Victor Hugo
Die Elenden. Dritter Theil. Marius
Victor Hugo

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Viertes Buch. Die Freunde des A-B-C

I.
Eine Gesellschaft, die beinah eine Rolle in der Geschichte gespielt hätte

Jene Zeit, die scheinbar ganz mattherzig war, hatte gewisse revolutionäre Regungen. Es war, als schwebe der Geist der Jahre 1789 und 92 wieder in der Luft. Die Jugend war gewissermaßen im Begriff, sich zu mausern. Die Menschen erlitten die Umwandlung, ohne daß sie es recht merkten, kraft des Vorrückens der Zeit. Jeder that, an der Stelle, wo er sich befand, einen Schritt vorwärts, so daß die Royalisten zu Liberalen, die Liberalen zu Demokraten wurden.

Wie das Meer während der Fluth doch an vielen Stellen etwas zurückgeht und Strudel bildet, so entstanden auch bei diesem geistigen Fortschritt hier und da recht sonderbare Verbindungen von Widersprüchen. Manche z. B. schwärmten zu gleicher Zeit für Napoleon und die Freiheit. Die Geschichte lehrt ja, daß eine jede Epoche ihre Illusionen hat, und daß politische Anschauungen gewisse Entwicklungsstadien durchlaufen müssen, ehe sie eine vernunftgemäße Form annehmen können. Uebrigens war der bonapartistische Liberalismus auch keine sonderbarere Verquickung unvereinbarer Gegensätze als der voltairische Royalismus.

Andere Parteien beflissen sich einer größern Konsequenz, hielten fest an einem Princip und begeisterten sich für das Recht. Sie liebten das Absolute und ahnten, daß Ideale einer unendlichen Zeit zu ihrer Verwirklichung bedürfen; das Absolute drängt z. B. vermöge seiner Starrheit den Verstand zu abstrakten Spekulationen und in grenzenlose Fernen. Nichts begünstigt so sehr den Hang zu Träumereien, als das Dogma, und nichts arbeitet der Zukunft wirksamer vor, als die Träumerei. Heute Utopie, morgen leibhaftige Wirklichkeit.

In Frankreich existirten damals noch nicht solche großen, geheimen Gesellschaften wie der deutsche Tugendbund und der italienische Carbonarismus; aber schon fing man an, das Staatsgebäude zu unterminiren. In Aix entstand die Cougourde; in Paris hatte man neben anderen Vereinen die Gesellschaft der Freunde des A B C.

Was waren das für Leute, die Freunde des A B C? Ein Verein, dessen angeblicher Zweck die Erziehung der Kinder war; in Wirklichkeit aber beschäftigten sie sich mit der Unterweisung der Erwachsenen. Erstrebten sie doch die Erlösung des Volkes aus seiner Erniedrigung.

Diese geheime, nicht sehr zahlreiche Gesellschaft versammelte sich in Paris in zwei Lokalen, von denen das eine die Schänke Corinthe, in einem Arbeiterviertel, nämlich in der Nähe der Centralmarkthalle, das andere, das Café Musain, bei dem Panthéon an dem Platz Saint-Michel, also in dem Studentenviertel, lag.

Die gewöhnlichen Zusammenkünfte der Freunde des A B C fanden in einem Hinterzimmer des Café Musain statt.

Dieser Raum, der mittelst eines langen Ganges mit dem öffentlichen Café in Verbindung stand, hatte zwei Fenster und einen Ausgang mit einer geheimen Treppe, die auf die kleine Rue de Grès hinausging. Hier wurde laut von allem Möglichen und leise von andern Dingen gesprochen. An der Wand war eine für die Polizei höchst verdächtige alte Karte von Frankreich zur Zeit der Republik angenagelt.

Die meisten Mitglieder der Gesellschaft waren Studenten, die übrigen Arbeiter. Beide Theile lebten in herzlichem Einvernehmen mit einander. Folgendes sind die Namen der Bedeutendsten unter ihnen, Derjenigen, die in einem gewissen Grade geschichtliche Persönlichkeiten gewesen sind: Enjolras, Combeferre, Jean Prouvaire, Feuilly, Courfeyrac, Bahorel, Lesgle oder Laigle, Joly, Grantaire.

II.
Eine Leichenrede

Eines Nachmittags stand Laigle im Café Musain bequem an das Thürgesims gelehnt. Er sah aus wie eine Karyatide, die Ferien hat, denn nicht einmal an seinen Gedanken hatte er in dem Augenblick schwer zu tragen. Er sann nämlich ohne große Betrübniß über ein kleines Mißgeschick nach, das ihm vor zwei Tagen in der juristischen Fakultät widerfahren war, und das seine ziemlich unbestimmten Zukunftspläne wesentlich beeinflußte.

Während er seine Augen träge auf der Straße herumschweifen ließ, bemerkte er ein Kabriolett, das im Schritt über den Platz Saint-Michel gefahren kam. In diesem Wagen saß neben dem Kutscher ein junger Mann und vor ihm lag ein ziemlich großer Reisesack, an den eine mit großen, schwarzen Buchstaben beschriebene Karte angenäht war. Auf der Karte stand: Marius Pontmercy.

Als er diesen Namen las, richtete Laigle sich überrascht auf und redete den Fahrgast des Kabrioletts an:

»Herr Marius Pontmercy!«

Der junge Mann, der auch nachdenklich war, hob die Augen empor und hieß den Kutscher anhalten:

»Was wünschen Sie?«

»Sind Sie Herr Marius Pontmercy?«

»Gewiß!«

»Ich suchte Sie!«

»Wie so? Ich kenne Sie nicht.«

»Ich Sie auch nicht.«

Marius glaubte jetzt, er habe mit einem Spaßmacher zu thun, der Gefallen daran fände, die Leute auf offener Straße zu foppen, und runzelte, da er gerade nicht in der gemüthlichsten Laune war, die Stirn. Aber Laigle ließ sich dadurch nicht beirren und fuhr fort:

»Sie haben vorgestern das Kolleg geschwänzt.«

»Das ist möglich.«

»Sogar sicher!«

»Sie sind Student?« fragte Marius.

