Victor Hugo
Die Elenden. Dritter Theil. Marius
Victor Hugo

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Fünftes Buch. Die Vortheile des Unglücks

I.
Marius im Elend

Das Leben zeigte nun unserm Marius ein sehr böses Gesicht und erlaubte ihm bald nur am Hungertuche zu nagen. Merkwürdig, was man Alles in solch einem Tuch eingewickelt finden kann! Tage ohne Brod, schlaflose Nächte, Abende ohne Beleuchtung, Mangel an Heizmaterial, Arbeitslosigkeit, eine hoffnungslose Zukunft, Löcher am Ellbogen, schäbige Kleider, über die sich die lieben Nächsten mokiren, Exmittirungen, weil man seine Miethe nicht bezahlt hat, unverschämte Bemerkungen des Portiers und Restaurateurs, Demütigungen, Kompromisse mit dem Ehrgefühl, Bereitwilligkeit die unwürdigsten Beschäftigungen zu übernehmen, Lebensüberdruß, Bitterkeit, Verzweiflung. Dies Alles lernte Marius herunterschlucken, sintemalen er sonst absolut nichts zu schlucken hatte. In jenen Jahren, wo der Mensch der Selbstachtung und Eitelkeit nicht entrathen kann, weil er der Liebe bedarf, fühlte er sich zurückgesetzt, weil er schlecht gekleidet, und lächerlich, weil er arm war. In dem Alter, wo die Jugend das Herz mit einem Kaiserstolz schwellt, fielen seine Augen so manches Mal auf seine zerrissenen Stiefel und er lernte die unverdiente Schmach und die peinliche Scham des Elends kennen. Eine herrliche und furchtbare Probe, aus der die schwachen als Schurken, die Starken als Helden hervorgehen; ein Schmelztiegel, in den das Schicksal einen Menschen wirft, wenn es einen Lump oder einen Halbgott braucht.

Denn in kleinlichen Kämpfen werden oft herrliche Großthaten vollbracht. Es giebt so manchen Tapfern, der sich hartnäckig gegen den heftigen Ansturm der Entbehrungen und Erbärmlichkeiten vertheidigt; herrliche Triumphe, die kein Lob, kein Ruhm, kein Trompetentusch belohnt. Die Armuth, die Vereinsamung sind Schlachtfelder, die auch ihre Helden haben, unbekannte Helden, die aber mehr Seelengröße besitzen, als mancher berühmte Held.

Gegen charakterfeste Ausnahmemenschen erweist sich die Armuth, die gegen alle Andern eine Stiefmutter ist, als eine richtige, gütige Mutter; sie stärkt sie, macht sie stolzer und hochsinniger.

Es kam in dem Leben unseres Marius eine Zeit, wo er selber seinen Flur fegte, wo er sich mit einem Stückchen Käse einen Tag über behelfen mußte, wo er bis zur Dämmerung wartete, um sich wie ein Dieb zum Bäcker zu schleichen und ein Brödchen zu kaufen. Bisweilen sah man in dem Schlächterladen an der Ecke neben den Köchinnen, die ihn mit spöttischen Blicken musterten, einen linkischen, jungen Mann, der blöde und wüthend zugleich aussah, beim Eintritt in den Laden den Hut von seiner erhitzten Stirn abnahm, sich vor der erstaunten Schlächterfrau und abermals vor dem Gesellen tief verneigte, ein Hammelkotelett für sechs bis sieben Sous kaufte, es in Papier gewickelt zwischen die Bücher steckte, die er unter dem Arm trug und davonging. Es war unser Freund Marius. Von diesem Kotelett, das er sich selber briet, lebte er drei Tage lang.

Am ersten Tage aß er das Fleisch, am zweiten das Fett, am dritten nagte er die Knochen ab.

Tante Gillenormand machte zu verschiedenen Malen Versuche, ihn zur Annahme der sechszig Pistolen zu bewegen, aber immer vergeblich. Marius schrieb ihr immer, er brauche nichts.

Zu der Zeit, wo er das Haus seines Großvaters verlassen hatte, um ins Elend zu gehen, trug er noch die Trauerkleidung, die er zu Ehren seines Vaters angelegt hatte. Diese schwarzen Kleider behielt er noch lange nach der Beendigung der Trauerzeit, bis er sich wohl oder übel bequemen mußte, ihnen den wohlverdienten Abschied zu geben. Es kam der Tag, wo er sich nicht mehr mit seinem Rock auf die Straße wagte, während die Hose allerdings noch tragbar war. Was thun? Courfeyrac, dem er seinerseits verschiedene Gefälligkeiten erwiesen hatte, schenkte ihm einen alten Rock. Diesen ließ Marius von einem in dem Schneiderhandwerk einigermaßen bewanderten Portier wenden, so daß sich das Kleidungsstück als neu aufspielen konnte. Schade, daß es ein grüner Rock war. Aber Marius wußte sich zu helfen. Er ging immer erst, wenn es dunkel geworden war, aus. Auf die Weise sah, wie bei Nacht alle Katzen grau sind, Marius Rock schwarz aus, so daß er seinen Wunsch, stets Trauerkleidung zu tragen, befriedigen konnte.

Trotz all der Noth, die er durchmachen mußte, bestand er seine Examina und wurde in den Advokatenstand aufgenommen. Da er das »vorschriftsmäßige anständige Zimmer« nicht besaß, so wurde fingirt, daß er bei Courfeyrac wohne, der auch die nothwendige juristische Bibliothek besaß. Nach Courfeyrac's Hotel ließ er auch alle seine Briefe adressiren.

Als Marius Advokat geworden, theilte er dies seinem Großvater in einem steifen, aber höflichen und korrekten Briefe mit. Gillenormand nahm zitternd den Brief in Empfang, las ihn, zerriß ihn dann in vier Stücke und warf ihn in den Papierkorb. Zwei oder drei Tage nachher hörte ihn dann Fräulein Gillenormand laut sprechen, ein Zeichen, daß er in heftiger Erregung war. Sie lauschte und vernahm die Worte: »Wenn Du kein Dummkopf wärest, würdest Du wissen, daß man nicht zugleich Baron und Advokat sein kann.

II.
Marius Armuth nimmt ab

Es ist mit dem Elend, wie mit manchen andern Dingen. Man lebt sich hinein, es nimmt eine erträgliche Form an. Man vegitirt freilich nur, d. h. man entwickelt sich in einer kümmerlichen Weise, wobei aber doch das Leben noch möglich ist. Im Laufe der Zeit richtete sich Marius Pontmercy folgendermaßen ein.

