Victor Hugo
Die Elenden. Erster Theil. Fantine
Victor Hugo

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So lange kraft der Gesetze und Sitten eine sociale Verdammniß existirt, die auf künstlichem Wege, inmitten einer hoch entwickelten Civilisation, Höllen schafft und noch ein von Menschen gewolltes Fatum zu dem Schicksal, das von Gott kommt, hinzufügt; so lange die drei Probleme des Jahrhunderts, die Entartung des Mannes durch das Proletariat, die Entsittlichung des Weibes infolge materieller Noth und die Verwahrlosung des Kindes, nicht gelöst sind; so lange in gewissen Regionen eine sociale Erstickung möglich sein wird, oder in andern Worten und unter einem allgemeineren Gesichtspunkt betrachtet, so lange auf der Erde Unwissenheit und Elend bestehen werden, dürften Bücher wie dieses nicht unnütz und unnötig sein.

 

Erstes Buch. Ein Gerechter

I.
Myriel

Im Jahre 1815 war Charles François Bienvenu Bischof von Digne. Er zählte damals fünfundsiebzig Jahre und hatte sein hohes Amt seit 1806 inne.

Letzterer Umstand steht eigentlich in keiner wesentlichen Beziehung zu dem Inhalt unsrer Erzählung, aber vielleicht ist es nicht überflüssig, – wäre es auch nur der Genauigkeit wegen – hier zu berühren, was über ihn bei seiner Ankunft in der Diöcese erzählt und gemuthmaßt wurde. Was man von einem Menschen sagt, spielt ja, gleichviel ob es wahr oder falsch ist, in seinem Leben oft eine ebenso wichtige Rolle wie seine Thaten und Handlungen. Myriel war der Sohn eines Parlamentsraths der Stadt Aix, gehörte also zu dem Beamtenadel. Man erzählte sich, sein Vater, der ihm sein Amt vererben wollte, habe ihn schon, als er erst achtzehn oder zwanzig Jahr alt war, verheiratet, wie dies bei dem Parlamentsadel gebräuchlich war. Trotz dieser Heirat hätte aber Charles Myriel viel von sich reden gemacht. Er war gut gewachsen, wenn auch von kleiner Statur, hielt sehr auf sein Aeußres, hatte feine Manieren und viel Geist und brachte den ersten Abschnitt seines Lebens mit weltlichen Zerstreuungen und Liebesabenteuern hin.

Da brach die große Revolution von 1789 aus, und alsbald wurden auch die Familien des Parlamentsadels in den Strudel hineingerissen und decimirt, aus dem Lande gejagt, verfolgt, auseinander gesprengt. Auch Charles Myriel emigrirte gleich zu Anfang der Revolution nach Italien. Hier starb seine Frau an einer Brustkrankheit, an der sie schon seit Jahren gelitten hatte. Kinder hatten sie nicht. War es der Zusammenbruch der alten Weltordnung, der Niedergang seiner Familie, die Dramen des Schreckensjahres 1793, die den Emigrirten aus der Ferne noch entsetzlicher erschienen als sie in Wirklichkeit waren, kurz, waren es die äußerlichen Umwälzungen, die ihn der Welt und ihren Freuden entfremdeten? Oder traf mitten in dem Strudel seiner Vergnügungen ihn persönlich ein Unglück, das die tiefsten Tiefen seines Herzens aufwühlte und seinem Denken eine andere Richtung wies? Diese Fragen wußte Niemand zu beantworten; nur so viel stand fest, daß er, aus Italien zurückgekehrt, Priester war.

Im Jahre 1804 war Myriel Pfarrer von Brignolles, wo er ein sehr zurückgezogenes Leben führte. Zu dieser Zeit, kurz nach Napoleons Kaiserkrönung, kam er einmal behufs Erledigung eines Amtsgeschäftes nach Paris und mußte unter Andern auch dem Kardinal Fesch seine Aufwartung machen. Während nun unser wackrer Pfarrer im Vorzimmer wartete, kam zufällig auch der Kaiser um den Kardinal, seinen Oheim, zu besuchen. Ihm fiel ein gewisser Ausdruck von Neugierde auf, mit dem die Augen des Pfarrers ihm folgten, und, sich umwendend, fragte er barsch:

»Wer ist denn der gute Mann, der mich so ansieht?«

»Majestät, sagte Myriel, sehen einen guten, und ich einen großen Mann. Beide Teile können profitiren.«

Der Kaiser fragte nachher den Kardinal sofort nach dem Namen dieses Pfarrers, und kurze Zeit darauf erfuhr Myriel zu seiner großen Verwundrung, daß er auf den Bischofssitz von Digne berufen sei.

Im Uebrigen wußte Niemand, ob an den Gerüchten, die über Myriels Vorleben in Umlauf waren, etwas Wahres sei. Nur wenige hatten seine Familie gekannt.

Selbstredend ging es Myriel wie jedem Neuangekommnen in jeder Kleinstadt, wo Jedermann einen Mund zum Reden, aber nur Wenige ein Hirn zum Denken haben. Er mußte die Leute reden lassen, obgleich und weil er Bischof war. Was man sich über ihn erzählte, waren nur Reden, nur leeres Wortgeklingel, und als er neun Jahre in Digne residirt hatte, war all der Klatsch, der anfangs alle kleinen Geister in dieser kleinen Stadt in große Aufregung versetzt hatte, der Vergessenheit anheimgefallen. Niemand wagte mehr davon zu sprechen, Niemand ihn zu gehässigen Zwecken auszubeuten.

Myriel brachte nach Digne ein altes Fräulein Namens Baptistine mit, die seine Schwester und zehn Jahre jünger war als er. Die ganze Dienerschaft der beiden Geschwister bestand in einer Magd desselben Alters wie Fräulein Baptistine, Namens Frau Magloire, die ehedem nur die »Magd des Herrn Pfarrers« gewesen und nun zugleich als Kammerfrau des Fräulein Baptistine und als Wirtschafterin Sr. Bischöflichen Gnaden fungirte.

Fräulein Baptistine war eine hoch gewachsene, blasse, hagre Dame von sanftem Wesen, eine Verkörperung alles dessen, was ein weibliches Wesen achtungswert macht; denn auf Ehrfurcht Anspruch machen darf ja wohl nur das Weib, das Mutter ist. Hübsch war sie nie gewesen, aber da ihr ganzes Leben mit Werken frommer Liebestätigkeit ausgefüllt worden war, so war jetzt über ihre äußere Erscheinung eine Art lichter Klarheit ausgegossen, etwas, das man die Schönheit des Gemüths nennen kann. Was in ihrer Jugend Magerkeit gewesen, hatte sich jetzt zu engelhafter Durchsichtigkeit verklärt. Sie war mehr Seele noch als jungfräuliches Weib, gleichsam ein Schatten mit so viel Körper, daß man ihm noch ein Geschlecht beilegen konnte; ein wenig Stoff, der einen lichten Glanz einhüllte. Dazu große Augen, die sie immer zur Erde gesenkt hielt, als suche diese Seele einen Vorwand noch hienieden zu verweilen.

Frau Magloire war eine kleine, dicke Alte, die immer keuchte, weil sie sich im Hause tüchtig tummelte, und zweitens, weil sie engbrüstig war.

Als Myriel seinen Einzug in Digne hielt, wurde er mit den üblichen hohen Ehrungen, gemäß den kaiserlichen Dekreten, laut denen die Bischöfe im Range unmittelbar den Brigadegenerälen folgen, in dem bischöflichen Palast installirt. Der Maire und der Präsident machten ihm zuerst ihre Aufwartung, und er seinerseits besuchte zuerst den General und den Präfekten. Dann, nachdem die Installation vollzogen war, wartete die Stadt, wie ihr neuer Bischof seines Amtes walten würde.

II.
Herr Myriel wird der Herr Bischof Bienvenu

Der bischöfliche Palast in Digne lag neben dem Hospital. Es war ein großes, schönes Gebäude, das zu Anfang des 18. Jahrhunderts von Henri Puget, Doktor der Theologie und 1712 Bischof von Digne, errichtet worden war. Alles in diesem wahrhaft fürstlichen Schlosse war in großem Stile angelegt: die Wohnzimmer des Bischofs, die Säle, die Kammern, der große Ehrenhof nebst den Wandelgängen, die sich, von altflorentinischen Arkaden überwölbt, um ihn herumzogen, die mit herrlichen Bäumen bepflanzten Gärten. In dem Speisesal, einer langen und prachtvollen Galerie, die im Erdgeschoß belegen war und sich nach den Gärten hinaus öffnete, hatte einst Henri Puget sieben hohe Würdenträger der Kirche feierlichst bewirtet. Die Bildnisse dieser sieben ehrfurchtgebietenden Prälaten schmückten den Sal, und das denkwürdige Datum, der 29. Juli 1714, war mit goldnen Buchstaben auf einer weißen Marmortafel eingegraben.

Das Hospital war ein enges, niedriges, einstöckiges Haus mit einem kleinen Garten.

Drei Tage nach seiner Ankunft besichtigte der Bischof das Hospital. Nach Beendigung der Visitation ließ er sofort den Direktor zu sich bescheiden.

»Herr Direktor,« redete er ihn an, »wieviel Patienten haben Sie gegenwärtig?«

»Sechsundzwanzig, Ew. Bischöfliche Gnaden.«

»Soviel habe ich auch gezählt«, bemerkte der Bischof.

»Die Betten«, hob der Direktor wieder an, »stehen recht dicht aneinander.«

»Das ist mir auch aufgefallen.«

»Statt Säle haben wir nur Stuben, die schwer zu lüften sind.«

»Das scheint mir auch so.«

»Und fällt einmal ein Sonnenstrahl in den Garten, so ist er zu klein, die vielen Rekonvalescenten zu fassen.«

»Das habe ich mir auch gesagt.«

»Wenn Epidemieen umgehen, wie z. B. dieses Jahr der Typhus und vor zwei Jahren Friesel und Schweißfieber, haben wir bisweilen an die hundert Kranke und wissen dann nicht, wo wir mit ihnen hin sollen.«

»Der Gedanke ist mir auch in den Sinn gekommen.«

»Aber allen diesen Uebelständen ist nun einmal nicht abzuhelfen«, sagte der Direktor. »Man muß sich fügen.«

Dieses Zwiegespräch fand in dem Speisesal des Erdgeschosses statt.

Der Bischof schwieg einen Augenblick und wandte sich dann wieder an den Direktor mit der hastigen Frage:

»Herr Direktor, wieviel Betten, meinen Sie, würde wohl dieser Sal allein schon fassen?«

»Der Speisesal Ew. Bischöflichen Gnaden?« rief der Direktor in maßlosem Erstaunen.

Der Bischof überschaute den Sal und schien mit den Augen Messungen anzustellen.

»Zwanzig Betten würden hier wohl Platz finden,« flüsterte er leise, als spreche er für sich. Dann, zu dem Direktor gewendet, fuhr er laut fort:

»Ich will Ihnen was sagen, Herr Direktor. Es liegt offenbar ein Irrthum vor. Ihr seid sechsundzwanzig Menschen in fünf bis sechs winzigen Zimmerchen. Unserer sind hier drei, und wir haben Platz für sechzig. Da liegt ein Irrthum vor, sage ich Ihnen noch einmal. Sie haben meine Wohnung, und ich die Ihrige. Geben Sie mir mein Haus wieder. Sie gehören hierhin.«

Am folgenden Tage waren die sechsundzwanzig armen Kranken in dem Palast des Bischofs untergebracht und der Bischof in das Krankenhaus übergesiedelt.

Myriel hatte, da seine Familie durch die Revolution ruinirt war, kein Vermögen. Seine Schwester bezog eine Leibrente von fünfhundert Franken, die seiner Zeit im Pfarrhause für ihre persönlichen Bedürfnisse ausgereicht hatten. Myriel erhielt vom Staate als Bischof ein Gehalt von fünfzehn Tausend Franken. Ueber diese Summe verfügte Myriel laut einer von ihm selber aufgestellten Rechnung, deren Original uns vorliegt, ein für alle Mal folgendermaßen:

Ausgaben für meinen Haushalt.

Für das kleine Seminar 1500 Franken
Für die Missionskongregation 100 "
Für die Lazaristen zu Montdidier 100 "
Für das Seminar der auswärtigen Missionen in Paris 200 "
Für die Kongregation des Heiligen Geistes 150 "
Für die religiösen Anstalten im Heiligen Lande 100 "
Für die Frauenvereine zur Unterstützung armer Wöchnerinnen 300 "
Für den Verein in Arles außerdem noch 50 "
Für die Verbesserung der Gefängnißeinrichtungen 400 "
Zur Unterstützung und Befreiung Gefangner 500 "
Für die Befreiung von Familienvätern aus dem Schuldgefängniß 1000 "
Zuschuß zu den Gehältern der armen Schullehrer der Diöcese 2000 "
Für das Getreidemagazin der Oberalpen 100 "
Für die Kongregation der Damen von Digne, Manosque und Sisteron zur Erteilung von unentgeltlichem Unterricht an bedürftige Mädchen 1500 "
Für die Armen 6000 "
Für meine persönlichen Ausgaben 1000 "
———
Summa 15,000 "

An dieser Einrichtung »seines sogenannten Haushaltes« änderte er nichts, so lange er den Bischofssitz zu Digne inne hatte.

Dieser Anordnung unterwarf sich auch Fräulein Baptistine ohne den geringsten Widerspruch. Für diese fromme Dame war Myriel nicht allein ihr Bruder, sondern auch ihr Bischof, ein Freund, den die Natur ihr zugesellt, und ein Vorgesetzter, den die Kirche ihr übergeordnet hatte. Sie brachte ihm nur Liebe und Ehrfurcht entgegen. Allen seinen Worten pflichtete sie bei; was er that, hieß sie gut. Nur die Magd, Frau Magloire, murrte ein wenig. Hatte doch der Herr Bischof, – wie aus der oben angeführten Rechnung erhellt, – sich nur tausend Franken vorbehalten, was mit Fräulein Baptistines Pension fünfzehn Hundert Franken jährlich ergab. Mit diesen fünfzehn Hundert Franken bestritten die beiden Frauen und der alte Herr ihren ganzen Lebensunterhalt.

Und wenn ein Dorfpfarrer nach Digne kam, brachte es der Bischof noch fertig ihn anständig zu bewirten, dank Frau Magloire's großer Sparsamkeit und Fräulein Baptistine's weiser Haushaltungskunst. Eines Tages – er war damals seit etwa drei Monaten in Digne – sagte der Bischof:

»Meine Einkünfte wollen doch gar nicht recht zulangen!«

»Das wollte ich meinen!« rief Frau Magloire. »Wenn Bischöfliche Gnaden sich wenigstens noch das Geld auszahlen ließen, das Ihnen das Departement als Vergütigung für Equipage und Reiseunkosten schuldig ist. Die Vorgänger Ew. Bischöflichen Gnaden haben's doch immer so gehalten!«

»In der That, Sie haben Recht, Frau Magloire, stimmte ihr der Bischof bei und reichte ein Gesuch bei der Stadtverwaltung ein.

Der Generalrath zog auch das Gesuch in Erwägung und warf einen Posten von dreitausend Franken jährlich aus, als Vergütung der Unkosten, die der Herr Bischof für seine Equipage in der Stadt und für seine Reisen mit der Post zu bestreiten habe.

Natürlich erhoben die Freidenker ein Zetergeschrei und ein Senator namentlich, ein ehemaliges Mitglied des Rathes der Fünfhundert, der dem Staatsstreich vom 18. Brumaire zugestimmt und von Napoleon ein bei Digne gelegnes großes Gut als Dotation erhalten hatte, erließ an den Kultusminister Bigot de Préameneu einen entrüsteten Schreibebrief, dem wir folgende Zeilen entnehmen:

»Wozu eine Equipage in einer Stadt, die keine viertausend Einwohner hat? Und Unkosten für Rundreisen? Was sollen denn solche Rundreisen für einen Zweck haben? Und wie reist man denn per Post in einem Gebirgslande? Wir haben hier ja überhaupt keine Chausseen. Man reist hier nur zu Pferde. Kaum daß die Brücke über die Durance bei Chateau-Arnoult ein Ochsenfuhrwerk tragen kann! Aber so sind die Priester alle! Geldgierig und geizig. Der hier hat sich Anfangs auf den Heiligen ausgespielt. Jetzt macht er's wie die Andern. Er muß in einer Equipage fahren und in einer Postkutsche reisen! Er braucht Luxus wie die Bischöfe des alten Regime. O über dieses Pfaffengeschmeiß! Glauben Sie nur, Herr Graf, ehe uns der Kaiser die Schwarzröcke nicht vom Halse schafft, werden die Zustände nicht besser. Nieder mit dem Papst! (Frankreich stand damals mit Rom auf gespanntem Fuße). Ich für mein Theil bin dafür, daß Cäsar allein regiert. U. s. w. U. s. w.«

Desto mehr freute sich Frau Magloire.

»So ist's recht, sagte sie zu Fräulein Baptistine. Se. Bischöfliche Gnaden haben bis jetzt nur für Andere gesorgt, aber schließlich haben Sie doch endlich auch an sich denken müssen. Die Armen sind nun versorgt, und die dreitausend Franken bleiben für uns. Es war auch Zeit, daß wir was kriegten!«

An dem Abend desselben Tages stellte der Bischof wieder eine Rechnung auf und gab sie seiner Schwester. Sie lautete folgendermaßen:

Unkosten für Equipage und Amtsreisen.

Zu Bouillon für die Kranken unseres Hospitals 1,500 Franken
Für den Frauenverein zu Arles 250 "
Für den Frauenverein zu Draguignan 250 "
Für die Findelkinder 500 "
Für die Waisenkinder 500 "
———
Summa 3,000 Franken

Das war Myriels Budget.

Was die Nebeneinkünfte anbelangt, die Einnahmen für Abkauf von Aufgeboten, für Dispensationsscheine, Nothtaufen, Predigten, Einweihungen von Kirchen und Kapellen, Hochzeiten u. s. w., so trieb der Bischof diese Gelder von den Reichen mit um so größrer Strenge ein, da er sie sämtlich den Armen zuwandte.

Nach Verlauf einer kurzen Zeit flossen ihm denn auch Liebesgaben in reicher Menge zu. Begüterte und Bedürftige, Alle klopften an Myriels Thür, die Einen um Spenden bei ihm zu hinterlegen, die Andern um sie in Empfang zu nehmen. Aber so beträchtliche Summen ihm auch durch die Hände gingen, so fand er sich doch nicht veranlaßt seine Lebenshaltung in irgend einem Punkte zu ändern und sich außer dem Notwendigen auch Ueberflüssiges zu gestatten.

Im Gegentheil. Da in der menschlichen Gesellschaft allzeit unten mehr Elend als oben Wohlthätigkeitssinn vorhanden ist, so war alles schon weggegeben, ehe er es bekommen hatte, so fiel alles wie ein Tropfen auf einen heißen Stein. Man konnte ihm noch so viel Geld geben, nie hatte er etwas. In solchen Fällen gab er noch mehr von dem Seinigen her.

Der dankbare Instinkt des Volkes wählte denn auch unter den Vornamen, die sein Bischof dem Brauche gemäß in seinen Erlassen und Hirtenbriefen vollständig aufzählte, denjenigen heraus, der einen bedeutungsvollen Sinn darbot. Die armen Leute nannten ihn nur den Bienvenu (Willkommen, Segensreich). Wir wollen diesem Beispiel folgen und ihn gelegentlich gleichfalls so nennen. Ihm selber sagte übrigens diese neue Bezeichnung zu. »Der Name gefällt mir,« ließ er sich vernehmen. »Er mildert, was der Titel Bischöfliche Gnaden zu Stolzes hat.«

Daß diese Schilderung, die wir hier entwerfen, die Wahrscheinlichkeit für sich habe, wagen wir nicht zu behaupten, wohl aber ist sie der Wahrheit gemäß.

