Victor Hugo
Die Elenden. Erster Theil. Fantine
Victor Hugo

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Siebentes Buch. Der Fall Champmathieu

I.
Schwester Simplicia

Die Ereignisse, die wir jetzt berichten werden, sind nicht sämtlich in Montreuil-sur-Mer bekannt geworden; aber das Wenige, das an die Oeffentlichkeit gedrungen ist, hat einen so tiefen, nachhaltigen Eindruck gemacht, daß unsre Erzählung eine bedenkliche Lücke aufweisen würde, wollten wir nicht Alles recht ausführlich berichten.

Vielleicht wird der Leser Manches darunter für unwahrscheinlich halten; die Achtung für die Wahrheit zwingt uns aber, auch derartige Einzelheiten als Thatsachen zu vertreten.

Am Nachmittag des Tages, wo Javert bei ihm gewesen, ging Madeleine seiner Gewohnheit gemäß zu Fantine in den Krankensaal.

Ehe er indessen denselben betrat, fragte er nach Schwester Simplicia.

Die beiden Nonnen, die den Dienst in Madeleines Hospital übernommen hatten, und wie alle barmherzigen Schwestern der Kongregation des heiligen Lazarus angehörten, hießen Schwester Perpetua und Schwester Simplicia.

Perpetua war eine einfache unverfeinerte Bäuerin, die bei dem Herrgott mit demselben Sinne in Dienst gegangen, wie man sonst bei irdischen Herrschaften in Kondition tritt. Nonne und Köchin war für sie der Hauptsache nach dasselbe. Dieser Menschenschlag ist bei den geistlichen Orden in zahlreichen Exemplaren vertreten; läßt sich doch aus dieser groben Masse leicht genug ein Kapuziner, beziehungsweise eine Ursulinerin, bilden. Solch ein derbes Menschenmaterial eignet sich vorzüglich für die niederen Arbeiten. Der Uebergang vom Ochsenhirten zum Karmeliter ist kein gewaltsamer, mühevoller. Die auf dem Dorfe und im Kloster herrschende Unwissenheit ist eine bequeme Vorbereitung und stellt den Dörfler von vornherein auf dieselbe Stufe wie den Mönch. Man braucht bloß den Bauernkittel etwas länger zu machen, so wird eine Mönchskutte daraus. So war auch Schwester Perpetua aus Marines bei Pontoise eine derbe, rothbackige zungenfixe Nonne, die nach wie vor ihren Bauerndialekt redete, und die aller Zartheit und Leisetreterei entschieden abhold, die Kranken anranzte, und wenn sie irgendwie geärgert worden war, ihre brummige Laune auch Sterbenden gegenüber nicht zum Schweigen brachte.

Schwester Simplicia war weiß wie ein Wachsbild, im Vergleich mit Perpetua eine Kerze neben einem Talglicht. Sie erinnerte an die feierliche Beschreibung, die St. Vincenz von Paula von der vollkommnen barmherzigen Schwester entwirft, eine Schildrung, die sowohl der mühseligen Sklaverei als auch der Freiheit ihres Lebens beredten Ausdruck leiht: »Ihr Kloster soll nur das Haus der Kranken sein, ihre Zelle nur ein gemiethetes Zimmer, ihre Kapelle nur die Kirche ihres Sprengels, ihre Klausur nur die Straßen der Stadt oder die Säle der Krankenhäuser, ihr Sprechgitter nur die Furcht Gottes, ihr Schleier nur die Sittsamkeit. Dieses Ideal war in Schwester Simplicia zur Wirklichkeit geworden. Wie alt sie war, wußte Niemand zu sagen; sie war nie jung gewesen, und es sah nicht aus, als ob sie je alt sein werde. Sie war ein sanftes Wesen, Weib wagen wir nicht zu nennen – von strengster Sittenreinheit, von feiner Bildung, und größter Wahrhaftigkeit. Trotz ihrer Sanftmuth konnte sie fest sein, wie der Granit. Ihre Rede kam dem Stillschweigen sehr nahe, denn sie sprach nur das Allernothwendigste, und ihre Worte klangen so weich und lieblich, daß sie nicht nur im Beichtstuhl, sondern auch in einem Salon das Wohlgefallen ihrer Zuhörer hätte erregen können. Fein gewöhnt, wie sie war, gefiel ihr die grobe Wolle, in die sie gekleidet war, weil dieser rauhe Stoff sie beständig an den Himmel und an Gott erinnerte. Ein Zug verdient noch besonders hervorgehoben zu werden. Sie hatte nie gelogen, niemals aus irgend einem Grunde, niemals auch nur leichthin irgend etwas gesagt, das nicht die Wahrheit, die lauterste Wahrheit, gewesen wäre: Hierin bestand Schwester Simplicias wesentlichstes Merkmal, das Hauptkennzeichen ihrer Tugend. Wegen dieser unerschütterlichen Wahrheitsliebe war sie sogar berühmt in ihrer Kongregation, und der Abt Sicard erwähnt sie auch aus diesem Grunde in einem Brief an den Taubstummen Massieu. So aufrichtig und lauter auch unsre Gesinnung sein mag, immer haftet ihr der Flecken der unschuldigen, kleinen Lüge an. Bei ihr nicht. Giebt es denn unbedeutende, unschuldige Lügen? Die Lüge ist etwas absolut Böses. Man kann nicht »ein Bischen« lügen; eine Lüge ist so verlogen, wie jede andre; die Lüge ist das Wesen des Dämons, und Satan hat zwei Namen, Satan und Lüge. So dachte sie. Und wie sie dachte, so handelte sie auch. In Folge dessen strahlte auch in ihren Zügen, ja auf ihren Lippen und in ihren Augen eine makellose Reinheit und Klarheit. Ihr Gewissen war von keinem Staub, keinem Schmutz befleckt. Uebrigens war auch der Name, den sie bei ihrem Eintritt in den Orden angenommen, ein mit Absicht gewählter. Denn bekanntlich ist die heilige Simplicia aus Sicilien jene Heilige, die sich lieber die Brüste ausreißen ließ, als daß sie sich zu der Lüge herabließ, sie sei in Segesta – statt in Syrakus – geboren, einer Lüge, die sie gerettet hätte. Schwester Simplicia hätte sich also keine für sie passendere Schutzheilige wählen können.

Schwester Simplicia hatte, seitdem sie Mitglied ihres Ordens war, zwei Fehler, die sie allmählich abgelegt hatte; sie naschte und empfing gern Briefe. Jetzt las sie nur ein lateinisches Gebet mit großen Lettern. Verstand sie nicht Latein, so verstand sie doch das Buch.

Das fromme Mädchen hatte Fantine lieb gewonnen, wahrscheinlich weil sie ihr verborgne Tugendhaftigkeit anmerkte, und hatte ihre Pflege speziell übernommen.

Diese Schwester Simplicia also nahm Madeleine jetzt bei Seite und empfahl ihr Fantine mit einem eigenthümlichen Nachdruck, an den sie sich später erinnerte.

Dann trat er an Fantinens Bett.

Diese wartete jeden Tag auf Madeleine's Erscheinen, wie auf einen wärmenden Freudenstrahl. »Ich lebe nur, wenn der Herr Bürgermeister da ist,« pflegte sie zu den Schwestern zu sagen.

An diesem Morgen fieberte sie gerade sehr stark. Als sie Madeleine erblickte, fragte sie hastig:

»Wo bleibt Cosette?«

Er antwortete lächelnd.

»Sie kommt bald.«

Madeleine benahm sich gegen Fantine dieses Mal so wie sonst. Nur daß er zu ihrer größten Freude eine volle Stunde blieb, statt einer halben, wie es sonst seine Gewohnheit war. Auch bat er dringend das ganze Personal, es der Patientin an Nichts fehlen zu lassen, sie recht gut zu pflegen und dergl. mehr. Es fiel ferner auf, daß sein Gesicht sich einmal verdüsterte. Aber dies erklärte sich daraus, daß der Arzt ihm leise ins Ohr geflüstert hatte: »Es geht rasch mit ihr zu Ende.«

Dann kehrte er nach dem Stadthaus zurück, und der Büreaudiener sah ihn, wie er eine Postkarte von Frankreich, die in seinem Arbeitskabinett an der Wand hing, aufmerksam studirte. Dann schrieb er mit Bleistift einige Ziffern auf einen Zettel.

II.
Ein Schlaukopf

Aus dem Stadthaus begab er sich dann bis an das Ende der Stadt zu einem Flamänder, Meister Scaufflaire, der Pferde und Fuhrwerke vermiethete.

Der kürzeste Weg zu diesem Scaufflaire führte durch eine wenig begangne Straße, in der sich das Pfarrerhaus befand. Der Pfarrer galt für einen guten, sehr achtbaren und sehr klugen Mann, den seine Pfarrkinder gern um Rath fragten. In dem Augenblick nun, wo Madeleine an diesem Hause vorbeikam, war nur ein einziger Mensch in der Straße, und dieser war Zeuge folgenden Vorgangs: Der Bürgermeister blieb, nachdem er schon an dem Pfarrhaus vorbeigegangen war, nachdenklich stehen, kehrte um und hob den eisernen Thürklopfer empor. Da hielt er wieder inne, als besinne er sich, legte endlich den Klopfer sacht in seine gewöhnliche Lage zurück und eilte dann schneller, als er gekommen war, von dannen.

Scaufflaire besserte gerade ein Geschirr aus, als Madeleine seine Werkstatt betrat.

»Haben Sie ein gutes Pferd, Meister Scaufflaire?«

»Herr Bürgermeister,« sagte der Flamänder, »alle meine Pferde sind gut. Was verstehen Sie unter einem guten Pferde?«

»Ein Pferd, das zwanzig Meilen an einem Tage zurücklegen kann.«

»Alle Wetter! zwanzig Meilen?«

»Ja.«

»Mit einem Kabriolett?«

»Ja.«

»Und wie lange darf es sich nachher ausruhen?

»Nöthigen Falls muß es schon den nächsten Tag wieder reisefähig sein.«

»Und wieder dieselbe Strecke zurücklegen?«

»Ja.«

»Teufel auch! Also zwanzig Meilen?«

Madeleine zog den Zettel aus der Tasche, wo er nach der Betrachtung der Wegkarte die Ziffern 5, 6, 8½ aufgeschrieben hatte.

»Hier sehen Sie,« sagte er. »Summa 19½ Meile, oder sagen wir lieber gleich zwanzig.«

»Herr Bürgermeister,« begann jetzt der Flamänder, »ich habe ein Pferd, das für Sie passen wird. Mein kleiner Schimmel, den Sie wohl schon bisweilen gesehen haben. Ein Thierchen aus der Gegend von Boulogne. Ueber alle Maßen feurig. Es sollte erst zum Reiten dressirt werden. Das paßte ihm aber nicht. Es schlug aus und warf Jeden ab. Nun glaubte man, das Thier sei zu nichts zu gebrauchen. Da hab' ich es gekauft und vor ein Kabriolett gespannt. Das war nach seinem Sinn. Es ist sanft wie ein kleines Mädchen und rennen thut's wie der Wind. Allerdings auf den Rücken darf man ihm nicht steigen. Es hat sich nun einmal in den Kopf gesetzt, daß es sich nur als Zugpferd gebrauchen lassen will.

»Und wird es die Fahrt leisten?«

»Zwanzig Meilen in scharfem Trabe und in noch nicht acht Stunden. Aber nur unter gewissen Bedingungen.

»Welchen?«

»Erstens müssen Sie es, wenn es die Hälfte des Weges hinter sich hat, eine Stunde verschnaufen lassen. Während der Zeit muß es fressen und es muß jemand dabei sein und aufpassen, daß der Hausknecht der Herberge ihm nicht den Hafer stiehlt. Ich habe bemerkt, daß mehr Hafer in einer Herberge von dem Hausknecht versoffen, als von den Pferden gefressen wird.

»Gut, es soll darauf aufgepaßt werden.«

»Zweitens . . . Werden der Herr Bürgermeister selber die Fahrt machen?«

»Ja.«

»Können der Herr Bürgermeister lenken?

»Ja.«

»Gut. Dann müssen der Herr Bürgermeister allein und ohne Gepäck fahren.«

»Zugestanden.«

»Aber da Herr Bürgermeister Niemand mitnehmen, werden Sie Sich selbst bemühen und aufpassen müssen, daß mein Pferd seine richtige Ration bekommt.«

»Soll geschehen.«

»Dann gebühren mir dreißig Franken pro Tag. Für die Ruhetage wird gleichfalls bezahlt. Keinen Heller weniger und der Hafer geht auf Rechnung des Herrn Bürgermeisters.«

Madeleine nahm drei Napoleond'or aus seiner Börse und legte sie auf den Tisch.

»Für zwei Tage pränumerando.«

»Viertens würde ein Kabriolett für eine so weite Fahrt zu schwer sein und das Pferd zu sehr strapazieren. Der Herr Bürgermeister müßten also die Güte haben und einen kleinen Tilbury nehmen, den ich Ihnen zur Verfügung stellen kann.«

»Sehr wohl.«

»Es ist ein leichter Wagen, er hat aber kein Verdeck.«

»Ist mir egal.«

»Haben der Herr Bürgermeister bedacht, daß es Winter ist? . . .«

Madeleine gab keine Antwort. Der Flamänder fuhr fort:

»Daß es regnen kann?«

Madeleine hob den Kopf in die Höhe und sagte:

»Morgen früh um halb fünf müssen Pferd und Wagen vor meinem Hause stehn.«

»Zu Befehl, Herr Bürgermeister,« antwortete Scaufflaire, kratzte mit dem Daumennagel einen Flecken aus, der den Tisch verunzierte, und sagte leichthin, als denke er sich nichts Besondres dabei:

»Aber da fällt mir mit einem Mal ein, daß der Herr Bürgermeister mir noch nicht gesagt haben, wo Sie hingehen . . .«

Er dachte an nichts so angelegentlich als an diesen Punkt seit dem Anfang des ganzen Gesprächs, aber er wußte nicht, weshalb er sich noch nicht getraut hatte, die Frage zu thun.

»Hat Ihr Pferd gute Vorderbeine?« fragte Madeleine.

»Ja wohl. Stützen Sie es gefälligst etwas, wenn es bergab geht. Giebt es viel solche Stellen auf dem Wege, den der Herr Bürgermeister fahren wollen?«

»Vergessen Sie nicht, sich morgen früh ganz pünktlich bei mir einzustellen,« antwortete Madeleine und ging.

Der Flamänder war ganz »paff«, wie er selber später erzählte.

Nach zwei oder drei Minuten ging die Thür auf und der Bürgermeister war wieder da, und wieder mit derselben ruhigen tiefsinnigen Miene.

»Herr Scaufflaire,« fragte er, »wie hoch schätzen Sie Ihr Pferd und Ihren Tilbury zusammengenommen?«

»Wollen der Herr Bürgermeister sie mir abkaufen?«

»Nein, aber ich will aus Vorsorge Sie für jeden Fall sicher stellen. Sie geben mir das Geld nach meiner Rückkehr wieder. Wieviel also für Pferd und Wagen?«

»Fünfhundert Franken, Herr Bürgermeister.«

»Hier.«

Mit diesen Worten legte Madeleine einen Kassenschein auf den Tisch und ging fort, ohne wieder zurückzukehren.

Meister Scaufflaire bedauerte in der Folge ganz fürchterlich, daß er nicht tausend Franken gesagt hätte. Uebrigens waren Pferd und Fuhrwerk Summa Summarum höchstens dreihundert Franken wert.

Der Flamänder rief gleich seine Frau und erzählte ihr die Sache. »Wo zum Teufel mag der Herr Bürgermeister hinfahren wollen?« Die Frage verursachte ihnen viel Kopfzerbrechen. »Nach Paris«, meinte die Frau. »Das glaube ich nicht«, widersprach ihr Mann, nahm den Zettel mit den Ziffern, den Madeleine auf dem Kaminsims hatte liegen lassen und studirte ihn aufmerksam. »Fünf, sechs, acht ein halb? Damit müssen Entfernungen zwischen Poststationen gemeint sein. – Ich hab's!« rief er dann plötzlich. »Nun?« »Von hier bis Hesdin sind fünf, von Hesdin bis Saint-Pol sechs, von Saint-Pol bis Arras acht und eine halbe Meile.«

Mittlerweile war Madeleine nach Hause zurückgekehrt.

Er hatte einen großen Umweg gemacht, als wenn der Anblick des Pfarrhauses Anlaß zu einer gefährlichen Versuchung hätte geben können. Zu Hause schloß er sich in seinem Zimmer ein, was nichts Auffälliges hatte, denn er begab sich gern frühzeitig zur Ruhe. Indessen beobachtete die Portierfrau der Fabrik, die zugleich auch den Dienst in Madeleine's Haushalt versah, daß sein Licht um halb neun ausgelöscht wurde, und richtete deshalb an den Kassirer, der gerade nach Hause kam, die Frage:

»Sollte der Herr Bürgermeister unpäßlich sein? Er sah heute Abend ganz eigentümlich aus.«

Das Zimmer des Kassirers lag unter den Madeleines. Er beachtete die Worte der Portierfrau nicht weiter, legte sich zu Bett und schlief ein. Gegen Mitternacht aber erwachte er plötzlich in Folge eines Geräusches über seinem Kopfe. Er horchte auf. Es war, als ob Jemand in dem Zimmer über ihm hin und her gehe, und bald erkannte er auch Madeleines Tritt. Das kam ihm sonderbar vor, denn gewöhnlich ließ sich vor der Stunde, wo Madeleine aufzustehen pflegte, kein Geräusch vernehmen. Gleich darauf schien es dem Kassirer, als würde oben ein Schrank auf- und dann wieder zugemacht. Dann wurde ein Möbel von seiner Stelle gerückt, es trat Stille ein, und wiederum wurden Schritte hörbar. Der Kassirer, der jetzt vollständig munter geworden war, richtete sich im Bett auf und sah durch das Fenster an dem gegenüberstehenden Hause das grelle Abbild eines hell erleuchteten Fensters. Nach der Richtung der Lichtstrahlen zu urtheilen konnte es sich nur um das Fenster von Madeleines Zimmer handeln. Der Lichtschein zitterte, als rühre er etwa von einem Kaminfeuer, nicht von einer Lampe, her. Da ferner das Fensterkreuz in dem lichten Abbilde fehlte, so war anzunehmen, daß Madeleines Fenster weit offen stehen mußte. Das war in Anbetracht der Kälte, die in der betreffenden Nacht herrschte, sonderbar genug. Bald aber schlief der Kassirer wieder ein, um zwei oder drei Stunden später wieder zu erwachen. Abermals vernahm er ein Geräusch, wie wenn Jemand auf und abgehe.

Noch immer zeichnete sich das Fenster an dem Hause gegenüber ab, aber matter und ruhiger wie von dem Wiederschein einer Lampe oder einer Kerze. Auch jetzt noch mußte Madeleines Fenster offen stehn.

Folgendes aber ging in dem oberen Zimmer vor.

III.
Ein Sturm unter einem Schädel

Der Leser hat gewiß schon errathen, daß Madeleine kein Andrer ist, als Jean Valjean.

Wir hatten schon einmal einen Blick in die Tiefen dieser Menschenseele geworfen; jetzt ist der Augenblick gekommen, daß wir abermals hineinschauen. Wir vermögen es nicht ohne Angst und Grauen. Giebt es doch nichts Furchtbareres, als eine Betrachtung dieser Art! Das Auge des Geistes findet nirgend grelleres Licht und schwärzere Finsterniß, als im Menschen; es kann nichts begegnen, das furchtbarer, verworrener, rätselhafter und unendlicher wäre. Es giebt etwas, das großartiger anzuschauen ist, als das Meer: der Himmel; etwas, das großartiger ist, als der Himmel: des Menschen Geist.

Wer das Innere des Menschenhirns, auch nur eines Menschenhirnes, ja auch nur des unbedeutendsten beschreiben könnte, würde das Höchste und Schwerste damit geleistet haben. Welch ein Chaos von Wahnbildern, Begierden, Bestrebungen, Träumen! Welch ein Schlupfwinkel für Gedanken, die sich ihrer selbst schämen! Welch ein Pandämonium von Sophismen! Welch ein Schlachtfeld der Leidenschaften! Könnte man nur in gewissen Stunden mit den Blicken hineindringen in das Innere eines Menschen, den seine Gedanken peinigen! Man würde dann hinter der äußern Ruhe des fahlen Antlitzes homerische Riesenkämpfe, wilde Schlachten zwischen Drachen und Hydren, wie in Miltons Paradies, sich abspielen, dicht gedrängte Schaaren von Schreckbildern, wie in Dantes göttlicher Komödie, aufsteigen sehen. Wie schauerlich ist jene unendliche Welt von Ideen und Empfindungen, die jeder Mensch in sich trägt, und an der er mit Verzweiflung die Bestrebungen seines Hirns und die Thaten seines Lebens mißt!

Alighieri sah einst eine Thür, vor der er zurückbebte. Auch wir stehen jetzt vor der Schwelle einer solchen Thür. Wagen wir aber dennoch, sie zu öffnen. Wir haben nur noch wenig zu dem hinzuzufügen, was unseren Lesern über Jean Valjean's Schicksale seit seiner Begegnung mit dem kleinen Gervais schon bekannt ist. Wie schon geschildert, war er von Stunde an ein andrer Mensch. Was der Bischof aus ihm machen wollte, das setzte er in Wirklichkeit um. Sein ganzes Wesen läuterte und verklärte sich.

Es gelang ihm zu verschwinden, er verkaufte das Silbergeschirr des Bischofs mit Ausnahme der Leuchter, die er zum Andenken behielt, schlich sich von Stadt zu Stadt durch ganz Frankreich hindurch bis nach Montreuil-sur-Mer, wo er sich eine unangreifbare Stellung schuf. Hier gab er sich dem Glücksgefühl hin, daß seine schreckliche Vergangenheit durch eine friedvolle, sichre Gegenwart ausgelöscht sei, und der Hoffnung, er würde jetzt verborgen bleiben und einen heiligen Lebenswandel führen können, seinen irdischen Verfolgern entfliehen und zu Gott zurückkehren.

Diese beiden Gedanken waren in seinem Geiste so eng mit einander verschlungen, daß sie ein einziges Ganzes bildeten, sie nahmen gebieterisch sein ganzes Sein in Anspruch und bestimmten seine geringfügigsten Handlungen. Meistentheils herrschte Eintracht zwischen diesen zwei Prinzipien; sie bestimmten ihn, sich bescheiden der Welt und ihrem Glanze zu entziehen, machten ihn wohlwollend und schlicht, und flößten ihm beide dieselben Gedanken ein. Bisweilen jedoch kam es vor, daß sie mit einander in Kampf geriethen. Dann trug der Mann, den ganz Montreuil-sur-Mer nebst Umgegend Herrn Madeleine nannte, kein Bedenken, das erste dem zweiten, seine persönliche Sicherheit seiner Tugend zu opfern. So hatte er, aller Vorsicht und allen Geboten der Klugheit zum Trotze, die Leuchter des Bischofs in seinem Besitz behalten, seinen Wohlthäter betrauert, alle Savoyardenjungen zu sich beschieden und ausgefragt, Erkundigungen über Familien in Faverolles eingezogen, dem alten Fauchelevent trotz Javerts argwöhnischen Bemerkungen das Leben gerettet. Nach dem Vorbilde aller Weisen, Frommen und Gerechten dachte er, daß die Pflichten gegen sich selbst nicht die ersten sind.