»Ja wohl, wie Sie. Vorgestern bin ich zufälliger Weise – man hat ja mitunter solche Einfälle – ins Kolleg gegangen. Der Professor verlas gerade die Namen. Die Herren sind, wie Ihnen bekannt sein wird, lachhaft strenge in dieser Hinsicht. Fehlt man das dritte Mal, so wird Einem die Immatrikulation annullirt, und sechzig Franken sind futsch.«

Jetzt fing Marius an, aufmerksam zu werden. Laigle erzählt weiter:

»Es war Blondeau, der gerade die Namen verlas. Sie kennen ja den spürnasigen Blondeau, der seine Freude daran hat, wenn er Einen abfassen kann. Tückischer Weise hatte er mit dem Buchstaben P. angefangen. Ich hörte aber nicht hin, da mein Name nicht mit einem P. anfängt. Alle Aufgerufenen waren da, zum größten Leidwesen des armen Blondeau, der keinen Einzigen streichen konnte, und schon lachte ich mir ins Fäustchen über seine schmerzliche Enttäuschung. Da ruft er mit einem Mal: Marius Pontmercy! Niemand antwortet. Voll freudiger Hoffnung ruft Blondeau lauter: Marius Pontmercy! und greift nach der Feder. Ich bin ein Gemüthsmensch und habe ein fühlendes Herz in der Brust, sage mir also: »Aufgepaßt! Da kommt wieder mal ein wackerer Junge um seine Immatrikulationsgebühren. Der Betreffende ist kein fauler Kopp, kein Musterschüler, kein Ochsier, kein Pedant, sondern ein achtungswerter Faulpelz, ein gemüthlicher Bummler, der hübschen Mädchen nachläuft und vielleicht in diesem Augenblick bei meinem Liebchen weilt. Den muß ich retten und Blondeau nasführen.« Wie also der Herr Professor schon seine niederträchtige Feder in das Tintenfaß taucht und mit seinen Raubthieraugen im Auditorium herumsucht und zum dritten Mal »Marius Pontmercy!« brüllt, antworte ich: »Hier!« und verhüte so, daß Ihr Name gestrichen wird.«

»Bester Herr! . . .« stammelte Marius.

»Dafür habe ich daran glauben müssen!« schnitt ihm Laigle das Wort ab.

»Ich verstehe nicht.«

»O die Sache ist sehr einfach. Ich saß dicht beim Katheder, um antworten, und in der Nähe der Thür, um mich dann schleunigst drücken zu können. Aber Blondeau behält mich mit einer gewissen Konsequenz im Auge und springt – der Kerl muß einen extra feinen Riecher haben – zu dem Buchstaben L, meinem Buchstaben, über. Als er »Laigle!« ruft, antworte ich: »Hier!« Er aber sieht mich mit Tigersanftmuth an, lächelt und sagt: »Wenn Sie Pontmercy sind, können Sie nicht Laigle heißen« und streicht meinen Namen von der Liste.«

»Herr Laigle, es thut mir schrecklich leid . . .« begann Marius, aber Dieser ließ ihn nicht ausreden:

»Vor allen Dingen gestatten Sie, daß ich eine gefühlvolle Lobrede auf Blondeau halte. Ich nehme an, er sei gestorben, was übrigens keine große Veränderung, keine nennenswerthe Abweichung von seinem jetzigen, lebenden Zustande bedeuten würde. Mager, blaß, kalt, steif ist er so wie so schon im höchsten Grade. Meine Leichenrede würde also ungefähr folgendermaßen lauten: Erudimini qui judicatis terram. Hier ruht Blondeau, Blondeau der Spürnasige, Blondeau Nasica, der gewaltige Disciplinarius, die Säule der Ordnung, der Schutzengel der Pünktlichkeit. Er war ein strenger, genauer, rechtschaffener Mann und ein großer Ekel. Gott hat ihn von der Liste der Lebendigen gestrichen, wie er mich von der Liste der Studenten gestrichen hat.«

Hier fiel ihm Marius wieder ins Wort:

»Ich bin ganz verzweifelt, daß ich . . .«

»Junger Mann, unterbrach ihn Laigle, »lassen Sie Sich dies zur Lehre dienen und seien Sie künftig pünktlicher.«

»Ich bitte Sie wirklich tausendmal um Entschuldigung.«

»Setzen Sie Sich nicht mehr der Gefahr aus, daß Ihr Nächster geschwenkt wird.«

»Ich bin ganz verzweifelt . . .«

»Und ich hoch entzückt,« versetzte Laigle lachend. »Ich war schon auf der abschüssigen Bahn und wäre um ein Haar Advokat geworden. Davor hat mich nun die Streichung bewahrt. Ich verzichte auf die Triumphe der gerichtlichen Beredsamkeit. Ich werde keine Wittwen vertheidigen und keine Waisenkinder angreifen. Und dieses Glück verdanke ich Ihnen, Herr Pontmercy. Selbstredend werde ich Ihnen eine feierliche Dankvisite abstatten. Wo wohnen Sie?«

»In diesem Kabriolett.«

»Sie müssen über üppige Finanzen verfügen, daß Sie Sich solch ein Logis genehmigen können. Das kostet seine neuntausend Franken Miethe pro Jahr.«

Während Laigle dies sagte, kam gerade Courfeyrac aus dem Kafé.

Marius antwortete mit schwermüthigem Lächeln.

»Ich bin seit zwei Stunden in dieser Wohnung und würde sie herzlich gern verlassen, wenn ich nur wüßte, wo ich hin soll.«

»Herr Pontmercy, kommen Sie und wohnen Sie bei mir.«

»Ich verdiente eigentlich den Vorzug,« warf Laigle ein, »aber ich habe kein Heim.«

»Kutscher!« »rief Courfeyrac und stieg in den Wagen, »fahren Sie nach dem Hotel der Porte-Saint-Jacques.«

Und am Nachmittag schon hatte Marius in einem Zimmer, das neben Courfeyrac's Wohnung lag, Unterkunft gefunden.

III.
Marius wundert sich

Binnen wenigen Tagen befreundete Marius sich mit Courfeyrac. Die Jugend verschmerzt alles Leid sehr schnell und lebt sich rasch in neue Verhältnisse ein. Marius athmete im Umgang mit Courfeyrac frei auf, was ihm ganz ungewohnt war. Diesem fiel es nicht ein, ihn über seine Vergangenheit neugierig auszufragen. In den Jahren liest man sich einander vom Gesicht ab, was man zu wissen braucht.

Eines Morgens indeß fragte Courfeyrac ganz unvermittelt:

»Beiläufig gesagt, haben Sie eine politische Meinung?«

»Das wollte ich meinen!« erwiederte Marius beinah beleidigt.

