Dann schlug er die Beine über einander und legte sich bequem gegen die Rücklehne des Stuhls, – die Haltung der Leute, die ihrer Sache sicher sind. – Nun endlich begann er seine Rede, indem er seine Worte gewichtig betonte.

»Herr Baron, am 6. Juni 1832, also vor ungefähr einem Jahre, während des Aufstandes, befand sich ein Mann in der Großen Kloake, da, wo sie sich in die Seine ergießt, zwischen dem Pont des Invalides und dem Pont d'Iéna.«

Marius rückte hier plötzlich seinen Stuhl näher an Thénardier heran. Thénardier bemerkte diese Bewegung und fuhr fort mit der Langsamkeit eines Redners, der sich bewußt ist, daß sein Zuhörer und Gegner seinen Worten die höchste Spannung entgegenbringt:

»Aus Gründen, die mit der Politik nichts zu thun haben, gezwungen sich versteckt zu halten, hatte der Mann in der Kloake seine Wohnung aufgeschlagen und besaß einen Schlüssel zu der Thür. Es war, ich wiederhole es, am 6. Juni und mochte acht Uhr Abends sein. Da hörte der Mann ein Geräusch in der Kloake. Höchst erstaunt, duckte er sich abseits und wartete. Es war ein Geräusch von Schritten, Jemand kam durch die Dunkelheit auf ihn zu. Die Ausgangsthür der Kloake war nahebei. Ein wenig Tageslicht, das da hereinfiel, erlaubte ihm, den Andern zu erkennen und zu sehen, daß er etwas auf dem Rücken trug, denn er ging gebückt. Der Mann nun, der gebückt ging, war ein ehemaliger Galeerensklave und was er auf den Schultern dahinschleppte, war ein Leichnam. Daß hier ein Mord vorlag, dürfte nun wohl über allen Zweifel erhaben sein. Was den Raub betrifft, so versteht sich der von selbst. Man mordet nicht für nichts und wieder nichts. Der Betreffende schickte sich also an, die Leiche in den Fluß zu werfen. Noch eins, was Beachtung verdient. Ehe er an der Ausgangsthür anlangte, mußte der Verbrecher, der einen weiten Weg durch die Kloaken gekommen war, durch ein fürchterliches Schlammloch hindurch, in dem er, sollte man meinen, die Leiche hätte zurücklassen können. Aber am nächsten Tage hätten die Arbeiter sie da gefunden und das paßte nicht in den Plan des Mörders. Er hatte es also vorgezogen mit seiner Last durch das Schlammloch hindurchzuwaten und dies muß entsetzliche Anstrengungen gekostet haben; es ist unmöglich sein Leben noch größerer Gefahr auszusetzen und ich begreife nicht, wie er da hindurch gekommen ist.«

Marius Stuhl rückte noch näher, was Thénardier dazu benutzte, sich recht viel Zeit zum Athemschöpfen zu nehmen. Er fuhr fort:

»Herr Baron, eine Kloake ist nicht wie das Marsfeld. Es fehlt da an allem, sogar an Platz. Wenn zwei Menschen darin sind, müssen sie sich begegnen. Dies geschah. Die Beiden sahen sich genöthigt, einander guten Tag zu sagen, was Keinem von ihnen Vergnügen machte. Der Ankömmling sagte zu dem Andern: »Du siehst, was ich auf dem Rücken habe; ich muß hinaus; Du hast den Schlüssel, her damit.« Der Sträfling war ein Mann von fürchterlicher Körperkraft. Keine Möglichkeit, Nein zu sagen. Indessen unterhandelte der Besitzer des Schlüssels, blos um Zeit zu gewinnen. Er sah sich den Toten genau an, konnte aber nur konstatieren, daß es ein fein gekleideter, junger Mann und daß er durch das Blut entstellt war. Während er sich mit dem Andern unterhielt, fand er Zeit und Gelegenheit ohne daß der Mörder es merkte, von dem Rock des Ermordeten ein Stück abzureißen. Natürlich um ein Beweisstück zu haben, ein Mittel, eventuell die Sachen weiter verfolgen und den Verbrecher überführen zu können. Er steckte den Rockzipfel in die Tasche. Hierauf schloß er die Thür auf, ließ den Mörder samt seiner Last hinaus, schloß die Thür wieder zu und machte, daß er davonkam, da er das Weitere nicht abwarten, vor allen Dingen aber nicht dabei sein wollte, wenn der Mörder die Leiche in den Fluß werfen würde. Sie verstehen jetzt. Der die Leiche trug, war Jean Valjean; der den Schlüssel hatte, spricht mit Ihnen im gegenwärtigen Augenblick; und das Stück Tuch . . .«

Thénardier beendete den Satz, indem er einen Fetzen schwarzes, mit dunkeln Flecken bedecktes Tuch aus der Tasche zog und es an den Enden zwischen je einem Zeigefinger und einem Daumen in der Höhe seiner Augen emporhielt.

Marius war unterdessen aufgestanden, leichenblaß, athemlos, den Blick auf das schwarze Stück Tuch geheftet und ging, ohne ein Wort zu sprechen, ohne ein Auge von dem Lappen zu verwenden, rückwärts nach der Wand hin, griff hinter sich mit der rechten Hand und tastete nach einem Schlüssel, der in dem Schloß eines, unweit des Kamins angebrachten Wandschranks steckte. Er fand den Schlüssel, schloß den Wandschrank auf, fuhr mit dem Arm hinein, ohne hinzublicken und indem er die Augen starr auf Thénadiers Stück Tuch gerichtet hielt.