Doch war ihm bisher ein so schwieriger Gewissensfall, wie dieser, noch nicht vorgekommen. Noch nie war der Widerstreit zwischen den beiden Grundsätzen, die den Unglücklichen lenkten, ein so heftiger und gefährlicher gewesen. Dies begriff er zwar unklar, aber nachhaltig, bei den ersten Worten Javerts. Als der Name, den er so tief vergraben hatte, unter so sonderbaren Umständen vor ihm ausgesprochen wurde, erfaßte ihn starres Entsetzen, war er wie betäubt, erbebte er wie die Eiche, wenn ein Gewitter naht, wie ein Soldat vor der Schlacht. Er sah in seinem Geiste düstre Wolken über sich, aus denen bald Blitz und Donner hervorbrechen würden. Während er Javerts Worten lauschte, wandelte ihn der Gedanke an, er müsse hineilen, sich angeben, Champmathieu aus dem Gefängniß befreien und seine Stelle einnehmen. Es war schmerzhaft und peinvoll, wie ein Schnitt in sein eigen Fleisch, aber es ging vorüber, und er dachte: Aber – aber! Er unterdrückte also diese erste edle Regung und schrak zurück vor dem heldenmüthigen Opfer.

Freilich, nach den frommen Ermahnungen des Bischofs, nach so langer Reue und Selbstverleugnung, bei dem wunderbar tiefen Reuegefühl, das ihn beseelte, hätte er selbst Angesichts einer so gräßlichen Gefahr nicht einen Augenblick schwanken und ruhig dem Abgrund zuschreiten sollen, der zum Himmel führte; aber so schön dies gewesen wäre, so wenig würde dies der Wahrheit entsprechen, die wir doch allein im Auge behalten müssen. Der Trieb der Selbsterhaltung gewann fürs Erste die Oberhand; er sammelte rasch seine Gedanken, drängte seine Empfindungen zurück, nahm sich vor dem gefährlichen Javert zusammen, schob jede Entscheidung mit der Hartnäckigkeit der Angst für eine spätere Zeit auf, betäubte sein Gewissen und schirmte sich wieder mit seiner alten Ruhe, gleich einem Krieger, der den ihm entfallenen Schild aufhebt.

Den ganzen Tag über verharrte er in diesem Zustande: Innen ein Wirbelsturm, nach Außen eine unbewegliche Maske, – und alle Maßregeln, die er ergriff, waren solche, die ihm die Wege nach den beiden entgegengesetzten Seiten hin offen ließen. In seinem Hirn wogten alle Gedanken wirr durcheinander, er konnte keine klare Vorstellung fassen, und er selber hätte über sich nichts aussagen können, als daß er einen furchtbaren Schlag erhalten. Er begab sich wie gewöhnlich an das Schmerzensbett Fantinens und dehnte seinen Besuch recht lange aus, indem er sich von seiner Herzensgüte dazu getrieben fühlte, alle möglichen Vorkehrungen für den Fall, wo er verreisen würde, zu treffen. Er hatte die Empfindung, daß er vielleicht sich nach Arras verfügen müsse, und ohne sich diese Reise fest vorzunehmen, sagte er sich doch, da er keinen Argwohn zu fürchten habe, sei es ihm unbenommen der Gerichtsverhandlung beizuwohnen und bestellte bei Scaufflaire den Tilbury, um auf alle Fälle vorbereitet zu sein.

Demgemäß ließ er sich auch sein Abendessen leidlich gut schmecken.

Nachdem er sich in sein Zimmer zurückgezogen, sammelte er sich.

Er überdachte seine Lage und fand sie so unerhört fürchterlich, daß er unter einem ihm selber unerklärlichen Impulse plötzlich sich von seinem Stuhl erhob und seine Thür verriegelte. Er fürchtete, es würde noch etwas hereinkommen. Er verbarrikadirte sich gegen mögliches Unheil.

Gleich darauf blies er das Licht aus. Es war ihm unheimlich. Er fürchtete, es könne ihn Jemand sehen.

»Was für ein Jemand?«

Ach! das, was er zur Thür hinausgewiesen hatte, war hereingekommen; was er hätte blenden mögen, sah ihm jetzt ins Auge: Sein Gewissen.

Sein Gewissen, oder in andern Worten Gott.

Indessen in den ersten Augenblicken gab er sich einer beruhigenden Täuschung hin; es überkam ihn die Empfindung, daß er allein und in Sicherheit sei. Nun er den Riegel vorgeschoben, hielt er sich gegen einen Ueberfall gesichert; nachdem er das Licht ausgelöscht, dünkte er sich unsichtbar. Da gewann er die Herrschaft über sich wieder, stützte die Ellbogen auf den Tisch, vergrub den Kopf in seine Hände und begann in der Dunkelheit angestrengt nachzudenken.

»Was geht denn mit mir vor? Träume ich nicht? Was habe ich erfahren? Ist es wirklich wahr, daß ich Javert gesprochen, und daß er mir das Alles erzählt hat? Was mag denn der Champmathieu für ein Mensch sein? Also er ähnelt mir? Wie ist das möglich? Wenn ich denke, wie ruhig ich gestern noch lebte, wie fern mir alle Furcht lag! Was that ich doch gleich gestern zu derselben Zeit? Wie wird sich die Sache weiter entwickeln? Was thun?«

So tobte der Sturm in seinem Innern. Sein Hirn verlor die Fähigkeit, die Gedanken fest zu halten; sie rollten davon wie Wellen, die der Wind vor sich her jagt, und er drückte, als wolle er ihnen die Flucht unmöglich machen, seine Hände fester gegen seine Stirn.

Dieser Aufruhr der Gedanken und Empfindungen, die er in die Form einer klaren Erkenntniß, eines festen Entschlusses zwängen wollte, endeten nur in schwerer Seelenpein.

Der Kopf brannte ihm. Er ging und riß das Fenster weit auf. Dann setzte er sich wieder an den Tisch nieder.

So verlief die erste Stunde.

Allmählich jedoch traten einige Gedanken in schärferen Umrissen auf, und er konnte mit Bestimmtheit, zwar nicht die ganze Sachlage, aber doch gewisse Einzelheiten erkennen. Vor allen Dingen sagte er sich jetzt, daß er den Ausgang der Dinge vollständig in seiner Hand habe.

Das setzte ihn noch mehr in Erstaunen.

Abgesehen von dem religiösen Endzweck seiner Handlungen war Alles, was er bis zu diesem Tage gethan, nur eine Grube, in die er seinen Namen verscharren wollte. Was er immer am meisten gefürchtet hatte, in schlaflosen Nächten oder wenn er sonst Muße gefunden, nachzudenken, war der Gedanke, daß er irgend einmal diesen Namen wieder vernehmen würde. Dann hatte er gedacht, würde alles mit ihm vorbei sein; an dem Tage, wo der Name wieder auftreten würde, müßte das Glück seines zweiten Lebensabschnittes, ja vielleicht sogar die Reinheit seines neuen Wandels ihm entschwinden. Ihm schauderte dann immer bei dem bloßen Gedanken an eine so fürchterliche Umwälzung. Hätte ihm Jemand gesagt, einst werde der gefürchtete Name an sein Ohr klingen, das entsetzliche Licht, das sein Geheimniß aufhellen konnte, würde unversehens über seinem Haupte erglänzen, und dennoch würde der Name keine Drohung für ihn sein, das Licht würde die Finsternis, in die er sich gehüllt, nur verdichten, das Erdleben werde seinen Bau befestigen, dieses wunderbare Ereigniß werde, wenn er es nur wolle, sein Leben aufhellen und doch zugleich besser verhüllen und als Folge seiner Begegnung mit dem Phantom Jean Valjean werde sich nur noch mehr Ehre, Frieden und Sicherheit für den braven hochgestellten Herrn Madeleine ergeben, – wenn Jemand ihm dies gesagt hätte, so würde er den Kopf geschüttelt und solches Gerede für thöricht erklärt haben. Und nun war alles dies eingetreten, dieser Haufen von Unmöglichkeiten hatte sich zu einer vollendeten Thatsache verdichtet, und Gott hatte erlaubt, daß die Verrücktheiten zu Wirklichkeiten geworden waren.

Nun faßte er auch allmählich seine Lage klarer auf.

Ihm war, als erwache er aus einer Art Schlaf, als sehe er erst jetzt, daß er in Gefahr geschwebt hatte in einen Abgrund hinabzugleiten. Er bemerkte jetzt in dem Dunkel, das seinen Geist umnachtet hatte, deutlich einen Fremden, einen Unbekannten, den das Schicksal mit ihm verwechselte und an seiner Stelle in den Abgrund schleuderte. Ein Opfer mußte es bekommen, ob ihn oder seinen Doppelgänger, galt dem Schicksal gleich.

Er brauchte also bloß die Dinge ihren Gang gehen zu lassen. Die Klarheit in seinem Geiste wurde in Folge dieser Einsicht eine vollständige, und er gestand sich Folgendes: Sein Platz im Zuchthaus sei leer geblieben, und müsse, ob er es wolle oder nicht, wieder besetzt werden, da der an dem kleinen Gervais verübte Raub Sühnung erheische. Nun hatte sich aber ein Ersatzmann für ihn gefunden; einen gewissen Champmathieu habe sein Unstern zu dieser Rolle bestimmt, und er hatte, nun er im Zuchthaus durch diesen Champmathieu, in der guten Gesellschaft durch Herrn Madeleine vertreten war, nichts mehr zu befürchten. Dazu brauchte er bloß über dem Haupt seines Doppelgängers den Stein der Schande besiegeln lassen, der wie der Grabstein, der eine Totengrube verschließt, nur einmal niedergesenkt und dann nie wieder entfernt wird.

Alles dies war so gewaltsam und absonderlich, daß sich ein im menschlichen Leben seltenes Gefühl in ihm regte, eine Art Konvulsion des Gewissens, die aus Ironie, Freude und Verzweiflung besteht und ein innerliches Gelächter genannt werden könnte.

Er zündete rasch das Licht wieder an.

»Wovor fürchte ich mich denn so?« sagte er. »Wozu brauche ich mir Gedanken zu machen? Ich bin gerettet. Die Geschichte ist zu Ende. Nur ein Thor stand noch offen, durch das meine Vergangenheit in mein jetziges Leben hineindringen konnte, und dies ist nun für immer geschlossen. Javert, der mich seit so langer Zeit verfolgt, der mit seinem schrecklichen Instinkt mich erkannt zu haben schien, – was schien? – der mich erkannt hatte, dessen feine Spürnase ist jetzt von meiner Fährte völlig abgelenkt. Er eilt einem andern Wilde nach, er wird es einfangen, zufrieden sein, mich zufrieden lassen. Er hat jetzt seinen Jean Valjean. Wer weiß, ja es ist wahrscheinlich, daß er von Montreuil-sur-Mer fortgehen wird. Und alles dies ist ohne mein Zuthun geschehen! Ich habe nicht die Hand dabei im Spiele gehabt. Was in aller Welt ist denn Schlimmes dabei? Sähe mich jetzt Einer, er würde wahrhaftig glauben, mir sei ein fürchterliches Unglück zugestoßen: So thöricht geberde ich mich! Wenn die Sache für irgend Jemand schlecht abläuft, so ist das doch nicht meine Schuld! Die Vorsehung hat es gewollt. Habe ich das Recht ihre Anordnungen rückgängig zu machen? Was will ich denn eigentlich? Womit befasse ich mich? Mit etwas, das mich nichts angeht. Wie komme ich dazu, unzufrieden zu sein? Was will ich denn noch? Das Ziel, dem ich seit so vielen Jahren zustrebe, der Traum meiner Nächte, um was ich den Himmel täglich bitte, Sicherheit, das fällt mir jetzt von selber zu. So will es Gott, gegen den ich mich nicht auflehnen kann. Und warum will es Gott so? Damit ich fortfahre, was ich angefangen, damit ich Gutes thue, damit ich dermaleinst ein schönes und ermuthigendes Beispiel sei, damit endlich einmal erkannt werde, daß auch die Buße und die Tugend das Glück erringen können! Wahrhaftig, ich begreife nicht, weswegen ich vorhin mich besonnen und dem guten Pfarrer nicht gebeichtet, ihm nicht alles erzählt habe. Er hätte mir ganz gewiß denselben Rath gegeben! Also, es bleibt dabei, ich lasse die Dinge gehen, wie Gott will.«

So sprach er in seinem innersten Herzen, stand dann auf und ging in seinem Zimmer auf und nieder.

»Also,« begann er wieder, »daß hab' ich hinter mir. Der Entschluß ist gefaßt.«

Aber er empfand keine Freude.

Im Gegentheil.

Man kann seinen Gedanken ebenso wenig verwehren zu demselben Gegenstande zurückzukehren, wie dem Meer verbieten, daß es gegen seine Ufer brandet. Was für den Seemann die Fluth ist, das sind für den Schuldbewußten die Gewissensbisse. Gott wühlt, wie den Ocean, so auch die Seele auf.

Nach Ablauf weniger Sekunden verfiel er wieder in das Gespräch, indem er zugleich redete und zuhörte, was er gern verschwiegen hätte, aussprach. Trieb ihn doch unwiderstehlich jene geheimnißvolle Macht, die ihm gebot zu denken, wie sie einst einem anderen Verdammten befohlen hatte, fortan ruhelos zu wandern.

Bevor wir weiter gehen und um besser verstanden zu werden, müssen wir eine nothwendige Bemerkung machen.

Es ist gewiß, daß man mit sich selber spricht. Es giebt kein denkendes Wesen, daß dieses Gefühl nicht gehabt hätte. Man sagt etwas zu sich, man spricht mit sich selber, ohne daß darum das Stillschweigen nach außen hin gebrochen würde. Bei dem heftigsten innerlichen Tumult spricht Alles in uns, nur der Mund nicht. Denn mögen die Thatsachen des Innern auch nicht sichtbar oder greifbar sein, Thatsachen sind sie darum doch.

Er stellte sich also jetzt die Frage, welche Bedeutung der »gefaßte« Entschluß habe. Er bekannte sich selber, daß, was er sich so eben in seinem Geist zurecht gelegt habe, eine Ruchlosigkeit sei, daß die »Dinge gehen zu lassen, wie sie gingen, dem lieben Gott nicht entgegen zu treten« einfach eine abscheuliche Verirrung wäre. Diesen Irrthum des Geschicks und der Menschen sich vollziehen lassen, ihn durch sein Stillschweigen nähren, kurz nichts thun hieß Alles thun! Das war der höchste Grad der Heuchelei und Nichtswürdigkeit! Das war ein gemeines, feiges, heimtückisches, erbärmliches, grauenvolles Verbrechen!

Zum ersten Mal seit acht Jahren verspürte jetzt der Unglückliche den bittern Geschmack eines bösen Gedankens, einer schlechten Handlung.

Er wies ihn mit Widerwillen von sich, und befragte sich weiter: »Was hatte er gemeint mit den Worten: Mein Zweck ist erreicht!« Er erklärte, sein Leben habe in der That einen Zweck. Aber welchen? Seinen Namen zu verhehlen, die Polizei hinters Licht zu führen? Weiter hatte er nichts gewollt? Bezweckte er nicht etwas Höheres, Edleres? Schwebte ihm nicht ein schöneres Ziel, vor das einzig wahre? Nicht seinen Leib, sondern seine Seele retten, rechtschaffen und gut werden, ein gerechter sein, das hatte er doch immer gewollt, einzig und allein gewollt, das hatte ihm der Bischof befohlen. Die Thür seiner Vergangenheit zuschließen? Herr, erbarme dich – er schloß sie eben nicht, er that sie wieder auf, wenn er eine schändliche Handlung beging; er wurde wieder ein Dieb, der hassenswerteste aller Diebe; er stahl einem Andern sein Dasein, sein Leben, seinen Frieden, seinen Antheil am Sonnenlicht! Er wurde ein Mörder, denn er tötete moralisch einen Unglücklichen, er fügte ihm einen lebendigen Tod zu, den gratlosen Tod, den man die Zuchthaushaft nennt! Im Gegentheil. Sich dem Arm der Gerechtigkeit überliefern, das Opfer des gräßlichen Irrthums retten, seinen wahren Namen wieder annehmen, aus Pflichtgefühl wieder Jean Valjean werden, das hieß vollends auferstehen und die Hölle, der er entronnen war, zudecken. Was dem Anschein nach sein Verderben war, bedeutete in Wirklichkeit seine Rettung. So mußte er handeln! That er das nicht, so hatte er gar nichts gethan. Dann war sein ganzes Leben unnütz, seine Reue verloren, und er konnte dann nur noch sagen: Wozu alles höhere Streben? Er fühlte, daß der Geist des Bischofs auf ihn niederblicke, daß fortan der Bürgermeister Madelaine mit allen seinen Tugenden ihm ein Greuel, und der Zuchthäusler Jean Valjean dagegen achtungswürdig und rein sein würde, daß die Menschen seine Maske sähen, der Bischof sein wahres Gesicht; daß die Menschen auf sein Leben, der Bischof in sein Inneres schaue. Es galt also nach Arras zu gehen, den falschen Jean Valjean zu befreien, den Wahren anzuzeigen. Ach! es war das schwerste Opfer, der schmerzlichste Sieg, der letzte Schritt, der zu thun war, aber es mußte sein. Welch ein trauriges Geschick war das seine! Er konnte von Gott nicht erhöht werden, wenn er nicht von Seiten der Menschen die tiefste Erniedrigung erfuhr!

»Gut,« sagte er, »es sei beschlossen! Ich will meine Schuldigkeit thun, ich will ihn retten!«

Diese letzten Worte sprach er ganz laut, ohne es zu bemerken.

Er nahm seine Rechnungsbücher vor, sah sie durch und brachte sie in Ordnung. Dann warf er eine Menge Schuldscheine, die seine Forderungen an kleine Handelsleute belegten, ins Feuer. Hierauf setzte er einen Brief auf, versiegelte ihn und schrieb auf den Umschlag die Adresse: An den Herrn Bankier Laffitte, Rue d'Artois. Paris.

Endlich entnahm er einem Schreibpult ein Portefeuille mit Kassenscheinen und den Paß, den er in demselben Jahr gebraucht hatte, um zur Wahl zu gehen.

Wer ihn hierbei beobachtet, wer seine tiefernste Miene gesehen hätte, würde nicht geahnt haben, was in seiner Seele vorging. Nur von Zeit zu Zeit bewegten sich seine Lippen; dann hob er wieder das Haupt empor und richtete seinen Blick auf irgend eine Stelle der Wand, als sei dort etwas, das er ergründen oder befragen wollte.

Nachdem er den Brief an Laffitte fertig gemacht, steckte er ihn, wie auch das Portefeuille in die Tasche und fing wieder an auf und abzugehen.

Seine Gedanken hatten keine andre Richtung angenommen. Noch immer stand vor den Augen seines Geistes in lichtvollen Schriftzeichen das Gebot geschrieben: »Geh! Nenne, denunzire dich!«

Desgleichen erkannte er so deutlich, als hätte sie eine sinnlich wahrnehmbare Gestalt angenommen, ihrem Wesen nach, die beiden Grundsätze, die bisher die Richtschnur seines Lebens gewesen waren: Die Verheimlichung seines Namens und die Heiligung seiner Seele. Zum ersten Mal sah er ein, daß sie durchaus verschieden waren. Er begriff, daß eins dieser Prinzipien ein nothwendig gutes sei, während das andre zum Bösen führen konnte, daß das eine soviel wie Selbstaufopferung, das andre Selbstsucht bedeute; daß das eine dem Licht, das andre der Finsterniß entstammen.

Sie bekämpften sich und er sah diesen Kampf. In dem Maße, wie er über sie nachdachte, waren sie in den Augen seines Geistes größer geworden, zu Kolossen angewachsen, von denen der eine ihm als ein Gott, der andre als ein Titan erschien.

Er war entsetzt, aber es dünkte ihn, daß der edle Grundsatz den Sieg davontrage.

Er fühlte, daß er an dem zweiten Wendepunkt seines innern Lebens und seines äußern Schicksals angelangt sei. Hatte die Begegnung mit dem Bischof den ersten Abschnitt seines neuen Lebens bestimmt, so sollte jetzt die Befreiung Champmathieus' den Anfang der zweiten Periode kennzeichnen. Nach der großen Krisis die große Prüfung.

Indessen trat das Fieber, das einen Augenblick nachgelassen hatte, wieder auf. Tausend Gedanken durchkreuzten sein Hirn, bestärkten ihn aber nur in seinem Entschlusse.

Eine Zeit lang hatte er den Einwand erhoben, er nahm es vielleicht zu genau, vielleicht verdiene Champmathieu keine Theilnahme, der Mensch sei ja doch nur ein Spitzbube.

Diesen Einwurf widerlegte er sich aber: – Hatte der Mann wirklich ein paar Aepfel gestohlen, so gehörte ihm ein Monat Gefängnis, was sehr verschieden ist von lebenslänglicher Zuchthausstrafe. Und hat er denn überhaupt gestohlen? Liegen Beweise vor? Der Name Jean Valjean klagt ihn an und erläßt alle Beweise. Verfahren die Staatsanwälte nicht immer so? Sie halten Einen für einen Dieb, weil er Zuchthaussträfling gewesen ist.

Einmal ließ er sich den Gedanken beikommen, wenn er sich den Gerichten stelle, würde man ihm vielleicht die heldenmüthige Selbstüberwindung, und seinen rechtschaffenen Lebenswandel während der letzten sieben Jahre, seine Verdienste um die Stadt anrechnen und Gnade für Recht ergehen lassen.

Aber diese Hoffnung verflüchtigte sich rasch, und er erinnerte sich mit bittrem Lächeln, daß der Raub der vierzig Sous ihn zu einem rückfälligen Verbrecher stemple. Dieser Fall würde sicherlich anhängig gemacht werden und dann verfiel er dem klaren Wortlaut des Gesetzes gemäß, einer Verurtheilung zu lebenslänglichem Zuchthaus.