III.
Ein tüchtiger Arbeiter findet viel zu thun

Der Bischof hatte zwar seine Equipage in Almosen umgewandelt, bereiste aber gleichwohl fleißig seinen Amtssprengel, was mit erheblichen Strapazen verbunden war. Die Diöcese Digne ist ein Land mit wenig Ebenen und viel Bergen, dabei fast ohne Chausseen, wie schon erwähnt. Sie umfaßt zweiunddreißig Pfarreien, einundvierzig Vikariate und zweihundert fünfundachtzig Filialkirchen. Dies Alles zu bewältigen, erheischte keine geringe Summe von Arbeitskraft, die aber unser Bischof aufzubringen verstand. War der betreffende Ort in der Nachbarschaft gelegen, so ging er zu Fuß; in den ebenen Gegenden fuhr er in einer Halbkutsche, im Gebirge ritt er auf einem Maulthier. Die beiden Frauen begleiteten ihn gewöhnlich, außer wenn die Strapazen das billige Maß überstiegen. In diesem Fall reiste er allein.

Eines Tages ritt er in Senez, einer alten Bischofsstadt, auf einem Esel ein. Ein andres Transportmittel hatte er wegen der starken Ebbe, die in seiner Börse aufgetreten war, nicht genehmigen können. Als er nun von seinem Esel abstieg, maß ihn der Bürgermeister, der sich zu seinem Empfange vor dem Bischofspalais eingefunden, mit Blicken, aus denen tiefe sittliche Entrüstung sprach, und einige Vorübergehende, die ihrer Kleidung nach zu urtheilen den bessern Ständen angehörten, blieben stehen und lachten.

»Meine Herren,« sagte der Bischof, »ich kann mir das Motiv Ihres Unwillens denken: Sie finden es anmaßlich, daß ein armer Priester sich des Reitthieres Jesu Christi bedient. Ich versichere Sie aber, ich thue es aus Noth, nicht aus Eitelkeit.«

Wohin er auch bei einer solchen Rundreise kam, stets zeigte er sich milde und nachsichtig gegen seine Untergebnen und in seinen Predigten schlug er vorzugsweise einen gemüthlichen Gesprächston an. Weither geholte Gründe und Beispiele liebte er nicht. Dagegen ermahnte er die Leute an einem Ort sich die Bewohner eines andern, benachbarten, zum Vorbild zu nehmen. Wo man hart gegen die Bedürftigen war, sagte er z. B.: »Nehmt Euch Eure Nachbarn in Briançon zum Vorbild. Sie haben den Armen, den Wittwen und Waisen die Erlaubnis ertheilt, ihre Wiesen drei Tage vor den Andern abmähen zu lassen und repariren ihnen ihre Häuser, wenn sie baufällig geworden sind, unentgeltlich. Deshalb hat aber auch der liebe Gott das Land gesegnet, denn volle hundert Jahre lang ist daselbst kein Mord vorgekommen.«

Zu Leuten, die bei der Ernte zu genau verfuhren, sagte er. »Seht Euch mal an, wie sie's in Embrun machen. Hat ein Familienvater Söhne beim Militär oder Töchter, die in der Stadt dienen, und kann er wegen Krankheit oder aus einem andern Hindrungsgrunde die Einbringung seiner Ernte nicht besorgen, so empfiehlt ihn der Pfarrer der Gemeinde, dann kommen am Sonntag alle Leute aus dem Dorfe, die Männer, die Frauen, die Kinder, mähen ihm sein Getreide und schaffen es ihm, Korn und Stroh, in seine Scheune.« – Zu den Familien, die wegen Geld- und Erbschaftsangelegenheiten uneinig waren sagte er: »Schaut mal, wie sie's in Devolny anfangen. Es ist das eine rauhe Gebirgsgegend, wo man den Gesang der Nachtigall kaum einmal in fünfzig Jahren zu hören bekommt. In diesem Lande also gehen die Söhne, wenn der Vater stirbt, in die Fremde, und überlassen das Erbe ihren Schwestern, damit diese sich verheirathen können.« – In den Kantonen, wo viel prozessirt wurde, sagte er: »Nehmt Euch die braven Bauern in Queyras zum Vorbild. Es sind ihrer dreitausend Seelen, und die Leute leben dort einträchtig, als bildeten sie eine kleine Republik für sich. Richter und Exekutor giebt's dort nicht. Der Schulze besorgt da alles. Er veranlagt die Steuern, schätzt Jeden ein, wie er's vor seinem Gewissen verantworten kann, schlichtet unentgeltlich Streitigkeiten, theilt Erbschaften ohne Honorar zu fordern, fällt Urteilssprüche ohne den Leuten Unkosten zu verursachen, und er findet Gehorsam, weil er ein gerechter Mann ist und unter einfachen Leuten lebt.« In den Dörfern, wo kein Schullehrer war, verwies er wieder auf das Beispiel der Bauern in Queyras: »Wißt Ihr, wie die's machen? Da ein Dorf mit nur zwölf bis fünfzehn Häusern nicht immer die Mittel besitzt einen Magister zu ernähren, so thun sich die Bewohner des ganzen Thales zusammen und halten sich Schulmeister. Die gehen von Dorf zu Dorf und geben hier acht, dort zehn Tage lang Unterricht. Diese Magister finden sich ein, wo Jahrmarkt ist, und ich habe selber welche gesehen. Sie sind an den Schreibfedern, die sie in einer Schnurschleife am Hute tragen, zu erkennen. Die nur Unterricht im Lesen ertheilen, haben eine Feder; die im Lesen und Rechnen unterrichten, zwei; die Lesen, Rechnen und Latein lehren, drei. Diese Letzteren sind große Gelehrte. Aber welche Schande unwissend zu sein! Ahmt den Leuten in Queyras nach.«

In dieser eindringlichen und väterlichen Ausdrucksweise pflegte er mit den Leuten zu reden. Und die Ermanglung von Beispielen erfand er Gleichnisse, hob deutlich das hervor, worauf es ankam, und brauchte wenig Redensarten, aber desto mehr bildliche Wendungen, wie Jesus Christus, dessen Beredsamkeit zu Herzen ging, weil sie aus dem Herzen kam.

IV.
Uebereinstimmung von Thaten und Worten

Im Gespräch war er leutselig und heiter. Er paßte sich dem Verständniß der beiden Frauen an, die bei ihm lebten. Lachen konnte er so herzlich wie ein Schulknabe.

Frau Magloire nannte ihn gern Hoher Herr. Eines Tages nun erhob er sich von seinem Sessel, um ein Buch zu holen, konnte es aber, da es auf einem oberen Regal lag und er zu kleiner Statur war, nicht langen. Da rief er Frau Magloire: »Bringen Sie mir doch einen Stuhl. Die Hoheit des hohen Herrn reicht nicht bis an das Brett da.«

Eine entfernte Verwandte von ihm, die Gräfin von Lô, ließ es sich selten entgehn, in seiner Gegenwart die »Hoffnungen« ihrer drei Söhne ausführlich aufzuzählen, nämlich all die Glücksgüter und Vortheile, die sie von reichen alten Verwandten binnen voraussichtlich kurzer Zeit erben würden. Der jüngste Sohn erwartete von einer Großtante ein Jahreseinkommen von nicht weniger als hunderttausend Franken; dem zweiten mußte der Herzogstitel seines Oheims zufallen; der Aelteste hatte Anwartschaft auf die Pairie seines Großvaters. Diesen unschuldigen und verzeihlichen Prahlereien der zärtlichen Mutter hörte meistentheils der Bischof mit musterhaftem Stillschweigen zu. Bei einer Gelegenheit indeß hing er seinen eigenen Gedanken nach, während die Gräfin sich in weitschweifigen Erörterungen aller dieser Successionen und »Hoffnungen« erging. Plötzlich brach sie ungeduldig ab und fragte ärgerlich: »Aber, Vetter, woran denken Sie denn?« »An einen sonderbaren Ausspruch,« versetzte er, »der, wenn ich nicht irre, sich in den Werken des heil. Augustin findet: Setzet Eure Hoffnung auf Den, dem Niemand succedirt.«

Ein andres Mal, als er eine Todesanzeige mit einem langathmigen Verzeichnis der Würden des Verstorbnen und der Adelstitel aller Verwandten desselben erhalten hatte, rief er aus: »Was für einen starken Rücken Freund Hein haben muß, daß man ihm soviel gewichtige Titel aufpacken kann, und wie gescheidt die Menschen sind, da sie sogar in einem Grabe Gelegenheit zur Befriedigung ihrer Eitelkeit finden!«

Er verstand auch zu spotten, in harmloser Weise, aber fast immer mit einem ernsten Hintergedanken. So kam einmal während der Fastenzeit ein junger Vikar nach Digne und hielt eine recht beredte Predigt über die Mildthätigkeit. Er forderte die Reichen auf den Armen zu geben, um der Hölle zu entgehen, deren Schrecknisse er ihnen in den grellsten Farben ausmalte, und sich das Himmelreich zu erobern, das er als überaus lieblich und erstrebenswert hinstellte. Diese Schilderung machte auf einen seiner Zuhörer, der im Handel zwei Millionen zusammengerafft hatte, einen so nachhaltigen Eindruck, daß er von seiner Gepflogenheit niemals Almosen zu geben abließ und von der Zeit an jeden Sonntag an der Kirchenthür eine kleine Kupfermünze für sechs Bettlerinnen spendete. Eines Tages nun, als er wieder diesen Akt hochherziger Mildthätigkeit vollzog, sah ihn der Bischof und bemerkte lächelnd zu seiner Schwester: »Sieh mal, da kauft sich Herr Geborand für einen Sou ewige Seligkeit.«

Handelte es sich um Mildthätigkeit, so ließ er sich selbst durch eine abschlägige Antwort nicht abschrecken und verstand es mit einer treffenden, geistreichen Entgegnung den Widerspenstigen andern Sinnes zu machen. Einmal sammelte er in einer Gesellschaft für die Armen. Unter den Anwesenden befand sich der Marquis von Champtercier, ein reicher alter Geizhals, der das Kunststück fertig gebracht hatte zugleich ultraroyalistisch und ultravoltairianisch gesinnt zu sein. Denn es hat auch solche Käuze gegeben. Als der Bischof zu ihm gelangt war, berührte er ihn am Arm und sagte: »Herr Marquis, Sie müssen mir etwas geben.« Der Marquis wandte sich um und antwortete trocken: »Bischöfliche Gnaden, ich habe schon meine Armen.« »Dann geben Sie mir die,« entgegnete der Bischof.

Eines Tages hielt er im Dom folgende Predigt: »Theuerste Brüder, liebe Freunde, es giebt in Frankreich 1,320,000 Bauernhäuser mit nur drei, 1,817,000 mit zwei Oeffnungen, der Thür und einem Fenster, und endlich 346,000 Hütten mit einer einzigen Oeffnung, der Thür. Schuld daran ist etwas, das man die Thür- und Fenstersteuer nennt. Denkt Euch nun arme Familien, alte Frauen, kleine Kinder in solchen Behausungen und stellt Euch vor, was für Fieber, was für Krankheiten da herrschen müssen! Gott schenkt, das Gesetz verkauft den Menschen die Luft. Ich klage das Gesetz nicht an, aber Gottes Güte preise ich. In den Departements Isère, Bar, Ober- und Unteralpen haben die Landleute nicht einmal Schubkarren und tragen den Dünger auf dem Rücken; keine Talglichter, und brennen Kienspäne oder mit Harz bestrichene Stricke. So macht man es in dem ganzen Ober-Dauphiné. Das Brod backen sie auf ein halbes Jahr und heizen den Backofen mit getrocknetem Kuhmist. Im Winter zerschlagen sie dies Brod mit der Axt und lassen es vierundzwanzig Stunden in Wasser weichen, um es essen zu können. Seid barmherzig, liebe Brüder; bedenkt, wieviel Elend Euch umgiebt!«

Als geborner Provenzale war es ihm leicht geworden sich mit allen südfranzösischen Dialekten gründlich vertraut zu machen. Das gefiel dem gemeinen Volk sehr und trug nicht wenig dazu bei, daß er seine Gedanken dem Verständniß Aller näher bringen konnte. Er war in der Hütte und im Gebirge zu Hause. Er verstand es, die erhabensten Dinge mittels der trivialsten Redewendungen auszudrücken, und da er Jedermanns Sprache redete, so fand er auch Mittel und Wege seinen Ideen Eingang in Jedermanns Herz zu schaffen.

Uebrigens benahm er sich gleich gegen die Vornehmen und Geringen.

Nie übereilte er sich mit Verdammungsurtheilen, sondern zog stets die Umstände in Erwägung. »Erst wollen wir uns den Weg ansehen,« pflegte er zu sagen, »den das Vergehen entlang gekommen ist.«

Als »Exsünder«, wie er sich im Scherz nannte, trug er keine Strenge zur Schau und lehrte mit großem Freimuth und ohne seine Stirn nach Art der Tugendhelden in finstre Falten zu legen, Grundsätze, die man in folgenden Worten zusammenfassen könnte:

»Der Mensch ist ein Geist, der mit Fleisch bekleidet ist. Dieses Fleisch ist eine Last und eine Versuchung. Der Mensch trägt es und giebt ihm nach.«

»Er soll es im Auge behalten, es zurückdrängen, es niederhalten und ihm nur im äußersten Nothfall willfahren. Solch ein Gehorsam kann mit Schuld behaftet sein, aber solch eine Schuld findet Vergebung. Wer so nachgiebt, fällt, aber auf die Knie und kann sich mit Gebet loskaufen.«

»Ein Heiliger zu sein ist die Ausnahme, ein Gerechter zu sein ist die Regel. Irret, fehlet, sündiget, aber seid Gerechte.«

»So wenig Sünde wie möglich, lautet das Gesetz für den Menschen. Gar nicht zu sündigen ist das Ideal des Engels. Alles Irdische ist der Sünde unterworfen. Wir können uns von ihr ebenso wenig frei machen wie von dem Gesetz der Schwere.«

Hörte er ein allgemeines Zetergeschrei, sah er die große Menge ein hastiges Tadelsvotum abgeben, so spottete er: »Hier liegt gewiß eine Sünde vor, die Jedermann begeht. Sonst würden die Heuchler es nicht so eilig haben zu protestiren, um den Verdacht von sich abzulenken.«

Gegen die Frauen und die Armen, auf denen mit ihrer ganzen Wucht die menschliche Gesellschaft lastet, war er nachsichtig: »An den Vergehen der Frauen, der Kinder, des Gesindes, der Schwachen, der Bedürftigen und Unwissenden sind die Männer, die Eltern, die Herrschaften, die Starken, Reichen und Gelehrten Schuld.«

Ferner: »Die Unwissenden belehret, so gut Ihr es vermöget; die Gesellschaft ist zu tadeln, daß sie nicht den öffentlichen Unterricht unentgeltlich ertheilen läßt; sie ist verantwortlich für die Finsterniß, der sie die Entstehung giebt. Ist eine Seele umnachtet, so schleicht sich die Sünde in sie hinein. Nicht derjenige ist der Schuldige, der die Sünde begeht, sondern der die Nacht geschaffen hat.«

Man sieht, er hatte eine absonderliche und eigne Art die Dinge zu beurtheilen. Ich habe ihn stark in Verdacht, daß er diese Gedanken dem Evangelium entnommen hatte.

Eines Tages war er gerade zugegen, als in einer Gesellschaft von einem Kriminalprozeß gesprochen wurde, der damals die Gerichte beschäftigte. Ein armer Mensch hatte sich aus Liebe zu einer Frau und zu dem Kinde, das sie ihm geboren, der Falschmünzerei schuldig gemacht, da er sie auf andre Weise vor dem Hungertode nicht zu bewahren wußte. Dieses Verbrechen wurde damals noch in Frankreich mit der Todesstrafe geahndet. Die Frau war bei dem ersten Versuch ein von dem Manne fabrizirtes Geldstück in Umlauf zu setzen, verhaftet worden, aber Beweise um sie einer Schuld zu überführen, hatte man nicht. Sie allein konnte gegen ihren Liebhaber aussagen und durch ein Geständniß seine Verurtheilung ermöglichen. Sie leugnete aber aufs hartnäckigste. Da hatte der Staatsanwalt einen gescheidten Einfall. Er legte der Unglücklichen geschickt ausgewählte Bruchstücke aus Briefen des Mannes vor und brachte sie auf diese Weise zu dem Glauben, sie habe eine Nebenbuhlerin, mit der er sie hintergehe. Da klagte sie, getrieben von sinnloser Eifersucht, ihren Geliebten an, und lieferte die nöthigen Beweise. Nun war der Mann verloren und nächster Tage sollte ihm, samt seiner Mitschuldigen in Aix der Prozeß gemacht werden. Dieser Vorfall also bildete den Gegenstand der Unterhaltung, und Alle bezeigten das höchste Entzücken über die Schlauheit des Staatsanwalts. Dadurch, daß er die Eifersucht ins Spiel gezogen, auf die Rachsucht der gekränkten Eitelkeit spekulirt, habe er der Wahrheit und Gerechtigkeit zum Siege verholfen. Allen diesen Lobeshebungen hörte der Bischof bis zu Ende schweigend zu. Dann fragte er:

»Vor welches Gericht werden die Beiden gestellt werden?«

»Vor die Assisen.«

»Und der Staatsanwalt?«

Wir müssen hier noch einen andern tragischen Vorfall erwähnen, der sich in Digne zutrug. Es wurde ein Mann wegen Mordes zum Tode verurtheilt, ein Unglücklicher, der nicht gerade ein gebildeter Mann, aber auch nicht ganz unwissend war, und der sich als Akrobat und öffentlicher Schreiber sein Brod auf den Jahrmärkten verdiente. Der Prozeß erregte große Sensation. An dem Tage vor der Hinrichtung wurde der Gefängnißgeistliche krank, und da man einen Priester brauchte, der den armen Sünder auf seinem letzten Gange begleiten sollte, so schickte man nach dem Stadtgeistlichen. Dieser aber weigerte sich, wie es heißt, mit rücksichtsloser Deutlichkeit: »Das geht mich nichts an«, ließ er sich vernehmen, »ich werde es bleiben lassen, mich mit dem Hanswurst zu befassen. Außerdem bin ich selber krank, und es ist überhaupt nicht mein Beruf.« Seine Aeußerungen wurden dem Bischof hinterbracht, und dieser sagte: »Der Herr Pfarrer hat Recht. Es ist nicht sein Beruf. Aber es ist der meinige.«

Er begab sich auch unverzüglich in das Gefängniß, ließ sich in die Zelle des »Hanswurstes« führen, redete ihn mit seinem Namen an, ergriff seine Hand und sprach zu ihm. Den ganzen Tag blieb er bei ihm, versagte sich Essen, Trinken und Schlaf, betete zu Gott für die Seele des Verurtheilten und ermahnte den Unglücklichen seines Seelenheils zu gedenken. Er predigte ihm die besten Wahrheiten, nämlich die einfachsten. Er sprach mit ihm wie ein Vater, ein Bruder, ein Freund; und kehrte den Bischof nur hervor, um ihn zu segnen. Er unterwies ihn, indem er ihn beruhigte und tröstete. Der Mann sah seinem letzten Augenblick mit Verzweiflung entgegen. Der Tod war ihm ein Abgrund, an dessen Rand er schaudernd zurückbebte. Er war nicht so roh, daß er völlig stumpf hätte sein können. Seine Verurtheilung hatte ihn bis in sein Innerstes erschüttert und gewissermaßen jene Schranke hie und da niedergerissen, die das Geheimniß der Dinge unsern Blicken entzieht, und die wir das Leben nennen. Durch die Breschen blickte er ohne Unterlaß über diese Welt hinaus und sah nur Finsterniß. Der Bischof aber zeigte ihm ein Licht.

Am andern Tag als der arme Sünde geholt wurde, war der Bischof gegenwärtig. Er ging neben ihm und zeigte sich den Augen der Menge im violetten Mantel, mit dem Bischofskreuze am Halse neben einem mit Stricken gefesselten Verbrecher.