Unterdessen fuhr Thénardier mit seiner Rede fort:

»Herr Baron, ich habe die zwingendsten Gründe zu glauben, daß der Ermordete ein reicher, junger Fremder war, den Jean Valjean in einen Hinterhalt lockte und der eine kolossale Summe Geld bei sich trug.«

»Der junge Mann war ich, und hier ist der Rock!« rief Marius und warf einen alten, schwarzen, mit Blut befleckten Rock auf den Fußboden.

Dann riß er Thénardier den Fetzen aus den Händen, hockte nieder und hielt das abgerissene Stück an den verstümmelten Rockschoß. Die beiden Teile paßten genau zusammen.

Thénardier war wie versteinert. Er dachte: »Ich werde auf den Rücken fallen.«

Marius richtete sich auf, zitternd vor Aufregung, voller Verzweiflung, triumphirend.

Er griff in seine Tasche, ging wüthend auf Thénardier los und hielt ihm so nahe, daß sie fast sein Gesicht berührte, die Faust hin, die er voller Fünfhundert- und Tausendfrankenscheine hatte.

»Sie sind ein nichtswürdiger Mensch Sie sind ein Lügner, ein Verleumder, ein Schurke. Sie kamen, den Mann anzuklagen, und haben ihn gerechtfertigt; Sie wollten ihn zu Grunde richten, und es ist Ihnen nur gelungen, ihn zu erhöhen. Sie sind ein Spitzbube! Sie sind ein Mörder! Ich haben Sie gesehen, Thénardier Jondrette, in Ihrer Räuberhöhle, in dem Gorbeauschen Hause. Ich weiß genug über Sie, um Sie ins Zuchthaus zu bringen, wenn ich wollte, ja, Sie um einen Kopf kürzer machen zu lassen. Da! hier sind tausend Franken, Sie Hundsfott Sie!«

Und er warf Thénardier einen Tausendfrankenschein hin.

»Ja, ja, Jondrette Thénardier, Sie gemeiner Halunke! Lassen Sie Sich dies zur Lehre dienen, Sie Geheimnißverkäufer, Sie elender Schleicher! Nehmen Sie noch diese fünfhundert Franken und machen Sie, daß Sie mir aus dem Hause kommen. Wenn ich nicht an Waterloo dächte, – würde ich anders mit Ihnen spielen.«

»Waterloo?« murmelte Thénardier, indem er die fünfhundert nach den tausend Franken in die Tasche schob.

»Ja, Sie Mörder, Sie haben bei Waterloo einem Obersten das Leben gerettet . . .«

»Einem General,« entgegnete Thénardier und hob den Kopf empor.

»Einem Obersten,« erwiderte Marius hitzig. »Für einen General würde ich keinen Heller geben. Und Sie kamen mit den schändlichsten Absichten her. Allerhand Verbrechen haben Sie begangen. Gehen Sie aus Paris fort! Verschwinden Sie! Lassen Sie es sich gut gehen! Mir soll's recht sein, wenn Sie's noch zu etwas bringen. O, Sie Abgrund von Nichtswürdigkeit. Da haben Sie noch dreitausend Franken. Morgen schiffen Sie Sich mit Ihrer Tochter nach Amerika ein, denn Ihre Frau ist gestorben, Sie verabscheuungswürdiger Lügner. Ich werde aufpassen, daß Sie abdampfen, Sie Bandit, und Ihnen bei der Abfahrt noch zwanzigtausend Franken hinzählen. Suchen Sie Sich anderswo einen Galgen!«

»Herr Baron,« antwortete Thénardier, indem er sich bis zur Erde verneigte, »ewigen Dank!«

Er ging hinaus, aufs höchste verblüfft über Marius unbegreifliches Benehmen, aber hoch entzückt über das Ungewitter, das sich in Gestalt von Tresorscheinen über ihn entladen hatte. Es wäre ihm nicht recht gewesen, wenn ihn ein Blitzableiter gegen diese Art Donnerwetter geschützt hätte.

Fertigen auch wir diesen Menschen sofort ab. Zwei Tage nach dem soeben erzählten Ereigniß schiffte er sich unter einem falschen Namen und mit einer Tratte von zwanzigtausend Franken versehen, mit seiner Tochter Azelma nach Amerika ein. Die moralische Misere des Elenden, eine Folge seiner verfehlten Existenz, war unheilbar; er war in Amerika so, wie er in Europa gewesen. Die Berührung mit einem schlechten Menschen genügt bisweilen, um eine gute Handlung zu verderben und in ihr Gegentheil zu verkehren: Mit dem von Marius geschenkten Gelde etablirte sich Thénardier als Sklavenhändler.

Sobald Thénardier fort war, eilte Marius in den Garten, wo Cosette noch spazieren ging.

»Cosette, Cosette!« rief er. »Komm schnell! Wir wollen hinfahren. Baske, eine Droschke! Cosette, komm. O Gott, o Gott! Er hat mir das Leben gerettet. Wir wollen keine Minute verlieren. Nimm Dein Umschlagetuch.«

Cosette glaubte, er wäre närrisch geworden und willfahrte ihm.