Er entsagte also jedweder trügerischen Hoffnung, lenkte seinen Sinn mehr und mehr von allem Irdischen ab und suchte anderswo Trost und Kraft. Er sagte sich, er müsse seine Schuldigkeit thun, vielleicht würde er nach Erfüllung seiner Pflicht nicht unglücklicher sein, als wenn er sie umginge; wenn er die Dinge ihren Gang gehen ließe, wenn er in Montreuil-sur-Mer bleibe, würde sein guter Ruf, seine guten Werke, die Hochachtung und Verehrung, die man ihm zollte, sein Reichthum, die Beliebtheit, der er sich erfreute, seine Tugendhaftigkeit durch ein Verbrechen entwertet sein. Vollbringe er aber das Opfer, so würde ihm das Leben im Zuchthaus mit dem Halseisen, der Kette, der grünen Mütze, der harten Arbeit, der Schande, und Verachtung durch den Gedanken an den Himmel versüßt werden.

Die Erwägung so vieler schrecklicher Zweifel schwächte nicht seinen Muth, ermüdete aber sein Gehirn. Wider Willen verfiel er auf andre, unwichtigere Gedanken.

Das Blut hämmerte heftig in seinen Schläfen und er ging noch immer auf und ab. Jetzt schlug die Kirchthurmuhr, dann die Uhr des Rathhauses Mitternacht. Er zählte beide Male die Schläge und verglich den Ton der Glocken. Ja, es fiel ihm sogar der höchst gleichgültige Umstand ein, daß er vor einigen Tagen bei einem Eisenhändler eine alte Glocke mit der Aufschrift: »Antoine Albin, Romainville« gesehen hatte.

Ihn fror. Er zündete Feuer im Kamin an. Das Fenster zuzumachen, daran dachte er nicht.

Währenddem war er wieder in dumpfe Gedankenlosigkeit versunken, und es kostete ihm ziemlich viel Mühe, um sich auf das zu besinnen, was seinen Geist vor Mitternacht beschäftigt hatte.

»Ach so!« sagte er bei sich, »ich hatte beschlossen mich den Gerichten anzugeben.«

Da fiel ihm plötzlich Fantine ein.

»Ja, was soll denn aber aus der werden?«

Dieser Gedanke führte eine neue Krisis herbei.

Er wirkte, wie ein unerwarteter Lichtstrahl, der urplötzlich alle Gegenstände ganz anders erscheinen läßt.

»Was soll das heißen? Ich habe ja bis jetzt immer nur an mich gedacht, nur auf mein Belieben Rücksicht genommen. Es beliebt mir zu schweigen oder mich zu denunzieren, meine Person in Sicherheit zu bringen oder meine Seele zu retten, ein verächtlicher und geachteter Beamter oder ein verachteter und Ehrfurcht verdienender Sträfling zu sein, aber ob das Eine, oder das Andere, immer beziehe ich Alles nur auf mich, auf mich allein! Du mein Gott! das ist Alles Selbstsucht. Verschiedene Formen des Egoismus, aber immer Egoismus. Wie wenn ich auch einmal ein wenig an Andre dächte? Das ist doch die allererste Pflicht. Ich will doch mal die Sache auch unter diesem Gesichtspunkt betrachten. Wenn ich nicht mehr da bin, wie wird's dann hier aussehen? – Wenn ich mich dem Gericht stelle, so stecken sie mich wieder in's Zuchthaus. Gut. Aber es ist doch noch der Bezirk, die Stadt, die Fabriken, eine neu geschaffene Industrie, die Arbeiter mit ihren Familien, die armen Leute da! Das Alles habe ich in's Leben gerufen und erhalte ich im Gange, überall, wo ein Kamin raucht, habe ich das Feuer angezündet und Fleisch in den Kochtopf gethan; ich habe den Wohlstand, den Verkehr, den Kredit ermöglicht; vor mir war das Alles nicht; ich habe das ganze Land gehoben, belebt, beseelt, befruchtet, angeregt, bereichert; gehe ich, so fehlt dem Ganzen die Seele. Und die Arme, die so viel erduldet, die sich trotz der Schande so tapfer gezeigt hat, deren Unglück ich ohne meine Schuld veranlaßt habe! Und das Kind, das ich holen und der Mutter bringen wollte! Schulde ich ihr nicht auch etwas für all das Unheil, das ich über sie gebracht habe. Verschwinde ich – was geschieht dann? Die Mutter stirbt, und das Kind ist dem Schlimmsten ausgesetzt. Alles dies passirt, wenn ich mich anzeige. Wenn ich mich nicht anzeige – nun?

Nachdem er diese Frage aufgeworfen, hielt er inne; zauderte eine Weile und zitterte; aber dies währte nicht lange und er beantwortete die Frage mit großer Ruhe:

»Nun dann kommt Champmathieu allerdings ins Zuchthaus, aber warum zum Teufel hat er denn gestohlen? Ich mag reden, so viel ich will: Gestohlen hat er. Ich bleibe hier und setze mein Werk fort. Im Laufe von zehn Jahren verdiene ich zehn Millionen; die verschenke, die verwende ich zum Nutzen des Gemeinwohls. Ich behalte nichts für mich; mein Vortheil bleibt bei Allem, was ich thue, aus dem Spiel. Der allgemeine Wohlstand nimmt beständig zu; neue Erwerbszweige entstehen und beleben sich gegenseitig; die Fabriken vermehren sich; die Familien, Hunderte, Tausende von Familien werden glücklich; das Land bevölkert sich; es entstehen Dörfer, wo früher nur vereinzelte Gehöfte standen; Gehöfte, wo jetzt Einöden sind; das Elend verschwindet und mit dem Elend die Lüderlichkeit, die Prostitution, Diebstahl, Mord, alle Laster, alle Verbrechen. Bleibe ich also, so kann die arme Mutter ihr Kind groß ziehen und die Bevölkerung eines ganzen Landes wird wohlhabend und brav. War ich denn ganz des Teufels, ganz verdreht, daß ich mich denunziren wollte? Ich muß mir wirklich die Sachen sorgfältiger überlegen und nichts überstürzen. Wie? Weil es mir belieben würde mit einer melodramatischen Seelengröße zu prahlen, weil ich nur an mich denken würde, wer weiß, was für einen Kerl, einen Spitzbuben, jedenfalls aber einen Thunichtgut vor einer zu harten, aber im Grunde genommen verdienten Strafe retten möchte, sollte ich ein ganzes Land zu Grunde gehen lassen, müßte ein armes Weib im Spital, ein armes kleines Mädchen auf der Straße umkommen, als wenn es Hunde wären! Das wäre ja ganz was Abscheuliches! Bevor die Mutter ihre Tochter wieder gesehen, die Tochter ihre Mutter kennen gelernt hat! Und alles dies einem lumpigen alten Apfeldieb zu Liebe, der, wenn nicht deswegen, doch gewiß für irgend etwas Anderes Zuchthaus verdient hat. Nette Gewissenhaftigkeit, wenn man einen Schuldigen rettet und unzählige Unschuldige hinopfert! Wie kann ein alter Strolch, der nur noch wenige Jahre zu leben hat und im Zuchthaus sich nicht viel unglücklicher fühlen wird, in Betracht kommen gegen ein ganzes Volk von Müttern, Frauen, Kindern! Die arme kleine Cosette hat nur noch mich auf der ganzen Welt und hat in diesem Augenblick die bitterste Kälte zu leiden! Uebrigens auch herrliches Gesindel, die Thénardiers! Diese Unglücklichen alle sollte ich also im Stich lassen! Und gesetzt auch, ich beginge ein Unrecht, ich setzte mich Gewissensbissen aus, so würde ich mir ein großes Verdienst erwerben, indem ich, um das Wohl Anderer zu fördern, mit einer schlechten Handlung mein Seelenheil gefährdete!«

Mit diesen Worten, stand er auf und ging wieder im Zimmer hin und her. Dies Mal glaubte er mit sich zufrieden zu sein.

Wie man die Diamanten nur in den Tiefen der Erde findet, so entdeckt man auch die Wahrheit nur, wenn man ihr lange und fleißig nachgräbt. So glaubte auch Madeleine jetzt, nachdem er so lange gegrübelt, endlich die Wahrheit zu Tage gefördert zu haben, und freute sich an dem blendenden Glanze des herrlichen Kleinodes.

»Ja ja,« dachte er, »so ist's richtig. Das Problem ist gelöst. Ich weiß jetzt, woran ich mich zu halten habe. Jetzt nicht mehr gewankt und geschwankt! Das Interesse Aller erheischt es so, nicht das meinige. Ich bin Madeleine und will Madeleine bleiben. Wehe Dem, der Jean Valjean ist! Ich bin's nicht mehr! Ich kenne den Menschen nicht, weiß nicht, wer er ist. Fügt es sich jetzt so, daß Einer Jean Valjean heißt, so mag er zusehen, wie er fertig wird. Mich geht das nichts an. Es ist nun einmal ein Unglücksname, der herrenlos in der Luft schwebt, und fällt er auf irgend Jemand herab, so kann ich es nicht ändern!«

Er besah sich in dem kleinen Spiegel, der über dem Kamin hing und sagte:

»Sieh' da! Der Entschluß hat mir Erleichterung verschafft. Ich sehe jetzt weit besser aus.«

Wieder that er einige Schritte und blieb dann stehen:

»Vorwärts! Jetzt heißt es, die Konsequenzen des gefaßten Entschlusses ziehen. Noch giebt es Fäden, die mich mit Jean Valjean verbinden! Die muß ich zerschneiden! In eben diesem Zimmer befinden sich noch Gegenstände, die mich anklagen, stumme Zeugen, die gegen mich aussagen könnten. Die müssen vernichtet werden!«

Er griff in seine Tasche, holte seine Börse heraus und entnahm ihr einen kleinen Schlüssel.

Diesen steckte er in ein Schlößchen, das durch ein dunkles Feld der Tapete fast ganz bedeckt und kaum sichtbar war, und öffnete eine kleine Thür zu einem versteckten Wandschrank. Es befanden sich darin nur einige zerlumpte Kleidungsstücke, ein blauer Leinwandkittel, ein paar alte Beinkleider, ein alter Tornister und ein an beiden Enden mit Eisen beschlagener Knotenstock. Die Jean Valjean im Oktober des Jahres 1815 in Digne gesehen hatten, würden leicht die verschiedenen Stücke dieser elenden Ausrüstung wieder erkannt haben.

Er hatte sie, wie die Leuchter, zur Erinnerung an seinen Ausgangspunkt aufbewahrt, mit dem Unterschiede, daß er, was er aus dem Zuchthaus mitgebracht, versteckte, und das Geschenk des Bischofs sehen ließ.

Nun warf er einen verstohlenen Blick nach der Thür, als fürchtete er, sie könnte, trotzdem der Riegel vorgeschoben war, sich öffnen; dann raffte er hastig Alles zusammen, ohne alle diese Gegenstände, die er so lange Jahre so sorgsam und mit so viel Gefahr aufbewahrt hatte, auch nur eines Blickes zu würdigen, und warf alles in's Feuer.

Dann verschloß er wieder den Wandschrank und schob mit durchaus überflüssiger Vorsicht – denn der Versteck war ja jetzt seines Inhalts entleert – ein schweres Möbel vor.

Nach Verlauf einiger Sekunden erhellte das Zimmer und das gegenüberliegende Haus ein grelles rothes Flammenfeuer. Alles brannte. Der Knotenstock knisterte und sprühte bis in die Mitte des Zimmers helle Funken.

In der Asche, die der verbrannte Tornister nebst den darin enthaltenen greulichen Lumpen zurückließ blieb etwas Glänzendes zurück, ein Geldstück, wahrscheinlich das dem Savoyarden gestohlene Zweifrankenstück.

Er aber beachtete nicht das Feuer, sondern ging mit gleichen Schritten auf und nieder.

Plötzlich blieben seine Augen an den beiden silbernen Leuchtern haften, die vom Wiederschein des Feuers matt erglänzten.

»Halt!« dachte er. »Das genügt Jean Valjean zu verderben. Das muß auch weg.«

Das Feuer im Kamin war stark genug, die Leuchter in eine unförmliche Masse umzuschmelzen.

Er bückte sich und wärmte sich einen Augenblick, was ihm wohl that. »Wie gemüthlich solch' ein Feuer ist!« dachte er.

Dann rührte er in der Kohlengluth mit einem der Leuchter herum und warf sie dann beide in die Flammen.

In dem Augenblick war es ihm, als rufe in seinem Innern eine Stimme:

»Jean Valjean! Jean Valjean!«

Die Haare standen ihm zu Berge. Er hörte mit Entsetzen zu.

»So ist's recht! So fahre fort! rief die Stimme. Vollende dein Werk! Vernichte dieses Andenken! Vergiß den Bischof! Vergiß Alles! Verderbe Champmathieu! Sehr gut! Darauf kannst Du stolz sein. Die Sache ist also entschieden beschlossen, abgemacht! Der alte Mann, der nicht weiß, was man von ihm will, der vielleicht nichts Böses gethan, ein Unschuldiger, den dein Name in's Unglück stürzt, auf dem dein Name wie ein Verbrechen lastet, soll an deiner Statt verurtheilt werden, soll sein Leben in Jammer und Elend beschließen! Sehr schön! Bleibe der Herr Bürgermeister, bleibe ein ehrenwerthes und geehrtes Mitglied der guten Gesellschaft, mache die Stadt reich, ernähre die Bedürftigen, erziehe Waisen, sei glücklich, tugendhaft und bewundert. Während Du hier im Lichte und in Freuden lebst, wird ja Einer mit Schande für dich die rothe Jacke tragen, deine Kette herumschleppen! So ist es schön eingerichtet! O Du Nichtswürdiger!«

Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er starrte entsetzt die Leuchter an. Aber die Stimme in ihm fuhr fort:

»Jean Valjean! Es werden sich um dich viel Stimmen erheben, die dich preisen und segnen werden, und nur eine, die Niemand hören, und dich im Dunkel der Verborgenheit verfluchen wird! Nun höre, Du Elender: All die Segenswünsche werden, ehe sie den Himmel erreichen, wieder zurückfallen, und nur der Fluch wird zu Gott emporsteigen!«

Diese – anfänglich schwache – Stimme seines innersten Gewissens war allmählich so gewaltig und schrecklich geworden, daß er sie mit seinem äußeren leiblichen Ohr zu hören glaubte, und sich bei den letzten Worten erschrocken umwandte:

»Ist Jemand hier?« fragte er laut.

Gleich darauf lachte er wie ein Idiot.

»Bin ich dumm! Es kann ja Niemand hier sein.«

Es war doch Einer da, Einer, den Menschenaugen nicht wahrnehmen können.

Er stellte die Leuchter auf das Kamingesims.

Dann nahm er den eintönigen Marsch im Zimmer wieder auf, der den in ihm schlafenden Menschen aus seinen Träumen aufschreckte.

Die körperliche Bewegung that ihm wohl und berauschte ihn zu gleicher Zeit. Es ist, als empfinde man bisweilen in der höchsten Seelenangst das Bedürfniß, alles Mögliche, was man bei einem Gange auf seinem Wege sieht, um Rath zu fragen. Aber nach Verlauf weniger Sekunden wußte Madeleine nicht mehr, wie er bekehrt war.

Jetzt flößten ihm alle beiden Alternativen gleichen Schrecken ein. Welch ein fürchterlicher Zufall! Daß dieser Champmathieu mit einem Mal auftauchte und mit ihm verwechselt wurde! Daß er gerade durch das Mittel, das die Vorsehung anfänglich zu seiner Sicherung gebraucht hatte, jetzt zu Fall gebracht wurde!

Es trat ein Augenblick ein, wo er sich die Zukunft ausmalte. Großer Gott! Wie würde das werden, wenn er sich den Gerichten auslieferte! Mit grenzenloser Verzweiflung zählte er sich Alles auf, was er verlassen und was er wieder aufnehmen sollte. Es handelte sich also darum, dem angenehmen, schönen, glänzenden Dasein, das er geführt hatte, der allgemeinen Achtung, der Ehre, der Freiheit Lebewohl zu sagen! Er sollte nicht mehr auf den Feldern lustwandeln, die Vöglein im Monat Mai nicht mehr singen hören, die Kinder nicht mehr mit Almosen beglücken können! Er sollte nicht mehr die Annehmlichkeit der liebevollen und dankbaren Blicke empfinden, die ihm zu folgen pflegten! Er sollte das Haus, das er gebaut, sein trauliches Zimmer für immer verlassen! Jetzt gefiel ihm Alles so sehr! Er würde nicht mehr in seinen Büchern lesen, nicht mehr an dem kleinen Schreibtisch arbeiten. Die alte Portierfrau würde ihm nicht mehr des Morgens seinen Kaffee heraufbringen. Stattdessen – barmherziger Gott! – das Zuchthaus, das Halseisen, die rothe Jacke, die Kette am Fuß, schwere Arbeit, die Dunkelzelle, das Feldbett, Qualen, die ihm nur zu sehr bekannt waren! In seinem Alter und nachdem er so viel Besseres kennen gelernt hatte! Wenn er wenigstens noch jung gewesen wäre! Aber wenn man alt ist, geduzt, vom Aufseher visitirt werden, von dem Profoß Stockschläge bekommen, mit bloßen Füßen in eisenbeschlagenen Schuhen gehen, jeden Morgen und jeden Abend das Bein dem Hammer des Aufsehers darbieten mußte, der den Eisenring zu untersuchen hat! Ein Gegenstand der Neugierde zu sein für die Fremden, denen man erzählen würde: »Der da ist der berühmte Jean Valjean, der Bürgermeister in Montreuil-sur-Mer gewesen ist.« Am Abend in Schweiß gebadet, todtmüde, die grüne Mütze über den Augen unter der Peitsche des Sergeanten die Treppe zu dem schwimmenden Bagno emporsteigen! Wie grauenvoll! Kann denn das Schicksal boshaft sein, wie ein mit Vernunft begabtes Wesen und ausarten wie das Menschenherz?

Also, wie sehr er auch sein Hirn zermarterte, immer starrte ihm die fürchterliche Frage entgegen, ob er im Himmel bleiben und zu den Teufeln herabsinken oder ob er in die Hölle zurückkehren und ein Engel werden wolle.

Was thun, großer Gott! Was thun?

Der Sturm in seinem Innern, aus dem er sich mit so großer Schwierigkeit gerettet hatte, raste von Neuem los. Seine Begriffe fingen an sich zu verwirren. Sein Hirn wurde dumpf und arbeitete maschinenmäßig, ein Zustand, der bei verzweifelter Gemüthsstimmung einzutreten pflegt. Der Name Romainville nebst zwei Versen eines Liedes, das er ehedem hatte singen hören, tauchte jetzt fortwährend in seinem Gehirn auf. So heißt ein Gehölz bei Paris, wo junge Liebespaare im Monat April Flieder pflücken.

Auch körperlich fühlte er sich jetzt schwach und schwankte beim Gehen, wie ein kleines Kind, das seine ersten Schritte allein macht.

Ab und zu versuchte er wohl gegen seine Ermattung anzukämpfen und die Herrschaft über seine Gedanken wiederzugewinnen. Zum letzten Male und um zu einem endgiltigen Entschlusse zu gelangen, stellte er sich die Frage, die sein Hirn abgemattet hatte: Soll ich mich ausliefern oder schweigen? Er konnte aber zu keiner Klarheit gelangen. Die Ergebnisse seines mühevollen Nachdenkens verloren alle scharfen Umrisse und verflogen in das Nichts, Nur so viel wurde ihm klar: Wie er sich auch entscheiden würde, ein Theil seines Ichs mußte nothgedrungen und unabwendbarer Weise sterben; in ein Grab stieg er immer, ob er sich nach rechts oder nach links wandte; es war mit seinem Glück oder mit seiner Tugend zu Ende,

Ach! die Unschlüssigkeit war wieder da. Er war nicht weiter, als zu Anfang,

So qualvoll rang der Unglückliche mit seinen Zweifeln. Achtzehnhundert Jahre vor ihm hatte in derselben Weise das geheimnisvolle Wesen, in dem sich alle Tugenden und alle Leiden der Menschheit konzentrirten, umrauscht von den Oelbäumen Gethsemanes lange den Kelch von sich gewiesen, auf dessen Grund sein Auge die dichte Finsterniß der Hölle und das heitere Licht des Himmels schaute.

IV.
Die Form, die Seelenqualen während des Schlafes annehmen

Drei Uhr hatte es so eben geschlagen und fünf Stunden lang wandelte er nun schon, fast ununterbrochen, in dem Zimmer auf und nieder, als er endlich auf seinen Stuhl sank und einschlief.

Da hatte er einen Traum, der wie die meisten Träume mit der gegenwärtigen Lage nur eine ganz lose, aber beängstigende Beziehung hatte, aber er machte Eindruck auf ihn, so daß er ihn niederschrieb. Diese Erzählung ist unter seinen andern Papieren aufgefunden worden, und wir halten es der Mühe wert, ihn hier wörtlich wiederzugeben.

Wie man auch über diesen Traum denken möge, – die Geschichte dieser Nacht würde unvollständig bleiben, wollten wir ihn mit Stillschweigen übergehen. Es ist ein düstres Erlebnis eines kranken Gemüths.

Auf dem Umschlag, in dem sich das betreffende Papier befindet, lesen wir die Worte: Der Traum, den ich in jener Nacht gehabt habe.

Die Erzählung lautet folgendermaßen:

»Ich war auf einem großen Felde, einer Einöde, in der kein Gras wuchs. Es sah weder aus, ob Tag, noch ob Nacht wäre.

Ich machte einen Spaziergang mit meinem Bruder, dem Bruder meiner Kindheit, an den ich – wohl bemerkt – nie denke, und auf den ich mich nicht mehr recht besinnen kann.

Wir plauderten und begegneten Leuten. Wir sprachen von einer Frau, die in dem Hause nebenan wohnte und bei offnem Fenster zu arbeiten pflegte. Während des Gesprächs fror uns, weil das Fenster offen stand.

Auf dem Felde wuchsen keine Bäume.

Da sahen wir einen Mann, der an uns vorbeikam. Er war ganz nackt, aschfarben und ritt auf einem erdfahlen Rosse. Er hatte keine Haare und man konnte seinen Schädel so wie die Adern darauf sehen. In der Hand hielt er eine Ruthe, die biegsam war wie eine Weinranke und schwer wie Eisen. Er ritt vorüber und sprach nicht zu uns.

Da sagte mein Bruder: »Wir wollen durch den Hohlweg gehen.«

In dem Hohlweg sah man keinen Strauch, kein Moos. Alles war erdfarben, sogar der Himmel. Als ich einige Schritte gegangen war, bekam ich keine Antwort mehr, wenn ich sprach. Da bemerkte ich, daß mein Bruder nicht mehr bei mir war.

Ich ging in ein Dorf, das ich sah. Ich dachte mir, es müßte Romainville sein. (Warum Romainville?)Diese Parenthese ist von Jean Valjeans Hand.

Die erste Straße war menschenleer. Ich kam in die zweite. Da stand dicht an der, von der ersten und dieser Straße gebildeten Ecke ein Mann an die Mauer gelehnt. Diesen Mann fragte ich: Was ist das für ein Ort? Wo bin ich? Aber er antwortete nicht.