Er stieg mit ihm auf den Karren, stieg mit ihm auf das Schaffot. Der Delinquent, der Tags zuvor niedergedrückt und verzweifelt gewesen, sah gefaßt aus. Er hatte das Gefühl, daß seine Seele Erlösung gefunden und bald mit ihrem Gott vereinigt sein werde. Der Bischof umarmte ihn und sagte in dem Augenblick, als das Fallmesser der Guillotine herabstürzen sollte: »Wen Menschen töten, den läßt Gott wiederauferstehn; wen seine Brüder verjagen, der findet den Vater. Bete, glaube, gehe in das ewigen Leben ein: der Vater ist da, dich aufzunehmen.« Als er vom Schaffot wieder herunterstieg, lag in seinem Blick ein Etwas, vor dem die Menge ehrfurchtsvoll zurückwich. Man wußte nicht, was man mehr bewundern solle, die Blässe oder die Heiterkeit seines Antlitzes. In der bescheidnen Wohnung angelangt, die er scherzend seinen Palast nannte, sagte er zu seiner Schwester: »Ich habe ein feierliches Hochamt gehalten.«

Da das Erhabenste oft am wenigsten Verständniß findet, so legten manche Leute das Verhalten des Bischofs als Affektation aus. Freilich nur Leute aus den bessern Ständen. Das Volk, das Werke der rechten Frömmigkeit nicht mißdeutet, war gerührt und bewunderte seinen Bischof.

Was den Bischof anbetrifft, so hatte ihn der Anblick aufs heftigste erschüttert, und es währte lange, ehe er diesen Eindruck verwand.

Das Schaffot weckt in der That, wenn man es vor sich aufgerichtet sieht, in der Phantasie unheimliche Gedanken und Bilder. Man kann gleichgültig denken über die Todesstrafe, sich jedes Urtheils enthalten, Ja und Nein sagen, so lange man die Guillotine nicht mit Augen gesehen hat; ihr Anblick aber bringt eine mächtige Erschütterung in unserm geistigen Innern hervor und zwingt zur Parteinahme. Die Einen bewundern sie dann, wie de Maistre, die Andern verfluchen sie, wie Beccaria. Die Guillotine ist das körperlich gewordene Gesetz, ihr Name ist Rache; sie ist nicht neutral und gestattet nicht, daß man neutral bleibt. Nichts Geheimnisvolleres als der Schauer, der uns bei ihrem Anblick durchzuckt! Alle socialen Probleme richten um das Fallmesser ihre Fragezeichen auf. Die Guillotine ist eine Vision. Sie ist kein Gerüst, keine Maschine, kein Mechanismus aus Holz, Eisen, Stricken! Sie gleicht einem beseelten, der Thätigkeit fähigen Wesen. Es ist, als sehe, als höre diese Maschine, als habe sie einen Verstand, als seien dieses Holz, dieses Eisen, diese Stricke mit Willen begabt. Die durch ihre Gegenwart geängstigte Phantasie zeigt sie uns als einen Unhold, der mit Bewußtsein handelt. Die Guillotine betheiligt sich an der Tötung, die der Henker vollzieht; sie verschlingt, frißt Menschenfleisch und säuft Blut. Die Guillotine ist ein von dem Richter und dem Zimmermann fabrizirtes Ungethüm, ein Gespenst, das sich fortwährend aus dem Tode ein scheußliches Leben schafft.

Deshalb war auch bei dem Bischof der Eindruck ein fürchterlicher und nachhaltiger; am Tage nach der Hinrichtung und viele Tage später sah er niedergedrückt aus. Die Seelenheiterkeit, die noch auf dem Schaffot bis zu einer gewaltsamen Höhe angewachsen war, hatte ihn verlassen; ihn peinigte das Phantom der socialen Gerechtigkeit. Er, der sonst auf seine Handlungen mit ungetrübter Seelenruhe zurückzublicken pflegte, schien sich dies Mal Vorwürfe zu machen. Zeitweise stellte er halblaut traurige Betrachtungen an. Einen solchen Monolog belauschte eines Abends seine Schwester und behielt ihn in ihrem Gedächtniß: »Nein, so schauerlich hatte ich es mir nicht vorgestellt. Es ist Unrecht den Blick so fest auf das göttliche Gesetz zu heften, daß man die menschlichen Gesetze darüber vergißt. Den Tod zu geben hat Gott allein das Recht: Warum befassen sich also die Menschen damit, da ihnen der Tod doch etwas Unbekanntes ist?«

Mit der Zeit wurden diese Eindrücke schwächer und erloschen vielleicht ganz. Nur fiel es auf, daß der Bischof es seitdem vermied über den Richtplatz zu gehen.

Zu jeder Stunde durfte man Myriel zu Kranken und Sterbenden rufen. Er war sich klar darüber, daß einem solchen Rufe zu folgen die dringendste und wichtigste Obliegenheit seines Amtes war. Zu Wittwen und Waisen ging er von selber: Sie brauchten ihn nicht erst zu sich zu bitten. Er vermochte es Stunden lang neben einem Mann, der eine geliebte Frau, bei der Mutter, die ihr Kind verloren, zu sitzen und zu schweigen. Ebenso aber, wie er zu schweigen verstand, erpaßte er auch richtig den Augenblick, wo es zu reden galt. Und welch ein Trostspender war er! Nicht dadurch suchte er den Schmerz zu verdrängen, daß er verlangte, man solle ihn der Vergessenheit anheimgeben; nein, er bestrebte sich ihn zu vertiefen und zu läutern, indem er zu hoffen lehrte. Er sprach: Achtet wohl darauf, wie ihr nach den Todten hinseht. Denket nicht an das, was verweslich ist. Blicket fest hin, so werdet Ihr den lebendigen Glanz Dessen, den Ihr beweint, droben schauen. Er kannte die Heilkraft des Glaubens, beruhigte die Verzweifelten, indem er sie auf die Geduld und die Ergebung in das Unabwendbare verwies, und lehrte den Schmerz, der auf ein Grab blickt, zu dem Himmel emporschauen.

V.
Der Bischof Bienvenu trägt seine Sutanen zu lange

Myriels häusliches Leben bewegte sich innerhalb derselben Gedankenwelt wie seine Amtsthätigkeit. Die freiwillige Armuth, in welcher der Herr Bischof von Digne beharrte, wäre wohl für Jeden, der ihn hätte beobachten können, ein würdevolles und anmuthendes Schauspiel gewesen.

Wie alle alten Leute und wie die meisten Denker schlief er nur wenig. Dafür aber ziemlich fest. Des Morgens gab er sich eine Stunde religiösen Betrachtungen hin, dann las er die Messe entweder im Dom oder in seinem Hause. Nach der Messe nahm er sein Frühstück ein, das aus Roggenbrod und Milch bestand. Dann arbeitete er.

Ein Bischof ist ein sehr beschäftigter Mann. Er muß täglich den Bisthumssekretär und beinahe täglich seine Großvikare empfangen. Er hat Kongregationen zu kontrolliren, Privilegien zu ertheilen, alle neuen Erscheinungen auf dem Gebiete der geistlichen Litteratur zu prüfen, wie Meß- und Gebetsbücher, Katechismen u. s. w., Erlasse zu schreiben, Predigten zu autorisiren, Einigkeit zu stiften zwischen Pfarrern und Dorfschulzen, mit Geistlichen und mit den staatlichen Behörden zu korrespondiren. Kurz tausenderlei Geschäfte.

Die Zeit, die ihm diese vielen Geschäfte, seine Amtsverrichtungen und sein Brevier übrig ließen, widmete er in erster Linie den Armen, den Kranken und Unglücklichen; die Zeit, die ihm dann noch blieb, widmete er der Arbeit. Bald grub er dann in seinem Garten, bald las und schrieb er. Beide Arten von Arbeit schienen ihm gleichwertig, denn der Verstand, so lautete sein Wahrspruch, bedarf ebenso sehr der Pflege und Bearbeitung wie ein Garten.

Gegen Mittag, wenn schön Wetter war, ging er aus, aufs Land oder in die Stadt, und trat dabei oft in ärmliche Häuser ein. Die Leute sahen ihm dann gern nach, wie er allein vor sich hin ging, in tiefes Nachdenken versunken, auf seinen langen Stock gestützt, in seinem dick wattirten Rock, violetten Strümpfen, groben Schuhen und mit seinem flachen Hute, von dessen drei Ecken drei goldne Quasten herabhingen.

Sein Erscheinen wurde überall freudig begrüßt, als bringe er sozusagen, Licht und Wärme mit. Die Kinder und die Greise kamen auf die Thürschwelle, wie sie zu thun pflegten, wenn sie sich des Sonnenscheins erfreuen wollten. Er ertheilte seinen Segen, und sie wünschten ihm Glück und Segen. Jedem, der etwas bedurfte, zeigte man sein Haus.

Hier und da blieb er stehen, sprach mit den Kindern und lächelte ihren Müttern zu. So lange er Geld hatte, besuchte er die Armen; hatte er keins mehr, so ging er zu den Reichen.

Da ihm seine Sutanen recht lange vorhalten mußten, und er dies die Leute nicht allzu sehr merken lassen wollte, trug er bei seinen Gängen in der Stadt immer nur seinen dicken wattirten Rock, der ihm im Sommer manchmal recht lästig wurde.

Zu Hause angelangt, speiste er zu Mittag. Dieses Mahl glich dem Frühstück.

Um halb neun nahm er mit seiner Schwester die Abendmahlzeit ein, wobei Frau Magloire hinter ihnen stand und sie bediente. Es war ein ausnehmend frugales Mahl. Wenn jedoch der Bischof Einen seiner Pfarrer zu Besuch hatte, benutzte Frau Magloire die gute Gelegenheit, um Se. Bischöfliche Gnaden mit einem vorzüglichen Fisch oder einem delikaten Stück Wild zu regaliren. Jeder Pfarrer war ihr ein willkommner Vorwand ihren Herrn zu einer Abweichung von seiner strengen Diät zu verleiten, denn für gewöhnlich kam nur in Wasser gekochtes Gemüse und Suppe mit Oel auf den Tisch. Deshalb hieß es auch in der Stadt: »Wenn der Bischof nicht mit einem Pfarrer speist, ißt er wie ein Trappist.«

Nach dem Abendessen plauderte er eine halbe Stunde mit Baptistine und Frau Magloire; dann zog er sich auf sein Zimmer zurück und schrieb wieder, bald auf einzelne Blätter, bald an den Rand eines Folianten. Er war sehr belesen und besaß wissenschaftliche Bildung, Er hat auch fünf bis sechs merkwürdige Manuskripte hinterlassen, u. a. eine Abhandlung über den Vers im 1. Buch Moses: »Im Anfang schwebte der Geist Gottes über den Wassern.« Er verglich mit diesem Text drei Varianten, eine arabische: »Die Winde Gottes wehten;« die des Flavius Josephus: »Ein Wind von oben blies auf die Erde,« und die chaldäische Paraphrase des Onkelos: »Ein Wind kam von Gott und blies auf die Oberfläche der Gewässer.« In einer andern Dissertation prüft er die theologischen Werke des Bischofs Hugo von Ptolemais, Urgroßonkel Dessen, der dieses Buch schreibt, und wies nach, daß dieser Bischof der Verfasser der verschiednen im vorigen Jahrhundert unter dem Pseudonym Barleycourt veröffentlichten Abhandlungen sei.

Bisweilen schweifte sein Geist, während er irgend ein Buch vor sich hatte, von dem Inhalt desselben ab und überließ sich tiefsinnigen Betrachtungen, von denen er nur abließ um das Resultat seines Nachdenkens in dem Buche selbst niederzuschreiben. Natürlich standen derartige Aufzeichnungen oft in gar keiner Beziehung zu dem Buche, das sie enthielt. So lautet z. B. der Titel eines seiner Quartanten: Korrespondenz des Lord Germains mit den Generälen Clinton, Cornwallis und den Admirälen der Amerikanischen Station. Versailles, Verlag von Poincot, und Paris, Verlag von Pissot, Quai des Augustins. In diesem Buche haben wir folgende von dem Bischof niedergeschriebne Zeilen gefunden:

»O Du, der Du bist!«

»Der Prediger Salomo nennt dich die Allmacht, die Bücher der Makkabäer den Schöpfer, die Epistel an die Epheser die Freiheit, Baruch die Unendlichkeit, die Psalmen Weisheit und Wahrheit, Johannes das Licht, das Buch der Könige Herr, der Exodus die Vorsehung, der Leviticus die Heiligkeit, Esra die Gerechtigkeit, die Schöpfung Gott, der Mensch Vater; Salomo heißt dich den Erbarmer, und dies ist der schönste unter Deinen Namen.« –

Gegen neun Uhr Abends begaben sich die beiden Frauen in ihre Zimmer im ersten Stock und ließen ihn bis zum andern Morgen im Erdgeschoß allein.

Hier müssen wir eine genaue Beschreibung der Wohnung unsres Bischofs einschalten.

VI.
Von wem er sein Haus bewachen ließ

Das Haus, das er bewohnte, bestand, wie schon erwähnt, aus einem Erdgeschoß und einem einzigen Stockwerk. Drei Räume im Erdgeschoß, drei Schlafzimmer im ersten Stock, darüber der Boden. Hinter dem Hause ein fünfundzwanzig Quadratruthen großer Garten. Die beiden Frauen hatten den ersten Stock inne, unten wohnte der Bischof. Das erste Zimmer, das auf die Straße hinausging, diente als Speisesaal, das zweite als Schlaf- und das dritte als Betzimmer. In dieses Betzimmer konnte man nur gelangen, wenn man durch das Schlafzimmer ging, und dieses war nur durch den Speisesaal hindurch zugänglich. In dem Betzimmer war noch ein Alkoven, wo die von dem Bischof zu Gaste gebetnen Landgeistlichen schliefen.

Die ehemalige Apotheke des Hospitals, ein an das Haus angebautes und im Garten gelegenes Gebäude, enthielt jetzt die Küche und Vorrathskammer.

Außerdem befand sich im Garten noch ein Stall, der früher die Küche des Hospitals gewesen war, und in dem der Bischof zwei Kühe hielt. Wieviel Milch diese auch geben mochten, die Hälfte davon schickte er regelmäßig jeden Morgen den Kranken des Hospitals. »Das ist der Zehnt, den ich zahle,« pflegte er zu sagen.

Sein Schlafzimmer war ziemlich groß und schwer erheizbar. Da das Holz in Digne sehr teuer ist, so war er auf den Gedanken gerathen sich in dem Kuhstall einen Bretterverschlag machen zu lassen. In diesem Raum, den er seinen Wintersalon nannte, brachte er, wenn es sehr kalt war, den Abend zu.

In diesem Wintersalon, sowie in dem Speisezimmer waren keine andern Möbel, als ein viereckiger Tisch aus weißem Holz und vier Strohstühle. In dem Speisezimmer stand allerdings noch ein altes rosa angestrichnes Büffet. Aus einem eben solchen mit weißen Obertischtüchern und falschen Spitzen behangnen Büffet, hatte der Bischof den Altar gemacht, der in seinem Betzimmer prangte.

Seine reichen Beichttöchter und die frommen Frauen in Digne hatten oft Geld aufgebracht, um Sr. Bischöflichen Gnaden einen schönen neuen Altar für das Betzimmer zu verehren; dieses Geld hatte er auch angenommen und den Armen zugewendet. Der schönste Altar, entschuldigte er sich, ist die Seele eines getrösteten Unglücklichen, der dem Herrn dankt.

In dem Betzimmer standen zwei Betstühle aus Stroh und in seinem Schlafzimmer ein Armsessel gleichfalls mit Strohsitz. Hatte er zufällig sieben bis acht Besucher zugleich zu empfangen, den Präfekten, oder den General, oder den Stab des Regiments, das die Garnison von Digne bildete, oder Schüler des kleinen Seminars, so sah man sich genöthigt die Sessel und Stühle aus dem Wintersalon, dem Betzimmer, dem Schlafgemach zusammenzuholen. Auf diese Weise konnte man elf Stühle aufbringen.

Es kam aber auch vor, daß Zwölf zugleich kamen. Dann verdeckte der Bischof die Verlegenheit dadurch, daß er sich mit seinen Gästen stehend unterhielt.

Allerdings besaß er noch einen Stuhl in dem Alkoven, aber der Sitz war entzwei und es fehlte ein Bein, so daß man ihn an die Wand lehnen mußte, wenn man sich darauf setzen wollte. Desgleichen hatte noch Fräulein Baptistine in ihrem Zimmer eine sehr große Bergére, aus Holz, die vor Zeiten vergoldet gewesen und mit Pekingseide überzogen war, aber die hatte man durch das Fenster in das erste Stock hinaufwinden müssen, weil die Treppe zu schmal war. Sie konnte also nicht zur Aushülfe gebraucht werden, wenn es an Stühlen fehlte.

Fräulein Baptistine's sehnlichster Wunsch wäre gewesen, Salonstühle u. Canapee aus gelbem Utrechter Sammt mit Rosetten geschmückt und aus Mahagoniholz, das in Form eines Schwanenhalses geschnitzt war, anschaffen zu können. Aber das hätte mindestens fünfhundert Franken gekostet, und da sie in fünf Jahren Summa Summarum nur zweiundvierzig und einen halben Franken zu diesem Zweck hatte sparen können, so gab sie den Gedanken auf. Wer erreicht denn je sein Ideal?

Etwas Einfacheres kann man sich nicht vorstellen, als das Schlafzimmer des Bischofs: eine Glasthür nach dem Garten; ihr gegenüber das Bett: ein eisernes Hospitalbett mit einem Himmel aus grüner Serge; im Schatten des Bettes, hinter einem Vorhang, Toilettengegenstände, die noch die feinen Gewohnheiten des ehemaligen Weltmannes verriethen; zwei Thüren, die eine in der Nähe des Kamins, die andre nach dem Betzimmer; ein großer Bücherschrank; ein marmorartig angestrichner Kamin aus Holz, wo gewöhnlich kein Feuer brannte, mit zwei eisernen Feuerböcken; über dem Kamin ein kupfernes, ehemals versilbertes Krucifix, das auf schäbigem Sammet befestigt und von einem früher vergoldeten Holzrahmen umgeben war. In der Nähe der Glasthür ein großer Tisch mit Tintenfaß, unordentlich hingeworfnen Papieren und dicken Büchern. Vor dem Tisch der Strohsessel. Vor dem Bett ein dem Betzimmer entlehnter Betstuhl.

Neben dem Bett hingen auf jeder Seite zwei Porträts in ovalen Rahmen. Kleine Inschriften mit Goldbuchstaben zeigten an, daß das eine Porträt den Abt von Chaliot, Bischof von Saint-Claude, das andre den Abt Tourteau, Generalvikar von Agde, Abt von Grand-Champ, von dem Cistercienser Orden, darstelle. Diese Porträts hatte der Bischof, als er in dem Hospital Wohnung nahm, in dem ehemaligen Krankenzimmer vorgefunden und sie dort hängen lassen. Waren es doch Bildnisse von Priestern, die vielleicht dem Hospital Schenkungen gemacht hatten, zwei genügende Gründe die Portraits zu behalten. Alles, was er von diesen Prälaten wußte, war, daß der König sie an demselben Tage, dem 27. April 1785, in ihre Aemter eingesetzt hatte. Diese Notiz hatte der Bischof, als Frau Magloire die Bilder eines Tages heruntergenommen hatte, um sie abzustäuben, auf einem vergilbten, auf der Rückseite des einen Portraits aufgeklebten Stückchen Papier gefunden.

Am Fenster hing ein Vorhang aus grobem Wollstoff, der schließlich so alt wurde, daß, um keinen neuen anschaffen zu müssen, Frau Magloire sich genöthigt sah, mitten drin eine große Naht zu machen. Diese Naht bildete ein Kreuz, und der Bischof machte oft darauf aufmerksam, mit den Worten; »Wie gut sich das ausnimmt!«

Alle Schlafzimmer ohne Ausnahme waren wie Kasernenstuben und Hospitalsäle, weiß getüncht. Indessen fand, wie weiterhin ausführlicher erzählt werden soll, Frau Magloire unter den gestrichenen Tapeten in Baptistinens Zimmer Malereien vor. Das Gebäude war nämlich, ehe es als Hospital benutzt wurde, Rathhaus gewesen und aus jener Zeit stammte diese Verzierung des Zimmers. Der Fußboden in den Schlafkammern bestand aus rothen Ziegeln, die allwöchentlich gewaschen wurden, und war vor den Betten mit Strohmatten belegt. Im Uebrigen herrschte in diesem Hause, wo zwei Frauen walteten, von oben bis unten die peinlichste Sauberkeit. Dies war der einzige Luxus, den der Bischof gestattete: »Das entzieht den Armen nichts«, sagte er.