Er brachte endlich die schmälste Stelle des Engpasses, den er zu durchwandern hatte, hinter sich und konnte jetzt, dank seiner großen Willenskraft, seinem rastlosen Fleiße, ungefähr sieben hundert Franken das Jahr verdienen. Er hatte deutsch und englisch gelernt und arbeitete, nachdem ihn Courseyrac mit seinem Freunde in Verbindung gesetzt, für Verlagsbuchhandlungen. Er verfaßte Prospekte, übersetzte Zeitungsartikel, schrieb Anmerkungen zu Bücherausgaben, kompilirte Biographieen u. s. w. Von dem Ertrage dieser Arbeiten konnte er einigermaßen leben. Nämlich auf folgende Weise:

Marius bewohnte in dem Gorbeauschen Hause für dreißig Franken pro Jahr einen kaminlosen Raum, der sich Kabinett schimpfte und an Mobiliar nur das Allerunentbehrlichste enthielt. Diese Möbel gehörten ihm. Ferner bekam die Vizewirtin drei Franken pro Monat, damit sie seine Bude fegte und ihm jeden Morgen etwas warmes Wasser, ein frisches Ei und für einen Sou Brod heraufbrachte. Das Brod und das Ei aß er zum Frühstück und gab dafür, je nachdem die Eier wohlfeil oder theuer waren, je zwei bis vier Sous aus. Um sechs Uhr Abends begab er sich nach der Rue Saint-Jacques und speiste bei Rousseau, Basset gegenüber, dem Kupferstichhändler, dessen Laden an der Ecke der Rue des Mathurins liegt. Auf die Suppe verzichtete er, aß ein Gericht Fleisch für sechs Sous, eine halbe Portion Gemüse für drei Sous, ein Dessert für drei Sous. Für drei Sous gab es dann noch so viel Brod, wie man essen wollte. Als Getränk diente ihm Gänsewein. Wenn er dann am Ladentisch, hinter dem die dicke und damals noch gut konservirte Frau Rousseau thronte, seine Rechnung bezahlte, gab er noch einen Sou Trinkgeld für den Kellner und erhielt von Frau Rousseau ein freundliches Lächeln. Dann ging er seiner Wege, für sechzehn Sous einmal gespeist und einmal angelächelt.

Dieses Restaurant Rousseau, das heute nicht mehr existirt, erfreute sich übrigens, weil man daselbst viel Karaffen Wasser und wenig Flaschen Wein konsumirte, also Nerven und Geldbeutel in gleicher Weise schonte, einer gewissen Berühmtheit. Sein Besitzer hatte einen schönen Spitznamen; man nannte ihn allgemein den Wasser-Rousseau.

Also Frühstück – vier Sous, Abendessen – sechzehn Sous. Macht zwanzig Sous täglich für die Nahrung und dreihundertfünfundsechzig Franken das Jahr. Dazu die dreißig Franken Miethe, sechsunddreißig für Aufwartung und einige kleinere Ausgaben, so daß Lebensunterhalt, Wohnung und Bedienung sich auf vierhundertfünfzig Franken beliefen. Die Kleider kosteten ihm hundert, die Leibwäsche fünfzig Franken, die Waschfrau bekam fünfzig Franken. Summa Summarum nicht mehr als sechshundertfünfzig Franken. Es blieben ihm also noch fünfzig Franken, so daß er reich war und im Stande, Geld zu verborgen. So konnte Courfeyrac einmal fünfzig Franken von ihm leihen. Was die Heizung betrifft, so fiel dieser Posten weg, da er ja keinen Kamin hatte.

Marius besaß jetzt auch zwei vollständige Anzüge, einen alten, abgetragenen für gewöhnlich, und einen neuen für besondere Gelegenheiten. Beides waren schwarze Anzüge. Hemden hatte er nur drei, eins, das er auf dem Leibe trug; ein zweites lag in der Kommode; das dritte war bei der Waschfrau. Gewöhnlich waren sie entzwei, so daß er sich genöthigt sah, seinen Rock stets bis oben zuzuknöpfen.

Um so in Floribus leben zu können, hatte es jahrelanger unermüdlicher Arbeit und eiserner Konsequenz bedurft. Marius hatte sich auch nie der geringsten Schwäche schuldig gemacht, alle Entbehrungen geduldig auf sich genommen, alles gethan, was seine Lage erheischte, ausgenommen, daß er keine Schulden gemacht hatte. Geld schulden galt ihm als der Anfang der Knechtschaft. Ein Gläubiger, dachte er, ist schlimmer als ein Herr; dieser hat ja nur den Körper seines Sklaven in seiner Gewalt, ein Gläubiger kann auch unserer Würde zunahe treten. Ehe er Geld borgte, aß er sich lieber nicht satt, und auf diese Weise war er oft dazu gekommen, fasten zu müssen. In dem Bewußtsein, daß alle Extreme sich berühren und Armuth eine niedrige Gesinnung erzeugen kann, wachte er strenge darüber, daß er nie seiner Würde und Ehre das Geringste vergab. Manche Redewendung oder Handlung, die ihm in jeder andern Lebenslage als eine nichtssagende Höflichkeit erschienen wäre, unterließ er, weil sie ihm wie eine Speichelleckerei vorkam, und da er alle abschlägigen Antworten über die Maßen fürchtete, so war er, um nicht zudringlich zu scheinen, auch übertrieben blöde und zurückhaltend in seinem Wesen.

Die geheime Kraft, die er in sich verspürte, genügte auch vollauf, ihm Mut einzuflößen und ihn durch alle Prüfungen glücklich hindurchzutragen. Die Seele hilft dem Körper und hebt ihn sogar in gewissen Nöthen hoch empor. Sie gleicht nicht dem Vogel, der seinen Käfig nicht tragen kann.