Da sah ich eine offene Hausthür und ging hinein.

Das erste Zimmer war leer. Ich trat in das zweite. Hinter der Thür dieses Zimmers stand ein Mann an die Wand gelehnt. Diesen Mann fragte ich: Wem gehört dieses Haus? Wo bin ich? Er antwortete nicht.

Das Haus hatte einen Garten. Ich ging aus dem Hause hinaus und in den Garten hinein. Hinter dem ersten Baum stand ein Mann. Diesen fragte ich: Was ist das für ein Garten? Wo bin ich? Er antwortete nicht.

Ich irrte in dem Dorf herum und bemerkte, daß es eine Stadt war. Alle Straßen waren menschenleer, alle Thüren standen offen. Kein lebendes Wesen ging auf der Straße, in den Zimmern, in den Gärten. Aber hinter jeder Straßenecke, hinter jeder Thür, hinter jedem Baum stand ein Mann, der still schwieg. Man sah immer nur je einen. Diese Leute sahen mich an, wenn ich an ihnen vorüberging.

Nun ging ich zur Stadt hinaus und marschirte querfeldein.

Nach einer Weile wendete ich mich um und erblickte eine große Menge Menschen, die hinter mir gingen. Ich erkannte in ihnen die Leute, die ich in der Stadt gesehen hatte. Sie hatten sonderbare Gesichter. Es hatte nicht den Anschein, als beeilten sie sich und dennoch kamen sie rascher vorwärts, als ich. Sie machten kein Geräusch beim Gehen. Im Nu holte mich diese Menschenmenge ein und umringte mich. Die Gesichter dieser Leute waren erdfahl.

Da sprach der erste, den ich in der Stadt gesehen und gefragt hatte, zu mir: Wo gehst Du hin? Weißt Du nicht, daß Du schon lange tot bist?

Ich that den Mund auf, ihm zu antworten und bemerkte, daß Niemand mehr da war.«

Er wachte auf. Ihm war eisig kalt. Der Morgenwind bewegte die Fensterflügel, die offen geblieben waren. Das Kaminfeuer war ausgegangen, das Stearinlicht dem Erlöschen nahe. Noch herrschte finstere Nacht.

Er stand auf und trat an das Fenster. Auch jetzt noch stand kein Stern am Himmel.

Von seinem Fenster aus konnte man den Hof und die Straße überblicken. Plötzlich veranlaßte ihn ein scharfes und knappes Geräusch, das sich unten vernehmen ließ, die Augen niederzusenken.

Er sah unter sich zwei rothe Sterne, deren Strahlen in der Dunkelheit seltsam hin und her zuckten.

Da sein Gehirn noch halb von Traumnebeln umfangen war, kam er auf den sonderbaren Einfall: »Es stehen keine Sterne am Himmel, dafür sind aber jetzt welche auf der Erde.«

Indessen kehrte jetzt sein Bewußtsein völlig zurück, er sah wieder hin und bemerkte, daß die beiden Sterne die Laternen eines Wagens waren. Bei der Helle, die sie um sich verbreiteten, konnte er die Form des Gefährts erkennen. Es war ein Tilbury, der mit einem kleinen Schimmel bespannt war. Das Geräusch, das er so eben vernommen hatte, kam von Hufschlägen her.

»Was mag denn das für ein Wagen sein?« dachte er bei sich. »Wer kommt denn so früh?«

In demselben Augenblick wurde leise an seine Thür geklopft.

Er erbebte am ganzen Körper und fragte mit zorniger Stimme:

»Wer ist da?«

»Ich, Herr Bürgermeister.«

Er erkannte die Stimme der alten Portierfrau.

»Nun, was giebt's?«

»Herr Bürgermeister, es ist gleich fünf Uhr.«

»Was schiert das mich?«

»Herr Bürgermeister, der Wagen!«

»Was für ein Wagen?«

»Der Tilbury.«

»Was für ein Tilbury?«

»Haben der Herr Bürgermeister nicht einen Tilbury bestellt?«

»Nein!«

»Der Kutscher sagt, er wäre hierher geschickt?«

»Was für ein Kutscher?«

»Der Kutscher von Herrn Scaufflaire.«

»Herr Scaufflaire?«

Bei der Nennung dieses Namens fuhr er zusammen, als wäre ein Blitz vor ihm niedergefahren.

Hätte die alte Frau ihn in diesem Augenblicke sehen können, sie wäre entsetzt gewesen.

Es trat eine ziemlich lange Pause ein. Er starrte stumpfsinnig in die Flamme der Kerze und nahm mechanisch von dem Docht das heiße Wachs ab, das er zwischen seinen Fingern rollte. Die Alte wartete unterdessen. Endlich aber fragte sie sehr laut:

»Herr Bürgermeister, was soll ich antworten?«

»Daß Alles in Ordnung ist, und daß ich herunterkomme.«

V.
Hemmnisse

Die Postfuhrwerke, die damals noch seit Napoleons Zeit zwischen Arras und Montreuil-sur-Mer den Briefverkehr besorgten, waren zweirädrige Kabriolette, die inwendig mit falbem Leder ausgeschlagen waren, auf Schraubenfedern ruhten und nur zwei Sitze hatten, einen für den Kourier, den andern für den Fahrgast. Die Räder waren mit langen Naben bewaffnet, die dazu dienten, andere Fuhrwerke in respektvoller Entfernung zu halten, und die man noch auf deutschen Landstraßen zu sehen bekommt. Der Depeschenkoffer, ein riesiger langer Kasten, war hinten angebracht und aus einem Stück mit dem Kabriolett. Der Koffer war schwarz, das Kabriolett gelb angestrichen.

Diese Wagen, die heutzutage vollständig abgekommen sind, sahen ungestaltet und bucklig aus. Wenn man sie aus der Ferne sah, glichen sie jenen Kriechthieren, die man, glaube ich, Termiten nennt und einen dünnen Vorderleib haben, während der hintere Theil des Körpers sehr stark ist. Sie fuhren übrigens sehr schnell. Die Briefpost, die um ein Uhr Nachts von Arras nach der Ankunft des Pariser Kouriers, abfuhr, traf in Montreuil-sur-Mer vor fünf Uhr Morgens ein.

In jener Nacht stieß das Postkabriolett auf dem Wege von Hesden nach Montreuil-sur-Mer bei der Biegung einer Straße; eben als es in die Stadt einfahren wollte, mit einem kleinen Tilbury heftig zusammen, der nach der entgegengesetzten Richtung fuhr und in dem nur eine Person saß, ein Mann in einen Mantel gehüllt. Der Kurier rief ihm zu, er solle anhalten; aber der Andre hörte nicht auf ihn und eilte in scharfem Trabe weiter.

»Der hat's verteufelt eilig!« meinte der Kurier.

Der sich so beeilte, war derselbe Mann, dessen bemitleidenswerten Seelenkampf wir oben beschrieben haben.

Wo wollte er hin? Er hätte es nicht sagen können. Warum eilte er so? Er wußte es nicht. Er fuhr auf's Gerathewohl vor sich hin? Wohin? Ohne Zweifel nach Arras; aber vielleicht auch noch anderswohin. Zeitweise fühlte er dies und erschrack. Er fuhr in die dunkle Zukunft, wie in einen Abgrund hinein. Es trieb, es zog ihn etwas hin. Was in ihm vorging, könnte Niemand sagen; Alle aber werden es verstehen. Welcher Mensch hat nicht wenigstens ein Mal in seinem Leben die dunkle Höhle des Unbekannten betreten?

Er hatte überhaupt nichts beschlossen, nichts entschieden, nichts geregelt, nichts abgemacht. Keiner der Akte seines Gewissens war ein endgültiger. Er stand immer am Anfang.

Warum begab er sich nach Arras?

Er wiederholte sich unaufhörlich seine Auffassung der Lage, wie er sie sich schon, als er den Wagen bei Scaufflaire bestellte, gebildet hatte. Wie die Sache auch ablaufen würde, dachte er, es könne nicht schaden, wenn er Alles mit seinen eigenen Augen sähe und selber die Entwickelung der Dinge beurtheile. Das gebiete ihm sogar die Vorsicht. So sei er der Gefahr ausgesetzt, zu ängstlich, zu skrupulös zu verfahren. Wüßte er erst, weß Geistes Kind Champmathieu sei, wäre es ein schlechter Kerl, so würde er sich kein Gewissen mehr daraus zu machen brauchen, daß er ihn an seiner Statt in's Zuchthaus wandern ließe. Allerdings würde Javert und Brevet, Chenildieu, Cochepaille zur Stelle sein; aber die würden ihn sicherlich nicht wiedererkennen. Das wäre! Javert lagen dergleichen Vermuthungen wer weiß wie fern. Alle hätten nun einmal Verdacht auf Champmathieu, und solch ein Verdacht sei schwer zu entwurzeln. Es sei also nichts zu befürchten.

Eine schwere Prüfung wäre es freilich, aber er würde sie überstehen. Hänge doch sein Schicksal, möge ihm noch so Schlimmes drohen, von ihm ab. Namentlich an diesen Gedanken klammerte er sich.

Im Grunde genommen, freilich hätte er lieber nicht nach Arras gehen mögen.

Trotzdem ging er.

Während er sich diesen trübsinnigen Grübeleien hingab, peitschte er von Zeit zu Zeit sein Pferdchen, das wacker seine Schuldigkeit that.

In dem Maße, wie sein Wagen vorwärts kam, fühlte er etwas in sich, das mehr und mehr zurückwich.

Bei Tagesanbruch befand er sich auf freiem Felde; Montreuil-sur-Mer lag weit hinter ihm. Der Horizont färbte sich weiß, vor Madeleines Augen glitten, ohne daß er sie recht gewahrte, all die frostigen Gestalten hin, die dem Blick des Beschauers das Grauen eines Wintertages darbietet. Man kann auch des Morgens, eben so gut wie des Abends, graulige Dinge zu sehen bekommen. Er, freilich, sah sie nicht, aber ohne, daß er es inne wurde, so zu sagen auf physische Weise, verfinsterten die schwarzen Schatten der Bäume und Hügel sein wild aufgeregtes Gemüth noch mehr.

Jedesmal, wenn er an einem der hier sehr dünn gesäten Häuser vorbeikam, dachte er sich: »Wie glücklich sind, die schlafen dürfen!«

Der Hufschlag des Pferdes, das Geklingel der Glöckchen, das Rädergerassel, einförmige Geräusche, die sich angenehm und gemüthlich anhören, wenn man guter Dinge ist, hatten für sein Ohr einen grausigen Klang.

Es war heller Tag, als er in Hesdin ankam. Er hielt vor einer Herberge an, um seinen Schimmel verschnaufen und füttern zu lassen.

Das Pferd war, wie Scaufflaire richtig gesagt hatte, von boulognischer Race, die verschiedne Fehler z. B. einen zu starken Kopf und zu starken Bauch hat, aber dafür besaß es eine breite Brust, ein starkes Kreuz, magre und schlanke Beine und solide Füße, so unschön diese Race auch sein mag sie ist kräftig und gesund. Das brave Thierchen hatte in zwei Stunden seine fünf Meilen zurückgelegt und kein Tropfen Schweiß war an seinem Kreuz zu sehen.

Madeleine war in dem Wagen sitzen geblieben. Da bückte sich plötzlich der Stallknecht, der den Hafer herbeibrachte und musterte scharf das linke Rad.

»Fahren Sie weit?« forschte er dann.

Zerstreut entgegnete Madeleine:

»Warum?«

»Kommen Sie weither?« forschte der Stallknecht weiter.

»Fünf Meilen habe ich jetzt hinter mir.«

»Hm!«

»Was haben Sie denn?«

Der Stallknecht beugte sich abermals nieder, schwieg eine Weile und richtete sich dann wieder in die Höhe mit den Worten:

»Ja, sehen Sie, das Rad da mag ja fünf Meilen hinter sich gekriegt haben; jetzt aber hält es keine Viertelmeile mehr.«

Madeleine sprang vom Wagen herab:

»Was sagen Sie da?«

»Ich sage, es ist ein wahres Wunder, daß Sie fünf Meilen gefahren und daß Sie sammt Ihrem Pferde nicht im Chausseegraben zu liegen gekommen sind. Sehen Sie mal her.«

Das Rad war allerdings stark beschädigt. Zwei Speichen waren entzwei und die Schraube, mit der die Nabe an die Achse befestigt war, saß nicht mehr fest.

»Guter Freund«, erkundigte sich Madeleine, »giebt es hier einen Stellmacher?«

»Gewiß, mein Herr.«

»Erweisen Sie mir den Gefallen und holen Sie ihn.«

»Er wohnt nebenan. Heda! Meister Bourgaillard!«

Meister Bourgaillard, der Stellmacher, stand gerade auf der Schwelle seiner Thür. Er kam, untersuchte das Rad und machte dabei eine Grimasse, wie ein Chirurg, der ein gebrochenes Bein ansieht.

»Können Sie dieses Rad auf der Stelle ausbessern?«

»Ja, mein Herr.«

»Wann werde ich weiter fahren können?«

»Morgen.«

»Morgen?«

»Ja, die Reparatur wird reichlich einen Tag Arbeit kosten. Hat der Herr Eile?«

»Große Eile. Ich muß spätestens in einer Stunde wieder aufbrechen.«

»Das geht nicht, mein Herr.«

»Ich bezahle, was verlangt wird.«

»Es geht nicht.«

»Nun dann gebe ich Ihnen zwei Stunden Zeit.«

»Heute geht's nicht mehr. Es sind zwei Speichen und eine Nabe zu repariren. Vor morgen früh kann der Herr nicht fahren.«

»Mein Geschäft duldet keinen Aufschub bis morgen. Statt das Rad auszubessern, könnte man es nicht durch ein anderes ersetzen?«

»Wie denn?«

»Sie sind Stellmacher?«

»Gewiß, mein Herr.«

»Haben Sie kein Rad, das Sie mir verkaufen könnten? Dann brauchte ich die Fahrt nicht zu unterbrechen.«

»Ich habe kein Rad vorräthig, das zu ihrem Wagen passen würde. Zu einem Paar gehören zwei Räder. Ein einzelnes Rad paßt nicht so leicht zu einem beliebigen andern.«

»Gut. Dann verkaufen Sie mir ein Paar.«

»Alle Räder passen nicht zu allen Achsen.«

»So versuchen Sie's doch.«

»Das hätte keinen Zweck. Ich habe nur große Wagenräder. Es ist ein kleiner Ort.«

»Haben Sie ein Kabriolett, das Sie vermiethen könnten?«

Der Stellmachermeister hatte auf den ersten Blick erkannt, daß der Tilbury ein Miethwagen war. Er zuckte die Achseln.

»Sie richten die Wagen, die Sie miethen, gut zu. Hätte ich einen, ich würde ihn Ihnen nicht anvertrauen.«

»Gut, so kaufe ich Ihnen einen ab.«

»Ich habe keinen.«

»Was! Auch keine Halbkutsche? Sie sehen, ich bin leicht zufrieden zu stellen.«

»In einem kleinen Ort kann man das Alles nicht bekommen. Ich habe allerdings da in der Remise eine alte Kalesche, die einem Herrn in der Stadt gehört. Er hat sie mir zur Aufbewahrung übergeben und gebraucht sie alle Jubeljahr ein Mal. Mir käm's nicht darauf an, sie Ihnen zu geben, aber der Einwohner dürfte nichts davon wissen. Und dann gehören auch zwei Pferde zu einer Kalesche.«

»So werde ich zwei Postpferde miethen.«

»Wohin reist der Herr?«

»Nach Arras.«

»Und der Herr muß heute schon da sein?«

»Ja freilich.«

»Mit Postpferden?«

»Warum denn nicht?«

»Ist es dem Herrn egal, wenn er heute Nacht um vier Uhr in Arras ankommt?«

»Durchaus nicht.«

»Ja, sehen Sie, mit den Postpferden ist das so 'ne Sache . . . Der Herr hat seinen Paß mit?«

»Ja.«

»Nun, mit Postpferden wird der Herr nicht vor morgen früh in Arras ankommen. Unser Ort liegt an einem Querweg; da hat man nicht die Ordnung, die sich gehört. Die Pferde sind jetzt alle auf den Feldern. Es ist nämlich die Zeit, wo gepflügt wird und starke Thiere gebraucht werden. Da nimmt man die guten Pferde, wo man sie kriegt, auch die von der Post. Der Herr wird auf jeder Station drei bis vier Stunden warten müssen. Noch dazu geht's im Schritt. Es sind viel Anhöhen in unserer Gegend.«

»Gut, dann werde ich hin reiten. Spannen Sie den Wagen aus. Ein Sattel wird doch hoffentlich hier zu haben sein.«

»Gewiß. Aber ist das auch ein reitbares Pferd?«

»Richtig! Sie erinnern mich daran. Es ist nur ein Wagenpferd.«

»Ja dann . . .«

»Aber ich werde doch im Dorfe ein Reitpferd finden, das ich miethen kann?«

»Das die ganze Strecke bis Arras hintereinander weg galoppieren soll?«

»Ja wohl.«

»Solch ein Pferd ist hier zu Lande nicht zu haben. Sie müßten's auch kaufen, denn Sie sind hier Keinem bekannt. Aber ob Sie's nun kaufen oder miethen ob Sie fünfhundert Franken bieten, oder tausend, Sie würden keins auftreiben können!«

»Was fange ich blos an?«

»Je nun, so wahr ich ein ehrlicher Mann bin, das Beste ist, ich setze das Rad wieder in Stand, und Sie schieben Ihre Abfahrt bis morgen auf.«

»Morgen ist es zu spät.«

»Ja dann!«

»Wann kommt die Postkutsche nach Arras hier durch!«

»Diese Nacht. Die hin, und die zurückfährt, fahren des Nachts.«

»Also Sie brauchen wirklich einen Tag dazu, ein Rad auszubessern?«

»Einen Tag mindestens.«

»Mit zwei Gesellen?«

»Auch wenn ich zehn hätte.«

»Wie wäre es, wenn man die Speichen mit Stricken bände?«

»Die Speichen, ja! Bei der Nabe geht das nicht. Uebrigens ist die Felge auch in schlechter Verfassung.«

»Giebt es in der Stadt einen Wagenvermiether?«

»Nein.«

»Einen andern Stellmacher?«

»Nein!« antworteten der Stallknecht und der Stellmacher einstimmig und schüttelten den Kopf.

Madeleine empfand eine grenzenlose Freude. Die Vorsehung mischte sich offenbar ins Spiel. Sie hatte es so gefügt, daß der Tilbury beschädigt wurde und die Reise nicht weiter fortgesetzt werden konnte. Er hatte den ersten Wink, den sie ihm gab, unbeachtet gelassen; hatte Alles, was in seinen Kräften stand, gethan um weiter fahren zu können, und redlich und gewissenhaft alle möglichen Mittel probiert; hatte weder die Winterkälte, noch Strapazen, noch Geldausgaben gescheut; kurz, sein Gewissen durfte ihm keine Vorwürfe machen. Wenn er nicht weiter fuhr, so ging ihn das nichts mehr an. Es war nicht seine Schuld. Nicht er, die Vorsehung hatte es so gewollt.

Er athmete auf, zum ersten Mal seit Javerts Besuch, frei und aus voller Brust. Ihm war, als löse sich die eiserne Hand, die ihm seit zwanzig Stunden das Herz zusammendrückte, und lasse ihn los.

Gott war jetzt für ihn und ließ es ihn wissen.

Jetzt, wo er alles Mögliche gethan, durfte er doch wohl ruhig nach Hause zurückkehren.

Wenn sein Gespräch mit dem Stellmacher in einem Zimmer der Herberge stattgefunden hätte, so würde es keine Zeugen gehabt haben. Niemand hätte etwas gehört, und die Dinge hätten eine ganz andre Wendung genommen. Madeleine und der Stellmacher standen aber auf der Straße und es finden sich immer Neugierige, die gern zuhören, wenn ein Fremder etwas fragt. So hatte sich auch allmählich um die Beiden eine Schaar Menschen angesammelt und unter ihnen ein kleiner Knabe auf den Niemand Acht gab. Dieser hörte einige Minuten dem Gespräch zu und eilte dann plötzlich spornstreichs davon.

Bald darauf, als Madeleine eben schlüssig geworden und im Begriff stand umzukehren, kam der Knabe mit einer alten Frau zurück.

»Lieber Herr,« begann die Alte, »mein Junge sagt mir, Sie wünschten ein Kabriolett zu miethen.«

Diese einfachen Worte einer greisen, von einem Kinde geführten Frau preßten ihm heftigen Angstschweiß aus. Er glaubte die Hand wieder zu sehen, die ihn eben erst freigelassen. Sie wollte ihn jetzt wieder packen.

»Ja wohl, gute Frau,« antwortete er, »ich brauche ein Kabriolett. Aber –« setzte er eilig hinzu – »es ist hier keins zu bekommen.«

»Doch, doch!« erwiderte die Alte.

»Wo denn!« fragte der Stellmacher.

»Bei mir,« lautete der Bescheid.

Madeleine erschrak. Die Hand des Schicksals hielt ihn wieder fest.

Die Greisin besaß in der That in einem Schuppen eine Halbkutsche. Davon wollten aber der Stallknecht und der Stellmacher, die es ärgerte, daß der reiche Fremde ihnen entwischen sollte, nichts wissen.

Solch' ein greulicher Rumpelkasten! Das Jammergestell ruhte auf der bloßen Achse, hatte keine Federn! Dafür freilich hingen die Sitze im Innern an Lederriemen!! Es regnete hinein. Die Räder waren vom Rost zerfressen. Das Ding würde nicht viel weiter kommen. Der Herr sollte keine Fahrt damit riskiren u. s. w., u. s. w.

Das war Alles wahr, aber der alte Klapperkasten war ein Ding mit zwei Rädern, in dem man nach Arras kommen konnte.

Er bezahlte, was man von ihm verlangte, ließ den Tilbury bei dem Stellmacher, bis er wiederkommen würde ihn abzuholen, hieß seinen Schimmel an die Halbkutsche spannen, stieg auf und setzte seine Reise fort.

In dem Augenblick, wo sich der Wagen in Bewegung setzte, gestand er sich ein, daß der Gedanke, nicht weiter reisen zu können, ihm eine gewisse Freude verursacht hatte. Ueber diese Freude dachte er mit einer Art Verdruß nach und fand sie abgeschmackt. Freude über die Umkehr! Wozu? Hatte er denn die Reise nicht aus freiem Willen unternommen? Es zwang ihn ja Niemand dazu.

Es würde doch immer das geschehen, was ihm beliebte.

Als er zum Dorfe hinausfuhr, hörte er Jemand rufen: »Halt! Halt!« Er hielt sofort an mit einem krampfhaften, hastigen Ruck, denn vielleicht bedeutete die Verzögerung etwas Gutes.