Indessen muß eingestanden werden, daß ihm von seinem einstigen Reichthume sechs silberne Tafelbestecke und ein Suppenlöffel übrig geblieben waren, an deren Anblick Frau Magloire Tag für Tag ihre Augen zu weiden pflegte. Und da wir den Bischof so schildern wollen, wie er war, so müssen wir noch erwähnen, daß ihm mehr als einmal das Geständniß entschlüpft war: Es würde mir schwer werden, wenn ich dem Silbergeschirr entsagen müßte.

Außer diesem Tafelgeschirr besaß er noch zwei große Leuchter aus massivem Silber, die er von einer Großtante geerbt hatte. Diese Leuchter enthielten zwei Wachskerzen und prangten gewöhnlich auf dem Kaminsims. Hatte der Bischof einen Gast zu Tische, so zündete Frau Magloire die beiden Kerzen an und stellte die Leuchter auf den Speisetisch.

In dem Schlafzimmer des Bischofs selbst, über dem Bett, befand sich ein kleiner Wandschrank, in dem Frau Magloire jeden Abend das silberne Tafelgeschirr verschloß. Freilich, abgezogen wurde der Schlüssel nicht.

Den durch die schon erwähnten häßlichen Gebäude entstellten Garten durchkreuzten vier Alleen, die in der Mitte an einer Senkgrube zusammentrafen. Eine andre Allee zog sich um den Garten längs der Mauer herum. Diese Wege umschlossen vier mit Buchsbaum eingefaßte Quadrate. Auf dreien zog Frau Magloire Gemüse, das vierte Beet hatte der Bischof mit Blumen bepflanzt. Hier und da sah man auch Obstbäume. Eines Tages sagte Frau Magloire mit gutmüthiger Ironie zu dem Bischof: Ew. Bischöfliche Gnaden wissen Alles recht schön auszunutzen, haben aber doch das Beet da mit Blumen bepflanzt, die nichts einbringen. Es wäre besser, wenn Salat darauf wüchse.« »Frau Magloire,« entgegnete der Bischof, »Sie haben da keine richtige Ansicht. Das Schöne ist ebenso nützlich, wie das Nützliche.« Dann nach einer Pause: »Vielleicht noch mehr.«

Dieses Beet, das aus drei oder vier Rabatten bestand, beschäftigte den Bischof beinah ebenso sehr, wie seine Bücher. Er arbeitete darauf täglich ein bis zwei Stunden, gätete Unkraut aus, beschnitt die Pflanzen, grub Löcher, in die er die Schößlinge steckte u. s. w. Aber die Insekten verfolgte er nicht so eifrig, wie es ein richtiger Gärtner für wünschenswerth gehalten hätte. Mit botanischen Kenntnissen glänzen zu wollen war auch nicht seine Sache; er kannte nicht die Klassifikazionen und den Solidismus, ließ sich nie darüber vernehmen, ob er es mit Tournefort halte oder für die natürliche Methode sei, ergriff nicht Partei für die Antherenschläuche gegen die Kotyledonen, noch für Jussieu gegen Linné. Er studierte nicht die Pflanzen, sondern liebte die Blumen. Er ließ Gelehrte und Ungelehrte unbehelligt, und begoß vor allen Dingen jeden Abend im Sommer sein Beet mit einer grünen Gießkanne.

Keine Thür im Hause war verschließbar. Die Thür des Speisezimmers, die, wie wir schon erwähnt haben, unmittelbar an den Domplatz stieß, war ehedem mit Schlössern und Riegeln versehen gewesen, wie eine Gefängnißthür. Alles dieses Eisenwerk hatte der Bischof abnehmen lassen, und seitdem blieb die Thür Tag und Nacht nur eingeklinkt. Der erste Beste, der des Weges kam, konnte sie aufmachen. Anfangs hatte diese unverschlossene Thür den beiden Frauen viel Sorge gemacht, aber der Bischof hatte gesagt: »Laßt Euch Riegel an Eure Thüren machen, wenn Ihr das wollt.« Schließlich hatten sie sich beruhigt oder stellten sich wenigstens so. Nur Frau Magloire hatte von Zeit zu Zeit noch Anwandlungen von Angst. Wie der Bischof über die Sache dachte, erhellt aus einigen Zeilen, die er in einer Bibel an den Rand geschrieben: »Der Unterschied ist der: Die Thür des Arztes soll niemals verschlossen, die des Geistlichen immerdar offen sein.«

In einem andern Buche, das den Titel »Philosophie der medizinischen Wissenschaft« führt, hat er geschrieben: »Bin ich nicht ebenso gut ein Arzt wie sie? Auch ich habe meine Kranken; zunächst ihre, die sie Patienten nennen, und dann meine eignen, die ich die Unglücklichen nenne.«

Und an einer andern Stelle: »Fraget nicht den, der Euch um ein Obdach bittet, nach seinem Namen. Gerade derjenige bedarf der Zufluchtstätte, dem sein Name Verlegenheiten bereitet.«

Es ereignete sich, daß ein würdiger Pfarrer, wahrscheinlich auf Antrieb der Frau Magloire, ihn fragte; ob Se. Bischöflichen Gnaden sicher seien nicht eine gewisse Unvorsichtigkeit zu begehen, indem Sie Tag und Nacht das Haus für Jeden, der hinein wollte, offen ließen, und ob Sie nicht fürchteten, es könne ein Unglück geschehen in einem so mangelhaft gehüteten Hause. Der Bischof klopfte ihn mit mildem Ernst auf die Schulter und citierte: »Wenn der Herr nicht das Haus behütet, wachen die Hüter umsonst.«

Er behauptete gern, der Priester habe so gut seine Tapferkeit, wie der Dragoneroberst. »Nur muß unsere Tapferkeit,« fügte er hinzu, »eine ruhige sein.«

VII.
Cravatte

Hier dürfen wir eine Begebenheit nicht unerwähnt lassen, die am deutlichsten die Charaktereigenthümlichkeiten des Bischofs von Digne erkennen läßt.

Nach der Vernichtung der Räuberbande, mit der Gaspard die Schluchten bei Allioules unsicher gemacht hatte, flüchteten sich die Ueberreste unter der Anführung eines gewissen Cravatte in das Gebirge. Nachdem er sich eine Zeitlang in der Grafschaft Nizza verborgen gehalten, glückte es ihm nach Piemont zu gelangen, und von dort aus erschien er plötzlich wieder in Frankreich, in der Gegend von Barcelonnette. Zuerst wurde er bei Jauziers, dann bei Tuiles gesehen. Darauf versteckte er sich in den Höhlen des Joug de l'Aigle, und von dort aus rückte er durch die Schluchten der Ubaye und der Ubayette bis nach Embrun vor und räumte eines Nachts die Sakristei des Domes aus. Seine Räubereien verbreiteten Schrecken über das ganze Land. Aber vergebens heftete sich die Gendarmerie an seine Fersen: Er entkam immer und bisweilen ließ er es sogar auf einen Kampf ankommen. In die Gegend nun, die Cravatte beherrschte, kam eines Tages der Bischof auf einer Reise nach Chastelar. Der Maire suchte ihn auf und rieth ihm umzukehren. Cravatte durchstreife das Gebirge bis nach l'Arche und darüber hinaus. Selbst eine Eskorte biete keine genügende Sicherheit. Man setze nur das Leben der armen Gendarmen unnützen Gefahren aus.

»Ich gedenke ja ohne Eskorte zu reisen,« erwiderte ihm der Bischof.

»Das kann nicht Ihr Ernst sein, Bischöfliche Gnaden.«

»Das ist so sehr mein Ernst, daß ich jede Begleitung entschieden ablehne und binnen einer Stunde aufbreche.«

»Bischöfliche Gnaden wollen wirklich eine so gefährliche Reise unternehmen?«

»Ganz wirklich.«

»Und allein?«

»Ganz allein.«

»Bischöfliche Gnaden, das werden Sie nicht thun.«

»Im Gebirge,« erklärte der Bischof, »ist eine bescheidne, ganz kleine Gemeinde, die ich seit drei Jahren nicht besucht habe. Es wohnen dort gute Freunde von mir, gutmüthige und rechtschaffne Hirten. Von dreißig Ziegen, die sie hüten, ist eine ihr Eigenthum. Sie verfertigen recht hübsche bunte Wollenschnüre und spielen Gebirgsmelodien auf der Flöte. Sie haben das Bedürfniß von Zeit zu Zeit das Wort Gottes zu hören. Was würden sie zu einem Bischof sagen, der sich fürchtet? Was würden sie sagen, wenn ich nicht zu ihnen käme?«

»Aber denken Bischöfliche Gnaden denn gar nicht an die Räuber?«

»Sie haben Recht, daß Sie mich an die erinnern. Ich könnte mit ihnen zusammentreffen. Auch sie haben es nöthig, daß sie etwas von Gott hören. Herr Maire, vielleicht will mich unser Heiland grade über diese Heerde zum Hirten einsetzen. Wer kennt die Wege der Vorsehung?«

»Bischöfliche Gnaden, das Gesindel wird Sie ausplündern.«

»Ich habe ja nichts.«

»Sie werden Sie totschlagen!«

»Ei was! Einen harmlosen alten Priester, der seine Gebete murmelt? Was hätten sie davon?«

»Mein Gott, wenn Bischöfliche Gnaden den Kerlen begegneten!«

»Dann würde ich sie um eine milde Gabe für meine Armen ansprechen.«

»Um des Himmels Willen, Bischöfliche Gnaden, reisen Sie nicht! Sie setzen Ihr Leben aufs Spiel!«

»Weiter nichts? Ich bin nicht auf der Welt um mein Leben, sondern um die Seelen meiner Nebenmenschen zu behüten.«

Man mußte ihn also gewähren lassen. Er brach auf ohne andre Begleitung als einen Knaben, der sich erboten hatte, ihn zu führen. Seine Hartnäckigkeit machte großes Aufsehen und erregte große Besorgnisse.

Seine Schwester und Frau Magloire nahm er nicht mit. Er ritt auf einem Maulthier über das Gebirge, begegnete Niemandem und kam wohlbehalten bei seinen guten Freunden, den Hirten an. Er blieb vierzehn Tage bei ihnen, reichlich beschäftigt mit der Vollziehung seiner Amtspflichten. Kurz vor seiner Abreise beschloß er noch ein Tedeum abzuhalten und sprach mit dem Dorfpfarrer davon. Aber ach! Es war kein bischöflicher Ornat aufzutreiben. Ein paar alte verschossene Damastgewänder mit falschen Tressen war alles, was die ärmliche Dorfsakristei ihm zur Verfügung stellen konnte.

»Gleichviel!« sagte der Bischof. »Herr Pfarrer, wir kündigen unser Tedeum trotzdem an. Die Sache wird sich schon machen.«

Man hielt Umschau in allen benachbarten Kirchen, aber alle Herrlichkeiten, welche diese dürftigen Gemeinden hätten aufbringen können, würden nicht zur angemessenen Bekleidung eines Domkantors ausgereicht haben.

Während man sich noch in vollster Verlegenheit befand, wurde von zwei unbekannten Reitern, die sich sofort wieder aus dem Staube machten, in der Pfarrwohnung eine Kiste für den Herrn Bischof abgegeben. Dieselbe enthielt einen Chorrock aus Goldstoff, eine mit Diamanten besetzte Bischofsmütze, ein Erzbischofskreuz, einen kostbaren Krummstab, Pontifikalkleider, überhaupt sämtliche Gegenstände, die vier Wochen vorher in der Notredamekirche zu Embrun gestohlen worden waren. In der Kiste lag noch ein Zettel, auf dem geschrieben stand: »Von Cravatte an den Herrn Bischof Bienvenu.«

»Sagte ich's nicht, daß die Sache sich machen würde?« triumphirte der Bischof. »Wer sich mit einem Pfarrerrock bescheidet, dem sendet Gott ein Erzbischofsgewand.«

»Gott – oder der Teufel«, entgegnete scherzend der Pfarrer, und schüttelte den Kopf.

Der Bischof sah den Pfarrer fest an und wiederholte mit Nachdruck: »Gott.«

Dieses Abenteuer hatte die Wirkung, daß er auf dem Rückwege und in Le Chastelar der Gegenstand der allgemeinen Neugierde war. Im Pfarrhause zu Le Chastelar traf er Fräulein Baptistine und Frau Magloire, die auf seine Rückkehr dort warteten, und sagte zu seiner Schwester: »Nun, hatte ich nicht Recht? Mit leeren Händen ist der arme Priester zu den armen Gebirglern gegangen und mit vollen Händen kommt er zurück. Ich nahm nur mein Gottvertrauen auf die Reise mit und bringe einen Domschatz nach Hause.«

Am Abend, ehe sie sich zur Ruhe begaben, sagte er noch:

»Fürchten wir nie die Räuber und Mörder. Die Gefahren, die uns von der Seite drohen, sind äußere, geringfügige. Fürchten wir uns vielmehr vor uns selber. Die Vorurtheile sind die wahrhaft gefährlichen Räuber, die Laster sind die Mörder. Die großen Gefahren lauern in uns. Gleichviel, wer unsre Habe und unser Leben bedroht! Denken wir nur an das, was unsre Seele gefährdet.«

Dann, zu seiner Schwester gewandt, fuhr er fort: »Liebe Schwester, der Geistliche darf nie Vorsicht gegen seinen Nebenmenschen gebrauchen. Was unser Nebenmensch thut, läßt Gott zu. Beschränken wir uns darauf zu Gott zu beten, wenn wir glauben, daß eine Gefahr uns naht. Beten wir nicht für uns, sondern, daß wir nicht unserm Bruder Veranlassung geben in eine Sünde zu verfallen.«

Im Ganzen war jedoch sein Leben arm an Ereignissen. Wir erzählen diejenigen, die zu unsrer Kenntnis gelangt sind; aber für gewöhnlich that er immer dieselben Dinge zu derselben Zeit.

Was wurde aber aus dem Schatz des Domes zu Embrun? Wir gestehen, daß diese Frage uns in arge Verlegenheit setzt. Diese verführerischen Kostbarkeiten legten nur allzu leicht den Gedanken nahe, sie zu stehlen und zum Vortheil der Armen in bares Geld umzumünzen. Gestohlen war sie ja schon so wie so. Zur Hälfte war die Sache schon gethan; das gestohlene Gut brauchte blos noch eine andre Richtung einschlagen und nur die kleine Strecke zu den Häusern der Armen zu wandern. Etwas Positives können wir darüber freilich nicht behaupten. Es hat sich nur unter den Papieren des Bischofs eine kurze Notiz vorgefunden, die sich vielleicht auf diese Angelegenheit bezieht. Sie lautet: »Die Frage ist, ob es dem Dom oder dem Krankenhaus zukommt.«

VIII.
Philosophie bei Tische

Der Senator, von dem oben die Rede gewesen ist, war ein kluger Mann, der unbekümmert um gewisse Hindernisse, wie Gewissen, Treu und Glauben, Gerechtigkeit und Pflicht, sein Schifflein aufs Trockne gebracht hatte. Nie war er von dem richtigen Wege abgewichen, der ihn zu seinem Ziele, der Förderung seiner Interessen, führte. Dieser ehemalige Staatsanwalt, den der Erfolg gemächlich gemacht hatte, war kein schlechter Mensch, denn er erwies seinen Kindern, seinen Schwiegersöhnen, seinen Verwandten, ja sogar seinen Freunden alle nur möglichen Gefälligkeiten. Er hatte nur das, was das Leben Angenehmes bietet, Vergnügungen, Glücksgüter, Gelegenheiten sich emporzubringen, seiner Beachtung werth gefunden. Alles Uebrige kam ihm dumm vor. Er besaß Geist und war gerade belesen genug, um sich für einen Schüler Epikurs zu halten, während er seine Philosophie doch höchstens einem Pigault-Lebrun verdankte. Er spaßte oft und mit Behagen über alles Unendliche und Ewige, selbstverständlich auch über die »Grillen« des Herrn Bischofs. Und so sicher war er seiner Sache, daß er sich nicht scheute, seine Witze in Gegenwart des geduldigen Myriel selber zum Besten zu geben.

Bei einer halboffiziellen Festlichkeit mußte einst dieser Senator und der Bischof bei dem Präfekten diniren. Bei dem Dessert platzte der Senator, angeheitert wie er war, aber noch fähig eines gewissen Grades von Selbstbeherrschung, wieder einmal los:

»Seien wir gemüthlich, Herr Bischof, und plaudern wir frisch von der Leber weg. Ein Bischof und ein Senator können einander nicht leicht ansehen, ohne mit den Augen zu zwinkern. Wir sind zwei Augurn, und da, dächte ich, könnte ich Ihnen ja mal ein ausführliches Geständniß ablegen, wie ich als Philosoph die Welt betrachte. Ich philosophire nämlich auf meine eigene Weise.«

»Daran thun Sie recht, Herr Graf. Wie man philosophirt, so schläft man. Sie schlafen auf einem Purpurbett, Herr Senator.«

»Ich behaupte also, Herr Bischof, daß der Marquis d'Argens, Pyrrho, Hobbes und Naigeon keine Schafsköpfe sind. Ich halte ihre Werke in Ehren und besitze sie in meiner Bibliothek, in Gold gebunden. Diderot dagegen verabscheue ich. Der Kerl ist ein Ideologe, ein Phrasenmacher, ein Revolutionär, der im Grunde doch an Gott glaubt und bigotter ist wie Voltaire. Voltaire hat sich über Needham lustig gemacht, aber sehr mit Unrecht; denn Needhams Aale beweisen doch, daß Gott überflüssig ist. Ein Tröpfchen Essig in einen Löffel voll Mehl gegossen thut dieselben Dienste wie das fiat lux, das ›Es werde Licht‹ der Bibel. Denken Sie sich einen größern Tropfen und einen größern Löffel, so haben Sie die Welt. Der Mensch ist der Aal. Was brauchen wir also einen ›ewigen Vater?‹ Mir ist Jehowa lästig. Wer sein Gehirn mit dergleichen Hypothesen zermartert, wird mager. Sonst kommt nichts dabei heraus. Nieder mit dem ›All‹, das mir meine Ruhe nimmt! Es lebe das Nichts, das mich leben läßt, wie es mir gefällt! Unter uns gesagt, und um mein Herz auszuschütten, meinem Seelenhirten pflichtgemäß zu beichten, gestehe ich, daß ich es mit dem gesunden Menschenverstand halte. Ich bin nicht in Ihren Jesus vernarrt, der ewig und immer Entsagung und Selbstaufopferung predigt. Damit mag ein Geizhals arme Teufel abspeisen. Ich beiße auf so etwas nicht an. Wozu entsagen? Weswegen sich für Andere opfern? Ich sehe nicht, daß ein Wolf sein Leben für einen andern Wolf hingiebt. Halten wir uns doch an die Natur. Wir gehören zu den höheren Ständen, befleißigen wir uns also einer höhern Philosophie. Wozu steht man oben, wenn man nicht weiter sehen will, als es den unten Stehenden genehm ist? Genießen wir das Leben. Dieses Leben ist alles, was wir zu gewärtigen haben. Denn daß der Mensch eine andere Zukunft habe, anderswo, oben, unten, sei es wo es will, davon glaube ich kein Sterbenswörtchen. Also man empfiehlt mir Selbstverleugnung und Entsagung, ich soll immer hübsch darauf achten, daß ich richtig handle, soll mir den Kopf zerbrechen über das Gute und das Böse, das Gerechte und das Ungerechte, das fas und nefas! Warum? Weil ich über mein Thun Rechenschaft ablegen muß? Wann? Nach meinem Tode. Wer das glaubt, dem träumt. Den möchte ich sehen, der mich nach meinem Tode zu fassen kriegt. Ein Schatten soll es bleiben lassen ein Häufchen Asche zu packen. Sagen wir es offen heraus, was das Wahre ist: Wir gehören zu den Eingeweihten, die den Schleier der Isis gelüftet haben: Es giebt weder Gutes noch Böses; was existirt, ist das Werden. Halten wir es mit dem Reellen. Gehen wir den Sachen vollständig auf den Grund, Teufel auch! Man muß nach der Wahrheit wittern, sie aus der Tiefe herauswühlen und sie festhalten. Dann macht sie Einem Freude! Dann wird man schlau und kann lachen. Einem gescheidten Kerl wie mir macht man nichts vor. Herr Bischof, der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele ist eine unsolide Spekulation, ein fauler Wechsel. Auf das Versprechen fall' ich nicht rein. Wir sind jetzt Seelen und dermaleinst werden wir Engel sein, mit blauen Flügeln an den Schulterblättern und – so behauptet ja wohl Tertullian – von Stern zu Stern wandern. Gut. Wir werden einst die Sprengsel des Sternenhimmels sein. Außerdem werden wir Gott schauen. Larifari! Laß mich doch Einer zufrieden mit dem läppischen Geschwätz vom Paradiese und vom lieben Gott! Selbstredend werde ich dergleichen Ansichten nicht mit meinem Namen in den Zeitungen abdrucken lassen. Man flüstert so was nur seinem guten Freunde inter pocula ins Ohr. Die Erde für den Himmel hingeben heißt einen guten Braten fallen lassen, um dem Schatten desselben nachzujagen. Mit dem Unendlichen imponirt man mir nicht. Ich bin ein Nichts. Ich heiße der Graf und Senator Nichts. War ich vor meiner Geburt? Nein. Werde ich nach meinem Tode sein? Nein. Was soll ich auf dieser Erde thun? Ich habe die Wahl. Leiden oder Genießen. Ich habe mich für das Genießen entschieden. Man muß fressen oder gefressen werden. Ich ziehe vor zu fressen. Lieber Hammer als Ambos. So lautet mein Wahlspruch. Nachher ist's vorbei. Das Loch, in das uns der Totengräber legt, ist das Ende. Darüber hinaus liegt nur die Nacht, in der ein Nichts dem andern Nichts gleicht. Ob Einer ein Sardanapal oder ein St. Vincenz von Paula gewesen, Nichtse sind sie dann alle Beide. Dies ist die Wahrheit. Vor allen Dingen also soll man leben. Genieße dein Ich, so lange Du es hast. Ja ja, ich verstehe mich auf Philosophie; ich lasse mich nicht mit Alfanzereien an der Nase herumführen. Allerdings müssen die unten herumkriechen, die Hungerleider, die Unglücklichen, auch etwas haben. Denen tischt man Märchen auf, Phantastereien über die Seele, die Unsterblichkeit, den Himmel, die Sterne. Das schmieren sie auf ihr trockenes Brod. Wer nichts hat, der hat den lieben Gott. Den muß man ihm schon lassen. Damit bin ich auch einverstanden, aber Naigeon's Philosophie ist mehr nach meinem Geschmack. Der liebe Gott ist gut genug für das Volk.«