Er hatte keinen Athem mehr und mußte die Hand auf die Brust halten, um das wilde Pochen seines Herzens zu unterdrücken. Er ging mit großen Schritten auf und ab und umarmte Cosette: »Ach Cosette, was für ein unglücklicher Mensch bin ich!« sagte er.

Marius war außer sich vor Bestürzung. Es stieg eine Ahnung in ihm auf, welch ein hochsinniger und unglücklicher Mann dieser Jean Valjean war, welch eine milde, unsäglich großartige und bescheidene Tugend sich in ihm verkörpert hatte. Der Galeerensklave verklärte sich jetzt zu einer Christusgestalt, deren lichte Hoheit Marius blendete. Er wußte nicht genau, was sich da seinem geistigen Auge darbot, aber etwas Großes mußte es wohl sein.

In einem Augenblick stand eine Droschke vor dem Hause.

Marius half Cosette beim Einsteigen und sprang nach ihr hinein.

»Kutscher, Rue de l'Homme-Armé Nr. 7.«

Die Droschke setzte sich in Bewegung.

»Ach, das ist schön!« rief Cosette, »Rue de l'Homme-Armé! Ich wagte schon nicht mehr, mit Dir davon zu sprechen. Wir werden Herrn Jean wiedersehen!

»Deinen Vater, Cosette. Nenne ihn Deinen Vater. Er verdient es mehr als je. Cosette, jetzt kann ich mir's denken, wie's gewesen ist. Du sagtest, Du hättest den Brief, den ich Dir durch Gavroche schickte, nie erhalten. Er wird ihm in die Hände gefallen sein. Cosette, er ist nach der Barrikade gegangen, um mich zu retten, und da er nicht anders kann und immer als guter Engel auftreten muß, so hatte er nebenbei einen Andern, Javert, gerettet. Er hat mich dem Verderben entrissen, um mich Dir zu schenken. Er hat mich auf dem Rücken durch die scheußlichen Kloaken getragen. Gott, was bin ich für ein Ungeheuer von Undankbarkeit! Cosette, nachdem er Deine Vorsehung gewesen ist, hat er über mich gewacht. Denke Dir, es war da ein fürchterliches Schlammloch, in dem er hundertmal ertrinken, im Koth ertrinken konnte und da hat er mich hindurchgetragen, Cosette! Ich war bewußtlos; ich sah und hörte nichts, ich wußte nicht, was mit mir vorging. Jetzt aber fahren wir hin und holen ihn, ob er will oder nicht. Und er darf nicht mehr von uns fort. Wenn er bloß zu Hause ist! In Zukunft will ich nur darauf sinnen, wieviel Liebes und Gutes ich dem ehrwürdigen Mann erweisen kann. Ja, ja, Cosette, so wird sich die Sache verhalten. Gavroche hat ihm meinen Brief übergeben. Nun ist mir die Sache klar.

Nicht wahr, Cosette?«

Cosette, die nicht wußte, was er meinte, antwortete:

»Natürlich, lieber Marius.«

V.
Die Nacht, hinter der der Tag steht

Bei dem Geräusch, das er an der Thür hörte, wandte Jean Valjean sich um.

»Herein!«

Die Thür ging auf und das junge Paar erschien.

Cosette eilte in das Zimmer hinein, während Marius, an den Thürpfosten gelehnt, auf der Schwelle stehen blieb.

»Cosette!« rief Jean Valjean und richtete sich auf seinem Stuhl empor, die zitternden Arme nach ihr ausbreitend, verstört, leichenblaß und helle Freude in den Augen.

Cosette, von Rührung überwältigt, sank ihm an die Brust.

»Vater!« rief sie.

Jean Valjean, seiner selbst nicht mächtig, stammelte:

»Cosette! Sie Frau Baronin! Du bist's? Ach Gott!«

Und von Cosettens Armen eng umschlungen rief er:

»Du bist es! Du bist da! Also verzeihst Du mir!«

Marius, der die Augenlider niederschlagen mußte, um die Thränen zu bekämpfen, that einen Schritt vor und murmelte zwischen seinen krampfhaft zusammengezognen Lippen:

»Vater!«

»Und Sie verzeihen mir auch!« sagte Jean Valjean.

Marius konnte kein Wort hervorbringen, und Jean Valjean sagte: »Ich danke Ihnen!«

Cosette warf Shawl und Hut auf das Bett.

»Fort damit! Ich kann mich nicht bewegen.«

Sie setzte sich dem Greis auf den Schoß, strich ihm mit einer lieblichen Bewegung die Haare aus der Stirn und küßte ihn.

Jean Valjean ließ sie, außer sich vor Wonne, gewähren.

Cosette, die den ganzen Hergang nur unklar begriff, verdoppelte ihre Liebkosungen, als ob sie auch Marius Schuld abtragen wollte.

»Wie dumm man ist!« stammelte Jean Valjean. »Ich glaubte, ich würde Sie nicht wiedersehen. Denken Sie sich, Herr Baron, eben als Sie klopften, sagte ich: ›Es ist vorbei. Da ist ihr Kleidchen, ich Unglücklicher werde Cosette nicht wiedersehen.‹ So dachte ich, als Sie die Treppe heraufkamen. Solch ein Unsinn! Aber so dumm ist man, wenn man den lieben Gott aus der Rechnung fortläßt. Der Herrgott aber sagt: Bildest Du Einfaltspinsel Dir ein, daß man Dich im Stich lassen wird? Nein, das lasse ich nicht zu; Vorwärts, es ist da ein armer, alter Mann, der einen Engel braucht. Und der Engel kommt und man sieht seine Cosette, sein liebes Cosettchen wieder. Ach, ich fühlte mich recht unglücklich!«

Hier mußte er inne halten, ehe er weiter sprechen konnte.