Es war der Junge der alten Frau.

»Mein Herr, ich bin Derjenige, der Ihnen den Wagen verschafft hat.«

»Nun?«

»Sie haben mir nichts dafür gegeben.«

Er, der sonst so bereitwillig gab, fand diese Forderung unverschämt und beinahe niederträchtig.

»Also Du warst es? Du infamer Lümmel, Du kriegst nichts.«

Damit peitschte er auf sein Pferd los und jagte im schnellsten Trabe davon.

Er hatte in Hesdin viel Zeit versäumt, die er wieder einbringen wollte. Das Pferdchen besaß Courage und zog so gut, wie zwei; aber es war im Februar, es hatte geregnet und die Wege befanden sich in schlechtem Zustande. Dann war der Wagen, in dem er jetzt saß, nicht so leicht, wie der Tilbury. Außerdem eine Menge Steilungen auf dem Wege.

Er brauchte vier Stunden, um von Hesdin nach Saint-Pol zu gelangen. In vier Stunden sechs Meilen!

In Saint-Pol kehrte er in der ersten besten Herberge ein und ließ das Pferd in den Stall führen. Dem Versprechen gemäß, das er Scaufflaire gegeben hatte, hielt er sich, während das Pferd seinen Hafer verzehrte, in der Nähe der Krippe auf und hing trübseligen, verworrenen Grübeleien nach.

Da kam die Frau des Gastwirtes in den Stall und fragte:

»Will der Herr nicht frühstücken?«

»Richtig, richtig! – Ich habe sogar ganz tüchtigen Appetit.«

Er folgte der Wirtin, die ein munteres, vergnügtes Aussehen hatte.

»Beeilen Sie sich,« mahnte er. »Ich habe Eile«.

Eine dicke flamländische Magd deckte rasch den Tisch. Er sah sie mit einem Gefühl des Behagens an.

»Das hat mir gefehlt,« meinte er. »Ich habe heute noch nicht gefrühstückt.«

Als das Essen aufgetragen wurde, fiel er über das Brot her, aß einen Bissen davon und legte es dann langsam auf den Tisch zurück.

»Wie kommt es, daß das Brot hier so bitter ist?« fragte er einen Fuhrmann, der an einem andern Tisch mit gutem Appetit speiste.

Der Fuhrmann aber war ein Ausländer und verstand ihn nicht.

Nun kehrte er in den Stall zu seinem Schimmel zurück.

Eine Stunde später hatte er Saint-Pol hinter sich und fuhr auf Tinques zu, das von Arras nur noch fünf Meilen entfernt ist.

Was that er während dieser Fahrt? Woran dachte er? Er sah sich, wie am Morgen, die Bäume, die Strohdächer, die Aecker an, wie sie an ihm vorüberwanderten, und die Landschaft, die an jeder Biegung des Weges eine andere wurde. Eine solche Betrachtung genügt bisweilen dem Menschen und befreit ihn fast von der Nothwendigkeit zu denken. Nichts Trübsinnigeres, nichts, das die Tiefen des Herzens stärker aufwühlt, als tausenderlei Dinge zum letzten Male sehen! Reisen heißt, jeden Augenblick an seinen Anfang und an sein Ende erinnert werden. Vielleicht beschäftigte sich sein Geist mit unbestimmten Vergleichen zwischen den Veränderungen des Horizontes und den Wechselfällen des menschlichen Lebens. Bei unserer Reise durch das Dasein sehen wir beständig alle Gegenstände uns fliehen. Helles und Dunkles wechseln mit einander ab. Man sieht etwas vorüberkommen, streckt eilig die Hände aus, es zu erfassen; jedes Ereigniß bezeichnet eine Biegung des Weges und ehe man sich dessen versieht, ist man alt geworden. Dann fühlt man einen Ruck, Alles ist finster, man erblickt ein dunkles Thor, das Pferd des Lebens, das Einen gezogen hat, bleibt stehen und ein tief vermummter Unbekannter spannt es in der Finsterniß aus.

Es dämmerte schon, als die Kinder, die in Tinques aus der Schule kamen, den Fremden vorbeifahren sahen. Allerdings waren die Tage noch kurz zu dieser Jahreszeit. Madeleine hielt an diesem Orte nicht an. Aber als er eben im Begriff stand, aus dem Dorf hinauszufahren, richtete sich ein Chausseearbeiter, der Steine einrammte, in die Höhe und sagte:

»Das Pferd da ist schön müde!«

In der That ging das arme Thier nur noch im Schritt.

»Fahren Sie nach Arras?« forschte der Arbeiter.

»Ja.«

»Wenn Sie Sich nicht mehr beeilen, werden Sie nicht früh ankommen.«

Madeleine hielt an und fragte ihn:

»Wie weit ist es noch von hier bis Arras?«

»Beinah gute sieben Meilen.«

»Wie so? Nach dem Postbuch sind es nur fünf und eine Viertelmeile.«

»Ja so, Sie wissen wohl nicht, daß der Weg neu gepflastert wird? Eine Viertelstunde weiterhin ist er gesperrt. Da geht's nicht weiter«

»Wirklich?«

»Sie schlagen den Weg links ein, nach Caremcy, fahren über den Fluß, und wenn Sie in Camblin sind, wenden Sie Sich rechts. Dann sind Sie auf dem Wege, der von Mont-Saint-Eloy nach Arras führt.«

»Aber es dunkelt schon: Ich werde mich verirren.«

»Sie sind wohl nicht aus dieser Gegend.«

»Nein.«

»Na ja! Und dabei lauter Querwege. – Mein Herr, wollen Sie einen guten Rat von mir annehmen. Ihr Pferd ist müde. Kehren Sie um. In Tinques ist eine gute Herberge, wo Sie dann übernachten können. Morgen fahren Sie dann weiter.«

»Ich muß noch heute Abend dort sein.«

»Das ist was Andres. Dann fahren Sie aber trotzdem bis zur Herberge zurück und holen Sie Sich noch ein Pferd zur Aushülfe. Sie können sich dann auch ein Stück führen lassen.«

Madeleine befolgte den Rath, kehrte um und kam eine halbe Stunde später an derselben Stelle wieder vorüber, aber in schnellem Trabe und mit einem guten Aushülfspferde. Ein Stallknecht der sich Postillon titulierte saß auf der Deichsel.

Indessen merkte Madeleine, daß die Zeit verging.

Schon war es finstre Nacht.

Sie fuhren in den Querweg hinein, der schlecht im Stande war. Der Wagen stürzte von einem Geleise in's andre. Madeleine feuerte den Postillon an:

»Immer Trab und doppeltes Trinkgeld.«

Da zerbrach in Folge eines heftigen Stoßes das Ortscheit.

»Mein Herr, ich weiß nicht mehr, wie ich mein Pferd anspannen soll. Auf diesem Wege führt es sich sehr schlecht bei Nacht; wenn Sie in Tinques übernachten wollen, können wir morgen in aller Frühe in Arras sei.«

»Hast Du einen Strick und ein Messer?« erwiederte er.

»Ja, mein Herr.«

Er schnitt einen Baumast ab und machte sich daraus ein Ortscheit zurecht.

So wurden wieder zwanzig Minuten Zeit versäumt; aber sie konnten nun im Galopp die Fahrt fortsetzen. Die Ebene war in Dunkelheit gehüllt. Ein niedriger kurzer und schwarzer Nebelstreifen lagerte auf den Hügeln und stieg stellenweise wie Rauchwolken empor. In den Wolken sah man hie und da weißliche, lichte Flecken. Ein starker Seewind rumorte überall am Horizont, als fuhrwerke er mit großen Möbeln herum. Alles, was man bemerken konnte, sah graulig aus. Womit treibt auch nicht der gewaltige Nachtwind sein Spiel!

Die Kälte drang ihm bis in's Mark. Seit dem Tage vorher hatte er nichts gegessen. Es fiel ihm wieder jene Nacht ein, wo er ziellos über die große Ebene bei Digne hin und hergeirrt war. Das war acht Jahre her, und es kam ihm vor, als sei es gestern gewesen.

Aus der Ferne ließ sich eine Thurmuhr hören.

»Was schlägt die Uhr?« fragte er den Stallknecht.

»Sieben, mein Herr. Um acht sind wir in Arras. Wir haben nur noch drei Meilen zurückzulegen.«

Erst jetzt fiel ihm ein – und er wunderte sich, daß er nicht früher auf den Gedanken gekommen war –, daß all die Mühe vielleicht umsonst aufgewandt wäre; daß er nicht einmal wußte, zu welcher Stunde die Verhandlung des Prozesses angesetzt war; daß er sich danach hätte erkundigen sollen; daß er thöricht sei, so darauf los zu fahren, ohne danach zu fragen, ob es auch einen Zweck habe. Dann rechnete er: Gewöhnlich fingen die Sitzungen des Schwurgerichts um neun Uhr Vormittags an. Die Verhandlung der Anklage wegen des Apfeldiebstahls konnte nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Dann kam die Feststellung der Personalien an die Reihe, vier bis fünf Zeugen zu vernehmen, die Reden des Staatsanwalts und des Vertheidigers, die alle Beide nicht viel zu sagen haben würden. Kurz er rechnete aus, daß er erst nach Beendigung der Verhandlung eintreffen würde.

Der Postillon trieb die Pferde zu noch größerer Eile an. Sie waren über den Fluß gefahren und hatten Mont-Saint-Eloy hinter sich.

Die Nacht wurde immer dunkler.

VI.
Schwester Simplicia wird auf die Probe gestellt

Mittlerweile schwamm Fantine in einem Meer von Wonne.

Sie hatte die Nacht schlecht zugebracht. Heftige Anfälle von Husten, stärkeres Fieber, wüste Träume. Am Morgen, als der Arzt kam, phantasirte sie. Er machte eine sehr ernste Miene und bat, daß man ihn sofort benachrichtigen möchte, sobald Herr Madeleine kommen würde.

Den ganzen Vormittag war sie trübsinnig, sprach wenig und fältelte ihr Laken, indem sie dabei Rechnungen – wahrscheinlich von Entfernungen – anstellte. Ihre Augen waren tief eingesunken und starr. Sie schienen fast erloschen, flammten aber von Zeit zu Zeit stark auf und glänzten wie Sterne; als erfüllte sie, je mehr sie sich dem irdischen Licht unzugänglich wurden, himmlische Klarheit.

Jedes Mal wenn Schwester Simplicia sich nach ihrem Befinden erkundigte, antwortete sie: »Mir geht es gut. Nur möchte ich Herrn Madeleine sehen.«

Vor einigen Monaten, damals, als Fantine des letzten Ueberbleibsels ihrer Erden- und Daseinsfreude verlustig ging, glich sie nur noch einem Schatten von dem was sie vor Zeiten gewesen, jetzt war ihr Anblick ein Schrecken erregender. Die körperlichen Leiden hatten das Werk, daß die moralischen begonnen, vollendet. Diese Fünfundzwanzigjährige besaß eine runzlige Stirn, welke Wangen, zusammengefallene Nasenlöcher, eingeschrumpftes Zahnfleisch, einen bleifarbnen Teint, einen knochigen Hals, magre Arme und Beine, eine glanzlose Haut, und ihre blonden Haare waren mit grauen vermischt. Ach! wie sehr ähnelt doch die Krankheit dem Alter.

Um zwölf kam der Arzt wieder, schrieb einige Rezepte, erkundigte sich, ob der Herr Bürgermeister in den Krankensaal gekommen sei, und schüttelte den Kopf.

Madeleine besuchte die Patientin gewöhnlich gegen drei Uhr Nachmittags. Da Pünktlichkeit seinerseits sie glücklich machte, so war er pünktlich.

Gegen halb drei wurde Fantine unruhig. Sie fragte in zwanzig Minuten die Nonne mehr als zehn Mal: »Schwester, wieviel Uhr ist es?«

Endlich schlug es drei Uhr. Beim dritten Schlage richtete sie sich, die sich für gewöhnlich vor Schwäche kaum zu rühren vermochte auf, faltete krampfhaft ihre fleischlosen, gelben Hände, und die Nonne hörte sie so stark aufseufzen, als wolle sie eine Last von ihrer Brust wälzen. Dann wandte sie sich seitwärts und heftete ihre Augen auf die Thür.

Es kam Niemand, die Thür that sich nicht auf.

So saß sie, regungslos, als athmete sie kaum, die Augen unverwandt auf die Thür gerichtet. Die Schwester wagte nicht zu ihr zu sprechen. Da schlug es ein Viertel auf vier, und Fantine ließ den Kopf wieder auf das Kissen zurücksinken.

Sie sprach kein Wort und fing wieder an, Falten in ihr Laken zu machen.

Es schlug halb, dann voll. Niemand kam. Jedes Mal, wenn die Kirchturmuhr sich vernehmen ließ, richtete sich Fantine auf, blickte nach der Thür und sank dann wieder auf ihr Kissen zurück.

An wen sie dachte, ließ sich leicht errathen, aber sie nannte seinen Namen nicht, klagte nicht, tadelte nicht. Nur, daß sie schrecklich hustete. Tiefe Trübsal hatte sie befallen. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen und ihre Lippen waren blau. Zeitweise lächelte sie.

Als es fünf Uhr schlug, hörte die Schwester, wie sie sanft vor sich hin flüsterte: »Da ich morgen fort muß, könnte er doch heute noch einmal kommen!«

Schwester Simplicia selber wunderte sich, daß Madeleine nicht kam.

Jetzt schaute Fantine zu ihrem Betthimmel empor und schien sich auf etwas zu besinnen. Dann sang sie plötzlich mit schwacher Stimme ein Wiegenlied, womit sie ehedem ihre kleine Cosette in den Schlaf gesungen und an das sie seit fünf Jahren nicht mehr gedacht hatte. So schwermüthig sanft klang das Lied in ihrem Munde, daß der an Leid und Jammer gewöhnten Nonne Thränen in die Augen traten.

Nun schlug es sechs Uhr. Fantine achtete aber nicht darauf. Sie schien Alles, was sie umgab, vergessen zu haben.

Schwester Simplicia aber trug einer Magd auf, sich bei der Portierfrau zu erkundigen, ob der Herr Bürgermeister nach Hause gekommen sei und ob er nicht bald in den Krankensaal hinaufkommen würde. Die Magd kam nach einigen Minuten zurück und erzählte, während Fantine unbeweglich da lag und ihren Gedanken nachzugehen schien, der Schwester Simplicia: der Herr Bürgermeister wäre heute Morgen vor sechs Uhr, trotz der Kälte, in einem, mit einem Schimmel bespannten Tilbury fortgefahren, ganz allein, ohne Kutscher. Man wüßte nicht, wohin. Einige sagten, er hätte den Weg nach Arras eingeschlagen; Andere versicherten, sie wären ihm auf der Landstraße nach Paris begegnet. Bei seinem Weggange wäre er so wie sonst gewesen, sehr leutselig und hätte nur zur Portierfrau gesagt, man solle ihn heute Nacht nicht erwarten.

Während die beiden Frauen, den Rücken Fantinen zugewendet, im Flüsterton mit einander sprachen, kniete diese mit jener Lebhaftigkeit, die sich bei gewissen schweren Krankheiten bisweilen noch kurz vor dem Tode regt, auf ihrem Bett und horchte, die geballten Fäuste auf das Kissen gestützt und mit dem Kopf zwischen den beiden Theilen des Vorhangs. Plötzlich schrie sie:

»Sie sprechen da von Herrn Madeleine! Warum so leise? Was ist mit ihm? Warum kommt er nicht?«

Ihre Worte klangen so hastig und rauh, daß die beiden Frauen eine Männerstimme zu hören glaubten, und sich erschrocken umdrehten.

»So antworten Sie doch!« schrie Fantine.

Die Magd stammelte:

»Die Portierfrau hat mir gesagt, er könnte heute nicht kommen.«

»Kind, verhalten Sie Sich ruhig!« redete ihr die Schwester zu. Legen Sie Sich hin.«

Aber ohne ihre Stellung zu verändern, rief Fantine wieder laut und in herrischem, angstvollem Tone:

»Er kann nicht kommen? Warum nicht? Sie wissen den Grund. Sie haben eben heimlich mit einander darüber gesprochen. Ich will es wissen.«

Die Magd raunte der Nonne hastig ins Ohr: »Antworten Sie, er wohnt einer Sitzung der Stadtverordneten bei.«

Schwester Simplicia errötete leicht; muthete ihr doch die Magd eine Lüge zu. Andrerseits war sie sich klar darüber, daß die Wahrheit ein schrecklicher Schlag für die Kranke sein würde, und bei Fantinens Zustand eine gefährliche Wirkung haben könnte. Aber die Röthe verflog rasch, und mit einem mitleidigen Blick antwortete sie:

»Der Herr Bürgermeister ist verreist.«

Fantine richtete sich auf und kauerte im Bett. Ihre Augen funkelten. Eine unbeschreibliche Freude leuchtete aus allen Zügen ihres vergrämten Gesichts.

»Verreist!« jubelte sie. »Er holt Cosette!«

Darauf hob sie die gefalteten Hände zum Himmel empor und betete leise.

Nachher sagte sie: »Schwester, ich will Ihnen gehorchen und mich wieder hinlegen und Alles thun, was Sie von mir verlangen. Eben bin ich recht häßlich gewesen. Es war schlecht von mir, daß ich so aufgefahren bin, und ich bitte Sie um Verzeihung, gute Schwester. Aber wenn Sie wüßten, wie ich mich jetzt freue! Der liebe Gott ist gut, Herr Madeleine ist gut. Denken Sie doch: er ist nach Montfermeil gegangen und holt meine Cosette.«

Sie legte sich nieder, half der Nonne das Kissen wieder in Ordnung bringen und küßte ein kleines silbernes Kreuz, das sie am Halse trug, ein Geschenk der Schwester Simplicia.

»Kind,« mahnte jetzt die Schwester, »liegen Sie jetzt ruhig und sprechen Sie nicht.«

Fantine griff nach der Hand der Schwester, die bei der feuchten Berührung ein schmerzliches Mitleid erfaßt.

»Er ist heute früh nach Paris gefahren. Eigentlich braucht er nicht ganz so weit zu gehen. Montfermeil liegt links von hieraus. Erinnern Sie sich noch, daß er gestern, als ich von Cosette sprach, sagte: Bald! Bald! Ueberraschen will er mich. Sie wissen doch, ich habe einen Brief unterschreiben müssen, daß die Thénardiers sie herausgeben sollen. Dagegen können sie nichts machen, nicht wahr? Sie werden sie frei lassen. Sie haben ja ihr Geld gekriegt. Die Obrigkeit duldet doch nicht, daß man ein Kind behält, wenn man sein Geld gekriegt hat. Schwester, verbieten Sie mir nicht, daß ich spreche. Ich bin über die Maßen glücklich; ich fühle mich wohl; es thut mir nichts mehr weh, nun ich Cosette wiedersehen werde; ich habe sogar Hunger. Es sind nahezu fünf Jahre, daß ich sie nicht gesehen habe. Sie, Schwester, Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr man an einem Kinde hängen kann. Sie wird auch sehr niedlich und nett sein, Sie werden sehen! Wenn Sie wüßten, was für hübsche rosige Fingerchen sie hat! Ueberhaupt bekommt sie mal sehr schöne Hände. Als sie ein Jahr alt war, hatte sie ganz lächerlich kleine Hände. – Jetzt muß sie schon groß sein. Ja ja, das ist nun schon seine sieben Jahre alt und ist schon ein Fräulein. Ich nenne sie Cosette, aber sie heißt eigentlich Euphrasia. Heute früh, wie ich nach dem Staub auf dem Gesims hinsah, kam mir der Gedanke, ich würde Cosette bald wiedersehen. Lieber Gott? Es ist unrecht, daß man Jahre hingehen läßt und sieht seine Kinder nicht. Man sollte doch bedenken, daß man nicht ewig lebt. Ach, wie gut ist der Herr Bürgermeister, daß er die Reise unternommen hat. Ist das wahr, daß es so kalt ist? Hatte er wenigstens seinen Mantel um? Morgen ist er wieder zurück, nicht wahr? Morgen ist ein Festtag für mich. Schwester, erinnern Sie mich morgen früh daran, daß ich mein Häubchen mit den Spitzen aufsetze. Montfermeil ist ein Dorf. Da bin ich seiner Zeit zu Fuß durchgekommen. Das war sehr weit für mich. Aber mit der Post geht's schnell. Morgen wird er mit Cosette hier sein. Wie weit ist es von hier bis Montfermeil?«

Die Schwester, die keine Ahnung von der Entfernung hatte, antwortete:

»Oh, morgen, glaube ich, kann er schon zurück sein.«

»Morgen! Morgen!« jubelte Fantine, »morgen werde ich sie wiedersehen. Himmlische, gute Schwester, ich bin nicht mehr krank. Ich bin blos närrisch. Ich könnte tanzen, wenn man's verlangte.«

Wer sie eine Viertelstunde zuvor gesehen hatte, dem wäre es unmöglich gewesen, zu begreifen, was mit ihr vorgefallen war, so verändert war sie. Sie hatte ein rosiges Aussehen, sprach lebhaft und natürlich, ihr ganzes Wesen athmete Fröhlichkeit. Ab und zu lachte sie vergnügt vor sich hin. Mutterfreude gleicht fast der Freude des Kindes.

»Nun Sie also glücklich sind,« mahnte die Nonne wieder, »folgen Sie mir und sprechen Sie nicht.«

Fantine legte ihren Kopf auf das Kissen nieder und sagte halblaut: »Ja, leg' Dich hin, sei vernünftig, Du bekommst ja jetzt Dein Kind wieder. Schwester Simplicia hat Recht. Alle haben hier Recht.«

Dann ließ sie, ohne sich zu bewegen, ihre weit geöffneten Augen fröhlich überall herumirren und sprach kein Wort mehr.

Die Schwester zog den Vorhang zu, in der Hoffnung, sie würde schlafen.

Zwischen sieben und acht Uhr kam der Arzt. Da er kein Geräusch hörte, glaubte er, Fantine schlafe, kam leise herein und ging auf den Fußspitzen an das Bett heran. Als er aber den Vorhang zurückschlug, sah er beim Schein des Nachtlichts Fantines ruhige Augen auf sich gerichtet.

»Nicht wahr, Herr Doktor,« fragte sie, »ich darf sie neben mir haben, in einem kleinen Bett?«

Er glaubte, sie phantasire. Sie fuhr fort:

»Da, sehen Sie, es ist gerade Platz genug.«

Der Arzt nahm Schwester Simplicia bei Seite und ließ sich den Hergang von ihr erklären. Herr Madeleine sei auf ein paar Tage verreist und da man nicht wisse, woran man sei, so habe man es nicht für rathsam erachtet, die Patientin, die der Hoffnung lebe, der Herr Bürgermeister sei nach Montfermeil aufgebrochen, eines Andern zu belehren; es wäre ja möglich, daß sie richtig gerathen hätte. Der Arzt billigte ihr Verhalten.