»Das nenne ich reden«, antwortete der Bischof und klatschte in die Hände. »Das ist ja ganz etwas Ausgezeichnetes, solch ein Materialismus. Solche Ansichten kann nicht Jeder haben. Ja, wer diese Weisheit besitzt, der läßt sich nicht mehr täuschen, der ist nicht so dumm, sich in die Verbannung schicken zu lassen wie Cato; der wird nicht gesteinigt wie der heilige Stephanus, nicht lebendig verbrannt wie Johanna d'Arc. Die das Glück gehabt haben, sich zu einem so herrlichen Materialismus emporzuschwingen, haben die Freude, jeder lästigen Verantwortlichkeit los und ledig zu sein. Sie dürfen ohne Gewissensbisse zugreifen; Alles in die Tasche stecken; Aemter, Sinekuren, Titel, Macht, ob mit guten oder bösen Mitteln erworbene. Sie dürfen ihr Wort brechen und Verrath üben, wenn es ihnen Nutzen bringt, und nachher, wenn sie sich am Tisch des Lebens recht voll gegessen, ruhig in das Grab steigen. Wie angenehm das sein muß! Ich beziehe dies nicht speziell auf Sie, Herr Senator, kann aber nicht umhin, Ihnen zu gratuliren, Ihr großen Herren habt, wie ihr sagt, Eure eigne und eigens für Euch ausgedachte Philosophie, eine besonders ausgesuchte, feine, nur den Reichen zugängliche, die alle Lüste des Lebens vorzüglich würzt. Diese Philosophie ist von besonderen Forschern aus den Tiefen des wahren Seins hervorgeholt worden. Aber Ihr seid gemüthlich und habt nichts dagegen, daß der Glaube an den lieben Gott die Philosophie des Volkes sei, ungefähr so wie bei den Armen Gänsebraten mit Kastanien den Truthahn mit Trüffeln vertritt, der nur auf den Tisch der Reichen kommt.«

IX.
Was die Schwester über den Bruder erzählt

Um eine Vorstellung von der Häuslichkeit des Bischofs zu geben und zu zeigen, wie vollständig die beiden frommen Frauen ihre Handlungen und Gedanken, ja sogar ihre natürliche Furchtsamkeit, den Gewohnheiten und Wünschen des Bischofs unterordneten, ohne daß er sich auch nur die Mühe zu nehmen brauchte, ihnen Ausdruck zu verleihen, können wir nichts Besseres thun, als hier einen Brief Fräulein Baptistines an ihre Jugendfreundin die Frau Vicomtesse von Boischevron, wiederzugeben. Diesen Brief besitzen wir im Original.

Digne, den 16. Dec. 18..

Theuerste Freundin!

Es vergeht kein Tag, ohne daß wir von Ihnen sprächen. Es ist das unsere Gewohnheit, aber wir haben noch einen anderen Grund. Denken Sie Sich: Frau Magloire hat beim Waschen und Abstäuben der Wände Entdeckungen gemacht; unsre beiden Schlafzimmer mit ihren alten, weiß getünchten Tapeten würden jetzt ein Schloß wie das Ihrige nicht verunzieren. Frau Magloire hat die ganzen Tapeten heruntergerissen. Es war etwas dahinter. Mein Salon, in dem keine Möbel stehen, und der uns den Trockenboden für die Wäsche ersetzt, ist fünfzehn Fuß hoch, achtzehn im Geviert und hat eine bemalte und vergoldete Decke mit Balken, wie bei Ihnen. Als das Haus noch als Hospital diente, war ein Ueberzug aus Leinwand darüber. Dazu Holzwerk aus der Zeit unsrer Großmütter. Und mein Zimmer sollten Sie erst sehen! Frau Magloire hat unter wenigstens zehn darüber geklebten Tapeten Gemälde entdeckt, die ganz leidlich sind: Telemach, wie er von Minerva zum Ritter erhoben wird; derselbe in den Gärten, – ich kann mich nicht mehr besinnen, welchen; der Ort, wohin die Römerinnen sich einmal des Jahres begaben. Kurz, ich habe Römer, Römerinnen, (hier stand ein unleserliches Wort), und so weiter. Frau Magloire hat alles sauber abgewaschen und diesen Sommer wird sie einige unbedeutende Beschädigungen repariren, das Ganze überfirnissen, so daß mein Zimmer einem Museum gleichen wird. Außerdem hat sie auf dem Boden in einem Winkel zwei Consolen alten Stils gefunden. Sie sollten sechs Franken wieder zu vergolden kosten; aber es ist doch besser, wir geben das Geld den Armen. Auch sind sie nicht hübsch, und ich würde einen Mahagonitisch vorziehn.

Ich fühle mich recht glücklich, wie immer. Mein Bruder ist so gut! Er giebt alles, was er hat, den Bedürftigen und Kranken. Bei uns geht es auch infolge dessen sehr knapp zu. Das Klima ist hier im Winter sehr rauh, und man muß für Diejenigen, denen es am Notwendigen fehlt, doch etwas thun. Mit Licht und Heizung ist es in unserm Hause ziemlich gut bestellt, was doch gewiß große Annehmlichkeiten sind.

Mein Bruder hat so seine eignen Gewohnheiten. Er behauptet im vertraulichen Gespräch, ein Bischof müsse so sein. Denken Sie sich: die Hausthür ist nie verschlossen. Jeder, der will, kann herein, und ist dann gleich in der Wohnung meines Bruders. Er fürchtet sich nicht, selbst des Nachts nicht. Das ist die Art Tapferkeit, die er haben muß, behauptet er.

Er will nicht, daß ich und Frau Magloire uns um ihn ängstigen. Er setzt sich allen Gefahren aus und duldet nicht einmal, daß wir thun, als bemerkten wir das. Man muß ihn eben verstehen.

Er geht bei Regenwetter aus, watet durch Wasser, reist zur Winterzeit. Er fürchtet sich nicht des Nachts, nicht vor gefährlichen Wegen und schlechten Menschen.

Verflossenes Jahr reiste er allein nach einer Gegend, wo sich Räuber herumtrieben. Uns nahm er nicht mit und blieb vierzehn Tage weg. Es widerfuhr ihm nichts, man hielt ihn für tot, aber er war gesund und munter. Er sagte: »Seht mal, wie die Räuber mich ausgeplündert haben«, und zeigte uns eine Kiste mit lauter Wertsachen, die in dem Dom von Embrun gestohlen waren. Die hatten ihm die Räuber geschenkt.

Bei der Rückfahrt konnte ich mich aber nicht bezwingen und schalt ihn ein Bischen, natürlich nur, während der Wagen rasselte, damit Niemand etwas hören sollte.

Anfangs dachte ich bei mir: Er läßt sich durch keine Gefahren zurückhalten, er ist schrecklich! Jetzt habe ich mich daran gewöhnt. Ich winke immer Frau Magloire, sie soll ihm nicht widersprechen. Er setzt sich Gefahren aus, wie es ihm gerade beliebt. Ich gehe dann mit Frau Magloire hinaus, bete für ihn und lege mich schlafen. Ich bin ruhig, weiß ich doch, daß, wenn ihm ein Unglück zustieße, so wäre es auch mein Tod. Ich würde dann zum lieben Gott mit meinem Bruder und Bischof kommen. Frau Magloire ist es schwerer gewesen, sich an seine sogenannten Unklugheiten zu gewöhnen. Aber jetzt hat sie es auch gelernt. Wir beten alle Beide, fürchten uns zusammen und schlafen ruhig ein. Käme der Teufel in das Haus, er würde unbehelligt bleiben. Wozu sollten wir uns auch fürchten? Es ist ja immer Einer bei uns, der stärker ist als der Teufel.

Das genügt mir. Mein Bruder braucht mir jetzt kein Wort mehr zu sagen. Ich verstehe ihn, ehe er spricht, und wir verlassen uns auf die Vorsehung.

So muß man es machen mit einem Manne, dessen Sinn großartig angelegt ist.

Ich habe meinen Bruder wegen der Auskunft gefragt, die Sie über die Familie de Faux zu erhalten wünschten. Sie wissen ja, er weiß Alles und führt Gedenkbücher, denn er ist gut königlich gesinnt. Es ist in der That eine sehr alte normannische Familie aus dem Steuerbezirk Caen. Vor fünfhundert Jahren gab es einen Raoul de Faux, einen Jean de Faux und einen Thomas de Faux, alles Edelleute, einer darunter ein Seigneur de Rochefort. Der Letzte war Guy Etienne Alexandre und war Regimentsoberst und hatte noch einen andern Rang bei den Chevaux-legers in der Bretagne. Seine Tochter Marie Louise heiratete Adrien Charles de Gramont, Sohn des Herzogs Louis de Gramont, Pair von Frankreich, Obersten der Gardes-Françoises und General-Lieutenant.

Theuerste Vicomtesse, empfehlen Sie mich den Gebeten Ihres Vetters, des frommen Herrn Kardinals. Was Ihre theure Sylvanie betrifft, so hat sie sehr recht gethan, daß sie die kurze Zeit, die sie bei Ihnen zubringt, nicht damit verloren hat, mir zu schreiben. Sie befindet sich wohl, arbeitet Ihren Wünschen gemäß und hat mich lieb. Weiter verlange ich nichts. Sie haben mir Kenntniß davon zukommen lassen, wie es ihr geht, und mich damit ausnehmend erfreut. Mit meiner Gesundheit steht es nicht allzu schlecht, obgleich ich alle Tage magerer werde. Leben Sie wohl. Es fehlt mir an Papier, und ich muß aufhören. Tausend herzliche Grüße.

Baptistine.

P.S. Ihr Enkel ist ein reizender Knabe. Wissen Sie, daß er bald fünf Jahre alt ist! Gestern sah er ein Pferd, dem man Knieleder angelegt hatte. Er fragte: »Was hat denn das Pferd an den Knieen?« Er ist allerliebst. Sein Brüderchen zieht einen alten Besen als Wagen durch das Zimmer und ruft: »Hottehü!«

Wie aus diesem Briefe erhellt, wußten die beiden Frauen mit jenem ihrem Geschlecht natürlichen Takt, der sie befähigt, einen Mann besser zu verstehen, als er sich selbst, auf die Eigenheiten des Bischofs einzugehen. So sanft und treuherzig auch alle Zeit sein Gebahren war, so that er doch viel Großes und Kühnes, ohne daß er es selber zu ahnen schien. Die Frauen zitterten, aber sie ließen ihn gewähren. Bisweilen unterstand sich Frau Magloire, ihm Vorhaltungen zu machen, ehe er einen bedenklichen Entschluß ins Werk setzte, nachher aber nicht mehr. Nie wurde er, sobald er erst eine Sache begonnen hatte, belästigt, nicht einmal mit einer Gebärde der Mißbilligung oder Ungeduld. Die Frauen hatten zeitweise, ohne daß es einer Erklärung seinerseits bedurfte, ohne daß er selbst sich dessen bewußt wurde, eine gewisse Ahnung, daß er nur deshalb in der und der bestimmten Weise handle, weil seine Pflicht als Bischof es ihm befahl: sie verhielten sich dann so still und unaufdringlich, wie zwei Schatten. Sie bedienten ihn mit passivem Gehorsam, und wenn sie ihm nicht anders gefällig sein konnten, als daß sie sich entfernten und ihn allein ließen, so thaten sie auch dies mit Freudigkeit. Ihr bewunderungswürdiger Zartsinn sagte ihnen, daß manche Fürsorge lästig sein kann. Daher verstanden sie, selbst wenn sie glaubten, er schwebe in Gefahr, – ich will nicht gerade sagen, – seine Gedanken, wohl aber sein Wesen so vollständig, daß sie nicht mehr auf ihn Acht gaben. Sie vertrauten ihn der Obhut Gottes an.

Uebrigens sagte, wie wir eben gesehen, Baptistine, der Tod ihres Bruders werde auch ihr Ende alsbald nach sich ziehen. Frau Magloire sprach so etwas nicht aus, dachte es aber.

X.
Eine neue Erleuchtung

Einige Zeit nach dem Datum des so eben citirten Briefes that der Bischof etwas, das nach dem Dafürhalten der ganzen Stadt ein noch gewagteres Stück war, als seine Reise in das Banditengebirge.

In der Umgegend von Digne wohnte in völliger Einsamkeit ein Mann, der – schaudernd müssen wir es bekennen – seiner Zeit Mitglied des Convents gewesen war. Er hieß G.

In der kleinen Welt, die sich die Stadt Digne nannte, sprach man von dem Conventsmitgliede G. nur mit einer Art Entsetzen und Abscheu. Ein Mitglied des Convents – nein, so etwas! Das gab es zu der Zeit, wo die Leute sich duzten und Bürger nannten. Der Mann war gewissermaßen ein moralisches Ungeheuer. Er hatte zwar nicht für den Tod des Königs gestimmt, aber viel hatte nicht daran gefehlt. Er war doch immer »beinah« ein Königsmörder. Jedenfalls war er ein Schreckensmann gewesen. Warum in aller Welt hatte man Den bei der Rückkehr der angestammten Königsfamilie nicht vor das Prevotalgericht gestellt? Man hätte ihm ja nicht gerade den Kopf vor die Füße zu legen brauchen, weil milde zu sein nun einmal die Pflicht des Richters ist; aber eine Verurtheilung zu lebenslänglicher Verbannung hätte nicht schaden können. Ein Beispiel zu statuiren wäre doch nöthig gewesen! U. s. w. Dann war der Mensch ja auch ein Atheist, wie die revolutionären Kanaillen alle. – Gänsegeklatsch über einen Geier!

War denn G. auch ein Geier? Ja, der Vergleich stimmte, wenn man ihn nach seiner Menschenscheu beurtheilte. Da er nicht für den Tod des Königs gestimmt hatte, so war er von den Verbannungsdekreten nicht getroffen worden und hatte in Frankreich bleiben dürfen.

Er wohnte drei Viertelstunden von der Stadt, weitab von jedem Dorfe, weitab von jedem Wege, in einem versteckten Winkel eines öden Thales. Er hatte dort, erzählte man, eine Art Feld, ein Loch, eine Hütte. Weit und breit war dort kein Haus zu sehen, nie kam Jemand dort vorüber. Seit er in der Schlucht seine Wohnung aufgeschlagen, war Gras über den Pfad, der dahin führte, gewachsen. Man sprach von dem Ort mit derselben Abscheu, als wenn da das Haus des Henkers gestanden hätte.

Der Bischof indessen dachte an das Conventsmitglied und richtete bisweilen seinen Blick nach der Baumgruppe, die fern am Horizont den Wohnort des Einsiedlers bezeichnete. »Dort befindet sich eine Seele die vereinsamt ist«, sagte er und fügte innerlich hinzu: »Ich bin ihm auch einen Besuch schuldig.«

Allein, gestehen wir es nur, dieser auf den ersten Blick selbstverständliche Gedanke kam ihm bei eingehender Prüfung absonderlich, unmöglich, ja widerwärtig vor. Denn im Grunde genommen, theilte er die allgemeine Empfindung und das Conventsmitglied flößte ihm, ohne daß er sich klare Rechenschaft darüber gab, ein Gefühl ein, das an der Grenzlinie des Hasses liegt und das durch das Wort Abneigung treffend ausgedrückt wird.

Darf jedoch der Hirt sich von einem Schaf abwenden, weil es räudig ist? Nein. Aber solch ein Schaf!

Der gute Bischof war in Verlegenheit. Manchmal richtete er seine Schritte nach der Gegend hin, kehrte aber auf halbem Wege wieder um.

Da verbreitete sich eines Tages in der Stadt das Gerücht, ein junger Hirt, der dem Conventsmitgliede G. in seinem Schlupfwinkel Handreichungen leistete, sei gekommen, einen Arzt zu holen; der alte Halunke liege im Sterben; die Lähmung, an der er litt, greife weiter um sich; er werde die Nacht nicht überleben. Gott sei Dank! meinten Viele.

Der Bischof nahm seinen Stock, zog einen Ueberrock an, weil, wie schon erwähnt, seine Sutane zu schäbig geworden war, und machte sich auf den Weg.

Die Sonne ging zur Rüste und stand schon dicht am Horizont, als der Bischof an dem vervehmten Ort anlangte. Das Herz klopfte ihm schneller, als er erkannte, daß er vor der Behausung des Elenden stand. Er schritt über einen Graben, stieg über eine Hecke, ging kühnen Schrittes durch einen vernachlässigten Garten und erblickte plötzlich hinter einem hohen Gesträuch, am andern Ende eines Brachfeldes, eine niedrige, armselige, kleine und saubere Hütte mit vergitterter Façade.

Vor der Thür saß da in einem einfachen Rollstuhl ein Mann mit weißen Haaren, der sich mit Behagen im Sonnenschein wärmte.

Neben dem Greise stand ein Hirtenknabe und hielt ihm eine Milchsatte hin.

Während der Bischof sie betrachtete, sagte der Alte: »Danke, ich brauche nichts mehr« und wandte seinen freundlichen Blick von der Sonne dem Knaben zu.

Der Bischof trat näher. Bei dem Geräusch der Schritts wandte sich der Greis, und sein Gesicht drückte so viel Erstaunen aus, als man nach einem langen Leben noch zu empfinden fähig ist.

»Seitdem ich hier wohne«, hob er an, »ist dies das erste Mal, das Jemand zu mir kommt. Wer sind Sie, mein Herr?«

»Ich nenne mich Bienvenu Myriel.«

»Derselbe, den das Volk Se. Gnaden Herrn Bienvenu nennt.«

»Der bin ich.«

Ein Lächeln umspielte den Mund des Greises.