»Es war wirklich ein Bedürfnis für mich, Cosette von Zeit zu Zeit zu sehen. Der Hund will einen Knochen haben, an dem er nagen kann, und dem menschlichen Herzen geht es ebenso. Indessen sah ich ein, daß ich überflüssig war. Ich bemühte mich, Vernunft anzunehmen. »Sie brauchen Dich nicht,« sagte ich mir. Bleibe Du, wo Du hingehörst. Man hat nicht das Recht den Leuten ewig auf dem Halse zu liegen. Gott sei Lob und Dank, daß sie wieder da ist. Dein Marius ist aber ein hübscher Mann, Cosettchen! Was für einen schönen, gestickten Halskragen Du da hast! So etwas läßt man sich gefallen. Ein hübsches Muster! Das hat Dir Dein Mann geschenkt, nicht wahr? Kaschemir solltest Du auch tragen. Herr Baron, erlauben Sie mir, sie zu duzen. Es ist ja nur auf kurze Zeit.«

Und Cosette schalt ihn:

»Wie schlecht Du bist, Vater, daß Du uns so allein gelassen hast! Wo bist Du denn gewesen? Warum bist Du so lange weggeblieben? Früher dauerten Deine Reisen höchstens drei bis vier Tage. Ich habe Nicolette geschickt, um sich zu erkundigen und immer hieß es: Er ist verreist. Wann bist Du zurückgekommen? Warum hast Du's uns nicht wissen lassen? Weißt Du, Vater, Du bist sehr verändert. Pfui, der abscheuliche Vater! Er ist krank gewesen und wir haben es nicht gewußt. Komm her, Marius, fühle seine Hand an, wie kalt sie ist!«

»Also seid Ihr wieder da! Herr Baron, ich sehe, Sie verzeihen mir!« wiederholte Jean Valjean.

Bei dem Wort Verzeihen brachen die Gefühle, die Marius Brust zum Zerspringen schwellten, sich Bahn.

»Hörst Du, Cosette? wie er die Sache auffaßt? Er bittet mich um Verzeihung. Und weißt Du, was er für mich gethan hat? Er hat mir das Leben gerettet. Noch mehr. Er hat Dich in meine Arme geführt. Und sich hat er dabei geopfert. Solch ein Mann ist das. Und zu einem so undankbaren, vergeßlichen, harten Menschen wie mir sagt er: Ich danke Ihnen! – Cosette! Wenn ich jeden Tag vor ihm auf den Knieen läge, so wäre das zu wenig Genugthuung. Die Gefahren bei dem Barrikadenkampfe und dem Marsch durch die Kloaken hat er alle für Dich und mich bestanden! Jede Art von Muth, von Tugend, von Selbstüberwindung, von Religiosität besitzt dieser Mann. Er ist vollkommen wie ein Engel!«

»Pst, pst!« machte Jean Valjean ganz leise, »warum sagen Sie das alles?«

»Und Sie,« rief Marius mit einem Aerger, aus dem Achtung und Bewundrung herausklang, »warum haben Sie es nicht gesagt? Sie haben auch Schuld daran. Sie retten den Leuten das Leben und verheimlichen es ihnen. Ja, Sie thun noch Schlimmeres. Unter dem Vorwande, daß Sie Enthüllungen über Sich machen wollen, verleumden Sie Sich. So etwas ist abscheulich.«

»Ich habe die Wahrheit gesagt,« entgegnete Jean Valjean.

»Nein; denn wer die Wahrheit sagen will, muß die ganze Wahrheit sagen. Warum haben Sie nicht gesagt, daß Sie Madeleine waren? Sie haben Javert das Leben gerettet. Das haben Sie auch verschwiegen. Ich verdankte Ihnen auch das Leben, und das haben Sie ebenso wenig gesagt.«

»Weil ich so dachte wie Sie. Ich fand, daß Sie Recht hatten. Es gehörte sich, daß ich ging. Hätten Sie gewußt, daß ich Sie durch die Kloaken getragen habe, so hätten Sie darauf bestanden, daß ich bleiben sollte. Ich mußte also schweigen. Ich wäre hinderlich gewesen.«

»Hinderlich? Inwiefern? Für wen?« entgegnete Marius. »Denken Sie, Sie werden wieder hier bleiben? Wir nehmen Sie mit. Mein Gott, wenn ich denke, daß ich alles bloß durch einen Zufall erfahren habe. Wir nehmen Sie mit. Sie sind ein Theil unsrer selbst. Sie sind Cosettens und mein Vater. Sie dürfen in diesem abscheulichen Hause nicht einen Tag länger bleiben. Bilden Sie Sich nicht ein, daß Sie morgen noch hier sein werden.«

»Morgen,« erwiederte Jean Valjean, »werde ich allerdings nicht mehr hier sein, aber auch nicht bei Euch.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Marius. »Hören Sie, reisen lassen wir Sie nicht mehr. Sie gehen nicht mehr von uns fort. Sie gehören uns. Wir lassen Sie nicht los.«

»Ja, dieses Mal machen wir Ernst,« sagte Cosette. »Unten steht unsre Droschke. Ich nehme Dich mit. Wenn es sein muß, brauche ich Gewalt.«

Und sie machte zum Scherz eine Bewegung, als wollte sie den Greis heben.