Er ging dann wieder zu Fantine, die redselig fortfuhr:

»Ich kann ihr dann nämlich, wenn das liebe Mäuschen aufwacht, guten Morgen sagen und sie des Nachts schlafen hören. Ich schlafe ja nicht. Ihren leisen Athem zu hören wird mir wohl thun.«

»Geben Sie mir Ihre Hand!« sagte der Arzt.

Sie hielt lachend ihren Arm hin.

»Ja so, Sie wissen noch nicht, daß ich jetzt wieder vollständig gesund bin. Cosette kommt morgen.«

Der Arzt war sehr verwundert. Es ging ihr besser. Die Beklemmung hatte abgenommen, der Puls war kräftiger. Eine neue Lebenskraft beseelte jetzt den siechen Körper.

»Herr Doktor,« fragte sie, »hat Ihnen die Schwester mitgetheilt, daß der Herr Bürgermeister gegangen ist, mir mein Püppchen zu holen?«

Der Arzt empfahl, daß sie nicht sprechen und daß sie vor jeder heftigen Aufregung behütet werden solle. Er verordnete einen Aufguß von reiner Chinarinde und, falls das Fieber in der Nacht wieder auftreten würde, einen beruhigenden Trank. Als er Abschied nahm, sagte er zur Schwester: »Es geht besser. Wenn es das Glück wollte, daß der Herr Bürgermeister wirklich mit dem Kinde zurückkäme, – wer weiß, was der Ausgang sein würde? Es kommen erstaunliche Krisen vor, Krankheiten, die durch eine große Freude in ihrem Laufe plötzlich aufgehalten werden. Ich weiß ja recht gut, daß hier ein organisches, weit vorgeschrittenes Leiden vorliegt; aber der menschliche Körper ist ein so geheimnißvolles Ding. Am Ende würden wir sie vielleicht doch noch retten.«

VII.
Der Angekommene trifft Maßregeln, um wieder umzukehren

Es war nahe an acht Uhr Abends, als die Halbkutsche, die wir bis dicht vor ihren Bestimmungsort begleitet hatten, in den Thorweg des Postgebäudes zu Arras einfuhr. Madeleine stieg aus, gab auf die diensteifrigen Fragen der Kellner zerstreute Antworten, schickte das Aushülfspferd zurück und führte persönlich den Schimmel in den Stall; dann stieß er die Thür eines Billardsaales im Erdgeschoß auf, setzte sich und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Er hatte statt sechs Stunden vierzehn zu dieser Reise gebraucht. Es war nicht seine Schuld, das durfte er sich sagen; aber in seines Herzens Grunde bedauerte er es nicht.

Die Wirtin kam herein und fragte:

»Bleibt der Herr die Nacht hier? Will der Herr hier speisen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Aber der Stallknecht sagt, daß dem Herrn sein Pferd sehr müde ist.«

Jetzt brach er das Stillschweigen:

»Wird das Pferd nicht morgen früh wieder reisefähig sein?«

»Bewahre! Das Thier braucht mindestens zwei Tage Ruhe.«

»Ist das hier nicht das Postbüreau?«

»Ja, mein Herr.«

Die Wirthin führte ihn nach dem Büreau hin. Er zeigte seinen Paß vor und erkundigte sich, ob es sich möglich machen ließe, noch in derselben Nacht nach Montreuil-sur-Mer zurückzukehren. Da der Platz neben dem Kurier gerade noch nicht besetzt war, so belegte er ihn und bezahlte. »Mein Herr,« ermahnte ihn der Beamte, »seien Sie recht pünktlich. Die Abfahrt findet Punkt ein Uhr Nachts statt.«

Nachdem er dies besorgt, verließ er das Hotel und wanderte die Straßen entlang.

Er war in Arras nicht bekannt und ging in der Dunkelheit auf's Gerathewohl vor sich hin. Es hatte den Anschein, als wolle er durchaus nicht nach dem Wege fragen. Er ging über den kleinen Fluß Crinchon und gerieth in einen Wirrwarr von engen Gassen, wo er sich verirrte. Da sah er einen Herrn mit einer Stocklaterne und bequemte sich dazu, diesen zu fragen, sah sich aber erst nach allen Seiten um, als fürchte er, Jemand könne seine Frage mit anhören.

»Verzeihung, wie komme ich hier nach dem Gerichtsgebäude?«

»Sie sind nicht von hier, mein Herr,« antwortete der Angeredete, der ein ziemlich bejahrter Mann war. »Kommen Sie mit mir. Ich gehe gerade in die Gegend, wo das Gerichtsgebäude, d. h. die Präfektur, gelegen ist. Das Gerichtsgebäude wird nämlich jetzt reparirt, und vorläufig werden die Gerichtssitzungen im Präfekturgebäude abgehalten.«

»Dort tagt doch auch das Schwurgericht?«

»Gewiß, mein Herr. Was nämlich gegenwärtig die Präfektur ist, das war vor der Revolution der bischöfliche Palast. Herr de Conzié, der 1782 Bischof war, hat dazumal einen großen Saal darin bauen lassen, und in dem Saal werden jetzt die Verhandlungen geführt.«

Unterwegs bemerkte Madeleines Führer im Laufe des Gesprächs:

»Wenn der Herr einem Prozeß beizuwohnen wünscht, so ist es ein wenig spät dazu. Gewöhnlich sind die Sitzungen um sechs Uhr aus.«

Als sie indessen auf dem großen Platz ankamen, wies der Herr auf vier hohe Fenster eines düstern Gebäudes, die erleuchtet waren.

»Sieh Einer an! Sie kommen noch zurecht! Sie haben Glück. Die vier Fenster da gehören zu dem Saal, wo das Schwurgericht seine Sitzung hält. Sie sind hell. Also ist die Verhandlung noch nicht zu Ende. Die Sache wird sich in die Länge gezogen haben, und nun halten sie eine Abendsitzung. Sie interessiren Sich für die Sache? Ist es ein Kriminalprozeß? Sind Sie als Zeuge vorgeladen?«

Er antwortete:

»Ich komme nicht wegen eines Prozesses. Ich wollte nur einen Rechtsanwalt sprechen.«

»Das ist was Andres. Die Thür da, wo die Schildwache steht. Sie brauchen dann blos die große Treppe hinaufzugehn.«

Er folgte der Weisung und befand sich nach wenigen Minuten in dem Saal, wo viel Leute waren und Zuhörer aus dem Publikum sich hier und da leise mit Anwälten unterhielten.

Es schnürt einem immer das Herz zusammen, wenn man diese schwarz gekleideten Männer in Gerichtssälen beisammen sieht. Wie selten sind Erbarmen und Mitleid das Ergebniß solcher Gespräche! Statt dessen fast immer im Voraus beschlossene Verurtheilungen. Der Beobachter denkt leicht an Hummeln, die mit Gebrumm in der Erde dunkle Gänge wühlen.

Der Raum, in dem er sich befand, und der nur von einer Lampe erleuchtet wurde, war nur ein Vorzimmer. Eine, in dem Augenblick, verschlossene, zweiflügelige Thür trennte ihn von dem Saal, wo das Schwurgericht seine Sitzung abhielt.

Die Dunkelheit war so groß, daß Madeleine kein Bedenken trug, sich an den ersten Advokaten zu wenden, dem er gerade begegnete:

»Wie weit ist die Verhandlung gediehen, wenn ich fragen darf?«

»Sie ist zu Ende.«

»Zu Ende!«

Dies kam mit solcher Betonung heraus, daß der Advokat sich umwendete:

»Verzeihung, mein Herr, Sie haben wohl ein persönliches Interesse an dem Fall?«

»Nein, ich kenne Niemand hier. Hat es eine Verurteilung gegeben?«

»Gewiß. Anders konnte die Sache nicht werden.«

»Zuchthaus?«

»Auf Lebenszeit«

Mit so schwacher Stimme, daß man ihn kaum verstehen konnte, fuhr Madeleine fort:

»Seine Identität ist also festgestellt worden?«

»Was für eine Identität? Es handelte sich überhaupt nicht um dergleichen. Die Sache lag sehr einfach. Die Frau hatte ihr Kind umgebracht, der Kindesmord ist nachgewiesen worden, die Geschworenen haben die Frage, ob die That vorsätzlich war, verneint und sie auf Lebenszeit verurtheilt.«

»Also eine Frau?«

»Ja freilich. Die unverehelichte Limosin. Wovon sprachen Sie eigentlich?«

»Wenn die Verhandlung aber zu Ende ist, wie kommt es dann, daß noch Licht im Saal ist?«

»Das betrifft die andre Verhandlung, die vor ungefähr zwei Stunden angefangen hat.«

»Welche andre Verhandlung?«

»O, auch ein Fall, der klar genug ist. Da handelt es sich um einen rückfälligen Verbrecher, einen ehemaligen Galeerensklaven, der einen Diebstahl begangen hat. Auf seinen Namen kann ich mich jetzt nicht besinnen. Sieht der Kerl banditenmäßig aus! Den würde ich blos seiner Physiognomie wegen zu Zuchthaus verdonnern.«

»Verzeihung, kann man wohl in den Saal hineingelangen?«

»Kaum. Der Andrang ist ein gar zu starker. Aber jetzt ist ein Teil Leute weggegangen. Wenn die Sitzung wieder aufgenommen wird, können Sie es versuchen.«

»Wo ist der Eingang?«

»Die große Thür da!«

Der Rechtsanwalt ging davon. Während der wenigen Augenblicke, die das Gespräch gedauert hatte, waren alle nur möglichen Empfindungen fast zu gleicher Zeit auf den unglücklichen Madeleine eingestürmt. Die Worte des Advokaten hatten ihm abwechselnd wie Eisnadeln und glühendes Eisen das Herz durchbohrt. Als er erfuhr, daß die Sache noch nicht zum Abschluß gediehen war, athmete er auf; aber er hätte nicht angeben können, ob ihm bei dieser Kunde wohl oder wehe um's Herz war.

Er näherte sich mehreren Gruppen und hörte, was man sich erzählte. Da in dieser Sitzungsperiode sehr viel Prozesse zu erledigen waren, so hatte der Vorsitzende für den heutigen Tag zwei einfache Fälle angesetzt. Mit dem Kindsmord hatte man angefangen und jetzt beschäftigte man sich mit dem Rückfälligen. Der Mann sollte Aepfel gestohlen haben; aber für diese Beschuldigung waren keine ausreichenden Beweise erbracht; nur das war jetzt festgestellt, daß er schon im Zuchthause zu Toulon gesessen hatte. Das verschlimmerte seine Sache. Uebrigens war das Verhör des Angeklagten und die Vernehmung der Zeugen beendigt; aber die Rede des Vertheidigers und des Staatsanwalts mußte noch gehört werden; vor Mitternacht konnte die Sache nicht vorbei sein. Der Kerl wurde ganz gewiß verurtheilt; denn der Staatsanwalt war ein schneidiger Mann, dem die Angeklagten nicht so leicht entschlüpften. Ein gescheidter Mann, der dichtete!

Madeleine fragte den Gerichtsboten, der vor der Eingangsthür des Schwurgerichtssaales stand:

»Wird die Thür bald aufgemacht?«

»Sie wird überhaupt nicht aufgemacht werden.«

»Wie! Sie wird nicht aufgemacht, wenn die Verhandlung beginnt? Sie ist doch jetzt unterbrochen?«

»Die Verhandlung hat schon wieder angefangen, aber die Thür wird nicht wieder aufgemacht.«

»Warum?«

»Weil der Saal schon überfüllt ist.«

»Was? Kein Platz mehr?«

»Kein einziger. Die Thür ist zu. Es darf Niemand mehr hinein.«

Nach einer Pause fügte er hinzu: »Zwei oder drei Plätze hinter dem Herrn Vorsitzenden sind wohl noch frei, aber die vergiebt der Herr Vorsitzende nur an hohe Beamte.«

Mit diesen Worten drehte ihm der Gerichtsbote den Rücken zu.

Madeleine ging mit gesenktem Haupte davon, durch das Vorzimmer hindurch und die Treppe hinunter mit langsamen Schritten, als zaudere er. Offenbar pflog er Rath mit sich selber. Der heftige Kampf, der seit dem Tage vorher in seinem Innern tobte, war noch nicht zu Ende und nahm in jedem Augenblick nur eine neue Form an. Als er auf dem Treppenabsatz angelangt war, lehnte er sich an das Geländer und kreuzte die Arme über die Brust. Plötzlich knöpfte er seinen Rock auf, zog sein Portefeuille hervor, entnahm ihm einen Bleistift, riß ein Blatt ab und schrieb bei dem Licht der Laterne: Madeleine, Bürgermeister von Montreuil-sur-Mer. Dann stieg er eilig die Treppe wieder hinauf, drängte sich durch das Publikum an den Gerichtsboten heran und sagte mit gebieterischem Ton: »Ueberbringen Sie diesen Zettel dem Herrn Vorsitzenden.«

Der Gerichtsbote nahm den Zettel in Empfang, warf einen Blick darauf und gehorchte.

VIII.
Eine Vergünstigung

Der Bürgermeister war, ohne daß er eine rechte Ahnung davon hatte, eine Art Berühmtheit. Nachdem die ganze Gegend um Boulogne seines Lobes voll geworden, verbreitete sich der Ruf seiner Tüchtigkeit und Herzensgüte auch über die drei oder vier angrenzenden Departements. Abgesehen von dem großen Verdienst, daß er in dem Hauptorte seiner Gegend die Glasindustrie in Flor gebracht hatte, gab es unter den hunderteinundvierzig Kommunen des Arrondissements Montreuil-sur-Mer nicht eine, die ihm nicht irgend eine Wohlthat verdankte. So hatte er seiner Zeit mit seinem Kredit und seinem Kapital die Tüllfabrik in Boulogne, die Flachsspinnerei zu Frévent und die hydraulische Leinwandfabrik in Boubers-sur-Canche gehalten. Ueberall sprach man den Namen des Herrn Madeleine mit Hochachtung aus. Arras und Douais beneideten das glückliche kleine Montreuil-sur-Mer um seinen Bürgermeister.

Der Gerichtsrath, der während dieser Sitzungsperiode in Arras den Vorsitz führte, kannte wie jeder Andere den Namen des so hoch und so allgemein verehrten Mannes. Als daher der Gerichtsbote leise die Thür öffnete, sich von hinten über den Stuhl des Vorsitzenden beugte und ihm den erwähnten Zettel überreichte, mit den Worten: »Der Herr wünscht der Sitzung beiwohnen zu dürfen«, nickte der Vorsitzende lebhaft und mit einem Ausdruck der Hochachtung, ergriff eine Feder, schrieb einige Worte auf den Zettel und übergab ihn dem Gerichtsboten mit der Weisung: »Ersuchen Sie den Herrn Bürgermeister näher zu treten.«

Der Unglückliche, dessen Geschichte wir erzählen, war mittlerweile an derselben Stelle und in derselben Haltung stehen geblieben. Da wurde er aus seinen Gedanken durch eine Stimme geweckt, die zu ihm sagte: »Wollen der Herr Bürgermeister mir die Ehre erweisen und mir folgen?« Es war derselbe Gerichtsbote, der ihm kurz zuvor den Rücken zugedreht und der sich jetzt bis zur Erde verneigte, indem er ihm den Zettel überreichte. Madeleine faltete ihn auseinander und las bei dem Schein der Lampe, in deren Nähe er gerade stand, die Worte: »Der Vorsitzende des Schwurgerichts heißt den Herrn Bürgermeister mit ergebender Hochachtung willkommen.«

Er zerknitterte das Papier in seiner Hand, als enthielten diese Worte für ihn einen herben, unangenehmen Sinn.

Dann folgte er dem Gerichtsboten.

Ein paar Minuten nachher stand er allein in einem von zwei Kerzen erleuchteten, mit Tafelwerk verkleideten Kabinett von strengem Aussehen. Noch klangen ihm die Worte des Gerichtsboten in den Ohren: »Der Herr Bürgermeister befinden Sich im Berathungszimmer. Sie brauchen blos die Thür da aufzuklinken, so befinden Sie Sich in dem Sitzungssaal hinter dem Stuhl des Herrn Vorsitzenden.« Mit diesen Worten vermischte sich noch eine unklare Erinnerung an enge Treppen und dunkele Korridore, durch die er so eben hindurchgekommen.

Der Gerichtsbote hatte ihn also allein gelassen, und der Augenblick der Entscheidung war gekommen. Er bemühte sich jetzt seine Gedanken zu sammeln, aber vergeblich. Denn gerade, wenn man sie am nöthigsten braucht, um sie mit der Wirklichkeit zu verknüpfen, reißen die Fäden der Ideen im Gehirn. Madeleine befand sich jetzt an dem Ort selber, wo die Richter berathen und verurtheilen. Er sah sich mit stumpfer Gemüthsruhe in diesem stillen und fürchterlichen Zimmer um, wo so viele Existenzen vernichtet worden waren, wo bald sein Name ausgesprochen werden, in dem sein Geschick an einen Wendepunkt gelangen sollte. Er sah die Wände, sah sich selber an und staunte, daß er hier stand.

Er hatte seit vierundzwanzig Stunden nichts genossen, und war auf den holprigen Wegen empfindlich gerüttelt worden; aber er fühlte jetzt keinen Hunger, keine Müdigkeit, überhaupt nichts.

An der Wand hing in einem schwarzen Rahmen und unter Glas ein alter Brief von Jean Nicolas Pache, Bürgermeister von Paris und Minister, wohl irrthümlich vom 9. Juni des Jahres 2 datirt, worin Pache der Commune das Verzeichniß der bei ihm in Haft gehaltnen Minister und Abgeordneten übersandte. Diesen Brief studierte Madeleine, und wer ihn dabei hätte beobachten können, würde leicht auf den Gedanken gekommen sein, er müsse ihn sehr interessiren, denn Madeleine verwandte kein Auge davon und las ihn zwei bis drei Mal durch. Gleichwohl verstand er nicht, was er las. Er dachte in dem Augenblick an Fantine und Cosette.

In diese Gedanken versunken wandte er sich von dem Briefe ab, und sein Blick fiel auf die Thür, die ihn von dem Sitzungssaal trennte. Er hatte sie so gut wie vergessen. Bei diesem Anblick wurden seine Augen allmählich starr und nahmen einen Ausdruck der Bestürzung – des Entsetzens an. Angstschweiß trat zwischen seinen Haaren hervor und rieselte über seine Schläfen herab.

Einen Augenblick machte er mit Entschiedenheit jene Gebärde, die da bedeutet: Bin ich denn dazu gezwungen? Dann wandte er sich rasch um, sah die Thür, zu der er hereingekommen, ging darauf zu und eilte hinaus. Jetzt war er nicht mehr in dem Schreckenszimmer, sondern draußen, in einem langen schmalen Korridor mit Treppenstufen und Schaltern, wo Laternen ein trübes Licht verbreiteten, demselben, wo er eben hergekommen war. Er athmete auf, lauschte. Kein Geräusch vorn noch hinten. Nun rannte er, als hätte er Verfolger hinter sich.

Als er um mehrere Ecken herumgebogen war, horchte er wieder. Immer noch dieselbe Stille und dasselbe düstere Halbdunkel. Er war außer Athem und schwankte, so daß er sich an die Wand anlehnen mußte. Die Steine waren kalt, der Schweiß auf seiner Stirn eisig, und er richtete sich wieder auf, indem ihn schauderte.

Hier stand er nun, bebend vor Kälte und wohl noch aus einem andern Grunde, und sann nach.

Die ganze Nacht, den ganzen Tag über hatte er so gesonnen, und jetzt hörte er in seinem Innern nur noch eine Stimme, die zu ihm sprach: »Es muß sein!«

So verfloß eine Viertelstunde. Endlich senkte er den Kopf auf die Brust, seufzte qualvoll, ließ die Arme hängen und kehrte um, langsam und überwältigt von seinem Schmerz. Es war, als hätte ihn ein Verfolger auf der Flucht eingeholt und bringe ihn jetzt zurück.

Er ging also nach dem Berathungszimmer zurück. Das Erste, worauf sein Blick fiel, war die glänzende Klinke, die ihm wie ein Unglücksstein in die Augen leuchtete. Er sah sie an, wie ein Lamm in das Auge eines Tigers blickt.

Er konnte die Blicke nicht davon abwenden.

Ab und zu that er einen Schritt und kam näher heran.

Hätte er aufgehorcht, so wäre aus dem Saale nebenan ein verworrenes Gesumme an sein Ohr gedrungen; aber er hörte nicht hin.

Endlich, ohne zu wissen wie, stand er vor der Thür, griff krampfhaft nach der Klinke und öffnete die Thür.

Er befand sich in dem Sitzungssaal.

IX.
Ein Ort, wo man sich eine Überzeugung bildet

Madeleine trat vor, machte mechanisch die Thür hinter sich zu und blieb stehen, um in dem Saale Umschau zu halten.

Es war ein großer schwach erleuchteter, bald mit Lärm erfüllter, bald stiller Raum, wo die Gerechtigkeit in ärmlicher und schauriger Majestät mitten unter dem Volke prangte.

An dem einen Ende des Saales, wo er selber stand, zerstreute Richter im abgetragenen Amtskleid, mit dem Abknabbern ihrer Nägel oder mit Schlafen beschäftigt; an dem anderen Ende zerlumpter Pöbel; Advokaten in allen möglichen Stellungen; Soldaten mit ehrlichen und groben Gesichtern dazu; altes fleckiges Getäfel; ein schmutziger Plafond; einige mit gelb gewordener, grüner Sersche überzogene Tische; schmuddlige Thüren; mit Nägeln in dem Getäfel befestigte Lampen, die mehr Rauch, als Helligkeit verbreiteten; auf den Tischen Talglichter in kupfernen Leuchtern; Mangel an Licht, an Zierrath, an Heiterkeit, und darüber waltete die strenge Erhabenheit des von Menschen geschaffenen Gesetzes und der von Gott gewollten Gerechtigkeit.

Niemand beachtete ihn. Alle Augen waren auf einen Punkt gerichtet, eine, an eine kleine Pforte gelehnte Bank, linker Hand von dem Stuhl des Vorsitzenden. Aus dieser Bank, die von mehreren Talglichtern beleuchtet war, saß ein Mann zwischen Gendarmen.

Dieser Mann war »Er.«

Madeleine sah ihn, ohne daß er ihn zu suchen brauchte. Seine Augen richteten sich von selbst dahin, als hätten sie gewußt, wo er saß.

Madeleine glaubte sich selber zu sehen, gealtert, allerdings nicht dasselbe Gesicht, aber dieselbe Haltung und dieselbe Erscheinung, dasselbe starre Haar, derselbe scheue und wilde Ausdruck der Augen, derselbe Kittel; kurz so, wie er damals in Digne umherirrte, mit haßerfülltem Herzen.