»In diesem Fall sind Sie also mein Bischof?«

»Eigentlich!«

»Treten Sie näher, mein Herr!«

Das Conventsmitglied reichte dem Bischof die Hand hin. Dieser aber gab ihm die seine nicht und bemerkte nur:

»Ich sehe mit Vergnügen, daß man mich falsch berichtet hat. Sie sehen keineswegs krank aus.«

»Bald wird mir besser sein«, antwortete der Greis. Er hielt inne und fuhr dann fort:

»In drei Stunden sterbe ich. Ich habe mich etwas mit Medizin beschäftigt und kenne die Symptome, die das Herannahen des Todes melden. Gestern waren mir nur die Füße kalt; heute ist die Kälte bis zu den Knieen emporgestiegen; gegenwärtig fühle ich, daß sie durch den Unterleib empordringt; wenn sie das Herz erreicht, wird mein Leben still stehen. Schönes sonniges Wetter, nicht wahr? Ich habe mich ins Freie bringen lassen, um mir die Welt zum letzten Male anzusehen. Sie können reden, das Sprechen greift mich nicht an. Sie haben wohl gethan, zu einem Sterbenden zu kommen. Es ist besser, wenn ich im letzten Augenblick nicht allein bin. Man hat sonderbare Einfälle: Ich hätte gern bis Tagesanbruch gelebt. Aber ich weiß, daß ich höchstens noch drei Stunden Frist habe. Dann wird es Nacht. Aber was schadet das? Das Sterben ist eine einfache Sache. Dazu braucht man nicht die Morgensonne. Wenn die Sterne scheinen, geht es auch.«

Dann, zu dem Hirten gewandt, fuhr er fort:

»Geh' schlafen. Du hast vorige Nacht gewacht. Du bist müde.«

Der Knabe ging in die Hütte hinein.

Der Greis sah ihm nach und sagte halblaut, als spreche er mit sich selbst:

»Während er schläft, werde ich sterben. Der eine Schlaf wird den andern nicht stören.«

Dem Bischof war nicht so feierlich zu Muthe, wie wohl zu erwarten gewesen wäre. In dieser Art zu sterben lag nichts, was ihn Gottes Gegenwart ahnen ließ. Zudem – wir müssen dies offen heraussagen, denn auch die kleinen Widersprüche großer Seelen dürfen nicht übergangen werden – fühlte er sich, er, der gern über den Titel »Bischöfliche Gnaden« spottete, verletzt, weil er mit »Mein Herr« angeredet wurde, und war versucht, das Conventsmitglied »Bürger« zu tituliren. Er hatte nicht übel Lust, einen unceremoniellen derben Ton anzuschlagen, wie er Aerzten und Priestern ziemlich gewöhnlich ist, in seiner Art aber nicht lag. Der Mann da vor ihm, dieses Conventsmitglied, dieser Volksvertreter war einer der Mächtigen dieser Welt gewesen, und zum ersten Mal vielleicht in seinem Leben fühlte sich der Bischof geneigt, strenge zu verfahren.

Der Sterbende dagegen hatte etwas Bescheidenes, fast Demüthiges in seinem Wesen, als gehöre sich das so, wenn man nahe daran ist, in Staub zu zerfallen.

Der Bischof seinerseits, dem sonst Neugierde als eine Art Beleidigung erschien, beherrschte sich dieses Mal nicht und betrachtete das Conventsmitglied mit einer Aufmerksamkeit, die ihren Ursprung nicht in der Sympathie hatte und die sein Gewissen sonst getadelt hätte. Stand doch für ihn ein Conventsmitglied eigentlich außerhalb der Gesetze, ja sogar außerhalb des Gesetzes der Liebe.

G., mit seiner würdevollen Ruhe, seiner aufrechten Haltung, seiner kräftigen Stimme, war einer jener Achtzigjährigen, über die der Physiologe erstaunt. Die Revolution hat viele solche Männer gehabt, deren körperliche Kraft im Verhältniß stand zu der geistigen Kraft ihrer Zeit. Man merkte, daß der Greis ein Mann von erprobter Tüchtigkeit war. Er besaß, nahe wie er seinem Ende war, noch alle Merkmale der Gesundheit. Sein klarer Blick, seine feste Sprache, seine kräftigen Schulterbewegungen hätten den Tod in Erstaunen setzen können. Asraël, der mohamedanische Engel des Grabes, wäre umgekehrt und hatte geglaubt, er sei nicht vor die rechte Thür gekommen. Es war, als stürbe dieser Mann, weil es ihm so beliebte. Sein Todeskampf hatte etwas Freiwilliges. Nur die Beine waren unbeweglich und todt, der Kopf dagegen war voller Lebenskraft. G. glich in diesem feierlichen Augenblick jenem König in Tausend und eine Nacht, dessen Unterkörper in Marmor verwandelt war.

Der Bischof setzte sich auf einen Stein, der in der Nähe lag, und begann ex abrupto:

»Ich muß es loben« – aber aus seiner Stimme klang ein Tadel, »daß Sie wenigstens nicht für den Tod des Königs gestimmt haben.«

Sein Gegner schien das Wort »wenigstens« nicht gehört zu haben. Er antwortete, indem er nicht mehr lächelte:

»Freuen Sie Sich nicht zu sehr: Ich habe für den Tod des Tyrannen gestimmt.«

»Welchen Tyrannen meinen Sie?«

»Der Mensch hat einen Tyrannen, die Unwissenheit. Gegen diese Tyrannei habe ich gestimmt. Denn diese Tyrannei hat das Königthum, die falsche Autorität, geboren. Die Wissenschaft ist die wahre Herrin des Menschen. Nur von ihr soll er sich lenken lassen.«

»Und von seinem Gewissen«, ergänzte der Bischof.

»Das ist dasselbe. Das Gewissen ist angeborene Wissenschaft.«

Der Bischof hörte mit einigem Erstaunen diese für ihn ganz neuen Gedanken.

Das ehemalige Conventsmitglied fuhr fort:

»Was Ludwig XVI. anbetrifft, so habe ich gegen seine Hinrichtung gestimmt. Ich halte mich nicht dazu befugt, einen Menschen zu töten, aber meine Pflicht gebietet mir, das Böse auszurotten. Ich habe für die Beseitigung der Tyrannei gestimmt. Die Prostitution des Weibes, die Sklaverei des Mannes, die Unwissenheit, die den Geist des Kindes umnachtet, soll ein Ende nehmen. Dies habe ich bezweckt, indem ich für die Republik stimmte. Brüderlichkeit, Eintracht, eine neue Zeit habe ich begründen wollen. Ich habe Vorurtheile und Irrthümer vertilgen helfen. Die Vernichtung der Vorurtheile und Irrthümer hat die Entstehung des Lichtes zur Folge. Wir haben die alte Weltordnung gestürzt, und indem die alte Welt, dieses Gefäß voller Leid und Elend, umstürzte, ist eine Freudenurne daraus geworden.«

»Die Freude ist eine sehr gemischte«, warf der Bischof ein.

»Sprechen Sie lieber von gestörter Freude, und gegenwärtig nach der verderblichen Wiederkehr der Vergangenheit im Jahre 1814 ist die Freude sogar verschwunden. Ja leider! Das Werk ist unvollendet geblieben, ich gestehe es. Wir haben die konkreten Institutionen der alten Weltordnung gestürzt, die Ideen, auf denen sie begründet war, haben wir nicht ganz austilgen können. Mißbräuche abschaffen genügt nicht, man muß die Menschen ändern. Die Mühle ist nicht mehr, aber der Wind weht immer noch.«

»Ihr habt das Alte zerstört. Das mag sein Gutes gehabt haben, aber ich habe kein Zutrauen zu einer Zerstörung, die der Zorn angestiftet hat.«

»Das Recht darf auch einmal in Zorn gerathen, denn der Zorn des Rechtes ist ein Element des Fortschritts. Gleichviel, man sage, was man wolle, seit dem Erscheinen Christi hat das Menschengeschlecht keinen so gewaltigen Schritt vorwärts gethan, als durch die große französische Revolution. Sie hat alle sozialen Uebelstände klar gelegt. Sie hat die Gemüther sanfter gestimmt; sie hat beruhigt, versöhnt, aufgeklärt; sie hat Ströme höherer Gesittung über alle Lande ausgegossen. Sie ist voller Güte gewesen. Die französische Revolution ist die Weihe der Menschheit.«

»Wirklich? Aber 1793?«

Der Mann des Convents richtete sich in seinem Stuhle mit erhabener Feierlichkeit auf und rief, so laut ein Sterbender irgend sprechen kann:

»Aha, da haben wir's! Ich wußte, daß Sie mir mit 1793 kommen würden. Nun, es war einmal eine Wolke, die fünfzehn Hundert Jahre gewartet hat, ehe sie geplatzt ist, und nun klagen Sie den Blitz an.«

Der Bischof fühlte vielleicht, ohne daß er sich dessen klar wurde, daß seine Ueberzeugungen etwas erschüttert waren. Aber er wehrte sich noch:

»Der Richter spricht im Namen der Gerechtigkeit, der Priester im Namen des Mitleids, das nur eine höhere Art von Gerechtigkeit ist. Der Blitz soll sich nicht irren.«

Und indem er den Mann des Convents fest ansah, fuhr er fort: »Z. B. Ludwig XVII.?«

Sein Gegner streckte die Hand aus und faßte ihn beim Arm.

»Also Ludwig XVII.? Sehr wohl. Worüber beklagen Sie sich? Daß ein unschuldiges Kind zu Tode gemartet worden ist? Gut, das beklage ich auch. Daß ein Königskind gemartert worden ist, das bitte ich mir erst überlegen zu dürfen. Für mich ist der Bruder Cartouche's ein unschuldiges Kind, das auf dem Grève-Platze unter den Achseln aufgehängt wurde, bis es starb, – blos weil es der Bruder Cartouche's war, eben so sehr ein Gegenstand des Mitleids, als der Enkel Ludwigs XV., das unschuldige Kind, das in dem Thurm des Temple zu Tode gemartert wurde, blos weil es der Enkel Ludwigs XV. war.«

»Herr, ich verbitte mir solche Zusammenstellungen.«

»Wem thut mein Vergleich Unrecht: Cartouche? Ludwig XV.?«

Es trat eine Pause ein. Der Bischof bedauerte fast, gekommen zu sein und doch fühlte er sich seltsam ergriffen.

Der Sterbende fuhr fort:

»Ja, ja, Herr Priester, Sie lieben die Derbheiten der Wahrheit nicht; Christus aber liebte sie doch. Er nahm eine Geißel und trieb das Gesindel zum Tempel hinaus. Diese Geißel sagte unangenehme Wahrheiten. Als er sprach: Lasset die Kindlein zu mir kommen, machte er keine Unterschiede. Er hätte keinen Anstand genommen, den Sohn des Barabbas und den Sohn des Herodes zusammen einzuladen. Ich meine, die Unschuld ist an sich eine Krone. Sie bedarf keiner hohen Titel und ist in Lumpen ebenso achtunggebietend, wie im Königsgewande.«

»Sehr wahr!« flüsterte der Bischof.

»Bleiben wir bei dem Thema, fuhr G. fort. Sie haben von Ludwig XVII. gesprochen. Sehen wir zu, ob wir uns richtig verstehen. Beklagen wir alle unschuldigen kleinen Märtyrer, die geringen ebenso sehr wie die vornehmen? Gut, das will ich thun. Aber dann müssen wir auch weiter hinaufgehen als 1793. Ich will mit Ihnen über die Kinder der Könige weinen, wenn Sie mit mir die Kinder des Volkes beweinen.«

»Sie sind alle des Mitleids werth«, bestätigte der Bischof.

»In gleicher Weise«, rief G., »und wenn eine Wagschale sich senken soll, so sei es die des Volkes. Seine Leiden sind die älteren.«

Wieder trat eine Pause ein. G. brach zuerst das Stillschweigen. Er stützte sich auf den einen Ellbogen, griff mit dem Daumen und Zeigefinger an die Wange, wie man unbewußt zu thun pflegt, wenn man einen Schuldigen verhört und zur Rede stellt, sah den Bischof strenge an und begann dann mit Heftigkeit:

»Ja, Herr Bischof, das Volk leidet schon lange. Aber noch Eins. Warum kommen Sie zu mir und reden über Ludwig XVII. Ich kenne Sie nicht. Seitdem ich in diese Gegend gekommen bin, habe ich in dieser Einöde gewohnt, allein in meiner Hütte, ohne je auszugehen, ohne Verkehr mit irgend Jemand, abgesehen von dem Hirtenjungen. Ihr Name ist allerdings zu mir gedrungen und er klang nicht schlecht, muß ich sagen; aber das will nicht viel sagen; die Klugköpfe haben so viele Mittel und Wege, dem guten Volk etwas vorzureden. Und nun ich daran denke: Ich habe Ihre Equipage nicht heranfahren hören. Sie haben sie gewiß hinter dem Gehölz am Kreuzweg halten lassen? Ich kenne Sie nicht, sage ich Ihnen. Sie haben mir gesagt, Sie wären ein Bischof, aber das klärt mich nicht auf über Ihr moralisches Ich. Also, ich wiederhole meine Frage: Wer sind Sie? Sie sind ein Bischof, d. h. ein Kirchenfürst, Einer von Denen, die Wappen, Renten, große Präbenden haben, – das Bisthum Digne bringt 15 000 Franken festes Gehalt und 10 000 Franken Nebeneinkünfte, macht 25 000 Franken pro Jahr. – Sie sind Einer von Denen, die Bedienten und Köche haben, die sich's wohl sein lassen, die des Freitags Wasserhühner essen, in Palästen wohnen und im Namen Jesu Christi, der barfuß ging, in üppigen Galakutschen, mit Lakaien vorn und hinten, kutschiren. Alle diese Herrlichkeiten haben Sie und genießen Sie, aber das klärt mich nicht auf über Ihren inneren und wesentlichen Werth, den ich doch kennen muß; denn Sie sind doch offenbar mit der Absicht gekommen, mir Weisheit zu bringen. Mit wem spreche ich? Wer sind Sie?«

Der Bischof senkte den Kopf und antwortete: »Vermis sum!«

»Ein Erdenwurm in einer Equipage!« murrte das Conventsmitglied. Jetzt war er hochfahrend und der Bischof bescheiden.

Letzterer hub mit sanfter Stimme wieder an:

»Sehr wohl. Aber erklären Sie mir doch, inwiefern meine Equipage da hinter den Bäumen, inwiefern meine üppige Tafel und die Wasserhühner, die ich des Freitags verspeise, inwiefern meine 25͇000 Franken jährlich, inwiefern mein Palast und meine Lakaien beweisen, daß das Mitleid keine Tugend, daß Milde keine Pflicht ist und daß die Schreckensmänner des Jahres 1793 nicht unbarmherzig gewesen sind.«

Der Mann des Convents fuhr mit der Hand über die Stirn, als wolle er einen trüben Gedanken verscheuchen.

»Bevor ich Ihnen antworte, bitte ich Sie um Verzeihung. Ich habe ein Unrecht begangen. Sie sind in meinem Hause, Sie sind mein Gast und ich bin Ihnen Höflichkeit schuldig. Sind Sie mit meinen Ansichten nicht einverstanden, so ziemt es sich, daß ich mich damit begnüge, Ihre Gegengründe zu widerlegen. Ihr Reichthum und Ihr Glück geben mir Waffen an die Hand, Sie zu bekämpfen, aber der Anstand erheischt, daß ich mich solcher Waffen nicht bediene. Ich entsage diesem Vortheil für die Zukunft.«

»Ich danke Ihnen«, antwortete der Bischof.

»Nun die Erklärung, die Sie von mir verlangten. Wo waren wir doch stehen geblieben? Sie behaupteten ja wohl, 1793 seien wir unbarmherzig gewesen?«

»Gewiß. Denken Sie an Marat, der beim Anblick der Guillotine in die Hände klatschte!«

»Denken Sie an Bossuet, der die Protestantenhetzen mit Tedeums feierte!«

Die Antwort war schroff, aber sie drang dem Bischof bis ins Innerste wie eine Degenspitze. Er fuhr zusammen, fand keine Erwiderung, aber es verdroß ihn, Bossuet in dieser Weise erwähnen zu hören. Auch die Verständigsten haben ihre Götzen und ärgern sich, wenn die Logik gegen dieselben unehrerbietig ist.

Dem Sterbenden fing der Athem an auszugehen und zwang ihn ab und zu seine Rede zu unterbrechen, aber noch leuchtete völlige Geistesklarheit aus seinen Augen. Er fuhr fort:

»Meinetwegen können wir noch, so gut es geht, ein paar Worte plaudern. Außer der Revolution, die als ein Ganzes betrachtet, eine große Kundgebung des Menschentums war, ist 1793 auch eine Erwiderung. Sie schmähen die erbarmungslose Schreckenszeit, wie war denn aber die ganze Königszeit? Carrier ist ein Bandit; aber welche Benennung verdient Montrevel? Fouquier-Tinville war ein erbärmlicher Mensch, aber was meinen Sie zu Lamoignon-Bâville? Mailland beging Grausamkeiten, aber wie urtheilen Sie über Saulx-Tavannes, wenn ich fragen darf? Vater Duhêne predigte einen blutdürstigen Fanatismus, aber welches Urtheil erlauben Sie mir über Vater Letellier? Jourdan-Coupe-Tête ist ein Ungeheuer, aber doch noch kein so scheußliches wie der Marquis von Louvois. Herr Bischof, ich beklage das Schicksal der Erzherzogin und Königin Marie-Antoinette, aber auch jene arme Hugenottin thut mir leid, die 1685, unter der Regierung Ludwigs des Großen, nackt bis auf die Hüften an einen Pfahl gebunden wurde und die Wahl hatte, ob sie ihren Glauben abschwören oder ihr Kind, das dicht vor ihr nach der Mutterbrust schrie und zappelte, dem Tode preisgeben wollte. Was meinen Sie zu dieser einer Mutter angepaßten Tantalusqual? Herr Bischof, merken Sie sich, die Revolution hatte ihre Berechtigungsgründe. Was man damals aus gerechtem Zorn gefehlt hat, wird von der Zukunft entschuldigt werden. Ist doch ihr Endergebniß eine allgemeine Besserung der Zustände. Sie hat derb zugeschlagen, aber sie hat sich als eine Wohlthat für die Menschheit erwiesen. Aber ich halte ein, die Vortheile in unserm Meinungskampfe sind zu groß auf meiner Seite und übrigens fühle ich auch, daß der Tod näher kommt.«

Und die Augen von dem Bischof abgewendet, beschloß er ruhevoll seine Rede mit folgenden Worten:

»Ja, die Zornesaufwallungen des Fortschritts heißen Revolutionen. Sind sie vorüber, so wird man inne, daß die Menschheit hart angefaßt worden ist, aber, daß sie einen Schritt weiter gekommen ist.«

Er ahnte nicht, daß er eine nach der andern alle Verschanzungen erobert hatte, hinter denen der Bischof sich gegen seine Angriffe vertheidigte. Eine indessen blieb noch übrig, von der aus sein Widersacher seine letzte Waffe gegen ihn entsandte:

»Der Fortschritt,« begann er wieder mit seiner anfänglichen Heftigkeit, »soll an Gott glauben. Das Gute kann keinen unheiligen Diener haben. Ein Gottesleugner eignet sich schlecht zum Führer der Menschheit.

Der ehemalige Volksvertreter antwortete ihm nicht. Seinen Leib durchbebte ein Schauer. Aus seinem Auge quoll eine schwere Thräne die bleiche Wange hinab, und leise, den Blick in die Tiefen des Himmels versenkt, stammelte er vor sich hin:

»O Du! Ideal, Du allein bist!«

Der Bischof fühlte, in seinem Innern eine unbeschreibliche Erschütterung.