»Was sind Sie?«

»Demokratischer Bonapartist.«

»Hm! Eine recht verschwommene Schattirung!«

Am nächsten Tage nahm Courfeyrac Marius nach dem Café Musain mit. Hier raunte er ihm zu: »Ich muß Sie in Fühlung mit der Revolution bringen,« führte ihn nach dem Vereinszimmer der Freunde des A B C und stellte ihn seinen Gesinnungsgenossen vor, mit den Worten: »Ein Lehrling,« was Marius nicht verstand.

In diesem Kreise empfing Marius mancherlei neue Anregungen. Bisher einsiedlerisch gewöhnt und auf den Verkehr mit seinen eigenen Gedanken beschränkt, wurde ihm ganz wirr im Kopfe, als mit einem Male eine Menge neuer, verschiedenartiger Meinungen um ihn herumschwirrten, auf ihn eindrangen und ihn zum Kampf herausforderten. Sie wirbelten oft seine eigenen Ideen so wild durch einander, daß es ihm schwer fiel, sich in seinem Kopf wieder zurecht zu finden. Als er von den Anschauungen seines Großvaters zu denen seines Vaters übergegangen war, hatte er geglaubt, nun habe er gewiß festen Boden unter seinen Füßen; jetzt aber wandelten ihn wieder Zweifel an, ob seine Ideenwelt nicht einer abermaligen Umgestaltung entgegengehe. Zweifel, bei denen es ihm ganz unbehaglich wurde.

Das Schlimmste war, daß es für seine kecken Freunde keine unantastbaren, feststehenden Wahrheiten zu geben schien. Furchtsam wie er in seinem Denken und Fühlen war, mußte er an verschiedenen Kühnheiten, die er jetzt zu hören bekam, Anstoß nehmen.

So las Jemand einst einen Theaterzettel vor, der die Aufführung einer klassischen Tragödie ankündigte. »Nieder mit der Tragödie der Philister!« rief Bahorel. Aber Combeferre erwiederte:

»Das ist nicht richtig, was Du da sagst, Bahorel. Wenn die Philister eine Vorliebe für die klassische Tragödie haben, so muß man ihnen das Vergnügen gönnen. Bedenke doch, daß die Natur sich auch dazu herbeiläßt Unvollkommenes neben Vollkommenem zu schaffen, z. B. die Ente, die Flügel hat und nicht fliegen kann, also eine Karikatur auf die wirklichen Vögel ist. Ich sehe also nicht ein, warum man unserer klassischen Tragödie, gegenüber dem antiken Drama das Existenzrecht absprechen will.«

Ein ander Mal kam Marius mit Enjolras und Courfeyrac durch die Rue Jean-Jacques-Rousseau.

Da faßte ihn Courfeyrac beim Arm und sagte:

»Hut ab! Wir sind in der Rue Plâtrière, die jetzt Rue Jean-Jacques-Rousseau heißt, nach einem edlen Philosophen, der hier vor sechszig Jahren wohnte und anderen Leuten ihre Pflichten gegen ihre Kinder einschärfte, dagegen die Würmer, die er selber in die Welt setzte, ins Findelhaus brachte.«

Aber Enjolras verdroß der Hohn.

»Alle Achtung vor Rosseau! Der Mann verdient Bewunderung. Hat er seine Kinder verleugnet, so adoptirte er dafür das Volk.«

Ebenso sagte Keiner »der Kaiser.« Nur Jean Prouvaire nannte ihn bisweilen Napoleon; alle Andern bezeichneten ihn, wie die Royalisten, als Bonaparte und Enjolras gar als Buonaparte.

Ueber alles dieses wunderte sich Marius. Initium sapientiae.

IV.
Im Hinterzimmer des Cafè Musain

Eine von den Unterhaltungen zwischen den jungen Leuten, denen Marius beiwohnte und an denen er sich bisweilen betheiligte, machte einen tiefen Eindruck auf ihn.

Eines Abends waren wieder so ziemlich alle Freunde des A B C in dem Hinterzimmer des Café Musain versammelt, und weihevoll leuchtete ihnen die Argandische Lampe, die zur Feier des Tages angezündet war. Es wurde über alle möglichen Gegenstände gesprochen, ohne Eifer, aber mit desto mehr Lärm, Außer Enjolras und Marius, die still schwiegen, hielt Jeder eine Rede an Solche, die ihn anhörten, und an Andere, die ihm nicht zuhörten. Dergleichen Plaudereien unter guten Freunden sind wilde Tumulte, bei denen es sehr friedfertig und gemüthlich hergeht und wo es mehr auf Witz und Amüsement, als auf die Gediegenheit des Gesagten ankommt.

Weibliche Wesen durften das Hinterzimmer nicht betreten, mit Ausnahme von Louison, die das Geschirr und die Gläser des Café zu waschen hatte und von Zeit zu Zeit hier durchkam.

In der einen Ecke führte der schwer betrunkene Skeptiker Grantaire das Wort und predigte mit der ganzen Kraft seiner Lungen allerlei Sinn und Unsinn:

