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Neuntes und letztes Buch.

In einem halben Jahre kann, bei festem Willen von beiden Seiten, unendlich viel geschehen für die Förderung und Entfaltung eines theatralischen Talentes. Ernst Balde hatte sich mit vollem Vertrauen der Führung Wulfs überlassen, und dieser widmete sich in wahrhaft väterlicher Sorgfalt der liebevoll eingegangenen Pflicht. Ernst wußte von seines Lehrers Vergangenheit nur, was dieser ihm zu entdecken für zweckmäßig gefunden und was eben hinreichte, dessen künstlerische Erfahrung – wenn ich so sagen darf – historisch zu begründen. Wulf aber wußte schon wenige Tage nach ihrer ersten Zusammenkunft alle Geheimnisse des jungen Mannes, der ihm gern und freudig sein ganzes Herz öffnete. Und so wußte er denn auch, daß es wirklich Julias Handschrift sei, die er auf jenem Briefe mehr geahnt als erkannt; wußte, daß Ernst sich mit Julias Tochter verlobt, daß die Mutter den Liebenden ein Probejahr gesetzt und ihre Einwilligung zu ehelichem Bündnis an die durch Entfernung nicht erschütterte Neigung und Treue des hoffenden Paares geknüpft habe. Er betrachtete folglich seinen Schüler wie seinen Schwiegersohn. Und je geringere Hoffnung er hegen durfte, ihm und Julias Tochter wie ein Vater entgegentreten zu können, desto eifriger bestrebte er sich, wie ein Vater für ihn zu handeln. Wenn Ernst, gerührt von des alten Mannes aufopfernden Bemühungen, fragte: »Wodurch hab' ich es denn um Sie verdient, lieber Herr Tod, daß Sie, von Geschäften und kleinlichen Theaterquälereien fast erdrückt, in die tiefe Nacht hinein arbeiten, nur um mir den halben Tag zu widmen, und wie kann ich Ihnen jemals vergelten?« dann erwiderte Wulf: »Sie vergelten mir's überreichlich, wenn Sie mir oft und wieder und immer wieder von sich erzählen; von sich und von Ihrer ... Kordelia und von deren Mutter, von den ersten Anzeichen eurer gegenseitigen Liebe; von allem was euch betrifft, euch drei guten, seltenen Wesen. Ach, Sie glauben gar nicht, wie wohl das dem Unseligen thut, der sein ganzes Leben in unsauberen Umgebungen verbrachte; der bei aller Begeisterung für seine Kunst doch nicht unberührt und unbefleckt blieb von dem Schmutze, durch den sie hienieden waten muß, die Tochter der Götter; der auf seine alten Tage mitten darin steht in diesem Schmutze und selten einen Blick darüber hinaus gewinnt. Sie glauben nicht, wie wohl es mir thut, aus dieser lärmenden Welt der Gemeinheit, der eitlen Anmaßung, des Neides, der Gedankenlosigkeit, durch Ihre kindlichen Bekenntnisse versetzt zu werden in eine kleine, friedliche Welt wahrer Zuneigung, reiner, schuldloser Liebe, versöhnender Anhänglichkeit, frommen Vertrauens. Wie wohl es mir, dem alten Komödianten thut, endlich einmal einen Jüngling zu finden, der mir nicht nachsteht in glühender Theaterlust, der dabei aber um so viel besser, edler, unterrichteter ist, als ich war – als ich sein konnte in meiner Lage; und der ein Mädchen liebt wie Ihre Kordelia; die Tochter einer solchen Mutter! Einer Mutter, welche ich anbete ... aus Ihren Schilderungen. Ich müßte Ihnen Jahre, viele Jahre lang als Ratgeber zur Seite stehen, müßte Sie zum ersten Schauspieler der Erde erziehen, sollte ich Sie nur annähernd belohnen für das Glück, dessen Sie mich teilhaftig machen, indem Sie mir von dem ihrigen sprechen.«

Wir fassen die unzähligen Berichte, mit denen Ernst seinen Meister und Freund erfreute, hier in einen einzigen zusammen, der uns in Kenntnis setzen soll, wie er aufs Theater, wie er zu einer Braut gelangte.