Nach einer Pause hob der Greis einen Finger gen Himmel und sagte:

»Das Unendliche ist, dort ist es. Hätte das Unendliche kein Ich, so hätte es an dem Ich eine Beschränkung, es wäre dann nicht unendlich; anders ausgedrückt, es wäre nicht. Es ist aber. Also hat es ein Ich. Dieses Ich des Unendlichen ist Gott.«

Der Sterbende hatte die letzten Worte mit lauter Stimme gesprochen, von den Schauern der Verzückung durchbebt, als schaue er ein höheres Wesen. Als er seine Rede beendet hatte, fielen ihm die Augen zu. Die Anstrengung hatte seine Kräfte erschöpft. Augenscheinlich hatte er in einer Minute die Lebenskraft verbraucht, die sonst noch für einige Stunden gereicht hätte. Was er soeben gesagt, hatte ihn dem nahe gebracht, der in dem Tode ist. Sein letzter Augenblick kam heran.

Der Bischof begriff dies, die Zeit drängte, als Priester war er doch gekommen. Die ursprüngliche Abneigung war allmählich in das entgegengesetzte Extrem, in die tiefste Rührung übergegangen; er blickte auf die geschlossenen Augen, die eiskalte runzlige Hand des Sterbenden und beugte sich zu ihm nieder:

»Dies ist die Stunde Gottes. Nicht wahr, es wäre bedauerlich, wenn wir umsonst zusammengekommen wären?«

Der Sterbende schlug die Augen auf. Auf seinem Antlitz lag ein Ausdruck von würdevollem Ernst, aber mit einem Anflug von Mißmuth.

»Herr Bischof,« sagte er und seine Worte kamen langsam hervor, wohl mehr vom Gefühl seiner Würde getragen, als weil seine Kräfte ihn verließen, »mein ganzes Leben war dem Studium und der Betrachtung geweiht. Ich war sechzig Jahre alt, als mein Vaterland mich rief und mir befahl, mich mit seinen Angelegenheiten zu beschäftigen. Ich gehorchte. Es bestanden Mißbräuche, ich habe sie bekämpft; Unterdrückung, ich habe sie beseitigt; Rechte und Grundsätze, ich habe mich ihrer angenommen. Feindliche Armeen drangen in Frankreich ein, ich wagte mein Leben um es zu vertheidigen. Ich war nicht reich und bin arm geblieben. Ich war einer der Herren des Staates, die Keller des Schatzes waren mit Gold und Silber erfüllt, so daß die Mauern gestützt werden mußten, – ich speiste in der Rue de l'Arbre-Sec für zweiundzwanzig Sous. Ich habe die Unterdrückten befreit und den Unglücklichen geholfen. Ich habe Altartücher zerrissen, aber nur um die Wunden des Vaterlands zu verbinden. Ich habe immer den Drang des Menschengeschlechts nach dem Lichte unterstützt und bisweilen mich dem Fortschritt entgegengestemmt, wenn er kein Erbarmen hatte. Ich habe gelegentlich meine Feinde, Euch Priester, beschützt. Da ist zu Petegsem in Flandern, an demselben Ort, wo die merowingischen Könige ihren Winterpalast hatten, ein Urbanistinnenkloster, die Abtei der heiligen Klara, die ich 1793 gerettet habe. Ich that meine Pflicht nach Maßgabe meiner Kräfte und so viel Gutes, wie ich konnte. Nachher bin ich verbannt, gehetzt, verfolgt, drangsalirt, verleumdet, verhöhnt, verflucht, proskribirt worden. Seit Jahrzehnten sehe ich, daß viele Leute mit Verachtung auf mich herabsehen, die arme unwissende Menge sieht auf meinem Gesicht Merkzeichen künftiger Verdammniß und ich ertrage, ohne zu hassen, die Einsamkeit eines allgemein Gehaßten. Jetzt bin ich sechsundachtzig Jahre alt und im Begriff zu sterben. Was wollen Sie nun von mir!«

»Ihren Segen,« bat der Bischof und kniete nieder.

Als er den Kopf wieder aufrichtete, hatte das Gesicht des ehemaligen Conventsmitgliedes einen erhabenen Ausdruck angenommen. Er war verschieden.

Der Bischof ging nach Hause, tief in Gedanken versunken und brachte die ganze Nacht im Gebet zu. Am nächsten Tage versuchten einige neugierigen Leutchen ihn über das Conventsmitglied G. auszufragen, aber statt aller Antwort zeigte er nach dem Himmel. Von derselben Zeit an bezeigte er den kleinen Leuten und den Unglücklichen noch einmal so viel Sanftmuth und Mildthätigkeit.

Jede Anspielung auf den »alten Halunken« den G. versetzte ihn in eigentümlich tiefes Nachdenken. Niemand weiß zu sagen, ob nicht die Begegnung mit einem weisen und edlen Manne von anderer Sinnesart, als der seinigen, ihn in seinem Streben nach Vollkommenheit bestärkte.

Natürlich gab dieser »Seelsorgerbesuch« Anlaß zu allerlei Gerede:

»Gehört denn ein Bischof an das Sterbebette eines solchen Menschen hin? Augenscheinlich stand eine Bekehrung ja doch nicht zu erwarten. Die Revolutionäre sind insgesammt rückfällig. Warum ist er also zu ihm gegangen? Was hatte er bei ihm zu suchen? Ist er denn so neugierig, daß er durchaus einmal dabei sein mußte, wenn der Teufel eine Seele holt?«

Eines Tages schoß eine alte Schachtel, eine von jenen, die ihre Ungezogenheit für Witz halten, folgende Bosheit auf ihn ab:

»Alle Welt ist neugierig, wann Ew. Bischöfliche Gnaden die rothe Mütze bekommen werden.«

»Oh, oh,« versetzte er, »das ist eine schlimme Farbe. Glücklicherweise achten Diejenigen sie, die sie an einer Mütze hassen, desto mehr an einem Hute.«

XI.
Eine Einschränkung

Man würde sich sehr täuschen, wenn man aus dem eben Erzählten schließen wollte, unser Bischof sei ein Philosoph oder ein »patriotischer Landgeistlicher« gewesen. Seine Begegnung mit dem Conventsmitgliede G. hinterließ bei ihm eine Art tiefes Erstaunen, das ihn noch weicher stimmte. Weiter nichts.

Obgleich Se. Gnaden Herr Bienvenu nichts weniger, als ein Politiker gewesen ist, ist hier vielleicht der Ort in aller Kürze anzugeben, wie er sich zu den Ereignissen der damaligen Zeit gestellt hat, vorausgesetzt, daß es. Se. Gnaden Herrn Bienvenu überhaupt beigefallen ist, Stellung zu irgend etwas zu nehmen.

Gehen wir also einige Jahre zurück. Kurze Zeit nach seiner Berufung zum Bischof hatte ihn der Kaiser zum Baron gemacht, zugleich mit mehreren andern Bischöfen. Bekanntlich fand die Verhaftung des Papstes in der Nacht vom 5. zum 6. Juli 1809 statt, und bei dieser Gelegenheit wurde Myriel von Napoleon in die zu Paris versammelte Synode der französischen und italienischen Bischöfe berufen. Diese Synode hielt ihre erste Sitzung am 15. Juni 1811 in der Notredame-Kirche unter dem Vorsitz des Kardinals Fesch. Myriel gehörte zu den Bischöfen, die an dieser Sitzung teilnahmen. Abgesehen von dieser, wohnte er nur noch drei oder vier Konferenzen bei. Als Bischof einer armseligen Gebirgs-Diöcese, der auch selber arm und schlichten Herzens war, brachte er Ideen mit, welche die hohen Herren unangenehm berührten. Er kam sehr bald nach Digne zurück. Wegen seiner eiligen Rückkunft befragt, antwortete er: »Ich war ihnen lästig. Ich brachte Luft von der Außenwelt mit, und kam ihnen vor, wie eine offen stehende Thür.«

Ein anderes Mal bemerkte er: »Die Herren sind Fürsten und ich bin ein armer Bauernbischof.«

In der That hatte er mißfallen. So war ihm u. a., als er sich eines Abends bei einem seiner vornehmsten Kollegen zu Besuch befand, die Aeußerung entschlüpft: »Was für schöne Uhren! Was für schöne Teppiche! Und die Livreen! Solch ein Luxus muß recht lästig sein! Dergleichen Ueberflüssigkeiten möchte ich nicht haben: Sie würden mir immer in die Ohren schreien: Es giebt Menschen, die hungern! Es giebt Menschen, die frieren! Es giebt Arme, Arme!«

Beiläufig gesagt, wäre der Haß des Luxus kein verständiger Haß. Solch ein Verdammungsurtheil würde auch die Künste treffen. Aber bei den Dienern der Kirche ist, abgesehen von der Repräsentation und dem Gottesdienst, der Luxus tadelnswerth. Er ist mit jeder umfassenderen Mildthätigkeit unvereinbar. Ein reicher Priester ist eine contradictio in adjecto. Der Priester soll Verkehr haben mit den Armen. Wie kann man aber unaufhörlich, Tag und Nacht in Berührung kommen mit allerlei Noth und Unglück und Dürftigkeit, ohne daß etwas von diesem Elend haften bleibt, wie Staub an dem Arbeiter? Kann man sich einen Menschen vorstellen, der bei einem Becken voll glühender Kohlen steht, und dem nicht warm ist? Kann man sich einen Arbeiter denken, der fortwährend bei einem Hochofen arbeitet, und dem nie ein Haar verbrannt, ein Nagel geschwärzt wird, dem nie Schweiß die Stirn feuchtet, dem kein Körnchen Asche ins Gesicht fliegt? Der Hauptbeweis einer wahrhaft mildthätigen Gesinnung ist bei einem Geistlichen die Armuth.

So dachte ohne Zweifel der Bischof von Digne.

Man glaube übrigens nicht, daß er über gewisse heiklige Fragen die Ideen seiner Zeit theilte. Er mischte sich wenig in die damaligen theologischen Streitigkeiten und äußerte sich nicht über das Verhältnis der Kirche zum Staat; hätte man aber nachdrücklich in ihn gedrungen, so würde es sich wohl herausgestellt haben, daß er mehr zum Ultramontanismus, als zum Gallikanimus hinneigte. Da wir eine getreue Schilderung entwerfen und nichts Wahres verhehlen mögen, so müssen wir eingestehen, daß Napoleons Niedergang ihn mehr als kühl ließ. Von 1813 an unterstützte er alle oppositionellen Kundgebungen durch seine persönliche Betheiligung oder mit seinem Beifall. Als der Kaiser von der Insel Elba zurückkehrte, lehnte es der Bischof ab ihm seine Aufwartung zu machen und während der Hundert Tage in den Kirchen für ihn beten zu lassen.

Er hatte noch an Geschwistern, außer seiner Schwester, zwei Brüder, von denen der Eine General, der Andere Präfekt war und mit denen er einen ziemlich lebhaften Briefwechsel unterhielt. Mit dem Ersteren nun brach er auf einige Zeit alle Beziehungen ab, weil der General nach der Landung Napoleons in Cannes sich an der Spitze von zwölfhundert Mann aufgemacht hatte, den Kaiser zu verfolgen, aber mit der Absicht ihn entwischen zu lassen. Mit dem andern Bruder, dem ehemaligen Präfekten, der zu Paris in Zurückgezogenheit lebte, blieb er in besserem Einvernehmen.

Unser Bischof hatte folglich auch eine Zeit, wo er in das politische Parteigetriebe verwickelt war und infolge dessen auch manche trübe Stunde. Auch auf seinen Pfad warfen die wild erregten Leidenschaften seiner Zeit ihren Schatten und störten ihn in seiner Betrachtung der ewigen Dinge. Gewiß hätte es ein solcher Mann verdient, daß ihm zu seinen vielen Vorzügen auch der zu Theil geworden wäre, keine politischen Meinungen zu haben. Man mißverstehe uns nicht: Wir verwechseln keineswegs was man politische Meinungen nennt, mit jenen begeisterten Fortschrittsbestrebungen, jenem idealen Glauben an das Vaterland, die Demokratie und die Menschheit, auf dem alle hochsinnig veranlagten Naturen unserer Zeit fußen. Ohne Fragen erörtern zu wollen, die zu dem Thema unseres Buches in keiner direkten Beziehung stehen, behaupten wir nur, es wäre schön gewesen, hätte unser Bischof nicht royalistische Politik getrieben und seinen Blick keinen Augenblick von jenen hehren Regionen ruhevoller Betrachtung abgewendet, wo hoch erhaben über dem stürmischen Wirrwarr der menschlichen Dinge, in reinem Glanze, die Wahrheit Gerechtigkeit und Liebe strahlen.

Wir geben ja zu, daß Gott den Bischof Bienvenu nicht für eine politische Laufbahn bestimmt hatte, hätten es aber begriffen und bewundert, wenn er im Namen des Rechtes und der Freiheit, als Napoleon auf dem Gipfel seiner Macht stand, sich zu freimüthigem Tadel und mannhaftem Widerstand erkühnt hätte. Aber dasselbe Verfahren, das einem Mächtigen gegenüber berechtigt ist, mißfällt uns, wenn es gegen eine gefallene Größe eingeschlagen wird. Wir billigen nur die Auflehnung, so lange sie mit Gefahr verbunden ist, und in allen Fällen steht nur Denen, die zu Anfang lauten Einspruch erhoben und sich zum Kampf ermannt haben, das Recht zu, nachher das Richteramt zu übernehmen und das Urtheil zu vollstrecken, den Feind zu vernichten. Wir persönlich glauben, daß von der Zeit an, wo die Vorsehung sich gegen Napoleon erklärte, jede Opposition gegen ihn aufhören mußte. Schon Angesichts des Unterganges der Großen Armee im Jahre 1812 fühlen wir uns ihm gegenüber entwaffnet. Daß 1813 der gesetzgebende Körper, kühn gemacht durch diese Katastrophe, sein langjähriges feiges Stillschweigen brach, kann nur unseren Unwillen erregen und dieses Verhalten zu billigen, war ungeziemend. 1814, als die Marschalle ihren Kaiser verriethen, als der Senat sich in Erbärmlichkeiten nicht genug thun konnte, als er von der Vergötterung zur Beschimpfung überging, als die Götzendiener, von feiger Angst befallen, ihren Götzen anspieen, war es Pflicht, Abscheu zu bezeigen. 1815, als die Endkatastrophe schon in der Luft schwebte, als ganz Frankreich wie von einem Vorgefühl des Verhängnisses ergriffen war, als man schon Waterloo und Napoleons Sturz in den Abgrund ahnen konnte, da hatte die Begeisterung des Heeres und des Volkes für den vom Schicksal aufgegebenen Kaiser Nichts, was eine Veranlassung zu lachen bot, und bei allem Vorbehalt gegen den Despotismus, hätte das edle Gemüth des Bischofs von Digne vielleicht nicht verkennen sollen, was der Bund einer großen Nation und eines großen Mannes Angesichts des Abgrunds Erhabenes und Rührendes hat.

Abgesehen hiervon war er und benahm er sich in allen Dingen gerecht, wahr, billig, weise, bescheiden und würdevoll; wohlthätig und wohlwollend, was ja übrigens nur eine andere Form der Wohlthätigkeit ist. Er war ein rechter Priester, ein Philosoph und ein Mann. Selbst als Politiker war er – so sehr wir seine Haltung Napoleon gegenüber mißbilligen – duldsam und nachsichtig, vielleicht mehr als wir, die wir dieses mittheilen. – Der Kastellan des Rathhauses verdankte seine Anstellung dem Kaiser. Der Mann war ein alter Gardeunteroffizier, der sich das Kreuz der Ehrenlegion bei Austerlitz verdient hatte und ein verbissener Bonapartist. Dem armen Kerl entschlüpften hier und da unbedachte Aeußerungen, die das damalige Gesetz als aufrührerische Reden qualifizirte. Seitdem die Abzeichen der Ehrenlegion nicht mehr das Bildniß seines Kaisers trugen, zeigte er sich nie in Uniform, um nicht den Orden auch anlegen zu müssen. Er hatte selber mit aller Ehrerbietung das Bildniß aus dem Kreuz, das ihm Napoleon gegeben, herausgenommen und nie die drei Lilien an seine Stelle setzen wollen. »Eher sterben«, schwur er, »als die drei Kröten auf meinem Herzen tragen.« Er machte sich auch ganz laut über Ludwig XVIII. lustig. »Wenn doch der alte Podagrist sammt seinen englischen Gamaschen und seinem Zopf nach Preußen gehen möchte!« ulkte er, indem er in seine Verwünschung des Bourbonen das, was er am meisten auf der Welt haßte, Preußen und England hereinzog. Er trieb es so arg, daß er seine Stelle verlor und nun mit Weib und Kind dem größten Elend ausgesetzt war. Da ließ der Bischof ihn zu sich kommen, schalt ihn milde aus und stellte ihn als Thürhüter am Dom an.

In neun Jahren war unser Bischof dank seiner frommen Mildthätigkeit und seinem sanftmüthigen Wesen in der Stadt Digne ein Gegenstand inniger, kindlicher Verehrung geworden. Sogar sein Verhalten gegen Napoleon verzieh das gute schwache Volk, das seinen Kaiser vergötterte, aber andererseits auch seinen Bischof liebte.

XII.
Warum der Bischof allein stand

Ein Bischof ist fast immer von einem Schwarm junger Geistlicher umdrängt, wie ein General von jungen Offizieren. Hat doch jedes Fach seine Streber, die sich um die am Ziel Angelangten schaaren. Kein Mächtiger, der nicht sein Gefolge; kein Glücklicher, der nicht seinen Hof hätte. Alle, die sich eine glänzende Zukunft schaffen wollen, gravitieren um eine glänzende Gegenwart. Jeder einigermaßen einflußreiche Bischof hat in seiner Nähe einen Trupp Seminaristen, die um ihn patrouilliren und darüber wachen, daß die Huld Sr. Gnaden keinen Andern, als ihnen zu Theil werde. Einem Bischof gefallen, verleiht die Anwartschaft auf das Unterdiakonat. Man will emporkommen; und eine fette Pfründe ist eine schöne Sache.

Wie unter den Beamten des Staates, so giebt es auch unter denen der Kirche, unter den Bischöfen solche, die über einen größeren Einfluß zu verfügen haben, als ihre Kollegen, diese Herren sind reich, gewandt, bei Hofe und in der höhern Gesellschaft gern gesehen, verstehen wohl zu Gott zu beten, aber auch die Großen dieser Welt zu bitten, die Vertretern ganzer Diöcesen nicht gern etwas abschlagen. Solche Bischöfe sind gewissermaßen Bindestriche zwischen der Kirche und der Diplomatie, mehr Welt- als Kirchenfürsten. Wohl Denen, die in ihrer Nähe weilen dürfen! Einflußreich wie sie sind, lassen sie auf ihre Günstlinge, auf all die jungen Priester, die sich bei ihnen einzuschmeicheln verstehen, einträgliche Pfarreien, Archidiakonate, Almosenämter und andere üppige Stellen und Stipendien niederregnen und ebnen für sie den Anfang des Pfades, der zur Bischofswürde führt. Indem sie selber vorrücken, fördern sie auch ihre Trabanten, wie eine Sonne mit ihren Planeten durch das Weltall vorwärts, immer vorwärts wandert. Das Licht, das sie von sich strahlen, beleuchtet ihr Gefolge im Verhältnis zu seiner Stärke: Je großer die Diöcese des Gebieters, desto einträglicher fällt die Pfarre des bevorzugten Dieners aus. Und nun erst Rom! Nimmt dich ein Bischof, der so gescheidt ist, sich zum Erzbischofsthron emporzuschwingen, oder ein Erzbischof, der es bis zum Kardinal gebracht, nach Rom als Conclavisten mit, so wird man in die Rota gewählt und bekommt das Pallium, wird Kammerherr und heißt »Monsignore«. Wer erst Se. Bischöfliche Gnaden heißt, steigt bald zur »Eminenz« empor, und zwischen Sr. Eminenz und Sr. Heiligkeit liegt auch nur eine Abstimmung. Kurz, jedes Priesterkäppchen kann gegen die Tiara eingetauscht werden. Der Priester ist heutzutage der Einzige, der regelrecht König werden kann, und was für ein König! Der oberste von allen Königen. Welch eine Pflanzschule von Hoffnungen ist daher auch ein Priesterseminar! Wieviel schüchterne Chorknaben, wieviel junge Abbés tragen auf ihrem Kopfe den berühmten Topf Milch des Märchens, den sie allmählich in Gedanken gegen immer theurere Waaren eintauschen! Wie leicht giebt sich der Ehrgeiz, – oft indem er in seliger Selbstbetrachtung sich zuerst täuscht – für edle Begeisterung aus!