Neben dem Namen seines Vaters stand noch in Marius Herzen ein anderer, Thénardiers, geschrieben. Schwärmerisch veranlagt wie er war, und stets geneigt, Illusionen für Wirklichkeiten zu halten, umgab er in Gedanken den unerschrocknen Sergeanten, der, wie er meinte, seinen Vater bei Waterloo aus dem Kugelregen herausgetragen hatte, mit einem Glorienschein. Wenn er an seinen Vater dachte, gesellte sich zu dieser Erinnerung stets der Name Thénardier, und neben dem großen Altar, den er in seinem Herzen dem Oberst errichtet hatte, stand ein kleinerer, der dem treuen Diener des Helden gewidmet war. Mit diesem Dankgefühl paarte sich noch mitleidige Rührung, seitdem er erfahren hatte, daß Thénardier von schwerem Unglück betroffen war. Er hatte auch Versuche genug gemacht, die verlorne Spur des bankerotten Gastwirts wieder aufzufinden, alle Ortschaften in der Nähe von Montfermeil durchstreift und abgesucht. Aber so hartnäckig er auch dieses Ziel verfolgte, und obgleich er seine geringen Ersparnisse dabei daraufgehen ließ, niemand konnte ihm sagen, was aus Thénardier geworden war. Nur glaubte man allgemein, er sei ausgewandert. Auch seine Gläubiger hatten ihm nachgeforscht, nicht mit so liebevoller Gesinnung wie Marius, aber ebenso hartnäckig, und hatten seiner nicht habhaft werden können. Marius war beinahe ärgerlich auf sich selber, daß er den Verschollenen nicht finden konnte. Blieb doch in Folge dessen die einzige Schuld, die der Oberst hinterlassen, und deren Bezahlung Marius für eine Ehrenpflicht hielt, unbezahlt. – »Als mein Vater,« dachte er, »auf dem Schlachtfeld blutete, hat Thénardier den Weg zu ihm zu finden verstanden; durch den Pulverdampf und von Kugeln umsaust, hatte er ihn auf den Schultern getragen, ohne daß er dazu verpflichtet war, und ich, der ich Thénardier zu so vielem Dank verpflichtet bin, ich sollte ihn nicht aus dem Elend retten, in dem er langsam zu Grunde geht, ihn nicht dem Glück, dem Leben wiedergeben können! Das wäre!« In der That hätte Marius, um Thénardiers Aufenthaltsort zu ermitteln, seinen rechten Arm und um ihn aus dem Unglück herauszuhelfen, all sein Blut hingegeben. Thénardier finden, Thénardier irgend einen Dienst erweisen, ihm sagen: »Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie! Verfügen Sie über mich!« war Marius lieblichster und herrlichster Traum.

III.
Marius als Mann

Zu jener Zeit hatte Marius das zwanzigste Lebensalter vollendet. Es waren also drei Jahre verstrichen, seitdem er seinen Großvater verlassen hatte. Die Beziehungen zwischen den beiden waren dieselben geblieben. Keiner von Beiden hatte sich zu einer Annäherung herabgelassen, Keiner den Andern aufgesucht. Es wäre auch zwecklos gewesen. Marius war ein eherner, Gillenormand ein eiserner Kopf. Sie konnten nicht neben einander gehen, ohne sich gegenseitig zu stoßen und zu verletzen.

Indessen muß zugegeben werden, das Marius seinem Großvater in einer Hinsicht Unrecht that. Er bildete sich ein, Gillenormand habe ihn nie lieb gehabt; höchstens hätte der kurz angebundene, schroffe Alte, der ewig schimpfte, fluchte, wetterte, mit dem Stock drohte, eine ganz oberflächliche, jeglicher Einsicht und Nachsicht unfähige Zuneigung für ihn empfunden. Darin aber, wie gesagt, irrte sich Marius. Es giebt Väter, die gegen ihre Kinder gleichgiltig sind; aber keinen Großvater, der nicht seinen Enkel abgöttisch liebt. Auch Gillenormand liebte Marius, allerdings auf seine Weise, indem er ihn verschwenderisch mit Schimpfreden und sogar mit Püffen und Maulschellen regalirte; aber als der Liebling nicht mehr da war, fühlte der Alte eine grausige Leere in seinem Herzen. Er befahl ja wohl, daß man ihn nie erwähnen solle; bedauerte aber im Grunde seines Herzens, daß man ihm gehorchte. Anfangs hoffte er auch, der Buonapartist, der Jakobiner, der Terrorist, der Blutmensch werde kommen und klein beigeben. Aber es verging Woche auf Woche, Monat auf Monat und ein Jahr nach dem andern, ohne daß – zu Gillenormand's Verzweiflung – der »wüthige Bengel« sich sehen ließ. »Ich konnte aber doch nicht anders, ich mußte ihn aus dem Hause jagen!« dachte er, fügte aber im Geheimen hinzu: »Ob ich es noch einmal thäte?« Sein Eigensinn antwortete dann sofort: »Ja.« Aber dabei schüttelte er traurig seinen alten Kopf und sagte schließlich: »Nein.« Er hatte Stunden, wo er ganz niedergeschlagen war, weil er Marius schmerzlich vermißte. Greise bedürfen ja der Liebe so gut, wie der Sonnenwärme. So stark und energisch seine Natur war, Marius Abwesenheit hatte ihn umgewandelt. Um nichts in der Welt wollte er dem »Schlingel« nachgeben; aber die Sache ging ihm sehr nahe. Er erkundigte sich nie nach ihm, dachte aber immerfort an ihn. Er lebte jetzt mehr und mehr von jeglichem gesellschaftlichen Verkehr abgeschieden, und war, wie ehedem zu Spaß aufgelegt und zum Jähzorn geneigt; aber seine Heiterkeit hatte etwas Gewaltsames, Krampfhaftes, und seine Zornanfälle gingen stets in milde und schwächliche Traurigkeit über. – »Möchte er doch wiederkommen!« rief er manchmal aus, »damit ich ihm mal eine gehörige Ohrfeige herunterhauen könnte!«

Was die Tante anbelangt, so dachte sie zu wenig, als daß sie einer großen Liebe hätte fähig sein können. Marius Bild verblaßte bald in ihrer Seele, und ihre Gedanken beschäftigten sich weniger mit ihm, als mit ihrer Katze oder ihrem Papagei.

Vater Gillenormand's geheime Betrübniß wurde noch dadurch gesteigert, daß ungeschickte Vermittler das Gespräch auf Marius bringen wollten und fragten: »Was macht Ihr Herr Enkel?« – Aber dann antwortete der Alte nur: »Ich weiß nicht, wo der Herr Baron und Rabulist Pontmercy steckt.« Und dabei seufzte er, wenn er allzu trübsinnig war, oder knippste ein Stäubchen von seinem Rocke, wenn er sich den Anschein der Heiterkeit geben wollte.