»Mein Vater war ein angesehener Beamter in H., der außer seiner Besoldung noch die Einkünfte eines kleinen eigenen Vermögens besaß und auf die Erziehung des einzigen Kindes viel verwenden konnte. Es ist nichts gespart worden, mich wissenschaftlich auszubilden, und ich darf mir nachrühmen, diese Begünstigung durch Fleiß vergolten zu haben. Ich bin ein thätiger Schüler, ein strebsamer Student gewesen, obgleich von meinem Knabenalter schon der sehnliche Wunsch in mir vorwaltete, Schauspieler zu werden. Doch blieb die Achtung für meinen Vater, der seine Abneigung wider diesen Stand nie verhehlte, mächtig genug, mich meine Wünsche in mich verschließen zu lehren. Wenn bisweilen absichtslos im Gespräche mit der Mutter eine darauf bezügliche Äußerung mir entschlüpfte, dann beschwor mich die zärtliche, sanfte Frau fast fußfällig, diesen gefährlichen Regungen Gewalt anzuthun. Da kehrte ich gehorsam zu meinen Studien zurück. Nur wenn ich tüchtig gearbeitet und meine Schuldigkeit als künftiger Rechtsgelehrter gethan, gestattete ich mir eine belohnende Erholung und labte mich am Vortrage dramatischer Dichtungen. Unter meinen Kommilitonen galt ich für das größte theatralische Genie, welches jemals gelebt. Ihr Beifall ließ mich oft genug die flehend aufgehobenen Hände meiner guten Mutter, ließ mich die drohenden Falten auf meines Vaters Stirn vergessen, und ich recitierte und agierte mich bei manchem Symposion immer tiefer in die verbotenen Irrgänge der Phantasie hinein, ohne doch daneben die Jurisprudenz irgend zu vernachlässigen. Ich sollte bald mein Triennium beendigen, da berief mich ein dringender Brief unseres Arztes nach Hause. Ich fand meinen Vater schon auf der Bahre. Meine arme Mutter war so niedergebeugt, daß ich es für grausam gehalten hätte, sie zu verlassen. Ich blieb fürs erste bei ihr. In diesem wehmütig süßen Stillleben, wie eine verwitwete Mutter und ein innig liebender Sohn es in den ersten Wochen nach Vaters Begräbnisse mitsammen führen, bleibt nichts verborgen, auch nichts, was in den tiefinnersten Falten des Herzens versteckt gewesen. Der Stein auf des Verstorbenen Grabe war noch nicht aufgestellt, da war der Stein von meiner Brust schon gewälzt, und die Mutter wußte, daß ich vor der mir anbefohlenen juristischen Laufbahn zurückschauderte; daß ich mehr Schauspieler sein wollte denn je. Sie zürnte nicht, sie schalt nicht, sie legte sich aufs Bitten. Ach, eine bittende Mutter in Trauerkleidern ... was hätte ich ihr nicht gelobt! Schon war der Tag meiner Rückkehr nach Göttingen festgesetzt – da erkrankte ich an einem typhösen Fieber, und zwar so heftig, daß ich bereits für bestimmt galt, dem Vater auf den Friedhof, zu folgen. Von dem, was während des Krankenlagers mit mir und um mich her geschehen ist, hab' ich nur verworrene Erinnerungen behalten außer der einen, welche mir meine Mutter auf den Knieen liegend zeigt; sie betete inbrünstig zum Himmel um Erhaltung meines Lebens und legte den Schwur ab: sie wolle, wenn Gott mich genesen lasse, mich nicht mehr zurückhalten, Schauspieler zu werden, und entbinde mich feierlichst des ihr gegebenen Versprechens. Dieses rührende Gebet drang durch die betäubende Gefühllosigkeit meines Fiebers mit wohlthuender Frische, labte mich förmlich, wandelte die dumpfen Träume, an denen ich gelitten, in heitere um und trug vielleicht zur Wiederherstellung bei. Nach Ablauf dreier Wochen war ich außer Gefahr. Kaum begann ich auf schwachen Füßen die ersten Gehübungen, als meine treue Mutter sich niederlegte, und der kaum Genesende wurde zum Krankenpfleger. Auch ich habe an ihrem Lager gebetet; auch ich habe knieend das Gelübde abgelegt: wenn Gott sie genesen lasse, der Kunst zu entsagen und meine Wünsche den ihrigen unterzuordnen. Doch mein Gelübde ward nicht angenommen, mein Gebet ward nicht erhört; sie starb und sterbend lispelte sie mir zu: Thu' was dich freut, mein Sohn; du hast freie Wahl und meinen Segen! – So bin ich Schauspieler geworden, lieber Tod. Und meiner Mutter Segen hat mich bisher nicht verlassen. Ich war glücklich genug, auf einer stabilen Bühne beginnen zu können, und gewann mir schon durch die ersten Versuche allgemeine Nachsicht und Teilnahme in B. Es wurden mir viele Beweise von Wohlwollen gegönnt, und auch die Umgebungen des kleinen Hofes zeichneten mich aus. Mehr denn alles galt mir die mütterliche Freundschaft, die Kordelias würdige Mutter mir zuwendete. Zwischen einer solchen Mutter und einer solchen Tochter konnten keine Geheimnisse vorwalten; voll kindlichen Vertrauens entdeckte sich die Jungfrau der sorgsamen Erzieherin, und Frau Julia wußte früher als Kordelia selbst, daß diese mich liebe! Wir hatten uns nur aus der Ferne gesehen. Die beiden Damen lebten sehr eingezogen, besuchten selten das Theater. Meinem ersten Auftritt hatten sie beigewohnt, und die »bescheidene Schüchternheit,« die ich da zur Schau getragen, nahm die Mutter für mich ein, wahrend die Tochter einen zu großen Erwartungen berechtigten Anfänger in mir erblickte. Ich bewohnte eine und dieselbe Vorstadt mit ihnen, wo Häuser zwischen Gärten liegen, wo ich tagtäglich mehrmals vorüber ging, wo ich Kordelien am Fenster eines Pavillon sah und wieder sah. Von ihrer Schönheit will ich nicht reden; ihre Anmut, ihre Sittsamkeit, ihre holde Güte gelten mir noch höher. Es währte lange, bis ich sie zu grüßen wagte. Sie dankte mir, errötend zwar, doch ohne Verlegenheit, ohne Ziererei, freundlich und offen. Nicht wie eine vorsichtige, um ihren Ruf besorgte Demoiselle, nein, wie ein Mädchen, welches von seinem Werte überzeugt, keine Mißdeutung zu fürchten hat und sehr natürlich findet, wenn ein junger Mensch ihr huldigt. Sie hat mir späterhin auf meine Frage: »Was würden Sie gethan haben, wenn ich mich damals erkühnt hätte, Sie anzureden?« treuherzig erwiderte: »Ich würde Ihnen artig geantwortet haben, wie sich's schickt; aber ich hätte mir einen andern Platz für meine Näherei suchen müssen ... auch wie sich's schickt!« – Nun, ich redete sie nicht an; wohl schrieb ich ihr einige alberne Briefe, die ich glücklicherweise immer wieder verbrannte. Und ich lebte mich fest in diese hoffnungslose Liebe hinein, dachte dabei aber ernstlich daran, mich von B. zu entfernen, ehe der ganze Mensch samt seinem Streben in unbefriedigender Sehnsucht aufgegangen sei. Eben als ich die ersten Anstalten dazu traf, forderte mich Frau Julia F. durch ein paar freundliche Zeilen auf, sie zu besuchen! In welchem Zustande ich ihrem Rufe Folge geleistet, wüßte ich heute nicht mehr zu sagen. Ich taumelte mehr als daß ich gegangen wäre; die Schläge meines Herzens dröhnten im Haupte wieder und raubten mir die Besinnung. Wollte sie mir untersagen, ihre Tochter ferner zu grüßen? Einen andern Zweck dieser Zusammenkunft vermochte ich kaum zu denken. Eigentlich dachte ich gar nicht. Ich träumte nur. Erst Frau Julias Stimme erweckte mich. Und wie sie mich so sanft, so ernst, so eindringlich anredete, war ich gleich beruhigt. Nein, sie wies mich nicht von sich, sie wollte ihr geliebtes einziges Kind nicht verhindern, denjenigen näher kennen zu lernen, der, obgleich ein Schauspieler, ihr nicht unwürdig schien jener schon mächtig gewordenen Neigung. Ich will nicht, sprach sie, daß meine Tochter gezwungen werden soll, Heimlichkeiten vor mir zu haben oder mich gar zu täuschen. Ob Sie würdig sind, von ihr geliebt zu werden, weiß Kordelia noch nicht, und ich muß es erst erfahren. Deshalb fordere ich Sie auf, mit uns umzugehen. Ich stehe ganz allein und habe niemandem Rechenschaft abzulegen als Gott, meiner Tochter und mir. Wir drei werden miteinander beraten, was zu thun und zu lassen sei. Übrigens hat Kordelia vollkommene Freiheit. Ich will nur ihr Bestes ... und ihr Vater ist tot.«