Se. Gnaden Herr Bienvenu wurde wegen seiner Bescheidenheit, Armuth, Originalität nicht zu den Magnaten der Kirche gezählt. Das bekundete der Umstand, daß es in seiner Umgebung an jungen Priestern fehlte. Er hatte, wie oben erwähnt, in Paris mißfallen. Niemandem fiel es ein, diesen Alten als Edelreis zu benutzen, um damit den Baum seines Glückes zu occuliren. Niemand redete sich ein, daß unter solch einem Schatten das Pflänzlein des Ehrgeizes gedeihen könne. Seine Kanoniker und Großvikare waren gute, simple Leute wie er, denen die Diöcese keinen Ausweg, auf das Kardinalat bot, die am Ende ihres Weges angelangt waren, aber nicht wie er, ein schönes Ziel erreicht hatten. Daß der Bischof Bienvenu Niemand auf einen grünen Zweig bringe, war auch allgemein bekannt, und die von ihm geweihten jungen Priester verschafften sich deshalb, sobald sie das Seminar verlassen hatten, Empfehlungen an den Erzbischof von Aix oder Auch, worauf sie alsbald aus seinem Gesichtskreis verschwanden. Ein Heiliger, der an chronischer Selbstverleugnung leidet, ist ein gefährlicher Nachbar. Wie leicht steckt er Einen an! Er inficirt Einen mit einer unheilbaren Armuth, einer Rückensteife, die beim Vorwärtskommen sehr hinderlich werden kann. Deshalb wurde denn auch unser Bischof allgemein gemieden. Wir leben in einer argen Zeit. »Dränge dich empor!« heißt die Lehre, die sie uns auf Schritt und Tritt zuschreit.

Beiläufig gesagt, der Erfolg ist ein gräuliches Ding. Seine Ähnlichkeit mit dem Verdienst täuscht die Menschen. Für die große Menge hat ein glücklicher Mensch dasselbe Profil wie ein genialer. Daher ist es auch dem Erfolge, dem Zwillingsbruder des Talents gelungen, die Geschichte hinter das Licht zu führen, wogegen nur Juvenal und Tacitus zu protestiren gewagt haben. Zu unsrer Zeit ist eine beinah offizielle Philosophie in seinen Dienst getreten, trägt seine Livree und hantirt in seinem Vorzimmer. Ihre Theorie lautet: Sorge dafür, daß Du Glück hast. Bist Du glücklich, so ist das ein Beweis, daß Du Tüchtigkeit besitzest. Gewinne das große Loos, so giltst du alsbald für einen gescheidten Mann. Wer triumphirt, wird geachtet. Wer »Schwein« hat, der hat Alles. Hast Du Erfolg, so bist Du ein großer Mann. Abgesehen von fünf oder sechs glänzenden Ausnahmen in einem Jahrhundert, ist die Bewunderung der Zeitgenossen eine kurzsichtige. Was nur obenhin leicht vergoldet ist, hält sie für massives Edelmetall. Der erste Beste ist der Beste, wenn er nur der Glücklichste ist. Der gemeine Haufe ist ein Narciß, der sich selbst bewundert und das Gemeine lobt. Jene großartige Tüchtigkeit, kraft deren Einer ein Moses, Aeschylus, Dante, Michel-Angelo, oder Napoleon wird, spricht die Menge ohne Weiteres Jedem zu, der in irgend einem Fache sein Ziel erreicht. Schwingt sich ein Notar zum Volksvertreter empor, schreibt ein Pseudo-Corneille einen »Tiridates«, legt sich ein Eunuch einen Harem zu, gewinnt ein unfähiger General durch einen Zufall eine Entscheidungsschlacht, liefert ein Apotheker einem Armeekorps Pappsohlen und erschwindelt er damit ein jährliches Einkommen von viermalhunderttausend Franken, legt sich ein Hausirer auf den Wucher und verdient er damit sieben oder acht Millionen, näselt ein Prediger so erbaulich, daß er höhern Ortes eines Bischofsthrons für würdig erachtet wird, ist ein Intendant, wenn er seinen Dienst quittirt, so reich, daß er Finanzminister werden kann, so nennen die Menschen das Genie, und verwechseln so zu sagen die Sterne, die Entenfüße in weichem Erdreich hinterlassen, mit den Sternen, die am Himmel prangen.

XIII.
Sein Glaubensbekenntiß

Zu untersuchen, ob der Bischof von Digne auch den von der Kirche vorgeschriebnen Glauben besaß, kommt uns nicht zu. Einem so hochsinnigen Manne gegenüber ist ein andres Gefühl, als das der Hochachtung nicht am Platze. Dem Gerechten soll man auf sein Wort glauben. Uebrigens geben wir zu, daß alle Schönheiten menschlicher Vortrefflichkeit auch innerhalb eines von dem unsrigen verschiednen Glaubens die herrlichsten Blüthen entfalten können.

Was er von diesem Dogma und jenem Mysterium hielt? Dergleichen Geheimnisse des innern Bewußtseins kennt nur das Grab, in dem die Seelen ohne Hülle sind. So viel ist sicher, nie lösten sich für ihn Glaubensschwierigkeiten in Heuchelei auf. Der Fäulniß ist der Diamant nicht fähig. Er glaubte, so gut er konnte. »Ich glaube an den Vater!« rief er oft aus und schöpfte im Uebrigen aus den Werken der Liebesthätigkeit dasjenige Quantum von Befriedigung, das dem Gewissen genügt und uns die Ueberzeugung gewährt, daß Gott auch mit uns zufrieden ist.

Bemerken müssen wir wohl, daß der Bischof so zu sagen, abgesehen von seinem Glauben, und über seinen Glauben hinaus, ein Uebermaß von Liebe hatte. Dies war seine verwundbare Stelle, quia multum amavit, diejenige, auf die von den »gesetzten«, den »anständigen«, den »vernünftigen« Leuten hingewiesen wurde, – so lauten ja die Lieblingsphrasen, die der Egoismus einer pedantischen Philosophie entlehnt. Was war jenes Uebermaß von Liebe? Ein heitres Wohlwollen, das nicht blos die Menschen umfaßte, sondern sich auch gelegentlich auf Dinge erstreckte. Ihm war nichts zu gering. Er war nachsichtsvoll gegen Gottes Geschöpfe. Jeder, auch der beste Mensch besitzt eine unbewußte Härte, die er nur den Thieren gegenüber zum Ausbruch kommen läßt. Der Bischof von Digne hatte diese Art Härte nicht, die sich doch viele Priester gestatten. Er ging in dieser Hinsicht nicht so weit, wie die Brahmanen, hatte aber den Ausspruch des Prediger Salomo beherzigt, der da lautet: »Weiß man, was nach dem Tode aus den Seelen der Thiere wird?« Das häßliche Aussehen mancher dieser Geschöpfe, ihre Grausamkeit und Wildheit machte ihn nicht irre und verdrossen ihn nicht. Er betrachtete sie mit Bedauern, ja mit Wehmuth. Dergleichen Erscheinungen regten ihn zu tiefem Nachdenken an, er wäre gern über diese sinnfälligen Aeußerlichkeiten hinaus zu ihrer Endursache, ihrer Erklärung oder moralischen Rechtfertigung vorgedrungen. Es war, als bete er zuweilen, Gott möge doch dergleichen Geschöpfe ändern, verbessern. Er prüfte ohne Zorn und mit der mühseligen Sorgfalt eines Sprachforschers, der einen Palimpsest entziffert, den Ueberrest von Unordnung und Verwirrung, der noch in der Natur vorhanden ist. Dergleichen Betrachtungen entlockten ihm oft sonderbare Aeußerungen. Eines Morgens z. B., als er in seinem Garten allein zu sein glaubte, aber von seiner Schwester beobachtet wurde, blieb er plötzlich stehen und beobachtete eine große, schwarze, haarige, abscheuliche Spinne, die an der Erde kroch. »Armes Thier!« hörte ihn da seine Schwester vor sich hinrufen; »es ist ja doch nicht ihre Schuld.«

Warum auch nicht solcher kindlichen Äußerungen einer fast göttlichen Güte Erwähnung thun? Nenne man dergleichen kindlich; aber solche Kindlichkeiten verbrach auch ein Franz von Assisi und ein Mark-Aurel. Eines Tages verrenkte er sich den Fuß, weil er nicht auf eine Ameise, die auf seinem Wege kroch, treten wollte.

So lebte dieser gerechte Mensch. Bisweilen geschah es, daß er in seinem Garten einschlief, und dann mußte Jeder bekennen, daß er noch nie einen so unvergleichlich ehrwürdigen Anblick gehabt hatte.

Unser Bischof war ehedem, wenn man den Erzählungen über seine Jugend und sogar sein Mannesalter Glauben schenken durfte, von leidenschaftlicher, ja heftiger Gemüthsart gewesen. Seine Milde war also weniger ein Geschenk der Natur als das Ergebniß zahlreicher Wahrnehmungen und Urtheile, die im Laufe der Zeit, wie Wassertropfen durch einen Felsen, sich Wege in sein Inneres gebahnt. Solche, durch allmähliche Arbeit langsam ausgehöhlte Rinnen bleiben bestehen.

Im Jahre 1815 war er, wie wir schon mitgetheilt zu haben glauben, fünfundsiebzig Jahre alt, allein man hätte ihn auf sechzig geschätzt. Er war nicht groß und etwas beleibt. Um letzteres Uebel zu bekämpfen ging er viel zu Fuß, auch trat er fest auf und seine Gestalt war nur wenig gebeugt durch die Jahre. Hieraus mögen wir allerdings keine Schlüsse ziehen, denn Gregor XVI. hatte noch im Alter von achtzig Jahren eine sehr gerade Haltung und Freude am Dasein, dies hinderte ihn aber nicht ein schlechter Priester zu sein. Se. Gnaden Herr Bienvenu war eine angenehme Erscheinung, angenehm besonders wegen der Liebenswürdigkeit, die sich in ihr ausprägte.

Plauderte er mit jener ihm so wohl anstehenden kindlichen Fröhlichkeit, die wir schon an ihm gerühmt haben, so schien sein ganzes Wesen Freude auszustrahlen. Mit seiner gesunden frischen Gesichtsfarbe, seinen hübschen, noch gut erhaltenen Zähnen, sah er dann recht treuherzig, bieder, gemüthlich aus, so daß Jeder, der ihn zuerst sah, einfach sagte: »Das muß ein guter Kerl, eine gute alte Seele sein.« Auch Napoleon hatte ihn ja »einen guten Mann« genannt. Verweilte man aber mehrere Stunden in seiner Nähe und war man dabei, wenn er nachdenklich wurde, so ging mit dem »guten Mann« eine Umwandlung vor; seine äußere Erscheinung wurde ehrfurchtgebietend und majestätisch, ohne daß der Ausdruck der Güte von ihm gewichen wäre: man hatte dann die Empfindung, als sehe man einen lächelnden Engel seine Flügel ausbreiten. Ein unbeschreibliches Gefühl der Hochachtung erfüllte dann allmählich das Herz des Beobachters. Man wurde dann inne, daß man einem Manne von gewaltigem Verstande gegenüber stand, einem Manne, der die höchsten Stufen der Erkenntnis erklommen hat, einem Manne, der da weiß, daß die Wahrheit nur der Liebe und Nachsicht zugänglich ist.

Wie man gesehen hat, füllten Gebet, seine Amtspflichten, Almosengeben, die Tröstung der Leidbedrückten, die Gärtnerei, Liebeswerke, Frugalität, Gastfreundschaft, Entsagung, Studium, Arbeit jeden seiner Tage aus. Füllten aus, sagten wir, denn übervoll war solch ein Tag an guten Gedanken, Worten und Werken. Indessen galt er ihm noch nicht für vollständig ausgenutzt, wenn ihn des Abends, nachdem die beiden Frauen sich zur Ruhe begeben hatten, feuchte oder kalte Witterung hinderte, noch eine oder zwei Stunden in seinem Garten zuzubringen. Es war ihm ein Bedürfniß sich Angesichts des Sternenhimmels der Betrachtung hinzugeben, um sich zum Schlaf vorzubereiten. Bisweilen hörten die beiden Frauen, wenn sie wach geblieben waren, noch spät in der Nacht seinen Schritt in den Alleen des Gartens. Allein mit seinen Gedanken, andächtig, friedevoll empfand er da in der Dunkelheit die sichtbare Herrlichkeit der Gestirne und die unsichtbaren Herrlichkeiten Gottes und ließ die Gedanken, die dem Unbekannten entströmen, in seine Seele ein. In solchen Augenblicken, wo die Nachtblumen ihren Kelch aufthun, ihren Duft auszuhauchen, bot auch er sein Herz dar, wie eine Lampe inmitten der Sternennacht und ergab sich der Begeisterung. Er hätte dann selbst nicht sagen können, was in seinem Geiste vorging, er fühlte blos, daß etwas von ihm ausging, und daß etwas in ihn herniederstieg. O des geheimnißreichen Verkehrs zwischen den Tiefen der Seele und des Weltalls! Sein Geist beschäftigte sich mit Gottes Größe und Gegenwart, mit dem wunderbaren Geheimniß der zukünftigen Ewigkeit und dem noch wunderbarern der Vergangenheit; mit all den Unendlichkeiten, die sich nach allen Richtungen seinen Augen darboten, und schaute, ohne das Unbegreifliche begreifen zu wollen. Er suchte nicht das Wesen Gottes mit dem Verstande zu erfassen, er versenkte sich in Entzückung um seiner theilhaftig zu werden. Er erwog die Zusammenstöße der Atome, die dem Stoff die Form verleihen, Kräfte offenbaren, Individuen in der Einheit, Proportionen im Raum, das Unzählbare im Unendlichen schaffen und mittelst des Lichtes die Schönheit hervorbringen. Diese Vereinigungen finden ohne Unterlaß statt und lösen sich wieder auf; daher der Ursprung des Lebens und des Todes.

Er setzte sich auf eine Holzbank, deren Lehne ein altersschwaches Gitter berührte und betrachtete die Gestirne durch die Laubkronen seiner armseligen Obstbäumchen. Dieses so dürftig bepflanzte, durch unschöne Gebäude und Schuppen eingeengte Stückchen Erde war ihm theuer und genügte ihm.

Was bedurfte dieser Greis auch mehr? War dieser enge Raum, den oben der Himmel überwölbte, nicht groß genug um Gott in seinen erhabensten Werken anbeten zu können? Ist dies nicht das Wichtigste, und wozu noch mehr begehren? Ein Gärtchen zum Spazierengehn und die Unendlichkeit als Spielraum für seine Gedanken! Vor den Füßen etwas zu pflegen und zu pflücken, über dem Haupte Stoff zu Studien und Betrachtungen; auf der Erde einige Blumen und am Himmel alle Sterne!

XIV.
Seine Philosophie

Noch ein Wort.

Vielleicht verleiten einige der von uns angeführten Einzelheiten Manchen zu dem Schlusse, der Bischof von Digne sei ein Pantheist gewesen und habe sich, wie viele andre unsrer Zeitgenossen, eine Privatphilosophie für seinen eignen Gebrauch zurecht gemacht, die bei ihm die Stelle der Religion vertreten hätte. Solchen Vermuthungen gegenüber betonen wir, daß Niemand, der Herrn Bienvenu gekannt hat, eine solche Annahme für gerechtfertigt gehalten hätte. Dieser Mann regelte sein Denken nur nach den Eingebungen seines Herzens.

Kein System, nur Werke. Dem menschlichen Verstand, der sich mit tiefsinnigen Spekulationen über die Natur der Dinge befaßt, schwindelt leicht, und nichts deutet darauf hin, daß unser Bischof sich gern in apokalyptischen Räthseln ergangen habe. Ein Apostel darf kühn sein, einem Bischof geziemt Zurückhaltung. Er hätte wahrscheinlich Bedenken getragen, die, so zu sagen nur den übermenschlich veranlagten Geistern vorbehaltne Lösung gewisser Aufgaben zu unternehmen. Wohl stehen die Thore offen, aber den gewöhnlichen Wanderer durchschauert bei ihrem Anblick ein Schrecken, der ihn zurücktreibt. Wehe dem, der sich hineinwagt! Nur das Genie erhebt sich mittels der Abstraktion und des reinen Denkens über die Höhen des Dogmas und fragt Gott mit dem Gebet. Dies ist unvermittelte Religion; wer ihre steilen Höhen zu erklimmen wagt, der übernimmt schwere Verantwortlichkeit und qualvolle Sorgen.

Die innere Betrachtung achtet keiner Schranken. Sie unterfängt sich in ihre eignen Tiefen zu dringen und sendet das Licht, das sie dort findet, in die Natur hinauf. Die geheimnisvolle Welt, die uns umgiebt, erstattet, was sie empfangen, zurück. Es ist wahrscheinlich, daß die Betrachter betrachtet werden. Wie dem auch sei, es giebt auf der Erde Menschen, – wenn wir sie noch so nennen können, – die fern am Horizont des Ideals die Höhen des Absoluten schauen. Unser Bischof gehörte nicht zu diesen Menschen, er war kein Genie. Er wäre vor jenen Höhen zurückgeschreckt, von denen Einige, darunter recht große Geister, wie Swedenborg und Pascal, in die Tiefen des Wahnsinns hinabstürzten. Allerdings haben dergleichen großartige Träumereien ihren moralischen Nutzen und auf diesen steilen Pfaden steigt man zur idealen Vollkommenheit empor. Aber der Bischof schlug einen kürzern Weg ein, denjenigen, den das Evangelium zeigt.

Er hüllte sich nicht in den Mantel des Elias, beleuchtete nicht die Ereignisse der dunkeln Zukunft und war weder Prophet noch Magier. Er liebte, und dies genügte seinem bescheidenen Sinne.

Daß er das Gebet über das allgemein menschliche Maß ausdehnte, ist wahrscheinlich; aber man kann eben so wenig zu viel beten, als zu viel lieben, und wenn es eine Ketzerei wäre, anders zu beten, als die Bücher es vorschreiben, so müßte man die heilige Theresa und den heiligen Hieronymus Ketzer nennen.

Er ließ sich mitleidig herab zu Denen, die da seufzen zu Denen, die da büßen. Das Weltall erschien ihm wie ein großer Körper, der voller Krankheit ist. Ueberall Fieber, überall Schmerzen! Aber er versuchte nicht das Wesen der Krankheit zu ergründen, er bemühte sich nur, sie zu heilen. Das furchtbare Schauspiel der erschaffenen Dinge stärkte in ihm den Trieb des Mitleids. Er sann nun auf Mittel, wie er Unglückliche am trostreichsten beklagen, wie er ihr Leid am wirksamsten lindern, und wie er auch Andere diese Weisheit lehren könne. Alles, was da ist, war für diesen guten und seltenen Priester ein Gegenstand der Trauer, die nach Trost verlangt.

Es giebt Menschen, die sich mit der Gewinnung des Goldes aus den Tiefen der Erde beschäftigten. Er beschäftigte sich mit der Gewinnung des Mitleids aus den Tiefen des menschlichen Herzens. Das allgemeine Elend war der Schacht, in dem er arbeitete. Angesichts des großen Jammers, der überall herrscht, verwies er nur auf den Spruch: »Kindlein, liebet Euch unter einander.« In diesem Spruch war für ihn alle Weisheit enthalten. Eines Tages sagte der schon erwähnte Senator, der sich für einen »Philosophen« hielt: Aber so sehen Sie Sich doch das Schauspiel an, das die Welt bietet: Ueberall Krieg Aller gegen Alle; der Stärkste ist auch der Klügste. Ihr Wahlspruch: »Liebet Euch unter einander« ist eine Dummheit. »Sehr wohl« erwiderte der Bischof, ohne sich auf eine Widerlegung einzulassen: »Wenn das eine Dummheit ist, so soll sich die Seele darin einschließen, wie die Perle in die Auster.«


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