»Dein Zimmer in unserm Hause steht noch immer für Dich bereit, Vater. Wenn Du wüßtest, wie hübsch der Garten in dieser Jahreszeit ist! Die Azaleen gedeihen vorzüglich. Die Gänge sind mit Flußsand bestreut und wir haben violette Muscheln. Erdbeeren von mir sollst Du auch bekommen; ich begieße sie selber. Und keine Frau Baronin, kein ›Herr Jean‹ mehr; bei uns geht's republikanisch zu; wir duzen uns Alle, nicht wahr, Marius? Das Programm ist geändert. Weißt Du, Vater, ich habe Kummer gehabt; eine abscheuliche Katze hat mir ein Rothkehlchen aufgefressen, das sich in der Mauer ein Nest gebaut hatte. Mein armes, kleines, niedliches Rothkehlchen, daß mich immer so lieb ansah! Ich habe geweint. Und die Katze hätte ich umbringen können, so wüthend war ich. Aber jetzt wird nicht mehr geweint. Jetzt lacht alle Welt und ist glücklich. Du kommst mit uns. Was der Großvater zufrieden sein wird! Du sollst ein eignes Beet im Garten bekommen, das kannst Du selber im Stande halten und wir werden sehen, ob Deine Erdbeeren besser sein werden als meine. Außerdem werde ich Alles thun, was Du willst, und Du wirst mir auch gehorchen.«

Jean Valjean lauschte ihren Worten, ohne sie zu hören. Er achtete mehr auf den Wohllaut ihrer Stimme, als auf den Sinn ihrer Rede; eine jener schweren Thränen, die man die Wehmuthsperlen der Seele nennen möchte, sammelte sich langsam in seinem Auge. Er flüsterte:

»Nun habe ich den Beweis, daß Gott gut ist: Sie ist bei mir.«

»Väterchen!« sagte Cosette.

Jean Valjean fuhr fort:

»Freilich wäre es reizend, wenn wir beisammen wohnen könnten. Sie haben eine Menge Vögelchen in Ihrem Garten. Ich würde mit Cosette spazieren gehen. Es ist süß, zu den Leuten zu gehören, die sich des Lebens freuen dürfen, die sich grüßen, die im Garten einander anrufen. Man kommt schon am Morgen zusammen. Wir würden Jeder ein Stückchen Land bebauen. Sie würde mich von ihren Erdbeeren essen lassen, ich würde ihr meine Rosen schenken. Ja ja, es wäre schön. Aber . . .«

Er unterbrach seine Rede und sagte dann noch mit sanfter Stimme:

»Schade!«

Die Thräne fiel nicht, sie trat zurück und Jean Valjean ersetzte sie durch ein Lächeln.

Cosette nahm die beiden Hände des Greises in die ihrigen.

»Mein Gott!« rief sie, »Deine Hände sind ja noch kälter geworden. Bist Du krank? Hast Du Schmerzen?«

»Ich? Nein!« antwortete Jean Valjean, »mir ist sehr wohl. Aber . . .«

Er hielt inne.

»Aber was?«

»Ich werde noch heute sterben.«

Cosette und Marius erschraken.

»Sterben?« rief Marius.

»Ja, aber das hat nichts auf sich,« sagte Jean Valjean.

Er athmete, lächelte und sagte:

»Cosette, Du sprichst eben zu mir, fahre fort, sprich weiter; Dein Rothkehlchen ist also tot; sprich, damit ich Deine Stimme höre!«

Marius blickte starr vor Schrecken auf den Greis.

Cosette stieß einen herzzerreißenden Schrei aus.

»Vater, lieber Vater, das ist ja nicht möglich! Du sollst leben; Du wirst leben. Hörst Du, ich will, daß Du am Leben bleibst!«

Jean Valjean hob den Kopf empor und sah sie liebevoll an.

»Ach ja, verbiete mir zu sterben. Wer weiß, vielleicht gehorche ich. Ich war im Begriff hinüberzugehen, als Ihr ankamt. Das hat mich zurückgehalten; mir war, als kehrte ich ins Leben zurück.«

»Sie haben noch viel Lebenskraft,« rief Marius. »Wie können Sie glauben, daß man so im Handumdrehen sterben kann? Sie haben Kummer gehabt: Das wird nicht wieder vorkommen. Ich bitte Sie um Verzeihung, auf den Knieen. Sie werden leben bleiben und zwar bei uns und noch recht lange. Wir nehmen Sie wieder mit. Wir sind unsrer zwei, die fortan nur einen Gedanken haben werden, dafür zu sorgen, daß Sie sich glücklich fühlen.«

»Du siehst, Vater,« sagte Cosette, die in Thränen schwamm, »Marius sagt, Du wirst nicht sterben.«

Jean Valjean fuhr fort zu lächeln.