Während der Greis Reue empfand, freute sich Marius darüber, daß sie sich von einander getrennt hatten. Wie alle guten Menschen, hatte auch ihn das Unglück von Bitterkeit befreit. Er hegte jetzt gegen Gillenormand nur Gedanken der Milde, war aber fest entschlossen, nichts mehr von dem Mann anzunehmen, der sich gegen seinen Vater so schlecht benommen. Soweit hatte sich jetzt seine erste Entrüstung abgeschwächt. Außerdem war er glücklich darüber, daß er schweres Unglück durchgemacht hatte und noch durchmachte. Litt er doch gern aus Liebe zu seinem Vater! Er sagte sich mit einer Art Freude, dies sei eine – noch sehr geringe – Buße, die er zu leisten schuldig sei; sonst würde er später eine weit härtere Strafe zu erdulden haben, dafür, daß er gegen seinen Vater, einen so trefflichen Vater, gleichgültig und pietätlos gehandelt habe. Es wäre nicht recht gewesen, wenn sein Vater immerfort und er niemals Leiden durchgemacht hätte, ganz abgesehen davon, daß seine Anstrengungen und Entbehrungen nicht im Entferntesten mit denen seines heldenmüthigen Vaters verglichen werden konnten. Endlich glaubte er, das einzige Mittel der Tüchtigkeit seines Vaters nahe zu kommen, bestände darin, daß er tapfer gegen das Elend sein müsse, wie Jener muthig auf dem Schlachtfeld war. Dies sei gewiß die Bedeutung der Aeußerung gewesen, die der Oberst über ihn gethan: »Er wird sich dieses Titels würdig zeigen,« Worte, die Marius noch im Herzen trug, nachdem die schriftliche Aufzeichnung seines Vaters längst verloren gegangen war.

Ferner war er damals, als sein Großvater ihn aus dem Hause gejagt, nicht viel besser als ein Kind; jetzt aber ein gereifter Mann und dessen war er sich bewußt. Auf edel veranlagte Jünglinge übt die Armuth die schöne Wirkung aus, daß sie ihren Willen zu den energischsten Anstrengungen, ihre Seele zu den höchsten Bestrebungen begeistert. Die Armuth zeigt das materielle Leben in seiner ganzen Blöße und Häßlichkeit und verweist uns auf die Ideale. Ein reicher, junger Mann hat vielerlei glänzende, geräuschvolle, rohe Zerstreuungen, Pferderennen, die Jagd, die Hunde, den Tabak, das Spiel, gutes Essen und Trinken u. s. w., alles Befriedigungen der unedlen Triebe auf Kosten der besseren, feineren. Der arme junge Mann muß sich anstrengen, um sein Brod zu verdienen, und hat er seinen Hunger gestillt, so bleibt für ihn kein anderes Vergnügen übrig, als seine Phantasie zu tummeln, seinen Gedanken nachzuhängen. Er besucht dann die unentgeltlichen Schauspiele, die Gott ihm zur Verfügung stellt; betrachtet den Himmel, den Raum, die Gestirne, die Blumen, die Kinder, die Menschheit, als deren Mitglied er dulden muß, die Schöpfung, zu deren Zierden er gehört. So innig betrachtet er die Menschheit, daß er endlich die Seele, so innig die Schöpfung, daß er Gott schauen lernt. Er sinnt und denkt, da gelangt er zu dem Bewußtsein, daß er ein höher begabtes Wesen ist; sinnt und denkt er noch länger, so wird ihm die Einsicht zu Theil, daß die Liebe herrlicher ist als alle Vernunft. Von der Ichsucht des Unglücklichen geht er über zu dem verständnißvollen Mitgefühl des Denkers. Er vergißt sich und lernt Mitleid gegen Alle empfinden. Angesichts der zahllosen Genüsse, welche die Natur den offenen Gemüthern anbietet und schenkt, den erschlossenen aber verweigert, bedauert er, ein Millionär an Verstand, die Millionäre des Geldes. Der Haß zieht aus seinem Herzen aus in dem Maße, wie die Einsicht ihn erhellt. Ist er denn übrigens auch wirklich so unglücklich? O nein! Das Elend eines Jünglings ist kein Elend. So arm er auch sein mag, der reichste und vornehmste Greis beneidet ihn um seine Gesundheit, seinen lebhaften Gang, seine hellen Augen, sein warmes, rasches Blut, sein ungebleichtes Haar, seine vollen Backen, seine rosigen Lippen, seine weißen Zähne, seinen reinen Athem. Und während er Tag für Tag um sein Brot arbeitet, wird sein Rückgrat grader, sein Hirn reicher an Gedanken. So wird er charakterfest, heiter, milde, friedfertig, aufmerksam, ernst, genügsam, wohlwollend und dankt Gott für die beiden Schätze, die er ihm gespendet, die Arbeit, die ihn frei macht, und den Verstand, der ihm Tüchtigkeit verleiht.

Diese geistige Umwandlung hatte auch Marius erfahren. Ja, er hatte sich, offen gestanden, etwas zu sehr der Betrachtung zugewandt. Sobald er sich einen halbwegs sicheren Broderwerb erkämpft hatte, war er auf dem Wege stehen geblieben und hatte auf weitere Bestrebungen, sich aus der Armuth emporzuringen, verzichtet. Er entzog der Arbeit Zeit, um geistigen Freuden nachgehen zu können. D. h. er verträumte bisweilen ganze Tage und schwelgte in den stummen Wonnen der Begeisterung und Verzückung. Er betrachtete es jetzt als die Aufgabe seines Lebens, wie er es einrichten könne, daß er möglichst wenig materielle Arbeit zu leisten brauche, um möglichst viel geistig arbeiten zu können. Er merkte nicht, daß die Beschaulichkeit, so aufgefaßt, zu einer Form der Trägheit wird, daß er sich begnügte nur die elementarsten Bedürfnisse des Lebens zu befriedigen, und sich zu früh zur Ruhe setzte.

Offenbar bedeutete für eine so thatkräftige und hochherzige Natur dieser Seelenzustand nur einen Uebergang; sobald das Schicksal ihn zum Kampf rief, mußte Marius sich aufraffen.

Mittlerweile bemühte er sich, trotz Vater Gillenormand's Vermuthungen, keineswegs sich eine Praxis als Advokat zu schaffen. Wozu sich solcher langweiligen Mühen unterziehen und seinen lieben Träumereien entsagen? Er sah nicht ein, warum er seinen bisherigen Broderwerb aufgeben sollte. Verdiente er doch, so viel er brauchte, und mit geringer Anstrengung.

Einer der Verleger, für die er arbeitete, ein Herr Magimel, wenn ich mich recht entsinne, machte ihm eines Tages das Anerbieten, er wolle ihm eine Wohnung in seinem Hause und fünfzehn hundert Franken jährlich geben, wenn er dafür eine bestimmte Arbeit leisten wolle. Das hörte sich ja ganz schön an. Aber seiner Freiheit entsagen, sich einem Chef unterordnen? Nach Marius Dafürhalten mußte er bei dieser Art seine materielle Lage zu verbessern seine moralische Würde, seine Selbstachtung einbüßen, und er lehnte das Anerbieten ab.