Wenn Ernst in seinen mehr oder minder ausführlichen Berichten auf diesen Punkt kam, da unterbrach ihn Wulf bisweilen und fragte Wohl: »Wer mag dieser Vater gewesen sein? Hat Kordelias Mutter niemals umständlicher von ihm geredet?«

»Niemals. Sie begnügte sich zu gestehen, daß dunkle Schleier auf ihrer Vergangenheit lägen, die sie, ›um die Gemütsruhe ihres Kindes ungestört zu lassen,‹ nicht lüften dürfe; daß der Verstorbene ein liebenswürdiger, edler Mensch gewesen sei, den sie nicht lange überlebt haben würde, wenn die Pflicht: seiner Tochter Mutter zu bleiben, sie nicht aufrecht erhalten hätte! Daß er einen ehrenvollen Tod gehabt habe; daß er in ihrer Seele fortlebe nach wie vor; ... und daß ich sie einigermaßen an ihn mahne, durch manche äußere und innere Ähnlichkeit; auch durch die Art und Weise, wie meine Bekanntschaft mit Kordelien entstanden sei. Dies wäre, fügte sie bei, mir vorzüglich zu statten gekommen in ihrer günstigen Meinung für mich. Auch entschlüpften ihr mitunter unwillkürliche Äußerungen, die sie offenbar nur zurückdrängte, damit Kordelia nicht aufmerksam darauf werde .... Unter uns gesagt, lieber Tod, ich bin nicht abgeneigt, zu glauben, der Mann ist Schauspieler gewesen!«

»Möglich, leicht möglich!« flüsterte dann Wulf und gab dem Gespräche eine andere Richtung.

Ernst war im allgemeinen bei Hoffnurs Truppe beliebt, hatte jedoch einen Feind und einen recht erbitterten. Wenzel konnte dem Eindringling, wie er ihn nannte, nicht verzeihen, sich zwischen ihn und Tod gestellt und die ganze Teilnahme des Inspektors auf sich gezogen zu haben; was er wie einen kecken Eingriff in seine älteren Rechte betrachtete. Eine aufrichtige Auseinandersetzung mit Wulf würde wahrscheinlich zu einem für beide Teile befriedigenden Resultat geführt haben. Das gestattete aber Wenzels verschlossenes Wesen nicht, der sich in heiteren Augenblicken selbst einen »böhmischen Dickschädl« zu nennen pflegte. Und Wulf beging den großen Fehler, diesen treuen Anhänger zu vernachlässigen, was einigermaßen verzeihlich war, weil all' sein Fühlen und Denken sich auf Kordelia, deren Bräutigam und Julia richtete. Das Theater hatte nur insofern noch Bedeutung für den alten Komödianten, als Ernsts Zukunft davon abhing. Was er für diesen erstreben half, kam seiner Amtspflicht zu statten und steigerte seinen Eifer. Je nachlässiger Direktor und Regisseur das Geschäft betrieben, desto wärmer nahm sich der Inspektor der Sache an, und während jene in genußsüchtiger Indolenz dahin lebten, sich wenig um der Anstalt Gedeihen bekümmernd, wurde Herr Tod nach und nach zum eigentlichen Prinzipal, dem Wahl und Besetzung der Stücke überlassen blieben, der folglich alles in Händen hatte und den Vorteil der Kasse sehr wohl mit Ernst's künstlerischem Vorschreiten zu vereinen wußte.