»Ich habe Durst. Sterbliche, laßt mich träumen, das Heidelberger Faß hätte einen Schlaganfall, und ich wäre einer von den zwölf Blutegeln, die ihm gesetzt werden müssen. Wie würde ich saufen, um das Leben zu vergessen. Denn das Leben ist eine scheußliche Erfindung. Es hat keine Dauer und keinen Wert. Das Leben ist ein halsbrecherisches Kunststück, eine Bühnendekoration mit wenig wirklichen Gegenständen. Das Glück gleicht einem alten, nur auf der einen Seite bemalten Blendrahmen. Der Prediger Salomo sagt: Alles ist eitel, und ich schließe mich der Ansicht dieses geehrten Vorredners, der vielleicht nie existirt hat, ehrerbietigst an. Die Null hat sich, da sie nicht nackt gehen wollte, mit Eitelkeit bekleidet. O Eitelkeit! Verhüllung des Nichtigen mit pomphaften Worten! Der Taschenspieler läßt sich Herr Professor nennen, der Seiltänzer ist ein Gymnast, der Boxer ein Pugilist, der Friseur ein Haarkünstler, ein Pferdejockel ein Sportsman, eine Assel ein Pterygibrancus. Die Eitelkeit hat wie das Tuch zwei Seiten: die rechte, die den Neger mit seinen Glaskorallen vorstellt, ist dumm; die linke, der Philosoph, der sich auf seine Lumpen was einbildet, geckenhaft. Ich muß über den Einen Thränen vergießen und über den Andern mich tot lachen. Was man Ehren und Würden nennt, ja auch Ehre und Würde, sind gewöhnlich aus Talmigold. Die Fürsten haben Recht, wenn sie mit der Eitelkeit der Menschen ihren Spaß treiben. Caligula ernannte ein Pferd zum Konsul, und Karl II. schlug einen Lendenbraten zum Ritter. Habt Ihr Lust neben dem Konsul Incitatus und dem Ritter Roastbeef mit vornehmen Gewändern zu prunken? Ich nicht! Was den innern Wert der Menschen betrifft, so ist damit auch nichts los. Hört Euch mal die Loblieder an, die Einer gegen den Andern losläßt. Weiß ist auf Weiß schlecht zu sprechen. Wie würde die Lilie, wenn sie reden könnte, die Taube heruntermachen! Ein Frommer, der von einem Mucker spricht, ist giftiger als eine Natter. Schade, daß ich ein unwissender Mensch bin; ich würde sonst eine Menge Beweise citiren können; aber mein Hirn ist nun einmal mit Thatsachen recht schlecht möblirt. Seine natürliche Beschaffenheit freilich ist eine ganz gute. Als ich z. B. bei dem Maler Gros als Lehrling arbeitete, war ich gescheidt genug, statt mit Klecksereien dem lieben Gott die Zeit, lieber in den Gärten der Nachbarn Aepfel zu stehlen. Mehr ist aber nicht los mit mir, und Ihr seid nicht mehr wert als ich. Ich huste auf Eure Vorzüge, Tugenden und Vollkommenheiten. Jede Tugend schweift in ein Laster aus. Die Sparsamkeit gränzt an den Geiz; die Freigebigkeit schlägt in Verschwendung um; der Tapfere ähnelt sehr dem Bramarbas; sehr fromm bedeutet beinah dasselbe, wie muckerisch; kurz, die Tugend hat so viel Fehler, wie Diogenes' Mantel Löcher hatte. Wen bewundert Ihr, den, der getötet wird, oder den, der tötet, Caesar oder Brutus? Gewöhnlich lobt man Denjenigen, der mordet. Es lebe Brutus, denn er hat getötet! Das nennt man die Tugend. Ein sehr dummes Ding, die Tugend! Außerdem haben die großen Männer doch auch recht häßliche Flecken auf ihrem blanken Ehrenschild. Der Brutus, der Caesar umbrachte, war in eine Knabenstatue verliebt. Diese Statue war ein Werk des griechischen Bildhauers Strongylion, desselben, von dem auch Nero's Lieblingsstatue, die Amazone Euknemos oder die Schönbeinige herrührt. Dieser Strongylion hat nur diese beiden Werke hinterlassen, die Brutus und Nero in gleicher Weise befriedigten. Ueberhaupt ist die Weltgeschichte nur eine lange Wiederkäuerei. Ein Jahrhundert äfft das andere nach. Die Schlacht bei Marengo ist ein Abklatsch der Schlacht bei Pydna; Chlodwig bei Zülpich und Napoleon bei Austerlitz ähneln einander, wie zwei Blutstropfen. Ich halte nicht viel von Schlachtensiegen; der wahre Ruhm bestände darin, wenn man verstände, die Menschen zu überzeugen und klüger zu machen. Wenn man Beweise für irgend etwas auftriebe, das ließe ich mir gefallen! So aber begnügt Ihr Euch damit, Erfolge zu erringen. Wie mittelmäßig, wie erbärmlich sind diese Leistungen! Ach, überall herrscht Eitelkeit und Feigheit! Alles beugt sich vor dem Erfolg, sogar die Grammatik, die sich durch den gerade vorwiegenden Sprachgebrauch bestimmen läßt. Si volet usus, sagt Horaz, Von dem Menschengeschlecht also denke ich geringschätzig; wenn ich aber die Theile des großen Ganzen näher besehe, kann ich mein Urtheil auch nicht ändern. Soll ich etwa die Völker bewundern? Welches Volk z. B.? Die Griechen? Die Athener, die Pariser des Alterthums, brachten Phocion um, einen Coligny an Rechtschaffenheit, und schweifwedelten vor den Tyrannen, so daß Anacephorus von Pisistratus sagte: »Sein Urin lockt die Bienen an.« Der geachtetste Mann in Griechenland war fünfzig Jahre lang der Grammatiker Philetas, ein winziges Männchen, das genöthigt war, Blei an seinen Schuhen zu tragen, damit der Wind es nicht umwehen oder mitnehmen konnte. Auf dem Hauptplatze von Korinth stand eine von Plinius als ein Meisterwerk bezeichnete Statue des Epistathius von Silanion. Womit hatte dieser Mensch eine solche Auszeichnung verdient? Mit der Erfindung des Beinstellens beim Ringkampfe. Nun wißt Ihr, was Griechenland samt seinen berühmten Männern wert gewesen ist. Gehen wir zu der Betrachtung anderer Völker über. Soll ich England, soll ich Frankreich für bewunderungswürdig erklären? Warum Frankreich? Wegen Athen? Was ich über die Athener denke, habe ich Euch eben auseinandergesetzt. England wegen London? Wer Karthago haßt, kann London nicht loben. Außerdem ist diese moderne Metropole des Luxus auch die Brutstätte des grausigsten Elends. Blos in dem Kirchspiel Charing-Cross sterben jährlich hundert Menschen Hungers. Da habt Ihr Albion. Das Tollste aber ist, daß ich eine Engländerin mit einem Rosenkranz auf dem Kopfe und einer blauen Brille auf der Nase habe tanzen sehen! Also pereat England! Kann ich mich aber, wenn ich John Bull nicht bewundere, mit Bruder Jonathan befreunden? Für Sklavenhalter mich begeistern, ist nicht meine Art. Was bleibt England Gutes, wenn man das Sprichwort Time is money abzieht? Was ist Amerika ohne seine Baumwolle wert? Deutschland ist dünnblütig, Italien gallig. Sollen wir für Rußland schwärmen? Voltaire that es, aber der bewunderte auch China. Ich gebe zu, daß Rußland seine guten Seiten hat, unter Anderm einen starken Despotismus. Aber die Despoten thun mir leid. Sie haben doch eine gar zu zarte Gesundheit. Ein Alexis, der enthauptet, ein Peter, der erdolcht, ein Paul, der erdrosselt, ein anderer Paul, der mit Fußtritten breit gequetscht, etliche Iwans, die erwürgt, mehrere Nikolaus' und Wassili's, die vergiftet worden sind, gestatten die Schlußfolgerung, daß die Luft in den Palästen der russischen Zaren ungesunde, der Langlebigkeit nichts weniger als förderliche, Elemente enthält. Alle Kulturvölker haben eine Eigenthümlichkeit miteinander gemein, die der Denker gefälligst bewundern soll, den Krieg. Was ist der civilisierte Krieg aber Anderes, als eine Summirung aller der Arten von Raub und Mord, die bei den verschiedenen barbarischen und wilden Völkern üblich sind? »Na, Europa ist doch wenigstens besser als Asien!« werdet Ihr einwenden. Zugestanden, daß Asien ein putziges Land ist; aber ich vermag nicht einzusehen, mit welchem Recht Ihr über den Großlama lacht, Ihr Occidentalen, die Ihr bei all der Eleganz und Verfeinrung Eurer Modetrachten so viel Respekt vor fürstlichem Unrath hegt, vor dem schmutzigen Hemde der Königin Isabella sowohl, wie vor dem Nachtstuhl des Dauphins. Menschenkinder, es ist Alles Essig! In Brüssel wird das meiste Bier getrunken, in Stockholm der meiste Branntwein, in Madrid die meiste Chokolade, in London der meiste Wein, in Amsterdam der meiste Wachholder, in Konstantinopel der meiste Kaffee, in Paris ist's im Großen und ganzen noch am besten. Hier sind sogar noch die Lumpensammler wahre Sybariten, und Diogenes wäre gewiß ebensogern Lumpensammler auf dem Platz Maubert gewesen, als Philosoph im Piräus. Freilich, ich als kiesätiger Epikuräer bin damit noch nicht zufrieden und schwelge für vierzig Sous bei Richard und wälze mich mit meiner Kleopatra auf persischen Teppichen. Ist hier vielleicht eine Kleopatra? Ach, Du bist's Louison! Guten Abend.«