Marius hatte so gut wie gar keinen Umgang mit Menschen. Vermöge seiner Vorliebe für die Abgeschiedenheit, und weil man ihn von vornherein kopfscheu gemacht, hatte er sich dem politischen Verein, dem Enjolras vorstand, nicht angeschlossen. Die jungen Leute waren wohl gute Freunde geblieben und halfen einander gern, wenn sie konnten; aber das war auch alles. Marius hatte im Ganzen nur zwei Freunde, den jungen Courfeyrac und den alten Mabeuf. Für Letzteren empfand er eine größere Vorliebe. Verdankte er es Diesem doch, daß er seinen Vater besser kennen und lieben gelernt hatte, und daß er in ein neues Leben getreten war. »Er hat mich von der Blindheit kurirt, die meinen Geist umnachtete,« pflegte Marius zu sagen.

Freilich, Mabeuf hatte eine entscheidungsvolle Wendung in Marius' Leben herbeigeführt, aber doch nur als ein unbewußtes Werkzeug in den Händen der Vorsehung. Ganz zufällig hatte er Marius Verstand aufgehellt wie ein Licht ein Zimmer erleuchtet, während das wahre Verdienst Demjenigen zukommt, der das Licht in das Zimmer gebracht hat.

Was Marius' politische Sinnesänderung betrifft, so war Mabeuf ganz unfähig, eine solche zu begreifen, zu wollen, zu leiten.

Hierüber wollen wir, da Mabeuf noch weiterhin in unserer Geschichte eine Rolle spielen wird, einige ausführlichen Bemerkungen hinzufügen.

IV.
Mabeuf

Mabeuf waren, wie er gleich bei seiner ersten Begegnung mit Marius gesagt hatte, alle politischen Meinungen gleichgültig. Er hieß sie alle gut, wenn sie ihn nur zufrieden ließen, also aus demselben Grunde, der die alten Griechen bestimmte, die Furien, »schön, gut, liebenswürdig,« die »Eumeniden« zu nennen. Ein Steckenpferd aber hatte Mabeuf auch, das er mit nicht geringerer Begeisterung ritt, als Andere einem politischen System anhängen. Er schwärmte für die Pflanzen und noch mehr für Bücher.

Er begriff nicht, daß die Menschen ihre Zeit damit hinbrachten, sich wegen Alfanzereien, wie Verfassungsurkunden, Demokratie, Gottesgnadenthum, Republik u. s. w. zu hassen, während es doch auf der Welt Moose, Kräuter, Gräser, Sträucher gab, die sie bewundern, und Haufen von Folianten und Quartanten, in denen sie schmökern konnten. Dabei verstand er aber sich nützlich zu beschäftigen; daß er Bücher besaß, hinderte ihn nicht, sie mit Nachdenken zu lesen; obgleich Botaniker, betrieb er doch die Gärtnerei. Als er den Obersten Pontmercy kennen gelernt, waren sie gute Freunde geworden, weil sie ähnliche Bestrebungen hatten. Mabeuf betrieb die Obst-Kultur in derselben Weise, wie der Oberst die Pflege der Blumen. So war es Mabeuf gelungen eine köstliche Art Birnen zu erzeugen, die den Birnen von Saint-Germain nicht nachstanden. Desgleichen verdankt man ihm, wie es heißt, die berühmte Oktober-Mirabelle. – Zur Messe ging Mabeuf nicht so sehr aus Frömmigkeit als wegen seiner milden, friedfertigen Gemüthsstimmung, und weil er wohl gerne Menschen um sich sah, aber keinen Lärm leiden konnte und sie nur in der Kirche sich so still verhielten, wie er es wünschte. Demzufolge wählte er sich auch, da er einsah, daß der Mensch irgendwie dem Staate nützlich sein müsse, das Amt eines Kirchenvorstehers. Im Uebrigen hatte er es nie fertig gebracht, ein weibliches Wesen so innig zu lieben wie eine Tulpenzwiebel, oder einen Mann wie einen Elzevir. Er hatte schon längst das sechszigste Lebensjahr überschritten, als er eines Tages gefragt wurde: »Sind Sie nie verheiratet gewesen?« »Nein,« antwortete er, »auf den Gedanken bin ich nie gekommen.« – Sagte er gelegentlich, wie wohl Jeder von uns dies thut: »O wäre ich doch reich!« so gab nicht, wie bei Vater Gillenormand, der Anblick eines hübschen Mädchens Anlaß dazu, sondern irgend ein alter Schmöker. Er lebte allein mit seiner alten Haushälterin. – Er hatte eine »Flora der Umgegend von Cauterets« mit kolorirten Tafeln verfaßt und herausgegeben, ein ziemlich geschätztes Werk, zu dem er die Kupferplatten besaß, und das er selber verkaufte. An den zwei oder drei Exemplaren dieses Buches, die er täglich in seiner Rue de Mezières gelegenen Wohnung los wurde, verdiente er reichlich zweitausend Franken jährlich, ein Einkommen, das sein ganzes Vermögen ausmachte. Trotz dieser Beschränktheit seiner Mittel hatte er es zu Wege gebracht, indem er es sich viel Geduld, Entbehrungen und Zeit kosten ließ, sich eine vorzügliche Sammlung von allerhand seltenen Büchern anzulegen. Nie sah man ihn ohne eine Buch ausgehen, und oft kehrte er mit zweien heim. Den einzigen Zierrat der vier Parterrezimmer seiner Wohnung bildeten eingerahmte Herbarien und Kupferstiche von alten Meistern. Ebenso groß wie diese seine Vorliebe für Pflanzen und Bücher, war seine Abneigung gegen alles Kriegsgeräth. Bei dem Anblick eines Gewehrs oder eines Säbels überlief es ihn kalt. In seinem Leben hatte er sich nie eine Kanone aus der Nähe besehen, selbst die vor dem Invalidendom ausgestellten nicht.

Um das Jahr 1830 starb sein Bruder, der Pfarrer, und bald darauf verschlechterte sich Mabeuf's materielle Lage in bedenklicher Weise. Der Bankerott eines Notars brachte ihn um eine Summe von zehntausend Franken. Dann führte die Julirevolution eine Krisis im Buchhandel herbei. Was aber in schlechten Zeiten am wenigsten Absatz findet, ist eine Flora. Auch nach Mabeufs »Flora der Umgegend von Cauterets« schwand Wochenlang alle Nachfrage. Jedes Mal, wenn es klingelte, fuhr Mabeuf in die Höhe, aber ach! es war gewöhnlich nur der Wasserträger. – Kurz, eines Tages sah sich Mabeuf genöthigt, seine Wohnung in der Rue Mézières zu kündigen, sein Amt als Kirchenvorsteher niederzulegen, der Kirche Saint-Sulpice Lebewohl zu sagen, einen Theil, nicht seiner Bücher, sondern der Kupferstiche, die er weniger hoch hielt, zu verkaufen und ein kleines Haus am Boulevard Montparnasse zu beziehen. Aber hier blieb er auch nur ein Vierteljahr wohnen, erstens weil das Erdgeschoß und der Garten dreihundert Franken Miethe kosteten, und er nur zweihundert dazu aufwenden wollte: zweitens, wegen der Nähe des Fatouschen Schießstandes, denn er konnte keine Pistolenschüsse hören.