Doch hinderte dies glückliche Zusammenwirken keineswegs, daß die zwei innig Verbundenen wegen unterschiedener Kunstansichten heftig aneinander gerieten. Es konnte nicht anders sein. Der jugendlich elegante, moderne, angehende Hofschauspieler stand dem altgewordenen, an früheren Belehrungen und Eindrücken haftenden, umherziehenden Komödianten gegenüber. Jenem war das reifende Bandenwesen ein Greuel, und er berief sich auf die abschreckenden Beispiele, welche in biographischen Skizzen darüber enthalten sind. Dieser entgegnete ihm: »Vor achtzig, siebenzig, ja vor fünfzig Jahren reiste jeder, dem Rang und Reichtum nicht großen Luxus gestattete, fast eben so erbärmlich wie die Wandertruppen; das lag in den geringeren Ansprüchen jener Zeit. Jetzt, wo die Kommunikationsmittel überall an Bequemlichkeit gewonnen haben, sieht man die Schauspieler in Journalieren, Diligencen, Lohnkutschen umherziehen wie alle übrigen Menschen vom Mittelschlage. Und sollten erst die Eisenbahnen ins Leben treten, dann wird die Beförderung seiner Truppe für den Unternehmer gar zum Kinderspiel. Ist's denn nicht dasselbe, ob die einzelnen auf Gastspiele reisen, die jetzt so gewaltig überhand nehmen, oder ob die ganze Gesellschaft als Gast kommt? Gegenseitige Auffrischung ist erforderlich, sollen Zuschauer und Darsteller nicht an und miteinander ermüden. Leider hat diese Müdigkeit schon den höchsten Punkt erreicht; die Erschlaffung verbreitet sich immer weiter; das Theater ist in völliger Auflösung begriffen. Es könnte nur dann wiederum erstarken und gesunden, wenn es aufhörte, in größeren (ich sage nicht in ganz großen!) Städten der alltägliche Tummelplatz müßiger, gelangweilter Menschen zu sein: für die Weiber eine Exposition ihrer Reize und ihres Putzes; für die Männer eine Station zwischen Börse, Diner und B.....l. – Wenn man wieder ins Theater ginge, um sich daran zu erfreuen, nicht um durch Nebendinge sich zu zerstreuen und die Hauptsache in diesen zu suchen. Wenn es nur besuchsweise einträfe, wie eine entbehrte, längst ersehnte Festlichkeit! ... Doch das sind fromme Wünsche, und es wird bleiben, was es ward: ein caput mortuum mit Flitterkram behangen. Ist nicht das Dichten und Trachten jetzt ausschließlich auf Äußerlichkeiten gewendet? Wie wär's sonst möglich, das affektierte, talentlose Schauspielerinnen ohne Gefühl, ohne Seele, ohne Erfindungsgabe, ohne Verstand, sich bloß durch prachtvolle Toiletten auf Bühnen großer Städte halten und mit minder aufgeputzten, doch wirklich begabten Aktricen rivalisieren können? Mir ist eine solche Putzdocke begegnet, kurz eh' ich in meine gegenwärtige Stellung trat; eine Person, recht wohl gestaltet allerdings, doch von jener Schönheit, welche kalt läßt, weil sie kalt ist, aus der nichts redet als hochmütige Anmaßung, berechnende Eitelkeit. Vom Ausdruck warmer Empfindungen, von naiven Anklängen und Naturlauten ist niemals die Rede bei ihr. Anstatt leidenschaftlichen Feuers giebt sie erzwungene, schnaubende Wut; und wo sie ein glühendes Weib sein will, wird sie ein boshafter Drache ... was ihr am nächsten liegt. Ihr Angesicht bleibt sich immer gleich, trotz mancherlei Bemühungen, es der Situation anzupassen, es ist immerwährend der Spiegel innerer Leere, die nichts höher stellt als den Spiegel! Ich gab ihr deshalb, nachdem ich sie in einer tragischen Rolle ihr Unwesen mit Beifall treiben gesehen, den Zunamen: »die besoffene Wachsfigur,« den einige im stillen an ihr zweifelnde Theaterfreunde im stillen weiter gebracht haben; – denn öffentlich an ihr zu zweifeln, thut nicht gut, weil sie die Journalisten bewirtet und beschenkt, weil sie die Garnison für sich hat. Ich, der ich das nicht wußte, wagte im Parterre, neben einem Offizier stehend, mehrmals den Kopf zu schütteln. Der junge Herr maß mich herausfordernd und fragte: haben Sie etwas gegen die Auffassung einzuwenden? Ich gestand bescheidentlich, dies sei nicht möglich, weil die Darstellung nicht von der Art sei, daß man irgend eine Auffassung wahrnehmen oder nur erraten könne; die Dame scheine heute, scheine überhaupt immer nur sich selbst zu spielen! Diese Äußerung machte ihn stutzig, er ließ mich einige Belege beibringen, und dann sagte er gutmütig: Sie scheinen das Ding besser zu verstehen wie ich, der ich ins Theater gehe, um mich zu amüsieren. Mir gefällt die Person ausnehmend, sie ist so elegant. Wir haben ein Lustspiel, worin sie eine Kokette macht, im Laufe des Jahres zwanzigmal gehabt, und zwanzigmal waren Logen und Parterre überfüllt, obgleich unser Publikum den Wiederholungen abhold ist und Neues verlangt. Weshalb diese Ausnahme? Weil sie jedesmal ein anderes Kleid produziert, einen Stoff immer kostbarer als den andern! Ehe der Vorhang zum zweiten Akte aufgeht, hören Sie ringsumher fragen: ich bin neugierig, was sie wieder Apartes mag aufgetrieben haben? Und dann wird sie regelmäßig mit stürmischem Applause empfangen. Ja, sie ist sehr beliebt. Und sie hat auch immer sehr gute Recensionen. – Das will ich glauben, rief ich dazwischen: wie der Preis, so die Ware. Beides, Recensionen und Kleider, werden ihr teuer genug zustehen kommen! Meinen Sie? lachte mein Leutnant; o Sie sind ein Vocativus! – Und die besoffene Wachsfigur blieb in allen Zeitungen »der Liebling der gebildeten Welt.« Sehen Sie, lieber Ernst, solche Greuel wären unmöglich, wenn die Leute um der Hauptsache willen ins Theater gingen, wie einstmals, und wenn die Nebensachen nicht nach und nach zur Hauptsache geworden wären. Die stehenden Bühnen in Mittelstädten haben die Kostüm- und Dekorationsthorheiten der großen »Kunstanstalten« für befolgenswerte Beispiele gehalten, und sogar wir sind genötigt nachzuäffen, was der Zeitgeist verlangt, der – in diesem Punkte wenigstens – nicht viel Geist entwickelt.«