Während Grantaire auf diese Weise mit der Magd anbändelte, streckte Laigle die Hand gegen ihn aus und versuchte ihm Stillschweigen zu gebieten; der Betrunkene aber ließ sich nicht dadurch bewegen, die Schleusen seiner Beredtsamkeit zu schließen.

»Halt die Pfote herunter. Wenn Du Dich auch so würdevoll gebärdest, wie ein Hippokrates, als er die Schätze des Artaxerxes von sich wies, mir imponirst Du nicht. Erspare mir die Mühe mich zu beschwichtigen, Uebrigens bin ich traurig. Dagegen kann ich nun einmal nichts thun. Der Mensch ist eine stümperhafte Leistung der Natur, der Schmetterling ist ihr besser gelungen. Aus wieviel Häßlichkeiten besteht ein Pöbelhaufe! Das Weib vollends ist ein Ausbund von Gemeinheit und Erbärmlichkeit. Ach ja, ich habe den Spleen, bin melancholisch, hypochondrisch, tobe, wüthe, rase, gähne, langweile mich, daß ich aus der Haut fahren möchte.«

»Halt doch endlich den Rand!« schalt jetzt wieder Laigle, der über eine juristische Streitfrage diskutirte und eben seine unmaßgebliche Ansicht in einer langathmigen Periode zusammenfaßte.

Neben Grantaire steckten an einem stillen Tische zwei Schriftsteller die Köpfe zusammen und arbeiteten an einem Vaudeville.

»Erst die Namen,« meinte der Eine. »Handlung und Idee finden sich dann von selber.«

»Du hast Recht. Diktire. Ich will schreiben.«

»Herr Dorimon,«

»Rentier?«

»Selbstredend.«

»Seine Tochter Cölestine.«

» . . . tine. Weiter!«

»Oberst Sainval.«

»Ist ein zu abgedroschener Name. Ich dächte, wir sagen Valsin.«

Neben den angehenden Vaudevillisten benutzten einige Andere den ungeheuren Lärm, um heimlich über die Vorbereitungen zu einem Duell zu sprechen. Ein bemoostes Haupt ertheilte einem jungem Mann Rath und belehrte ihn, was für einem Gegner er gegenüberstehen würde.

»Der Teufel auch! Da müssen Sie die Ohren steif halten. Er versteht den Degen zu führen, hat Kraft im Handgelenk, Schneid im Angriff und parirt, daß es eine Art hat. Außerdem aber ist er ein Linker.«

In der Ecke, die Grantaire's Sitz gegenüber lag, spielten Joly und Bahorel Domino und unterhielten sich über ihre Herzensangelegenheiten.

»Du Glücklicher« sagte Joly »hast ein Mädchen, das immer vergnügt ist.«

»Das ist sehr unschlau von ihr,« meinte Bahorel. »Auf die Weise macht sie Einem Lust sie zu hintergehen. Ist sie lustig, so macht man sich keine Gewissensskrupel und denkt, sie wird sich leicht trösten.«

»Du Undankbarer! Giebt's was Angenehmeres als ein Mädel, das immer zu Spaß aufgelegt ist? Und nie zankt Ihr Euch!«

»Ja, das kommt von der Vertragstreue, die wir beobachten. Als wir unsere heilige Allianz schlossen, haben wir die beiderseitigen Befugnisse und Rechte mit einer Genauigkeit festgelegt, an der sich eine Grenzregulirungskommission ein Beispiel nehmen könnte. Daher der ewige Friede zwischen uns.«

»Der Friede ist die Verdauung des Glücks.«

»Und Du, Joly, stehst Du noch immer auf gespanntem Fuße mit Mamsell . . . Du weißt ja, wen ich meine.«

»Sie schmollt mir mit grausamer Hartnäckigkeit.«

»Du bist aber doch von einer rührenden Magerkeit. So rede ihr doch vor, das käme von dem vielen Liebesgram.«