Er siedelte also mit seiner »Flora,« seinen Kupferplatten, seinen Herbarien und Büchern in die Nachbarschaft der Salpêtrière, in eine Art Hütte des Dorfes Austerlitz, über, wo er für hundertfünfzig Franken jährlich drei Zimmer und ein Gärtchen nebst Brunnen hatte. Gelegentlich dieses Umzugs entledigte er sich fast aller seiner Möbel, ertrug aber diesen Verlust mit Gleichmuth. »Trösten Sie sich!« sagte er zu seiner Haushälterin, die betrübt und nachdenklich dreinschaute. »Noch bleibt uns ja der Indigo.« Eins seiner Lieblingsideale war nämlich die Akklimatisirung des Indigos in Frankreich.

In dem Dorfe Austerlitz, ein Name, der ihn leider an Krieg, Mord und Lärm erinnerte, besuchte ihn nur ein befreundeter Buchhändler und Marius.

Uebrigens sind, wie wir schon angedeutet haben, die Menschen, die nur für eine vollständige oder eine thörichte Idee, oder für beides zugleich leben, der Wirklichkeit so vollkommen entfremdet, daß ihr eigenes Geschick sie nichts mehr angeht. Eine dermaßen auf einen Punkt gerichtete, intensive Geistesthätigkeit erzeugt eine Passivität, die der Gemüthsruhe des Philosophen ähnlich sehen würde, wäre sie eine Folge des Nachdenkens. Geräth das Glück solcher Leute auf eine abschüssige Bahn, so sind sie die Letzten, die es bemerken. Sie erwachen allerdings einmal aus ihrem Traumleben, gewöhnlich aber zu spät. Bis dahin schauen sie dem Spiel, dessen Einsatz ihr materielles Wohlergehen ist, ruhevoll zu.

So hatte er sich auch, trotzdem der Horizont seines Glücks sich mehr und mehr bewölkte und eine Hoffnung nach der andern ihn im Stich ließ, seine ganze, etwas kindliche Seelenruhe bewahrt. In seinem Hirn bewegten sich die Gedanken nach wie vor in derselben regelmäßigen Weise. Hatte er einmal seine geistige Maschine mittels einer Illusion in Gang gesetzt, so funktionirte sie noch lange Zeit, nachdem die Illusion geschwunden war, wie ein Uhrwerk auch nicht gerade in dem Augenblick stehen bleibt, wo der Besitzer der Uhr den Schlüssel dazu verliert.

V.
Armuth und Elend halten gute Nachbarschaft

Marius hatte Gefallen an dem naiven Alten, der das Unglück langsam auf sich zuschreiten sah und wohl schon anfing, sich darüber zu wundern, aber die Gefahr noch nicht genug begriff, um sich Sorgen zu machen. Er suchte ihn geradezu auf, während er mit Courfeyrac nur sprach, wenn er ihm zufällig begegnete. Allerdings nur selten, höchstens ein oder zwei Mal monatlich.

Denn gewöhnlich zog er weite Spaziergänge auf den äußeren Boulevards, dem Champ de Mars oder in den einsamsten Alleen des Jardin du Luxembourg vor. Er verbrachte bisweilen einen halben Tag mit der Betrachtung eines Gemüsegartens hin, oder sah den Hühnern auf ihrem Misthaufen zu, oder blieb vor einem Paternosterwerk stehen. Die Vorübergehenden musterten ihn mit erstaunten Blicken, und Manche fanden, er hätte ein Hallunkengesicht und müsse ein gefährliches Subjekt sein. Dabei war er doch nur ein armer Teufel, der in zwecklosen Träumereien schwelgte.

Auf einem solchen Spaziergange hatte er auch das Gorbeausche Haus entdeckt und in demselben, da es ganz abgelegen und die Zimmer sehr billig waren, einen Wohnraum gemiethet. Man kannte ihn hier nur als Herrn Marius.

Einige ehemalige Waffengefährten seines Vaters hatten ihn, als sie Bekanntschaft mit ihm machten, eingeladen, sie zu besuchen. Marius ertheilte ihnen keine abschlägige Antwort. Bekam er doch so Gelegenheit, etwas von seinem Vater zu erfahren. Auf diese Weise suchte er von Zeit zu Zeit den Grafen Pajol, den General Bellavesne, den General Fririon auf. In den Salons dieser Herren wurde musicirt und getanzt. An solchen Abenden legte Marius seine Galakleider an. Aber er ging zu den Soireen nur, wenn es Stein und Bein fror, denn er konnte keine Droschke bezahlen und wollte, daß seine Stiefel spiegelblank bleiben sollten.

»Die Menschen,« bemerkte er bisweilen ohne irgend welche Bitterkeit, »sind doch nun einmal so, daß sie nur nach Äußerlichkeiten fragen. Wenn ihre Gäste kein reines Gewissen haben, so schadet das nichts, wenn nur ihre Stiefel rein und blank sind.«

Alle Leidenschaften, ausgenommen die Liebe, verflüchtigen sich, wenn der Hang zur Träumerei die Oberhand gewinnt. So milderte sich auch Marius Leidenschaftlichkeit in Bezug auf die Politik. Hierzu trug allerdings die Julirevolution i. J. 1830, die ihm Genüge that, viel bei. Anwandlungen von Zorn kannte er jetzt nicht mehr, obgleich er noch dieselben Meinungen hegte, wie früher. Aber er war sanfter und liebevoller geworden und hatte eigentlich keine politischen Meinungen mehr, sondern nur Sympathien. Zu welcher Partei er gehörte? Er hielt es nur mit der Menschheit im Allgemeinen und mit Frankreich im Besondern. Desgleichen beschäftigten sich seine Gedanken vorzugsweise mit dem unglücklichen Loose des Volkes und besonders der Frauen. In seinem jetzigen Gemüthszustande zog er eine Idee einer Thatsache, einen Dichter einem Helden vor und bewunderte das Buch Hiob noch mehr als ein großes Ereigniß, wie die Schlacht bei Marengo. Und wenn er des Abends nach einem in beschaulicher Betrachtung verbrachten Tage, die Boulevards entlang, heimwärts ging und durch das Gezweig der Bäume in grundlose Himmelstiefen und zu den Sternen emporschaute, schien ihm alles menschlich recht geringfügig.