Wenn dann Ernst nach solcher Expektoration dem Vereine mehrerer Künste, der Unterstützung das Wort redete, die dem Drama durch Malerei, archäologisch-antiquarisches Studium, historische Gewissenhaftigkeit angedeihe; wenn er vom schönen Rahmen sprach, der das Bild würdig umgeben und hervorheben müsse; wenn er spöttisch der lächerlichen Kostümierung gedachte, in denen sogar berühmte Schauspieler vor unseren Großeltern tragische Helden repräsentiert hätten; und was dergleichen mehr ist ... dann kochte und brodelte wohl in Wulf ein gelinder Ärger auf. Doch ein Blick auf den Liebling, welchen Kordelias Liebe wie eine Glorie ums Haupt gewunden schien, genügte, jede Aufwallung zu beschwichtigen, und es hieß jedesmal: »Darüber wollen wir nicht streiten, Freund! Wir brauchen unsere Zeit nötiger.«

Dann ging's an Übungen in Recitation, oder an das Studium der nächsten Rolle; und dabei wurde Ernst aus einem widersetzlichen Streiter zum lernbegierigsten Schüler.

Bedenklicher drohten die Gegensätze verschiedener Generationen sich auszusprechen, wo sich's um zeitgemäße Poesie, um sogenannte »Tendenzstücke« handelte, für welche Ernst eine entschiedene Vorliebe, gegen welche Wulf eine noch entschiedenere Abneigung zeigte. »Ich begreife nicht,« sagte der letztere oft. »wie ein begeisterter Verehrer Goethes, ein Mensch, der sich den ›Tasso‹ zur höchsten Aufgabe gesetzt hat, der mich unaufhörlich quält, daß ich dies eigentlich undramatische Drama für ihn zur Aufführung bringen soll, jene gänzlich unpoetischen, politischen Machwerke begünstigen kann?«

Wenn dann Ernst ihm vorwarf, er sei inkonsequent, in einem Atem Goethe als Muster und dessen lieblichstes Gedicht undramatisch zu nennen – da brach Wulf heftig aus: »Was Ihr jungen Burschen in Eurer Weisheit nicht alles wißt! Also weil ich Schiller für ein ungleich größeres dramatisches Genie anerkenne; weil ich Goethes Tasso für nicht dramatisch halte und das ehrlich eingestehe; ... deshalb soll ich nicht das Recht haben, meinen Goethe an und für sich als den Mittelpunkt aller Poesie zu erklären, die etwa in mir lebt und waltet? Was geht mich das Theater an? Ich für meine Person hab' es überwunden, es liegt hinter mir samt seinen Täuschungen, Thorheiten, Irrtümern, Wonnen und Qualen. Aber Goethe lebt, erquickt, belehrt, tröstet und verschönert mir die Häßlichkeit des trüben Daseins zwischen Coulissen, Lampenkasten, Proben, schlechten Komödien, faulen Komödianten und dummen Publikümmern. Goethe, Goethe und abermals Goethe! Sie sind noch nicht reif für ihn, mein lieber Ernst. Sie sind der Inkonsequente, denn am Tasso gefällt Ihnen zunächst, was mir an dem Gedichte mangelt, um ein wahrhaft dramatisches und theatralisches zu sein. Sie sind noch nicht reif, mein Ernst, weder als Mensch, der den Kern der Poesie, noch als Schauspieler, welcher den Kern des eigentlich Dramatischen erkennt; Sie stecken noch in der rhetorischen Hülse und müssen sich erst völlig entpuppen durch fleißige Aktion.«

»Das versteh' ich nicht.« erwiderte dann Ernst.

Und durch diese ernüchternde Entgegnung kam Wulf ins Geleise und setzte hinzu: »Wir verständigen uns ein andermal, wenn ich ruhiger bin. Verzeihen Sie dem alten Hitzkopf.«