»Da würde ich sie nicht ganz belügen.«

»An Deiner Stelle würde ich sie links liegen lassen.«

»Ist bald gesagt!«

»Und bald gethan. Sie heißt ja wohl Musichetta?«

»Ja. Ach, liebster Bahorel, sie ist ein Prachtmädchen, gebildet, hat reizende Händchen und Füßchen, versteht sich geschmackvoll zu kleiden, ist quabblig, hat einen zarten Teint, Augen wie eine Kartenschlägerin . . . Na, kurz, ich bin rein vernarrt in sie.«

»Dann mußt Du ihr zu gefallen suchen, patent sein, zierlich die Füße setzen. Kaufe Dir bei Staub ein Paar Buckskinhosen. Der Stoff ist nachgiebig.«

In der dritten Ecke tobte ein Streit über die poetischen Vorzüge der heidnischen Mythologie und des Christenthums. Es handelte sich um einen Sturm auf den Olymp, den Jean Prouvaire, seltsamer Weise vom Gesichtspunkt des Romanticismus aus, vertheidigte. Obgleich für gewöhnlich blöde, redete er jetzt rückhaltlos und halb scherzhaft, halb begeistert:

»Schmähen wir nicht die Götter,« sagte er, »Sie sind vielleicht noch nicht von uns gegangen. Jupiter sieht mir keineswegs danach aus, als wäre er gestorben. Ihr sagt: ›Die Götter sind Wahngebilde‹. Aber noch heute findet man in der Natur, nach der Flucht der Wahngebilde, Erinnerungen an die alten heidnischen Mythen. Mancher Berg mit einer Mauerkrone ist für mich eine Abbildung von Cybeles Kopfschmuck. Auch halte ich es noch nicht für bewiesen, daß nicht Pan des Nachts in hohle Weidenstämme bläst und die Löcher abwechselnd mit den Fingern zuhält.«

In der letzten Ecke wurde gekannegießert. Die Meisten kritisirten die kürzlich oktroyirte Verfassung. Combeferre vertheidigte sie, aber mit geringem Nachdruck, während Courfeyrac alle seine Geschütze gegen sie auffahren ließ. Behufs energischerer Bekräftigung seiner Behauptungen fuchtelte er mit einem unglücklichen Exemplar der berühmten Touquetschen Verfassungsurkunde in der Luft herum.

»Vor allen Dingen will ich von den Fürsten überhaupt nichts wissen. Schon aus Sparsamkeitsrücksichten. Ein König ist ein Schmarotzer. Das Königthum kommt uns teuer zu stehen. Merkt Euch folgende Thatsachen. Beim Tode König Franz I. belief sich die Staatsschuld auf dreißig Tausend Franken Rente; beim Tode Ludwigs XIV. auf zwei Milliarden sechshundert Millionen, was heutzutage zwölf Milliarden gleichkommen würde. Zweitens ist, was auch Combeferre dagegen einwenden mag, eine oktroyirte Verfassungsurkunde ein schlechtes Civilisirungsmittel. Einen allmählichen Uebergang aus der Monarchie in die Demokratie ermöglichen, die Nation vermöge der konstitutionellen Finten zur Freiheit erziehen, alles das sind hinfällige Argumente. Hüten wir uns und führen wir nicht das Volk hinter das Licht derartiger Sophismen. In dem Keller des Konstitutionalismus verkümmern die Principien. Nieder mit solchen Verhunzungen der Wahrheit und Gerechtigkeit! Nieder mit allen Vermittlungsversuchen! In allen oktroyirten Verfassungsurkunden findet Ihr Artikel, kraft deren der König jeden Augenblick sein Gnadengeschenk wieder zurücknehmen kann. Ich weise die Verfassung entschieden zurück. Sie ist eine Maske, hinter der sich eine Lüge versteckt. Eine Volk, das sich eine Verfassung gefallen läßt, verzichtet auf seine Freiheit. Nur vollständig ist das Recht das Recht. Keine Verfassung!«

Da es Winter war, brannten im Kamin einige Holzklötze. Das war eine Versuchung, der Courfeyrac nicht widerstehen mochte. Er zerknitterte das unglückliche Dokument und warf es ins Feuer. Combeferre sah mit philosophischer Gemüthsruhe das Meisterwerk Ludwigs XVIII. in Flammen aufgehen.

So bombardirten sich die jungen Leute gegenseitig in fröhlichster Weinlaune mit Scherzreden, humorvollen Einfällen, prickelnden Witzen, guten und schlechten Gründen, bis plötzlich das Gespräch einen ernsteren Charakter annahm.

V.
Eine Erweiterung des Horizonts

Wenn Ideen auf einander platzen, kann man nie voraussehen, was für Funken daraus entstehen, wohin der Blitz sich wenden wird. Immer aber sind die Uebergänge plötzliche, unvermittelte. Auf Rührung folgt Gelächter, der Ulk führt den Ernst ein. Die Impulse hängen von der ersten, besten Aeußerung ab, von der augenblicklichen Laune jedes Einzelnen, vom Zufall. Dergleichen Unterhaltungen gleichen Wegen mit starken Biegungen, wo der Ausblick sich fortwährend ändert.

Mitten in dem allgemeinen Lärm beendete plötzlich Laigle eine Widerlegung Combeferre's mit den Worten:

»Bei Waterloo am 18. Juni.«

Bei der Erwähnung dieses denkwürdigen Tages nahm Marius, der bisher theilnahmlos bei einem Glas Wasser da gesessen hatte, die Hand unter dem Kinn weg und faßte die Sprechenden scharf ins Auge.

»Bei Gott,« rief Courfeyrac, »Achtzehn ist eine besondere Zahl, die Einem zu denken geben kann. Sie spielt eine Rolle in Bonaparte's Leben. Mit dem 18. Brumaire begann seine Alleinherrschaft und als es mit ihm vorbei war, kam Ludwig XVIII. Sein Anfang und sein Ende bezeichnet dieselbe Zahl.«

»Ja, oder das große Verbrechen, das er begangen, und die Sühne, die er dafür geleistet hat,« fiel hier Enjolras ein, der bis dahin geschwiegen hatte.

Das Wort Verbrechen ging über das Maß hinaus, das Marius vertragen konnte.

Er erhob sich von seinem Sitze, ging langsam auf die Wandkarte von Frankreich zu, hielt den Zeigefinger auf eine Ecke, wo man eine Insel abgebildet sah, und sagte:

»Corsica, eine kleine Insel, die Frankreich groß gemacht hat.«

Diese Worte wirkten wie ein eisiger Windhauch. Alle schwiegen und hörten ihm zu. Jedermann fühlte, daß eine gewichtigere Erörterung im Anzuge war.