»Wenn Sie mich auch wieder in Ihr Haus aufnehmen würden, Herr Baron, ich würde ja doch bleiben, was ich bin. Nein, Gott hat wie Sie und ich entschieden und er ändert seinen Willen nicht; es ist gut, daß ich von hinnen gehe. Der Tod hilft über alle Schwierigkeiten hinweg, Gott weiß besser als wir, was wir brauchen. Daß Ihr glücklich seid, daß Pontmercy Cosette hat, daß die Jugend sich mit dem Morgen vermählt, daß Euch, liebe Kinder, Lilien und Nachtigallen umgeben, daß Euer Leben ein schöner, sonniger Garten sei, daß alle Himmelswonnen Eure Seele erfüllen, und daß ich, der nichts mehr nützen kann, jetzt sterbe, das gehört sich zweifelsohne. Laßt Euch zureden, Kinder. Wir müssen vernünftig sein; es ist nichts mehr zu machen; ich fühle, daß es mit mir zu Ende geht. Vor einer Stunde hatte ich eine Ohnmacht. Und diese Nacht habe ich den ganzen Wasserkrug da ausgetrunken. Wie gut Dein Mann ist, Cosette! Du bist bei ihm weit besser aufgehoben, als bei mir.«

In diesem Augenblick ließ sich an der Thür ein Geräusch vernehmen. Es war der Arzt.

»Guten Tag und Lebewohl, Herr Doktor,« sagte Jean Valjean. »Dies sind meine armen Kinder.«

Marius trat an den Arzt heran und sagte bloß: »Herr Doktor?« Aber die Art, wie er diese Worte aussprach, kam einer ausführlichen Frage gleich.

Der Arzt beantwortete die Frage mit einem bedeutungsvollen Blick.

»Daß die Dinge uns nicht gefallen,« sprach Jean Valjean, »ist kein Grund, gegen Gott ungerecht zu sein.«

Es trat eine Pause ein. Alle fühlten sich beklommen.

Jean Valjean wandte sich wieder nach Cosette hin und betrachtete sie so innig, als wollte er für die Ewigkeit sich satt an ihr sehen. So tief er auch schon in die Nacht des Grabes hinabgestiegen war, noch konnte in seinem blassen Antlitz Freude aufleuchten, wenn er Cosette betrachtete.

Der Arzt befühlte ihm den Puls.

»Also Sie brauchte er!« murmelte er mit einem Blick auf Marius und Cosette.

Und indem er sich zu Marius hinneigte, flüsterte er:

»Zu spät!«

Jean Valjean sah, indem er nur wenig den Blick von Cosette abwandte, Marius und den Arzt mit heitrer Seelenruhe an. Aus seinem Munde kamen die schwach artikulierten Worte:

»Sterben ist nichts; nicht leben ist schrecklich.«

Auf ein Mal erhob er sich von seinem Sitze. Solch eine Rückkehr der Körperkraft ist bisweilen ein Zeichen, daß der Todeskampf schon begonnen hat. Er trat festen Schrittes an die Wand, schob Marius und den Arzt, die ihn stützen wollten, bei Seite, hakte das kleine Krucifix von der Wand los, kam zu seinem Stuhl mit der ganzen Bewegungsfreiheit der Gesundheit zurück und sagte, indem er das Krucifix auf den Tisch legte, mit lauter Stimme:

»Der hier ist der größte aller Märtyrer!«

Dann sank seine Brust ein, der Kopf schwankte und seine beiden Hände, die auf seinen Knieen ruhten, gruben sich in das Tuch seiner Beinkleider ein.

Cosette stützte ihm die Schultern und schluchzte. Vergebens bemühte sie sich, zu ihm zu sprechen. Kaum daß der Speichel, der mit den Thränen zugleich fließt, einige ihrer Worte unterscheiden ließ: »Vater, verlaß uns nicht. Ist es denn möglich, daß wir Dich nur dazu wiederfinden, um Dich zu verlieren?«

Man könnte sagen, daß der Todeskampf eine geschlängelte Linie beschreibt. Er geht, kommt, rückt nach dem Grabe vor und kehrt zum Leben zurück. Beim Sterben tastet sich der Mensch nach dem Totenreich hin.

Nach dieser halben Ohnmacht gewann Jean Valjean wieder etwas Kraft, bewegte den Kopf, als wolle er die Todesfinsterniß abschütteln und gelangte beinah wieder in den Vollbesitz seines Verstandes. Er griff nach Cosettens Aermel und küßte ihn.

»Er kommt wieder zu sich, Herr Doktor!« rief Marius.

»Ihr seid Beide gut,« sagte Jean Valjean. »Ich will Euch gestehen, was mich geschmerzt hat. Nämlich, daß Sie, Herr Baron, nicht das Geld anrühren wollen. Es gehört wirklich Ihrer Frau. Ich will Euch erklären, wie das zusammenhängt; eben deswegen freue ich mich so, daß Ihr gekommen seid. Der schwarze Jet kommt aus England, der weiße aus Norwegen. Das steht alles in dem Brief da, den Ihr lesen werdet. Was die Armbänder betrifft, so habe ich die Erfindung gemacht, daß die blechernen, gelötheten Schieber durch bloß angefügte ersetzt werden können. Das ist hübscher, besser und wohlfeiler. Ihr begreift, daß man damit viel Geld verdienen kann. Cosettens Vermögen ist also wirklich ihr Eigenthum. Ich erkläre Euch die Sache so ausführlich, damit Ihr Euch beruhigt.«

Mittlerweile war auch die Portierfrau beraufgekommen und sah durch die halb offne Thür herein. Der Arzt winkte sie weg, konnte es aber nicht verhindern, daß die gute Frau in ihrem Eifer noch eine Frage an den Sterbenden richtete:

»Wollen Sie, daß ich einen Geistlichen hole?«

»Es ist schon einer da!« antwortete Jean Valjean und wies mit dem Finger auf einen Punkt über seinem Kopfe, wo wohl Jemand über ihm schwebte, der Bischof.