Wulf gebrauchte diesen Ausdruck oft und aufrichtig von sich selbst, obgleich er nicht ableugnen konnte, daß die Zusammenstellung zweier so verschiedenen Bezeichnungen, wie alt und Hitzkopf, den Tadel herausfordert. Jugendliche Hitzköpfe sind verzeihlich; für alte Hitzköpfe wird man selten Nachsicht haben. Und dennoch giebt es deren gar viele, mehr als man denken sollte. Scheint es doch bei manchen, die rasch auflodernde Heftigkeit nähme mit den Jahren eher zu denn ab. 's ist toll genug; doch weiß es der Verfasser dieses Buches aus selbsteigensten Erfahrungen. Für ihn giebt es noch immer gewisse Ansichten in Kunst und Leben, über welche besonnen, leidenschaftslos, objektiv ruhig zu verhandeln ihm möglich wird, und wo ihm die Zunge jedesmal davonläuft, so fest und oft er sich schon vorgesetzt, sie im Zaume zu halten. Erst gestern ... es gehört gewissermaßen zu diesem Buche – begegnete mir etwas der Art. Ich las einem bei mir einsprechenden Bekannten die eben niedergeschriebenen Aussprüche Wulfs über Goethe vor, welche mein Zuhörer, ein versteckter Antigoetheaner, einseitig schalt. Ich hätte mir leicht heraushelfen können, wenn ich ihm erwiderte: das mag wohl sein; weshalb darf sich der Theaterinspektor Wulf, genannt Tod, nicht einseitig zeigen? Damit war alles abgemacht. Mich aber plagte der Geist des Widerspruchs, die Verantwortung auf mich zu nehmen, und ich erhitzte mich und redete mich immer tiefer in die Erbitterung hinein, so daß ich unter anderem sagte: »In der Kenntnis und Anerkennung Goethes – und Mozarts finden und verstehen sich Menschen, die einander sonst fremd waren. Edles Gefühl, höhere geistige Bildung, reiner Kunstsinn werden durch diese Anerkennung verbürgt. Das ist eine Freimaurerei – von der ich sonst nichts weiß, da ich kein Maurer bin! Die Goethe und Mozart über alles lieben, sind Brüder eines unsichtbaren Bundes. Bei denjenigen, welche Schiller und Beethoven über jene stellen, setze ich schon eine Hinneigung zur unklaren, mit unpoetischen und unästhetischen Nebenbegriffen vermischten Kunstrichtung voraus; sei es rigoristische Tugendjagdlust, sei es politisierendes Verkennen dessen, was die Kunst soll und will. Im allgemeinen vermeide ich mehr den näheren Umgang mit ihnen, als daß ich ihn suchen sollte. Doch läßt sich immer noch mit ihnen reden und streiten, weil Schiller wie Beethoven beide groß und erhaben genug sind, um auch ihren ausschließlichen Anbetern Halt und Würde zu verleihen. Nachher aber geht es mit den modernen Verkennern Mozarts, mit den politischen oder moralischen Verketzerern Goethes immer tiefer herab, und sie schwimmen auf dem Strome bayrischen Bieres, dem kastalischen Quell der Jetztzeit, bis zur Zukunftsmusik und Tendenzpoesie, wo Schönheit und Melodie verschwinden und verstummen, und nur eine sterile, triste Verneinung sich abmartert. Das reale Theater, über dessen Verfall mein armer Wulf schon jammerte, ehe Tod noch wirklich tot war, empfing durch die religiös-socialistisch-kommunistische Bühnenschriftstellerei den letzten Gnadenstoß. Seitdem gewisse Schlagwörter und Tiraden schon genügen, schallenden Applaus hervorzurufen, gleichviel wie sie vorgetragen werden, dürfen die plumpsten, talentlosesten Lassen dreist wagen die Bretter zu betreten. Jeder Lümmel erntet Beifall, wenn er Schmähungen wider die Kirche, wider Fürsten, wider Vornehme und Reiche ausstößt. Vielleicht sind das höchst günstige Zeichen der Zeit, und möglicherweise schreitet dadurch die Welt einer beglückenden Verbesserung entgegen. Nur das Theater, die Darsteller werden dabei immer schlechter ...«

Natürlich wartete mein Besuch den Schluß dieser Herzensergießung nicht ab; denn ehe ich zu Ende kam, hatte er schon seinen Hut ergriffen und mich allein gelassen.

Da sprach ich denn wie Wulf: »Verzeihen Sie dem alten Hitzkopf!« Doch mein Hörer hörte diese Bitte nicht mehr; und das betrübte mich, weil ich ihn an seinen empfindlichsten Seiten: Tendenzpoesie und Zukunftsmusik verwundet hatte – bei Gott, ohne es zu wollen!

O, das Alter wäre, trotz all' seiner Schwächen und Gebrechen, trotz vieler körperlicher Leiden und Entbehrungen, die schönste Zeit dieses Erdenlebens; es wäre die Zeit kontemplativer Anschauung, milden versöhnlichen Friedens, wahrer Menschenliebe, durch keine Leidenschaften mehr beunruhigt, frei von Sinnenqual und unersättlicher Genußsucht; es wäre für den Denker ein Himmel hienieden ... wenn es nicht »alte Hitzköpfe« gäbe, die sich seine Herrlichkeit ungestüm verderben. Gott besseres!