Selbst Bahorel, der sich eben zu einem Angriff auf Laigle vorbereitete und schon, um ihm zu imponiren, eine sieghafte Positur angenommen hatte, hielt inne, um zuzuhören.

Aber Enjolras, dessen blaue Augen auf Niemanden gerichtet waren und in das Leere schauten, antwortete, ohne Marius anzusehen:

»Frankreich bedarf keines Korsika, um groß zu sein. Frankreich ist groß, weil es Frankreich ist. Quia nominor leo

Marius war nicht in der Laune nachzugeben. Er wandte sich an Enjolras und sprach mit glühender, vom Herzen kommender Begeisterung:

»Das wolle Gott nicht, daß ich Frankreich herabsetze! Aber das thue ich ja auch nicht, wenn ich behaupte, daß Napoleon und Frankreich eins sind. Jetzt erlaubt, daß ich mich über diesen Punkt des weiteren auslasse. Ich bin ein Neuer unter Euch, aber ich muß gestehen, daß ich mich über Euch wundere. Weß Geistes Kinder seid Ihr? Und wie stehe ich mich mit Euch? Sprechen wir über den Kaiser. Ihr nennt ihn Buonaparte, mit u, wie die Royalisten, beinah wie mein Großvater, der den Namen zum Spott ganz italienisch ausspricht. Aber Euch hielt ich für junge Leute. Wie bethätigt Ihr denn Eure Begeisterungsfähigkeit? Was macht Ihr damit? Wen bewundert Ihr denn, wenn nicht den Kaiser? Verlangt Ihr noch mehr von einem Menschen? Wenn Ihr Diesen nicht als großen Mann anerkennt, wer ist denn noch groß in Euren Augen? Er besaß aber doch alle Vollkommenheiten, alle höchsten Fähigkeiten, war ein ganzer Mann. Er gab Gesetze wie Justinian; diktirte Briefe wie Caesar; war im Gespräch schlagfertig wie Pascal und gewichtig wie Tacitus; that weltgeschichtliche Großthaten und war sein eigener Geschichtsschreiber; verfaßte Schlachtenberichte, die sich wie Epen lesen; verstand mit Zahlen umzugehen wie Newton und mit schwungvollen Metaphern wie Muhammed; überbot in Tilsit Könige und Kaiser in der Majestät des Auftretens; nahm es in der Akademie der Wissenschaften mit dem großen Astronomen Laplace auf; hielt im Staatsrath Merlin die Stange; war so sparsam, daß er selber einkaufen ging und handelte; sah Alles, wußte Alles und verstand trotzdem harmlos, wie ein Mann aus dem Volke, an der Wiege seines Söhnchens zu lächeln. Plötzlich aber hörte das erschrockene Europa Armeen marschiren; Geschütze rollten; Schiffsbrücken fügten sich zusammen; Reitermassen stürmten dahin; Feldgeschrei und Trompeten erklangen; die Fürstenthrone erbebten; Grenzen verschoben sich auf der Landkarte; ein gewaltiges Schwert flog rasselnd aus der Scheide, am Horizont richtete Er sich auf, Blitze in der Hand und in den Augen, und entfaltete im Sturme, ein Erzengel des Krieges, seine beiden Fittiche, die große Armee und die alte Garde!«

Alle schwiegen, und Enjolras senkte den Kopf. Wer stillschweigt, scheint aber beizustimmen, sich für besiegt zu erklären. Deshalb fuhr auch Marius, fast ohne Athem zu schöpfen, mit verdoppeltem Enthuasiasmus fort:

»Seien wir gerecht, Freunde! Welch ein herrliches Loos für ein Volk, wenn es einen solchen Kaiser hat, wenn dieses Volk das französische ist und sein Genie mit dem Genie eines Napoleon verbindet. Kommen und siegen, in die Hauptstädte aller Länder triumphirend einziehen; aus Grenadieren Könige machen, im Sturmschritt Europa umwandeln; Gottes Zwecken dienen, wenn man den Degen zieht; einem Feldherrn folgen, der Hannibal, Caesar und Karl der Grosse in einer Person ist; das Volk eines Mannes sein, der jeden Morgen einen neuen herrlichen Sieg zu melden hat; die Weltherrschaft besitzen nach dem großen Römervolk; die große Nation sein und die große Armee geschaffen haben, die Welt doppelt besitzen, als Eroberer und kraft der Bewunderung, die man einflößt – das ist etwas Erhabenes; und giebt es etwas Größeres?«

»Die Freiheit!« rief Combeferre.

Jetzt senkte Marius den Kopf zu Boden. Wie eine scharfe Stahlklinge war ihm dies einfache Wort in die Seele gedrungen und hatte seine schwungvolle Begeisterung ertötet. Als er dann nach einer Weile die Augen aufhob, war Combeferre nicht mehr da. Zufrieden wahrscheinlich mit der schlagfertigen Antwort, die er dem Marius'schen Dithyrambus entgegen geschleudert, war er fortgegangen, und Alle mit Ausnahme von Enjolras ihm gefolgt. Dieser, der nun mit Marius allein geblieben, sah ihn mit ernster Miene an. Marius aber, der jetzt seine Gedanken wieder beisammen hatte, betrachtete sich noch nicht als wiederlegt und schon schickte er sich an, die Argumente, die ihm im Kopf herumwirbelten, gegen Enjolras aufmarschiren zu lassen, als er plötzlich auf ein Lied aufmerksam wurde, das Jemand auf der Treppe sang. Es war Combeferre, und das Bruchstück des Textes, das Marius noch vernahm, lautete:

»Ich sprach: Herr Kaiser, behaltet Euer Geld;
Ich laß' von meinem lieben Mütterlein
Nicht ab für alle Herrlichkeit der Welt.«

Die wilde Energie und Begeisterung, die Combeferre in den Vortrag des simpeln Liedes legte, machte einen seltsam feierlichen Eindruck auf Marius, der nachdenklich und die Augen zur Decke emporgerichtet, mechanisch wiederholte: »Mein liebes Mütterlein?«

In diesem Augenblick legte Enjolras die Hand auf Marius Schulter und sagte:

»Bürger, mein Mütterlein ist die Republik!«

VI.
Res angusta

Dieser Abend hinterließ in Marius Seele eine nachhaltige Erschütterung und eine dunkle Trauer. So ist vielleicht der Erde zu Muthe, wenn man sie mit der Pflugschar aufreißt und ihr das Samenkorn anvertraut; sie empfindet vorläufig nur den Schmerz der Wunde; die Daseinsfreude des Keimes und der Frucht kommt erst später.