Ihn schauderte bei dem Gedanken, daß er wieder so werden könne.

Der Mensch sah aus, als sei er mindestens sechzig Jahre alt. Zudem roh, stumpf, verschüchtert.

Als Madeleine eintrat, waren Alle ausgewichen, ihm Platz zu machen. Der Präsident hatte sich umgewendet, und da er errieth, daß der Ankömmling der Herr Bürgermeister von Montreuil-sur-Mer sei, sich verneigt. Der Staatsanwalt, den öfters Amtsgeschäfte mit ihm zusammenführten, erkannte ihn und verneigte sich gleichfalls. Er beachtete das kaum. War er doch gleichsam von Traumnebeln umsponnen und mit dem Schauspiel vor ihm beschäftigt.

Richter, Gerichtsschreiber, Gendarmen, grausame Zuschauer, das hatte er schon einmal gesehen, ehemals, vor siebenundzwanzig Jahren. Diese Schrecknisse fand er jetzt wieder; sie waren da vor ihm, sie existirten. Nicht eine Arbeit seines Gedächtnisses hatte sie da hingezaubert, es waren wirkliche Gendarmen und Richter, wirkliche Zuschauer, Menschen aus Fleisch und Blut. Damit lebte seine ganze gräßliche Vergangenheit wieder auf; der alte Abgrund gähnte ihm entgegen.

Er schrak zurück, drückte die Augen zu und rief in seinem innersten Herzen: »Nun und nimmermehr!«

Und die Tragik seines Geschicks, die alle seine Gedanken bis zum Wahnsinn verwirrte, fügte es, daß ein anderes Ich von ihm da vor ihm saß! Den Mann auf der Anklagebank nannten Alle Jean Valjean!

Vor seinen Augen führte sein Phantom ein ungeheuerliches Schauspiel auf, das den schrecklichsten Augenblick seines Lebens darstellte.

Alles war hier wieder vertreten, dasselbe Gepränge, dieselbe nächtliche Stunde, fast dieselben Gesichter. Nur daß über dem Präsidenten ein Kruzifix hing, was zur Zeit seiner Verurtheilung nicht der Brauch war. Als sein Urtheil gefällt wurde, war Gott nicht da.

Entsetzt über den Gedanken, daß man ihn sehen könnte, sank er auf einen Stuhl nieder, der hinter ihm stand, und machte sich einen Haufen auf einander geschichteter Cartons, die auf dem Tisch der Richter lagen, zu Nutze, um sein Gesicht zu verstecken. Er konnte jetzt sehen, ohne gesehen zu werden. Allmählich erholte er sich von seinem Schrecken, bekam wieder Fühlung mit der Wirklichkeit und wurde ruhiger, so daß er der Verhandlung folgen konnte.

Unter den Geschwornen erblickte er Bamatabeis.

Er sah sich auch nach Javert um, konnte ihn aber nicht entdecken, weil ihm der Tisch des Gerichtsschreibers die Bank, auf der die Zeugen saßen, verdeckte. Zudem war, wie schon erwähnt, der Saal mangelhaft erleuchtet.

Als Madeleine hereinkam, war der Rechtsbeistand des Angeklagten gerade mit seiner Rede fertig geworden. Die allgemeine Aufmerksamkeit war aufs äußerste gespannt. Seit drei Stunden häufte sich eine erschreckliche Anzahl von Beweismomenten auf dem Haupte jenes unbekannten Menschen, jenes verkommenen, entweder überaus stumpfsinnigen oder überaus pfiffigen Patrons. Der Mann war, wie wir schon gesagt haben, ein Strolch, den man auf einem Felde aufgegriffen hatte, als er aus einem benachbarten Garten einen Ast voll reifer Aepfel davon trug. Wer war dieser Mensch? Erhebungen waren angestellt, Zeugen waren vernommen worden; die Aussagen stimmten überein, die ganzen Erörterungen hatten Klarheit geschafft. Die Anklagebehörde sagte: »Wir haben hier nicht blos einen Apfeldieb vor uns, sondern einen Räuber, einen bannbrüchigen, rückfälligen Verbrecher, einen ehemaligen Zuchthausinsassen, ein überaus gefährliches Subjekt, einen Uebelthäter Namens Jean Valjean, auf den die Gerechtigkeit seit langer Zeit fahndet, und der vor acht Jahren, als er eben aus dem Zuchthaus entlassen war, auf öffentlicher Landstraße einen kleinen Savoyarden Namens Gervais mit bewaffneter Hand beraubt hat, ein § 383 des Strafgesetzbuches vorgesehenes Verbrechen, für das er sich späterhin zu verantworten haben wird, wenn erst die Frage nach der Identität des Angeklagten gelöst ist. Er hat sich eines neuen Diebstahls schuldig gemacht. Also handelt es sich hier um einen Rückfall. Verurteilen Sie ihn wegen des letzten Vergehens; der ältere Fall möge später abgeurtheilt werden.« – Diese Anklagen, diesen Zeugenaussagen gegenüber nahm der Angeklagte eine verdutzte Miene an, machte Gebärden, die Nein bedeuten sollten, oder er blickte zur Decke empor. Das Sprechen wurde ihm schwer, seine Antworten bekundeten Verlegenheit, aber von Kopf bis zu Fuß war sein ganzes Wesen eine einzige Ableugnung. Er saß wie ein Blödsinniger unter all diesen Feinden, die mit ausgesuchter Schlauheit Armeen von Gründen gegen ihn ins Feld führten, und wie ein Fremder in der Gesellschaft, die über ihn herfallen wollte. Dabei drohte ihm die äußerste Gefahr, die Wahrscheinlichkeit erklärte sich mehr und mehr gegen ihn, und Alle erwarteten mit mehr Spannung, als er selber, ein schreckliches Urtheil. Stand ihm doch möglicher Weise nicht etwa blos das Zuchthaus, sondern sogar die Todesstrafe bevor, wenn die Identitätsfrage gegen ihn entschieden wurde, und wenn der Fall Gervais mit einer Verurtheilung endete. Welcher Art in aller Welt war der Stumpfsinn dieses Menschen? Schwachsinn oder Pfiffigkeit? Begriff er die Sache zu gut oder gar nicht? Alles Fragen, die von dem Publikum und, allem Anschein nach, auch von den Geschwornen verschieden beantwortet wurden. Dieser Prozeß hatte nicht nur etwas Furchtbares, sondern auch Räthselhaftes; die Entwicklung des Dramas war nicht blos eine grausige, sondern auch eine unklare.

Der Vertheidiger des Angeklagten hatte also schon seine Rede gehalten, eine Rede in jenem feierlichen und pompösen Stil, dessen sich ehemals alle Advokaten bedienten und der heutzutage nur noch bei den Staatsanwälten beliebt ist. – Der Vertheidiger also hatte sich über den Apfeldiebstahl des Weiteren ausgelassen, einen simplen Gegenstand, zu dessen Erörterung elegante Floskeln nicht paßten; aber Bénigne Bossuet selber hat einst, mitten in einer hochfeierlichen Leichenrede, eine Anspielung auf ein vulgäres Huhn machen müssen und mit Pomp die schwierige Aufgabe gelöst. Der Verteidiger hatte gezeigt, daß der Diebstahl nicht materiell bewiesen war. Sein Klient, den er als Vertheidiger mit gutem Bedacht Champmathieu nannte, war von Niemand bei dem angeblichen Einbruch in den Garten gesehen worden. Man hatte den Zweig in seinem Besitz gefunden, aber er behauptete, der Zweig habe an der Erde gelegen, und er habe ihn einfach aufgehoben. Wo sei ein Beweis für das Gegentheil? Gewiß war der Zweig von einem Diebe, der über die Mauer geklettert war, abgerissen und dann weggeworfen worden. Aber womit beweise man, daß Champmathieu dieser Dieb war? Nur mit dem Umstande, daß er ehemals im Zuchthaus gesessen habe. Der Rechtsanwalt leugnete nicht, daß diese Thatsache leider richtig erwiesen sei. Denn der Angeklagte sei in Faverolles wohnhaft gewesen, habe das Handwerk eines Baumputzers betrieben; auch könne der Name Champmathieu sehr wohl aus Jean Mathieu umgewandelt sein; alles dies sei richtig; endlich hätten vier Zeugen mit Sicherheit in Champmathieu den Sträfling Jean Valjean wiedererkannt; diesen Ermittelungen und Aussagen könne er, der Vertheidiger, nur die Thatsache gegenüberstellen, daß sein Klient Alles bestreite. Zwar habe er ein Interesse daran, zu leugnen. Aber gesetzt auch, er sei der Sträfling Jean Valjean, wäre damit bewiesen, daß er die Aepfel gestohlen habe? Das sei doch nur eine Muthmaßung; keinesfalls ein Beweis. Allerdings, das müsse er, um der Wahrheit die Ehre zu geben, gestehen, daß der Angeklagte ein schlechtes Vertheidigungssystem angenommen habe. Er leugne hartnäckig Alles, daß er den Diebstahl begangen, und daß er ein ehemaliger Galeerensklave sei. Das Eingeständnis letzterer Thatsache wäre vernünftiger gewesen und würde ihm Ansprüche auf die Nachsicht der Richter verschaffen; er habe ihm auch dazu gerathen; aber Angeklagter habe sich dessen hartnäckig geweigert, in der Meinung, er könne Alles retten, wenn er nichts gestehe. Das sei unrecht; aber solle man nicht Rücksicht nehmen auf die Unzulänglichkeit seiner Intelligenz? Die lange Haft im Zuchthaus, das lange Elend nachher hätten den Unglücklichen abgestumpft, verthiert. U. s. w., u. s. w. Angeklagter vertheidige sich schlecht; sei dies aber ein Grund ihn zu verurteilen? Was den Fall Gervais betreffe, so befasse er sich nicht damit, da er nicht zur Sache gehöre. Der Vertheidiger beschloß also seine Rede mit einer inständigen Bitte an die Geschworenen und den Gerichtshof, sie möchten, wenn ihnen Jean Valjeans Identität gehörig erwiesen scheine, über ihn die Polizeistrafen als bannbrüchigen Verbrecher verhängen, nicht aber die entsetzliche Strafe, die rückfällige Verbrecher trifft.

Jetzt antwortete der Staatsanwalt dem Vertheidiger in einer energischen und blumenreichen Rede, nach Art aller Staatsanwälte.

Er wünschte dem Vertheidiger Glück zu seiner »Aufrichtigkeit« und machte sie sich weidlich zu Nutze. Aus allen Zugeständnissen seines Vorredners schmiedete er sich Waffen gegen den Angeklagten. Der Vertheidiger gebe offenbar zu, daß der Angeklagte Jean Valjean sei. Dies nahm er ad notam. Der Angeklagte sei also Jean Valjean. Dieser Punkt sei hiermit erwiesen und lasse sich nicht mehr anfechten. Hier schweifte der Herr Staatsanwalt mittels einer geschickten Antonomasie vom Thema ab, indem er auf die Quellen und Ursachen der Verbrechen zu sprechen kam, und donnerte machtvoll gegen die Unsittlichkeit der Romantiker, denen die Kritiker der Quotidienne und der Oriflamme den Titel »satanische Schule« angehängt hatten. Auf den Einfluß dieser schändlichen Schriftsteller führte er mit einer großartigen Logik Champmathieus oder richtiger Jean Valjeans Vergehen zurück. Nach gründlicher Erörterung dieses Punktes ging er zu Jean Valjeans Persönlichkeit über. Beschreibung Jean Valjeans: »Ein Ungeheuer, wie die Hölle nie ein scheußlicheres ausgespieen« u. s. w. Frei nach Racine, dessen berühmte Episode zwar für den Gang der betreffenden Tragödie überflüssig ist, der gerichtlichen Beredtsamkeit aber als eine unschätzbare Fundgrube tagtäglich schätzbare Dienste leistet. Selbstredend erbebten auch Publikum und Geschworene bei dieser schönen Charakterisirung Jean Valjeans. Darauf eine schwungvolle Wendung, die im höchsten Grade geeignet war, dem Redner die Bewunderung des Journal de la Préfecture zu sichern: Und ein solcher Mensch u. s. w. u. s. w., ein Landstreicher, ein Bettler u. s. w. u. s. w., ohne Existenzmittel u. s. w., der durch sein Vorleben zu allen Schandthaten fähig geworden und durch seinen Aufenthalt im Zuchthaus nicht gebessert ist, wie das an dem kleinen Gervais begangene Verbrechen sattsam beweist, u. s. w. u. s. w., ein solcher, beim Diebstahl auf frischer That, in der Nähe der soeben überkletterten Gartenmauer, im Besitz des Diebstahlsobjektes ertappter Mensch leugnet das delictum fragrans, Diebstahl, Einbruch, leugnet Alles, leugnet seinen Namen, seine Identität. Hundert anderer Beweise, auf die wir nicht mehr zurückkommen, zu geschweigen, erkennen ihn vier Zeugen wieder, Javert, der pflichtgetreue Polizei-Inspektor Javert, und drei von den ehemaligen Genossen seiner Schande, Brevet, Chenildieu und Cochepaille. Was setzt er dieser erdrückenden Einstimmigkeit entgegen? Er streitet Alles ab. Welche Verstocktheit! Meine Herren Geschworenen, ich lebe und sterbe der Ueberzeugung, Sie werden den Arm der Gerechtigkeit nicht aufhalten wollen u. s. w. u. s. w. Dieser Rede hörte der Angeklagte mit offenem Munde, höchlich erstaunt und nicht ohne eine gewisse Bewunderung zu. Es überraschte ihn augenscheinlich, daß Jemand so schön reden könne. Hin und wieder, bei den »energischsten« Stellen, wenn der sittliche Unwille des Staatsanwalts überquoll und eine Fluth kräftiger Schimpfworte über den Angeklagten ergoß, wiegte Dieser langsam den Kopf von einer Seite zur anderen, eine Art schwermüthiger und stummer Protest, mit dem er sich seit dem Anfang der Verhandlung begnügte. Zwei oder drei Mal hörten die ihm zunächst saßen, wie er halblaut sagte: Das kommt davon, daß er Herrn Baloup nicht gefragt hat! – Auf dieses stumpfsinnige, offenbar berechnete Verhalten machte der Staatsanwalt die Geschworenen auch aufmerksam. Es bekunde nicht etwa Dummheit, nein! Schlauheit, List, seine Gewohnheit, die Gerechtigkeit zu hintergehen und lege die »tiefe Verderbtheit« dieses Menschen zu Tage. Er endigte mit einem Vorbehalt bezüglich des Falles Gervais und beantragte eine strenge Verurtheilung, also lebenslängliches Zuchthaus.

Nun erhob sich der Vertheidiger, machte dem Herrn Staatsanwalt Komplimente über sein »bewunderungswürdiges Rednertalent«, widerlegte ihn, so gut er konnte, aber nur schwach. Augenscheinlich fühlte er keinen festen Boden unter seinen Füßen.

X.
Er legte sich aufs Leugnen

Die Verhandlung nahte sich hiermit ihrem Ende. Der Vorsitzende hieß den Angeklagten aufstehen und richtete an ihn die herkömmliche Frage: »Haben Sie etwas zu Ihrer Vertheidigung hinzuzufügen?«

Der Mann stand da, drehte seine greuliche Kappe in den Händen herum und schien nichts zu hören.

Der Vorsitzende wiederholte nun seine Frage.

Dies Mal hörte der Angeklagte. Es schien, als begriff er, worum es sich handelte, er machte Bewegungen wie Jemand, der aus dem Schlaf erwacht, ließ seine Blicke nach allen Seiten schweifen, sah das Publikum, die Gendarmen, seinen Rechtsbeistand, die Geschwornen, den Gerichtshof an, legte seine ungeheure Faust auf die Randleiste des Getäfels, das vor seiner Bank war, schaute sich wieder um, heftete dann seinen Blick auf den Staatsanwalt und begann plötzlich zu reden. So gewaltsam, mit solcher Ueberstürzung brachen die Worte aus seinem Munde hervor, daß es schien, als drängten sie sich alle zugleich auf seine Lippen, um alle zu gleicher Zeit herauszukommen.

»Ich habe zu sagen, daß ich Stellmacher in Paris gewesen bin, bei Herrn Baloup nämlich. Schwere Arbeit. Als Stellmacher arbeitet man immer im Freien, auf Höfen, bei guten Meistern unter einem Schuppen, nie in einem geschlossenen Raum, weil nämlich Platz dazu gehört. Im Winter friert Einen so, daß man die Arme übereinander schlagen muß, damit Einem warm wird, aber das wollen die Meister nicht, sie sagen, das nimmt Zeit weg. Eisen in den Händen halten, wenn das Wasser auf der Straße zu Eis gefriert, das ist eine eklig unangenehme Sache. Das nutzt einen Menschen rasch ab. Da wird man schon alt bei, wenn man noch jung ist. Ist Einer vierzig Jahr alt geworden, dann ist er fertig. Ich hatte es auf dreiundfünfzig gebracht, und hatte meine liebe Noth. Dann sind auch die Arbeiter so boshafte Menschen. Ist ein armer Kerl nicht mehr jung, dann heißt's bei jeder Gelegenheit Alter Stiefel! Alter Dusel! Ich verdiente nur noch dreißig Sous den Tag; man bezahlte mich so schlecht wie möglich, die Meister machten's sich nämlich zu Nutze, daß ich alt war. Ich hatte noch eine Tochter, die Waschfrau war. Die verdiente auch ein Bischen. Wir Beide zusammen, da ging es einiger Maßen. Placken mußte sie sich auch. Den ganzen Tag mit dem halben Leibe im Wasser, ob's regnet, ob's schneit, ob's windig ist; wenn's friert, trotz alledem, immer waschen! Manche Leute haben nicht viel Wäsche und warten drauf; werden ihre Sachen nicht gleich gewaschen, so kommen sie nicht wieder, und man verliert ihre Kundschaft. Dann sind die Bretter schlecht zusammengefügt, und überall fallen Tropfen. Die Kleider werden von oben und von unten naß. Da dringt Einem die Kälte bis ins Mark. Sie hat auch im Waschhaus der Enfants-Rouges gearbeitet, wo eine Wasserleitung ist. Da stehen die Frauen nicht im Zuber. Die Wäsche wird am Hahn gewaschen, und hinter den Waschfrauen stehen Gefäße, wo sie gespült wird. Da arbeiten sie nun nicht im Freien und frieren nicht, weil's ein geschlossener Raum ist. Aber der heiße Wasserdunst ist schrecklich und ruiniert die Augen. Sie kam um sieben Uhr Abends nach Hause und ging bald zu Bett, so müde war sie. Ihr Mann keilte sie. Sie ist gestorben. Wir sind nicht sehr glücklich gewesen. Sie war ein recht braves Frauenzimmer; die ging nicht tanzen und war sehr still. Ich besinne mich noch auf eine Fastnacht, da lag sie schon um acht Uhr im Bett. So verhält sich die Sache. Ich spreche die Wahrheit. Erkundigen Sie Sich nur. Ja so, Erkundigungen! Ich bin ein Schafskopf. Paris ist wie ein Ameisenhaufen. Wer kennt da den Vater Champmathieu? Aber wenden Sie Sich nur an Herrn Baloup. Was Sie sonst noch von mir wollen, weiß ich nicht.«

Er schwieg und blieb stehen. Er hatte seine Rede mit lauter, rauher, harter, heisrer Stimme gehalten, in naivem, gereiztem und unwirschem Ton. Ein Mal hatte er seine Rede unterbrochen, um Einen unter den Zuhörern zu grüßen. Die Behauptungen, die er aufs Gerathewohl so zu sagen vor sich hinwarf, kamen ruckweise heraus, wie Schluckser, und er bekräftigte sie mit Gebärden, die an einen Holzhauer erinnerten. Als er zu Ende war, brachen die Zuhörer in ein Gelächter aus. Er sah das Publikum an, begriff nicht, warum die Leute lachten, und lachte dann mit.

Das war schaurig mit anzusehen für einen denkenden Zuschauer.

Der Vorsitzende, ein aufmerksamer und wohlwollender Mann, erhob die Stimme und erinnerte die Herren Geschwornen, daß der Herr Baloup, ehemaliger Stellmacher, bei dem Angeklagter gearbeitet zu haben angab, vergeblich vorgeladen worden sei. Er sei fallit erklärt, und sein Verbleib habe nicht ermittelt werden können. Dann wandte er sich zu dem Angeklagten und forderte ihn auf, ja zu beachten, was er ihm zu sagen hätte: »Sie befinden Sich in einer Lage, wo es sich der Mühe verlohnt, daß man nachdenkt. Eine Menge Umstände sprechen gegen Sie, und das kann die schlimmsten Folgen haben. Ich fordere Sie also zum letzten Mal auf, Angeklagter, sich klar und ausführlich über folgende zwei Fragen zu äußern: Haben Sie, ja oder nein, die Mauer des Pierronschen Gartens erklettert, den Ast abgebrochen und die Aepfel gestohlen, Sich also eines qualificirten Diebstahls schuldig gemacht? Zweitens, sind Sie oder sind Sie nicht der aus dem Zuchthaus entlassene Jean Valjean?«

Der Angeklagte schüttelte den Kopf verständnißinnig wie Einer, der sehr wohl begriffen hat, was man ihn gefragt, und der da weiß, was er zu antworten hat. Er that den Mund auf, wandte sich zu dem Vorsitzenden und sagte:

»Ueberhaupt . . .«, blickte auf seine Mütze, dann zur Decke empor und schwieg.