Cosette schob ihm sanft ein Kissen hinter den Rücken.

Jean Valjean fuhr fort:

»Herr Baron, ich beschwöre Sie, seien Sie ohne Furcht. Die sechshunderttausend Franken sind wirklich Cosettens Eigenthum. Mein Leben wäre ja verloren, wenn Ihr von dem Gelde keinen Gebrauch machen wolltet. Es war uns gelungen, die betreffenden Glaswaaren sehr gut herzustellen. Wir konnten es mit der Berliner Fabrikation aufnehmen. Allerdings gegen das schwarze Glas aus Deutschland kommt nichts auf. Ein Groß, das zwölfhundert Perlen enthält, kostet nur drei Franken.«

Wenn ein Wesen, das uns theuer ist, im Sterben liegt, sehen wir es mit einem Blick an, der sich an ihn anklammert und ihn zurückhalten möchte. Stumm vor Angst, verzweifelt und zitternd, standen Beide vor ihm, indem sie sich bei der Hand hielten.

Allmählich wurde Jean Valjean schwächer. Sein Athem war ungleichmäßig und wurde durch das Todesröcheln unterbrochen. Es ward ihm schwer, seinen Vorderarm auf eine andre Stelle zu legen, die Füße hatten alle Bewegungsfähigkeit verloren und während das körperliche Elend zunahm, stieg die Majestät der Seele empor und entfaltete sich auf seiner Stirn. Schon war das Licht der unbekannten Welt in seinem Auge zu sehen.

Sein Gesicht war fahl und lächelte. Das Leben war daraus entwichen, dafür thronte darauf etwas Anderes. Stockte sein Athem, so strahlte sein Auge in überirdischer Klarheit.

Er winkte Cosette und dann Marius, näher zu treten; – offenbar war jetzt die letzte Minute der letzten Stunde gekommen – und sprach zu ihnen mit so matter Stimme, als läge schon jetzt eine Mauer zwischen ihnen und ihm.

»Tritt näher, tretet Beide näher. Ich liebe Euch sehr. O, so zu sterben ist schön! Auch Du, Cosette, liebst mich. Ich wußte ja, daß Du Deinen guten Alten immer gern hattest. Wie freundlich von Dir, daß Du mir das Kissen unter das Kreuz gelegt hast! nicht wahr? Du wirst ein wenig um mich weinen? Nicht zu viel. Ich will nicht, daß Du wahren Kummer hast. Ihr sollt Euch tüchtig amüsiren. Ich habe noch vergessen, Euch zu sagen, daß man an den Schnallen ohne Dorne noch mehr verdiente, als an den andern Sachen. Das Gros, also zwölf Dutzend kam auf zehn Franken zu stehen und wurde mit sechzig Franken bezahlt. Es war wirklich ein sehr einträgliches Geschäft. Sie dürfen Sich also nicht wundern, Herr Baron, daß sechshunderttausend Franken dabei herauskommen konnten. Es ist ehrlich verdientes Geld. Ihr könnt also Euern Reichthum in Ruhe genießen. Ihr müßt Euch eine Equipage halten, von Zeit zu Zeit ins Theater gehen, schöne Balltoiletten anschaffen, liebe Cosette, und gute Freunde zum Diner einladen, kurz, das Leben genießen. Vorhin schrieb ich an Cosette. Sie wird den Brief auf dem Tisch finden. Ihr vermache ich die beiden Leuchter, die auf dem Kaminsims stehen. Die sind von Silber; aber für mich sind sie von Gold, von Diamanten. Ich weiß nicht, ob Derjenige, der sie mir geschenkt hat, da oben mit mir zufrieden ist. Ich habe gethan, was ich konnte. Liebe Kinder, vergeßt nicht, daß ich ein armer Mann bin, und laßt mich in dem ersten besten Winkel begraben, unter einem Stein, um die Stelle zu bezeichnen. Dies ist mein Wille. Keinen Namen auf den Stein setzen lassen. Wenn Cosette bisweilen kommen will, so soll es mich freuen. Sie auch, Herr Baron. Ich muß Ihnen gestehen, daß ich nicht immer ein Freund von Ihnen gewesen bin; ich bitte Sie deswegen um Verzeihung. Jetzt seid Ihr Beide für mich nur eine Person. Ich bin Ihnen sehr dankbar. Ich sehe ja, daß Sie Cosette glücklich machen. Wenn Sie wüßten, wie mich ihre schönen, rosigen Bäckchen freuen; wenn sie blaß aussah, machte ich mir immer Sorgen. In der Kommode liegt ein Fünfhundertfrankenschein. Ich habe ihn nicht angerührt. Der ist für die Armen. Cosette, siehst Du das Kleidchen da auf dem Bett? Erkennst Du's? Es ist bloß zehn Jahre her. Wie schnell die Zeit vergeht! Wir sind recht glücklich gewesen. Es ist vorbei mit mir. Weint nicht, Kinder, ich gehe nicht weit. Ich werde Euch von dort aus sehen, Ihr braucht blos des Nachts hinzusehen, so werde ich Euch zulächeln. Cosette, besinnst Du Dich noch auf Montfermeil? Du warst im Walde und fürchtetest Dich so sehr; erinnerst Du Dich, wie ich Dir den Eimer abgenommen habe? Es war das erste Mal, daß ich Dein armes, liebes Händchen berührte. Es war recht kalt. Ja ja, Fräulein, Sie hatten damals ganz rothe Hände; jetzt sind sie hübsch weiß. Und die große Puppe! Denkst Du noch an die? Du nanntest sie Kathrine. Es that Dir leid, daß Du sie nicht ins Kloster mitgenommen hattest. Wie oft habe ich über Dich lachen müssen, mein Engel! Wenn es geregnet hatte, warfst Du Strohhalme in die Rinnsteine und sahst ihnen nach. Einmal schenkte ich Dir ein Rackett aus Weidengeflecht und einen Ball mit gelben, blauen, und grünen Federn. Du hast es vergessen. Du warst so schelmisch, als Du klein warst. Du spieltest so niedlich, Du hängtest Dir Kirschen über die Ohren. Doch das sind Dinge, die der Vergangenheit angehören. Die Wälder, durch die man mit seinem Kind gewandert ist, die Alleen, wo man spazieren gegangen ist, die Klöster, in denen man sich verborgen gehalten hat, die lustigen Spiele der Kindheit sind Schattenbilder. Ich bildete mir ein, das gehörte mir Alles, So weit verirrte sich meine Dummheit. Die Thénardiers sind sehr schlecht gewesen. Du mußt ihnen verzeihen, Cosette. Jetzt will ich Dir auch endlich den Namen Deiner Mutter sagen: Sie hieß Fantine. Behalte ja diesen Namen, mein Kind! Kniee jedes Mal nieder; wenn Du den Namen aussprichst. Sie hat viel erduldet. Und Dich sehr geliebt. Sie hat so viel Unglück gehabt, wie Du Glück hast. So vertheilt Gott seine Gaben. Er ist dort oben, sieht uns Alle und weiß, was er in seinem Sternenhimmel thut. Jetzt werde ich also von hinnen gehen, liebe Kinder. Habt Euch ja immer recht lieb. Weiter giebt es nichts Gutes auf der Welt als die Liebe. Denkt zuweilen an den armen Alten, der hier gestorben ist. O meine Cosette, es ist nicht meine Schuld, wenn ich Dich die ganze Zeit über nicht besucht habe. Es zernagte mir das Herz. Ich ging bis an die Ecke der Straße. Was die Leute wohl über mich gedacht haben mögen, wenn sie mich vorbeigehen sahen! Ich war wie irrsinnig; das eine Mal bin ich ohne Hut ausgegangen. Liebe Kinder, meine Augen werden trübe; ich hätte Euch wohl noch Einiges zu sagen; aber das kann auch bleiben. Denkt ein bischen an mich. Ihr seid Kinder des Glücks. Ich weiß nicht, wie mir ist; ich sehe Licht. Kommt noch näher. Ich sterbe zufrieden. Haltet mir Eure lieben Köpfe her, daß ich meine Hände darauf lege.«