Marius war mißgestimmt. Kaum, daß er sich eine Ueberzeugung gebildet hatte, so trat auch schon die Frage an ihn heran, ob er sie auch behalten dürfte. Er antwortete Ja, er wolle nicht zweifeln; fing aber doch schon an wider Willen zu zweifeln. Zwischen zwei Meinungen hin und her schwanken schien ihm unerträglich; Dunkel und Dämmerung gefallen nur Fledermausnaturen, und Marius Augen liebten es in das Licht der Wahrheit zu schauen. So gern er also auch bei seiner jetzigen Meinung geblieben wäre, er fühlte sich doch gedrungen, alles von Neuem zu prüfen, hinzuzulernen, in der Erkenntniß weiter zu schreiten. Was sollte aber daraus werden? Mußte er nicht, nachdem es ihm endlich gelungen war, seinen Vater zu verstehen, fürchten, daß er dem theuren Toten wieder entfremdet werden könnte? Das Unbehagen, das er bei diesem Gedanken empfand, wuchs bei jeder Betrachtung, die er anstellte, und immer deutlicher gähnte ihm eine Kluft entgegen, die ihn von der übrigen Welt trennte. Er stimmte ja weder mit seinem Großvater, noch mit seinen Freunden überein; für den Einen zu weit vorgeschritten, erschien er den Andern ein Reaktionär, und so fühlte er sich doppelt isolirt, dem Alter sowohl, wie der Jugend gegenüber. Demzufolge hörte er auch auf das Café Musain zu besuchen.

Ueber der Unruhe, in die ihn die Zweifel versetzten, vergaß er ernsthaft an die Erfordernisse des materiellen Lebens zu denken. Aber die Wirklichkeit läßt sich nicht ungestraft bei Seite schieben, und auch unserm Marius machte sie sich unangenehm fühlbar.

Eines Tages kam der Hotelwirt zu Marius und sagte:

»Herr Courfeyrac hat für Sie gut gesagt.«

»Ja wohl.«

»Ich möchte aber doch um Geld bitten.«

»Bitten Sie Courfeyrac, er möchte zu mir kommen.«

Als Courfeyrac herbeigeholt war, ließ der Wirt sie allein. Marius erzähle seinem Freund, was er bis jetzt unterlassen hatte, ihm mitzutheilen, daß er so zu sagen allein, ohne Verwandte, in der Welt da stand.

»Was wird aber aus Ihnen werden?«

»Das weiß ich nicht.«

»Was gedenken Sie zu thun?«

»Das weiß ich nicht.«

»Haben Sie Geld?«

»Fünfzehn Franken.«

»Soll ich Ihnen welches leihen?«

»Auf keinen Fall.«

»Haben Sie Kleider?«

»Die hier.«

»Wertsachen?«

»Eine Uhr.«

»Eine silberne?«

»Eine goldne. Hier ist sie.«

»Ich kenne einen Kleiderhändler, der Ihnen Ihren Ueberzieher und ein Paar Beinkleider abnehmen würde.«

»Das würde mir konveniren.«

»Sie werden dann nur ein Paar Beinkleider, eine Weste, einen Hut und einen Rock übrig behalten.«

»Und meine Stiefel.«

»Was? Sie brauchen nicht barfuß zu gehen? Sind Sie aber reich!«

»Ich habe, was ich brauche.«

»Ich kenne einen Uhrmacher, der Ihnen Ihre Uhr abkaufen würde.«

»Gut.«

»Nein, das ist nicht gut. Was werden Sie nachher anfangen?«

»Jede Arbeit annehmen, von der ich leben kann, wenigstens jede ehrliche Arbeit.«

»Können Sie englisch?«

»Nein.«

»Deutsch?«

»Nein.«

»Schade!«

»Warum?«

»Ein Freund von mir, ein Verleger, giebt eine Art Konversationslexikon heraus, für das Sie deutsche und englische Artikel übersetzen könnten. So was wird schlecht bezahlt, aber man verhungert nicht dabei.«

»Dann werde ich englisch und deutsch lernen.«

»Und bis dahin?«

»Werde ich mich von dem Erlös meiner Kleider und meiner Uhr ernähren.«

Sie ließen den Kleiderhändler kommen, und er gab zwanzig Franken für Marius Sachen. Sie gingen zu dem Uhrmacher. Er kaufte die Uhr für fünfundvierzig Franken.

»Nicht übel!« sagte Marius zu Courfeyrac, als sie nach ihrem Hotel zurückkehrten. »Mit meinen fünfzehn Franken macht das jetzt achtzig.«

»Sie denken nicht an die Hotelrechnung!« bemerkte Courfeyrac.

»Ach richtig!«

Der Wirt präsentirte auch sofort seine Rechnung, die sich auf siebzig Franken bezifferte.

»Nun bleiben mir noch zehn Franken!« sagte Marius.

»O weh! Sie müssen während der Zeit, wo Sie englisch lernen, mit fünf Franken reichen, und während der Erlernung des deutschen dito fünf Franken. Da heißt es sich entweder mit dem Studium höllisch beeilen oder mit dem Geld kolossal haushälterisch umgehen.«

Währenddem gelang es auch der Tante Gillenormand, die im Grunde genommen eine gute Haut war, Marius' Wohnung ausfindig zu machen, und eines Morgens, als er aus dem Kolleg nach Hause kam, fand er einen Brief seiner Tante nebst sechzig Pistolen, also sechshundert Franken in Gold, in einer versiegelten Schachtel vor.

Aber diese dreißig Louisd'or schickte er seiner Tante zurück und erklärte ihr in einem sehr höflich gehaltnen Schreiben, er besitze Existenzmittel und könne sich fortan allein durchbringen. Er hatte damals gerade drei Franken Vermögen.

Die Tante sagte dem Großvater nicht, daß Marius das Geld nicht angenommen habe. Sie fürchtete, der Alte würde sich noch mehr ärgern, und er hatte ja auch verboten, daß man in seiner Gegenwart von dem »wüthigen Bengel« sprechen solle.

Marius aber verließ das Hotel der Porte-Saint-Jacques, weil er keine Schulden machen wollte.


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