»Angeklagter,« fiel der Staatsanwalt mit strenger Stimme ein, »nehmen Sie Sich zusammen, Sie antworten auf nichts von alle dem, was man Sie fragt. Ihre Befangenheit verurtheilt Sie. Es ist sonnenklar, daß Sie nicht Champmathieu heißen, daß Sie der ehemalige Sträfling Jean Valjean sind, daß Sie zuerst den Namen Ihrer Mutter Mathieu geführt, daß Sie Sich in der Auvergne aufgehalten, daß Sie in Faverolles geboren sind, wo Sie Baumputzer waren. Es ist ferner sonnenklar, daß Sie reife Aepfel im Pierron'schen Garten gestohlen haben. Die Herren Geschworenen werden ein richtiges Urtheil zu finden wissen.«

Der Angeklagte, der sich gesetzt hatte, fuhr jetzt in die Höhe und rief dem Staatsanwalt zu:

»Sie sind ein sehr bösartiger Mensch! Jetzt will ich Ihnen sagen, was ich sagen wollte. Vorhin konnte ich blos nicht die richtigen Worte finden. Ich habe nichts gestohlen. Ich bin Einer, der nicht alle Tage satt zu essen hat. Ich kam von Ailly her. Es hatte gehörig geregnet, der Erdboden war ganz gelb, und die Wege standen unter Wasser; blos die Grashalme ragten heraus. Da habe ich einen abgebrochenen Zweig an der Erde gefunden und wußte nicht, daß mir das Ungelegenheiten machen würde. Nun sitze ich seit drei Monat im Gefängniß und werde überall rumgeschleppt. Sonst weiß ich nichts. Da wird mir alles Mögliche vorgeschmissen und dann heißt's: Antworten Sie! Der Gendarm, ein gemütlicher Mann, stößt mich auch mit dem Ellbogen an und flüstert: So antworte doch! Ich kann mich nicht ausdrücken, ich habe nichts gelernt, ich armer Teufel. Es ist unrecht, daß Keiner das einsieht. Ich habe nicht gestohlen; ich habe was aufgehoben, was auf der Erde lag. Sie sprechen von Jean Valjean und Jean Mathieu. Die Leute kenne ich nicht, die sind vom Lande. Ich habe in der Stadt bei Meister Baloup, Boulevard de l'Hopital gearbeitet. Ich heiße Champmathieu. Wenn Sie mir sagen können, wo ich geboren bin, so müssen Sie sehr kluge Leute sein. Ich weiß es nicht. Nicht Jeder hat ein Haus oder eine Wohnung, wo er zur Welt kommen kann. Das wäre zu bequem. Meine Eltern, glaube ich, waren Leute, die auf der Landstraße lebten. Aber ich weiß es nicht sicher. Als ich noch ein Kind war, hieß ich »Kleiner«, jetzt nennen sie mich »Alter«. Das sind meine Taufnamen. Glauben Sie das oder glauben Sie's nicht. In der Auvergne und in Faverolles bin ich natürlich gewesen. Was ist denn aber dabei? Kann Einer denn nicht in der Auvergne und in Faverolles gewesen sein und muß er dann auch im Zuchthaus gesessen haben? Ich versichere Sie, ich habe nicht gestohlen und ich bin Vater Champmathieu. Ich habe bei Herrn Baloup gearbeitet und bin domizilirt gewesen. Lassen Sie mich jetzt zufrieden mit Ihrem Unsinn! Warum fällt denn Alles über mich her, als wenn die ganze Welt verrückt geworden wäre?«

Der Staatsanwalt, der stehen geblieben war, wendete sich jetzt an den Vorsitzenden:

»Herr Vorsitzender, Angesichts der verworrenen, aber schlauen Ableugnungen des Angeklagten, der den wilden Mann spielt, uns aber nicht täuschen wird, beantragen wir, daß die Sträflinge Brevet, Cochepaille und Chenildieu, sowie der Polizei-Inspektor Javert noch einmal in den Saal gerufen und zum letzten Mal befragt werden, ob sie in dem Angeklagten den ehemaligen Zuchthaussträfling Jean Valjean wiedererkennen.«

»Ich mache den Herrn Staatsanwalt darauf aufmerksam, daß der Inspektor Javert gleich nach seiner Vernehmung den Sitzungssaal und überhaupt die Stadt verlassen hat, da seine Berufsgeschäfte seine Anwesenheit in dem Hauptort eines benachbarten Arrondissements nothwendig machten. Wir haben ihn, mit Einwilligung des Herrn Staatsanwalts und des Herrn Vertheidigers, dazu ermächtigt.«

»Sehr wohl, Herr Vorsitzender; dann glaube ich in Abwesenheit Herrn Javerts, den Herren Geschworenen seine Aussage wiederholen zu dürfen. Folgendermaßen lauteten seine Worte: »Ich bedarf durchaus keiner moralischen Verdachtgründe noch thatsächlicher Beweise, um die Behauptungen des Angeklagten Lügen zu strafen. Ich erkenne ihn mit Sicherheit. Der Mann heißt nicht Champmathieu, er ist ein sehr bösartiger und gefürchteter, ehemaliger Zuchthaussträfling Namens Jean Valjean. Man hat ihn seiner Zeit nach Verbüßung seiner Strafe nur mit Widerstreben seiner Haft entlassen. Er war wegen qualifizirten Diebstahls zu neunzehn Jahren Zuchthaus verurtheilt. Fünf oder sechs Mal hat er versucht zu entspringen. Abgesehen von der Beraubung des kleinen Gervais und dem Diebstahl im Pierron'schen Garten, habe ich ihn noch im Verdacht, daß er sich im Hause Sr. Bischöflichen Gnaden des verstorbenen Bischofs zu Digne einen Diebstahl hat zu Schulden kommen lassen. Ich habe ihn zur Zeit, wo ich Aufsehergehülfe in Toulon war, oft vor Augen gehabt. Ich wiederhole, daß ich ihn mit Sicherheit erkenne.«

Nach Verlesung dieser bestimmten Erklärung, die auf Publikum und Geschworene lebhaften Eindruck zu machen schien, beschloß der Staatsanwalt seine Rede mit dem Antrage, daß in Ermangelung Javerts, die drei Zeugen Brevet, Chenildieu und Cochepaille noch einmal vernommen werden sollten.

Der Vorsitzende gab dem Gerichtsboten einen Befehl und kurze Zeit darauf öffnete sich die Thür des Zeugenzimmers. Der Gerichtsbote brachte in Begleitung eines Gendarmen den Sträfling Brevet herein.

Brevet trug die in den Centralgefängnissen übliche, schwarzgraue Jacke. Er war ungefähr sechzig Jahre alt und sah zugleich wie ein Geschäftsmann und ein Schurke aus, Eigenschaften, die sich ja manchmal mit einander vertragen. Im Gefängniß, wohin ihn neue Verschuldungen wieder zurückgebracht hatten, war er zum Zimmeraufseher ernannt worden. Er war Einer, dem seine Vorgesetzten nachrühmten, er suche sich nützlich zu machen, und der Geistliche lobte ihn wegen seiner Religiosität. Denn man vergesse nicht, daß sich dies unter der Restauration ereignete.

»Brevet«, begann der Vorsitzende, »Sie sind zu einer entehrenden Strafe verurtheilt und können also keinen Eid schwören.«

Brevet schlug die Augen nieder.

»Indessen kann auch in einem Menschen, den das Gesetz bestraft hat, noch Empfänglichkeit für Ehre und Gerechtigkeit vorhanden sein, wenn Gott in seiner Barmherzigkeit es gestattet. An diese Empfänglichkeit für das Gute wende ich mich in dem jetzigen entscheidungsvollen Augenblick. Sind Sie, wie ich hoffen will, einer solchen Regung noch fähig, so besinnen Sie Sich, ehe Sie antworten, so fassen Sie mit aller Vorsicht jenen Mann, den ein Wort von Ihnen unglücklich machen kann, ins Auge, und versuchen Sie gewissenhaft das Gericht aufzuklären. Auf Ihre Aussage kommt viel an, und Sie können noch immer Ihr Wort zurücknehmen, wenn Sie glauben, Sich geirrt zu haben. – Angeklagter, stehen Sie auf. – Brevet, sehen Sie Sich den Angeklagten an, sammeln Sie Ihre Erinnerungen und sagen Sie uns, ob Sie gewiß und wahrhaftig in diesem Mann Ihren ehemaligen Mitsträfling Jean Valjean wiedererkennen.«

Brevet betrachtete den Angeklagten und wandte sich dann zu dem Gerichtshof.

»Ja, Herr Vorsitzender. Ich habe ihn zuerst erkannt und bleibe bei meiner Aussage. Dieser Mann ist Jean Valjean, der von 1796 bis 1815 im Zuchthaus zu Toulon gesessen hat. Ich bin ein Jahr nach ihm entlassen worden. Jetzt sieht er dumm, wie ein Stück Vieh aus, wahrscheinlich von wegen dem Alter; aber damals war er ein geriebener Bursche. Ich erkenne ihn ganz bestimmt.«

»Setzen Sie sich!« befahl der Vorsitzende. »Angeklagter, bleiben Sie stehen!«

Jetzt wurde Chenildieu hereingeführt, der, wie seine rothe Jacke und seine grüne Mütze bekundeten, ein zu lebenslänglichem Zuchthaus verurtheilter Verbrecher war. Er verbüßte seine Strafe in Toulon und war behufs seiner Vernehmung nach Arras gebracht worden. Er mochte fünfzig Jahre alt sein, war von kleiner, schwächlicher Statur, lebhaft, voller Runzeln, von gelblicher Gesichtsfarbe, und keck und unruhig in seinem Gebahren. Seine Kameraden hatten ihm den Spitznamen Leugnegott gegeben.

Der Vorsitzende richtete an ihn so ziemlich dieselbe Ansprache, wie an Brevet. Als er ihn erinnerte, daß seine Bestrafung ihn des Rechtes beraube, den Zeugeneid schwören zu dürfen, richtete Chenildieu den Kopf empor und sah das Publikum dreist an. Der Vorsitzende forderte ihn dann auf, seine Gedanken zu sammeln und fragte ihn, ob er wirklich den Angeklagten kenne.

Chenildieu brach in eine laute Lache aus.

»Na ob! Wo werde ich denn nicht! Haben wir doch fünf Jahre lang dieselbe Kette geschleppt. Sage mal, Alterchen, bist Du denn böse auf mich?«

»Setzen Sie Sich!« gebot der Vorsitzende.

Nun führte der Gerichtsbote Cochepaille herein. Auch Dieser war, wie Chenildieu zu lebenslänglichem Zuchthaus verurtheilt und roth gekleidet. Er war ursprünglich ein Bauer aus der Gegend von Lourdes, hatte in den Pyrenäen das Vieh gehütet und war dann unter die Räuber gegangen. Cochepaille war nicht weniger verwildert als der Angeklagte und sah noch dümmer aus. Er gehörte zu jenen Unglücklichen, die von der Natur als wilde Thiere geschaffen und von der menschlichen Gesellschaft zu Zuchthäuslern vervollkommnet werden.

Der Vorsitzende versuchte mit einer eindringlichen, feierlichen Ansprache Eindruck auf ihn zu machen und fragte ihn, wie die beiden Andern, ob er ohne Bedenken versichern könnte, daß er den Mann da kenne.

»Das ist Jean Valjean! Wir nannten ihn auch noch die Winde, weil er so stark war.«

Nach jeder der drei Aussagen, die augenscheinlich in gutem Glauben abgegeben wurden, war ein Gemurmel durch die Zuhörerschaft gegangen, das dem Angeklagten nichts Gutes weissagte, und das jedes Mal stärker wurde und länger anhielt. Der Angeklagte seinerseits hörte immer mit demselben Erstaunen zu, das die Anklagebehörde als sein hauptsächlichstes Vertheidigungsmittel bezeichnete. Bei der Vernehmung des ersten Zeugen hatte er zwischen den Zähnen gemurmelt: »Na ja, da haben wir's!« Das zweite Mal sagte er etwas lauter und mit einer Art Befriedigung: »Sehr schön!« Zuletzt schrie er: »Famos!«

Jetzt interpellirte ihn der Vorsitzende mit den Worten:

»Angeklagter, Sie haben gehört. Was haben Sie zu erwiedern?«

Er antwortete:

»Ich erwiedre: Famos!«

Im Publikum wurden Stimmen laut, und sie fanden fast Wiederhall bei den Geschwornen. Es war augenscheinlich, daß der Angeklagte verloren war.

Der Vorsitzende gebot Stillschweigen und erklärte, daß die Debatte geschlossen sei.

Da hörte man Jemand neben dem Vorsitzenden laut rufen:

»Brevet, Chenildieu, Cochepaille! Seht hierher!«

Alle, die es hörten, überrieselte ein eisiger Schauer, so wehmuths- und schreckenvoll klang die Stimme. Aller Augen wandten sich nach der Stelle hin. Da stand ein Mann, der bisher unter den bevorzugten Zuhörern hinter den Mitgliedern des Gerichtshofs gesessen hatte und jetzt bis in die Mitte des Saales vorgetreten war. Der Vorsitzende, der Staatsanwalt, Bamatabois, zwanzig Andere noch erkannten ihn und riefen zu gleicher Zeit:

»Herr Madeleine!«

XI.
Champmathieu wundert sich noch mehr

Er war es in der That. Die Lampe des Gerichtsschreibers warf ihren Schein auf sein Gesicht. Er hielt den Hut in der Hand, seine Kleidung war nicht in Unordnung, sein Rock sorgfältig zugeknöpft. Er war sehr blaß und zitterte etwas. Seine Haare, die bei seiner Ankunft in Arras grau gewesen, waren jetzt weiß.

Alle richteten sich auf. Die Aufregung erreichte ihren höchsten Grad, aber noch begriff Niemand die Bedeutung und Tragweite des Vorfalls. Der Schrei war herzzerreißend gewesen, und doch war Derjenige, der ihn ausgestoßen hatte, so ruhevoll in seinem Gebahren, daß man sich fragte, wer den Ausruf gethan.

Aber diese Unentschiedenheit währte nur wenige Sekunden. Noch ehe der Vorsitzende und der Staatsanwalt einen Laut vorbringen, noch ehe Gendarmen und Gerichtsboten eine Bewegung machen konnten, war Madeleine auf die Zeugen zugeschritten und fragte:

»Erkennt Ihr mich nicht?«

Alle Drei blieben stumm und machten eine verneinende Bewegung mit dem Kopfe. Cochepaille antwortete schüchtern mit einem militärischen Gruße. Da wandte sich Madeleine zu den Geschworenen und den Richtern mit den Worten:

»Meine Herren Geschworenen, lassen Sie den Angeklagten in Freiheit setzen. Und mich lassen Sie arretiren, Herr Vorsitzender. Ich bin der Mann, den Sie suchen, nicht er. Ich bin Jean Valjean.«

Keiner konnte athmen. Auf das erste Erstaunen folgte jetzt Grabesstille. Alle durchschauerte jene religiöse Andacht, die den Menschen Angesichts des Erhabenen zu ergreifen pflegt.

Aber auf dem Gesicht des Vorsitzers spiegelte sich Mitleid und Trauer ab, Er winkte dem Staatsanwalt und flüsterte den beisitzenden Räthen einige Worte zu. Dann wandte er sich an das Publikum mit einer Frage, deren Bedeutung Alle erriethen:

»Ist vielleicht ein Arzt hier?«

Nach ihm ergriff der Staatsanwalt das Wort:

»Meine Herren Geschworenen, der merkwürdige und unerwartete Zwischenfall, der die Sitzung stört, flößt uns wie Ihnen nur ein Gefühl ein, über dessen Natur wir uns wohl nicht weiter auszusprechen brauchen. Sie Alle kennen, wenigstens von Hörensagen, den ehrenwerthen Herrn Madeleine, Bürgermeister von Montreuil-sur-Mer. Wenn unter den Anwesenden sich ein Arzt befindet, so ersuchen wir ihn, gemeinschaftlich mit dem Herrn Vorsitzenden, Herrn Madeleine seinen Beistand zu leihen und ihn nach seiner Wohnung zurückzubringen.«

Madeleine ließ den Staatsanwalt nicht zu Ende reden, sondern fiel ihm mit einem eben so milden, wie entschiedenen Einspruch ins Wort. Was er sagte, ist gleich nach der Sitzung von einem Ohrenzeugen niedergeschrieben worden, so daß wir in der Lage sind, es wörtlich wiedergeben zu können.

»Ich danke Ihnen, Herr Staatsanwalt, aber ich bin nicht krank, wie Sie sofort einsehen werden. Sie standen im Begriff einen schweren Irrthum zu begehen. Lassen Sie den Mann frei. Ich erfülle eine Pflicht, denn ich bin der unglückliche Sträfling. Ich bin der Einzige, der den Sachverhalt kennt, und ich sage Ihnen die Wahrheit. Was ich in diesem Augenblick thue, sieht Gott dort oben, und das genügt. Sie können mich abführen. Und doch habe ich alles Menschenmögliche gethan. Ich habe mich hinter einem falschen Namen verborgen, bin reich, bin Bürgermeister geworden. Ich wollte ein ehrlicher und anständiger Mann werden. Aber das scheint nicht möglich zu sein. Ich kann leider nicht Alles auseinandersetzen und ich will Ihnen nicht meine Lebensgeschichte erzählen, aber es wird Alles einmal bekannt werden. Ich habe allerdings bei Sr. Bischöflichen Gnaden einen Diebstahl verübt; ich habe allerdings den kleinen Gervais beraubt. Es ist richtig, daß Jean Valjean ein sehr bösartiger Verbrecher war. Vielleicht ist nicht er allein daran schuld. Hören Sie mich, meine Herren Richter, wenn auch ein so tief gesunkener Mensch, wie ich, nicht das Recht hat, die Vorsehung zu belehren und der Gesellschaft einen Rath zu geben, aber die Schmach, die ich von mir abzuwälzen versuchte, ist ein verderbliches Ding. Das Zuchthaus vermehrt die Zahl der Zuchthäusler. Merken Sie sich das, wenn Sie wollen. Vorher war ich ein armer, unintelligenter Bauer, eine Art Idiot; aber im Zuchthaus ist eine Veränderung mit mir vorgegangen. Aus dem Dummkopf wurde ein bösartiger Mensch, aus dem Klotz ein Feuerbrand. Später hat mich Nachsicht und Güte gerettet, nachdem die Strenge mich verderbt hatte. Aber, verzeihen Sie, Sie können nicht verstehen, was ich da Alles sage. Sie werden bei mir zu Hause in der Asche des Kamins das Zweifrankenstück finden, das ich vor sieben Jahren dem kleinen Gervais genommen habe. Weiter habe ich nichts hinzuzusetzen. Führen Sie mich ab. Mein Gott, Herr Staatsanwalt, Sie schütteln den Kopf und denken bei sich: Madeleine hat den Verstand verloren. Sie glauben mir nicht. Das ist schlimm. So verurtheilen Sie wenigstens nicht den Mann da! Was! Die hier erkennen mich nicht! Wäre doch Javert hier! Der würde mich schon erkennen.«

Keine Beschreibung könnte die wohlwollende und verzweifelte Schwermuth wiedergeben, die aus dem Ton seiner Worte hervorklang.

Jetzt wandte er sich an die drei Sträflinge:

»Nun, ich kenne Euch! Brevet, erinnern Sie Sich . . .«

Er hielt zögernd einen Augenblick inne und fuhr dann fort:

»Erinnerst Du Dich noch an Deine Tricothosenträger mit dem Damenbrettmuster?«

Brevet fuhr verwundert zusammen und sah ihn vom Kopf bis zu den Füßen voller Schrecken an. Madeleine aber fuhr fort:

»Chenildieu, mit dem Beinamen Leugnegott, Deine rechte Schulter trägt tiefe Brandmale, weil Du Dich eines Tages auf eine Kohlenpfanne gelegt hast, um die drei Brandmarkungsbuchstaben auszubrennen, aber es gelang Dir nicht, und man kann sie noch immer deutlich erkenne. Antworte, ist das wahr?«

»Ja wohl!« bestätigte Chenildieu.

Madeleine wendete sich jetzt an Cochepaille:

»Cochepaille, dicht bei der Aderlaßstelle Deines linken Armes ist ein mit Schießpulver blau eingebranntes Datum, der 1. März 1815, der Tag, wo Kaiser Napoleon in Cannes landete. Krempele Deinen Aermel auf.«

Cochepaille legte seinen Arm blos, auf den sofort Alle ihre Augen richteten, und ein Gendarm leuchtete mit einer Lampe. Das Datum stand in der That da.

Der unglückliche Mann wandte sich jetzt zu dem Publikum und den Richtern, mit einem zugleich triumphirenden und verzweiflungsvollen Lächeln, das Allen das Herz, zerschnitt.

»Sie sehen also, ich bin Jean Valjean.«

In dem Saale waren jetzt weder Richter, noch Ankläger, noch Gendarmen. Keiner dachte an die Pflicht, die er zu erfüllen hatte; der Staatsanwalt hatte vergessen, daß er da war, Strafanträge zu stellen; der Vorsitzende, daß er die Verhandlung leiten sollte; der Rechtsbeistand, daß er eine Verteidigung übernommen hatte. Merkwürdig, keine Frage wurde gethan, keine Behörde griff ein. Es ist dem Erhabenen eigen, daß es alle Herzen gefangen nimmt. Keiner vielleicht gab sich Rechenschaft von seinen Empfindungen; Keiner sicherlich wurde sich bewußt, daß vor seinem geistigen Auge ein hehres Licht strahlte; aber innerlich geblendet fühlten sich Alle.

Es war nicht zu bezweifeln, daß man Jean Valjean vor sich hatte. Das sprang sonnenklar in die Augen. Daß der Mann da sich gezeigt hatte, das brachte Klarheit in die ganze Sache, über der eben noch das dichteste Dunkel geschwebt. Ohne daß es einer weiteren Erklärung bedurft hätte, blitzte in dem Hirn der Zuhörer das Verständnis des Vorgangs auf, der sich vor ihren Augen abgespielt hatte, für die einfache, herrliche Thatsache, daß ein Mann sich dem Gericht auslieferte, damit nicht ein Anderer an seiner Stelle verurtheilt werde. Diesem klaren Sachverhalt gegenüber hatten Einzelheiten und Zweifel nichts mehr zu bedeuten.

Dieser Eindruck verging schnell, aber in dem Augenblick war er unwiderstehlich.

»Ich will die Sitzung nicht länger stören,« fuhr jetzt Jean Valjean fort. »Ich gehe, da Niemand mich verhaftet. Ich habe mehrere Angelegenheiten zu erledigen. Der Herr Staatsanwalt weiß, wer ich bin und wo ich hingehe; er kann mich festnehmen lassen, wenn er will.«

Damit ging er auf die Ausgangsthür zu. Keiner erhob seine Stimme, Keiner streckte den Arm aus, ihn aufzuhalten. Alle machten ihm Platz. Es lag etwas Göttliches in seiner Erscheinung, etwas, wovor die Menge scheu und ehrfurchtsvoll zurückweicht. Er entfernte sich langsam. Wer ihm die Thür aufmachte, hat man nie erfahren; aber er fand sie offen, als er bis dahin gekommen war. Hier wendete er sich noch ein Mal um und sagte:

»Herr Staatsanwalt, ich stehe Ihnen zur Verfügung.«

Und zu den Zuhörern:

»Sie Alle, die hier zugegen sind, Sie finden, daß ich Mitleid verdiene, nicht wahr? Du lieber Himmel, wenn ich bedenke, was ich beinahe gethan hätte, so halte ich mich jetzt für beneidenswerth. Indessen wäre es mir lieber gewesen, daß alles dies nicht geschehen wäre.«

Er ging hinaus und es fand sich wieder ein Unbekannter, der die Thür hinter ihm zumachte. Wer Großes und Herrliches vollbringt, ist dienstwilligen Beistandes immer sicher.

Noch ehe eine Stunde verstrichen war, sprachen die Geschworenen Champmathieu von allen Anklagen frei und er wurde auch sofort in Freiheit gesetzt. Sein Erstaunen war nun noch größer; er glaubte, alle Welt sei verdreht geworden und wußte nicht recht, ob er wache oder träume.


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