Ihn dünkte – und vielleicht mit Recht –, er habe jetzt die Wahrheit und die Tiefen des Lebens erkannt, und er beachtete nur noch den Himmel, das Einzige, was die Wahrheit, die in einem Brunnen wohnt, von der Welt sehen kann.

Bei alledem beschäftigte er sich viel mit Zukunftsplänen und Luftschlössern. Wer ihm auf den Grund der Seele hätte schauen können, wäre erstaunt gewesen über die Lauterkeit all der Träumereien, denen er nachhing. Nach seinen wachen Träumen kann man aber einen Menschen sicherer beurtheilen, als nach seinen Gedanken. Bei dem methodischen Denken betheiligt sich der bewußte Wille. Die spontanen Erzeugnisse unserer Phantasie dagegen werden, eine so gigantische und idealisirte Gestalt sie auch angenommen haben, durch die Eigenart unseres Geistes bestimmt und folglich kann man aus ihrer Art und Beschaffenheit sichrere Schlüsse auf den wahren Charakter eines Menschen machen, als wenn man von seinen mit Bedacht geordneten und nach einem bewußten Plan zusammengefügten Gedanken ausgeht.

Gegen die Mitte des Jahres 1831 erzählte Marius alte Vicewirtin ihm, seine Nachbaren, die arme Familie Jondrette, solle exmittirt werden. Marius, der fast alle Tage außer dem Hause zubrachte, wußte kaum, daß er Nachbarn hatte.

»Warum sollen sie auf die Straße geworfen werden?« fragte er.

»Sie sind ihre Miete schon zweimal schuldig geblieben.«

»Wieviel ist das?«

»Zwanzig Franken.«

Marius, der gerade dreißig Franken in einer Schublade zu liegen hatte, überreichte ihr fünfundzwanzig mit den Worten:

»Hiermit bezahlen Sie die Miethe der armen Leute; die übrigen fünf Franken geben Sie ihnen und sagen Sie nicht, von wem das Geld kommt.«

VI.
Ein Ersatzmann

Der Zufall wollte, daß Lieutenant Théodule's Regiment nach Paris versetzt wurde. Bei der Gelegenheit bekam Tante Gillenormand einen zweiten Gedanken. Hatte sie das erste Mal Marius Thun und Treiben von Théodule ausspionieren lassen, so trug sie sich jetzt mit dem Plane, Marius bei ihrem Vater durch Théodule zu ersetzen.

Jedenfalls war es rathsam für den Fall, daß der Großvater Sehnsucht nach einem jugendlichen Gesicht empfinden sollte – heitert doch das Licht der Morgenröthe Ruinen auf –, einen zweiten Marius ausfindig zu machen. Dabei schien ihr die Sache so einfach, wie die Ausmerzung eines Druckfehlers: Marius – lies Théodule. Ein Urgroßneffe ist ja nicht sehr verschieden von einem Enkel, und in Ermanglung eines Advokaten kann man wohl einen Lanzenreiter nehmen.

Eines Morgens, als Gillenormand in die Lektüre seiner Zeitung vertieft war, trat seine Tochter in sein Zimmer und sagte mit ihrer sanftesten Stimme, denn es handelte sich ja um ihren Liebling:

»Papa, Théodule wünscht Ihnen diesen Vormittag seine Aufwartung zu machen.«

»Was für ein Théodule?«

»Ihr Urgroßneffe.«

»So?« sagte der Alte und las weiter, vergaß vollständig den ihm gleichgültigen Théodule und fand bald Veranlassung sich wüthend zu ärgern, was ihm bei der Lektüre seiner Zeitung oft genug passirte. Es war wieder einmal die Rede davon, daß die Studenten der Medizin und des Rechts am nächsten Tage um zwölf Uhr Mittags eine Versammlung auf dem Platz des Pantheon abhalten würden, »um zu berathen.« – Es handelte sich dabei um eine der vielen wichtigen Tagesfragen, um die Artillerie der Nationalgarde, und um einen Konflikt zwischen dem Kriegsminister und der Bürgermiliz wegen der auf dem Hof des Louvre untergebrachten Kanonen. Das Wort »berathen« genügte, um Gillenormand in Rage zu bringen.

Er dachte dabei an Marius, der ja auch Jurist war und wahrscheinlich mit den Andern auf dem Platz des Pantheon »berathen« würde. Gerade während ihm dieser widerwärtige Gedanke am meisten zusetzte, kam Lieutenant Théodule herein, in Civilkleidung, was sehr gescheidt war, und in Begleitung von Fräulein Gillenormand. Der Kavallerist hatte sich die Sache so überlegt: »Der Alte hat gewiß nicht sein ganzes Geld auf Leibrenten angelegt. Es wird sich ja wohl verlohnen, wenn man sich von Zeit zu Zeit in eine Civilkluft wirft.«

»Hier ist Théodule, Ihr Urgroßneffe,« sagte laut Fräulein Gillenormand zu ihrem Vater. Und mit leiser Stimme zu Théodule:

»Sage zu Allem Ja!«

Darauf ließ sie die Beiden allein.

Der Lieutenant, der einen ganz andern Verkehr gewöhnt war, als so uralte Herren wie Gillenormand, stotterte etwas verlegen: »Guten Morgen, Oheim!« und salutirte erst militärisch, besann sich aber rasch und beendete den Gruß mit einer Civilverneigung.

»Ach, Sie sind's! Gut, setzen Sie sich!« antwortete der Großvater und vergaß schon in demselben Augenblick seinen Gast, stand auf, während Jener sich setzte, und ging im Zimmer auf und ab, wobei er laut ein wüthendes Selbstgespräch hielt und an den beiden Uhren in seinen Taschen nervös herumfingerte.

»Solche naseweisen Bengel! Das versammelt sich auf dem Platz des Pantheon! Gott erbarme sich! Lümmel, die kaum von der Muttermilch entwöhnt sind! Wenn man ihnen die Nase ausdrückte, würde Milch herauskommen! Und so was wird morgen berathen! Wie soll das werden? Wie soll das werden? Offenbar treiben wir einem Abgrund zu. Soweit haben uns die Ohnehosen und die Ohnehemden gebracht! Wollen da öffentlich über das Schießzeug der Nationalgarde quatschen! Und was für Leute werden noch dabei sein! Ich wette was Einer will, eine Million gegen einen Pfefferling, es werden sich nur noch ehemalige Zuchthäusler da einfinden. Republikaner und Verbrecher, Mus wie Miene, Hose wie Jacke. Carnot fragte: ›Wo soll ich hingehen, Verräther?‹ Und Fouché antwortete: ›Wo Du hin willst, Schafskopf!‹ Da hat man die Republikaner.«

»Sehr richtig!« fiel hier Théodule ein.