Cosette und Marius fielen auf die Kniee, fassungslos vor Schmerz, und legten Jedes den Kopf auf eine Hand des Sterbenden. Diese edlen Hände bewegten sich nicht mehr.

Rückwärts gelehnt, vom Licht der beiden Leuchter bestrahlt saß er da; sein weißes Gesicht sah himmelwärts; er ließ Cosette und Marius seine Hände mit Küssen bedecken; er war tot.

Kein Stern erhellte die dunkle Nacht. Unzweifelhaft stand ein Engel draußen mit ausgebreiteten Flügeln und wartete auf die Seele.

VI.
Der Grabstein

Auf dem Kirchhof des Père-Lachaise, unweit der gemeinsamen Totengrube, fern von dem feinen Viertel dieser Gräberstadt, fern von den luxuriösen Denkmälern, die Angesichts der Ewigkeit widerwärtigen Modeprunk entfalten, in einem stillen Winkel an der alten Mauer, unter einem großen Eibenbaum, an dem Winden neben Quecken und Moosen emporsteigen, sieht man einen Grabstein. Er ist wie alle andern Steine vom Zahn der Zeit nicht verschont geblieben, ist mit Schimmel, Flechten und Vogelmist bedeckt. Das Wasser macht ihn grün, die Luft schwärzt ihn. Kein Pfad führt dorthin und man geht nicht gern nach jener Gegend, weil das Gras dort sehr hoch steht und man gleich nasse Füße bekommt. Wenn die Sonne scheint, tummeln sich da die Eidechsen. Rings herum wallen im Winde Halme von Taubhafer. Im Frühling singen die Grasmücken auf dem Baum.

Der Stein ist ganz kahl. Man hat, als er behauen wurde, nur an das Allernothwendigste gedacht und ihn nur gerade so breit und so lang gemacht, daß er den Leichnam eines Mannes bedecken konnte.

Es steht kein Name auf diesem Stein.

Indessen hat eine unbekannte Hand vor langen Jahren ein paar Verse darauf gekritzelt, die Regen und Staub verwischt haben, und die heute wahrscheinlich ausgelöscht sind:

    Der hier in Frieden ruht
Errang, verfolgt vom Leid in tausendfältiger Gestalt
Sich stets aufs Neu des Lebens zweifelhaftes Gut.
Doch als sein guter Engel von ihm wich,
Des Lebens Sonne ihm erblich,
Erlag er jäh des Schicksals feindlicher Gewalt.


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