Gillenormand wandte sich halb um, sah Théodule und fuhr fort:

»Wenn man denkt, daß der Bengel so verrucht gewesen ist, unter die Carbonari zu gehen! Warum bist Du infamer Schlingel von hier weggegangen? Weil Du Republikaner werden wolltest. Du meine Güte! Will denn das Volk was von Deiner Republik wissen? Gott bewahre! Das Volk ist vernünftig; es weiß, daß es immer Könige gegeben hat und immer welche geben wird, daß das Volk schließlich doch nur das Volk ist, und pfeift auf Deine Republik. Verstanden, Du Heupferd? Solch ein scheußlicher, verrückter Einfall! Mit Vater Duchêne Brüderschaft saufen, mit der Guillotine liebäugeln, Romanzen gröhlen zu Ehren des Jahres 1793 – Nein, man könnte alle jungen Leute anspucken, so dumm sind sie! Und da ist einer wie der andere! Keiner, der von dem Blödsinn nicht angesteckt wäre. Heutzutage braucht man bloß die Luft auf der Straße zu athmen, so wird man verdreht. Das neunzehnte Jahrhundert steckt voller Gift. Der erste beste ungezogene Lümmel läßt sich ein Bocksbärtchen stehen, hält sich für was Rechtes und läßt seine alten Verwandten sitzen. So was nennt man Republikanismus und Romanticismus. Nun sage mir ein vernünftiger Mensch, was ist das, Romanticismus? Ein Haufen Unsinn ist es! Da rannte vor einem Jahre alles ins Theater und sah sich das »Drama« Hernani an. Hernani! Antithesen, Scheußlichkeiten, die nicht Hand, nicht Fuß, nicht Stil haben! Dabei haben sie Kanonen auf dem Hof des Louvre. Solche Frechheiten erlebt man heutzutage!«

»Sie haben Recht, Oheim!« fiel Théodule wieder ein.

»Kanonen im Museum! Ihr wollt also auf die Statuen schießen? Was haben die Kartuschen mit dem Apollo von Belvedere und der mediceischen Venus zu thun? Nein, die jungen Leute heutzutage sind sämtlich Halunken, ausgenommen, die dumme Gecken sind. Da thun sie alles Mögliche, um greulich auszusehen, kleiden sich geschmacklos, sind blöde bei den Frauenzimmern und schleichen wie Bettler um sie herum, daß es zum Lachen ist. Auf Ehre! man könnte glauben, sie schämten sich der Liebe. Und solche dummen Jungen haben politische Meinungen. Die Polizei sollte alle politischen Meinungen streng verbieten. Sie ertifteln Verfassungen, modeln die Gesellschaft um, demoliren die Monarchie, schmeißen alle Gesetze über den Haufen, kehren das Oberste zu unterst, machen meinen Portier zum König, verhunzen ganz Europa, schaffen eine neue Weltordnung und sind froh, wenn sie zur Belohnung bei einem Festzuge die Waden einer Wäscherin von unten begucken können. Also Marius, also Du Lump, Du brüllst Reden auf öffentlicher Straße? Du debattierst, ergreifst Maßregeln? Gerechte Götter, sie nennen das Maßregeln! Daß Schuljungen öffentlich über die Nationalgarde berathen, würde ja nicht einmal bei den Hottentotten und Zulukaffern vorkommen. Solche halbwüchsigen Jungen schnacken klug und wollen kommandiren. Nein, nein, die Welt geht ihrem Untergang entgegen. Noch ein letzter Seufzer, und den wird Frankreich ausstoßen. Berathet nur, Jüngelchen! Aber so was muß ja passiren, so lange sie Zeitungen lesen dürfen. So eine Zeitung kostet ihnen bloß einen Sou, ihren Verstand, ihre Vernunft, ihr Herz, ihre Seele. Hat man die Sorte von Aufklärung, wie sie die schönen Zeitungen bringen, erst weg, so geht man hin und sagt zu seiner Familie: ›Ihr könnt mir gestohlen bleiben!‹ Alle Zeitungen sind revolutionäre Pestbeulen, auch die konservativsten! Gerechter Himmel! Du infame Kanaille kannst Dich wirklich rühmen, daß Du Deinen alten Großvater unglücklich gemacht hast!«

»Ja leider!« bekräftigte Théodule, und da Gillenormand einen Augenblick zu rackern aufhörte, um wieder Athem zu schöpfen, nahm er die günstige Gelegenheit wahr und bemerkte tiefsinnig:

»Es sollte keine andere Zeitung erscheinen dürfen als der Moniteur und kein andres Buch als die Rangliste der Armee.«

Jetzt schimpfte Gillenormand wieder los:

»Da heben sie den Sieyès in den Himmel, so einen Königsmörder, der sich zu guter Letzt zum Senator emporgeschwindelt hat. Denn darauf läuft's immer hinaus. Erst duzt man sich mit Krethi und Plethi und dann wird man Herr Graf, Herr Graf vorne und Herr Graf hinten. Der Philosoph Sieyès, solch ein Quatschfritze Senator! ich hab mir mal, zur Zeit Buonaparte's, die Herren Senatoren angesehen, wie sie den Quai Malaquais entlang kamen, in ihren violetten Sammetmänteln mit den Bienen und mit ihren Hüten à la Henri IV. Sah das Gesindel scheußlich aus! Wie Affen an dem Hofe eines Tigers. Nein, Bürger, ich erkläre Euch, der vielgerühmte Fortschritt, mit dem Ihr Euch aufspielt, ist eine Eselei, Eure Liebe zur Menschheit ist Gefühlsdusselei, Eure Revolution ist ein einziges, großes Verbrechen, Eure Republik eine Mißgeburt, Eure Marianne ist eine gemeine Dirne, das behaupte ich Euch Allen ins Gesicht, wer Ihr auch seid, Publicisten, Nationalökonomisten, Juristen, und verstündet Ihr Euch besser auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als das Fallmesser der Guillotine. Das gebe ich Euch schriftlich, Männekens!«

»Bei Gott!« rief der Lieutenant. »Das ist die lautere Wahrheit!«

Gillenormand hielt plötzlich mit einer angefangenen Handbewegung inne, drehte sich um, sah dem Lanzenreiter Théodule fest in die Augen und sagte:

»Sie sind ein Schafskopf!«


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