*   *   *

Ernst hatte es nun endlich so weit gebracht, daß Wulf die Rollen zum Goetheschen Tasso verteilte und mit ihm selbst auf ein näheres Studium einging. Mehr denn jemals, seitdem sie miteinander übten, traten hier die Kontraste der vorigen und der gegenwärtigen Theaterzeit hervor. Ernst sprach seinen Tasso mit warmer, aus innigstem Verständnisse hervorgegangener Empfindung; aber wenn er meinte, seines Meisters ganzes Lob verdient zu haben, blieb dieser unbefriedigt, so daß der junge Mann, fast empfindlich klagte: »Aber das ist ja ein Leiden, lieber Tod; ich kann's Ihnen ja durchaus nicht recht machen!« – »Vielleicht trag' ich zum Teile die Schuld,« erwiderte Wulf, um ihn zu trösten. »Was ich Ihnen über die Schwierigkeit dieser Partie gesagt, macht Sie nun irre; ich habe Ihnen angedeutet, daß es dieser Ihrer Lieblingsrolle an eigentlichem, die Handlung belebendem und förderndem Kern fehle; und jetzt bestreben Sie sich, zu viel Aktion hineinzubringen. Daraus entsteht jenes kleinliche Herausheben, Betonen. Geltendmachen vieler Einzelheiten, welches leider Gottes vorherrschende Mode ist, wodurch aber das Ganze, Große in einer Menge von Details zerrissen wird. Sie unterstreichen, möcht' ich sagen, indem Sie sprechen. Es ist nicht der volle, mächtig strömende Fluß, der uns tragen soll; es sind zickzackige, hin und her springende Bächlein, die sich kreuzen. Nur einige Beispiele! Wenn Sie sagen: ›So zwingt das Leben uns zu scheinen, ja zu sein, wie jene, die wir stolz und kühn verachten konnten‹ etc.. Da unterstreichen Sie das › ›scheinen‹‹ schon so stark, daß Ihnen für das ›sein‹ nur noch ein doppelter Strich übrig bleibt. Wo will das hinaus? Zuletzt hört man in jedem Verse drei Wörter, die scharf accentuiert werden, und vor lauter Deutlichkeit versteht kein Mensch mehr die zerrissenen und zerhackten Sätze. Die Folge davon ist, daß sich der Akteur, der hinter dem Redner nicht zurückbleiben will, eben so mühsam abarbeitet wie dieser. Das ermüdet, spannt ab, erkältet. Da gilt vollkommen, was sie als Tasso über den Gegner äußern: ›Man fühlt die Absicht, und man ist verstimmt‹ Goethes ewiges Wort: ›Es trägt Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber vor,‹ ist nicht allein auf die Kanzel anwendbar; es paßt schier noch besser auf die Bühne. Faßt nur Eure Aufgabe im ganzen, großen zusammen; erfüllt Euch damit; gewinnt vollkommene Herrschaft über Wort und Form, daß Ihr Eurer Sache sicher seid, und dann folgt Eurem Genius ...«

»Aber wo bleiben die feineren Nuancen? Sie werden doch nicht ableugnen, daß diese vorher ausgesonnen, ausgearbeitet, berechnet werden müssen?«

»Ja, das leugne ich ab. Wenn sie nicht erkünstelt und erzwungen, wenn sie wahr und ergreifend sein sollen, so müssen sie aus dem gesunden Ganzen hervorbrechen, wie die Blüten im Mai aus dem kräftigen Baume. Hole der Teufel jene Pointen und Kinkerlitzchen, die der Schauspieler sich pfiffig austüftelt, bevor er das Bild des vollständigen Gedichtes in sich aufgenommen und mit seinem Organismus verwebt hat! ›Bewunderung von Kindern und von Affen, wenn Euch danach der Gaumen steht ...‹ Nein, lieber Ernst, was Sie feinere Nuancen nennen, das wird sich einstellen, während Sie üben, wahrend Sie die schon fest gelernte Rolle rentieren und sich mundrecht machen, während Sie probieren, ja während der ersten, zweiten ... zehnten Darstellung. Schande dem Schauspieler, und sei er der berühmtesten einer, der seine Rolle nach neunmaliger Wiederholung Punkt für Punkt ableiert wie am ersten Abend; der nicht vielfältige kleine und größere Schönheiten ergriffen und festgehalten hat, die ihm inmitten seines Spieles zufielen, ohne daß er danach gegrübelt, sich zerquält hätte, um Effekte zu erhaschen! Goethe und noch einmal Goethe; Goethe und kein Ende!«

»All' unser redlichstes Bemühn
Glückt nur im unbewußten Momente.
Wie könnte denn die Rose blühn,
Wenn sie der Sonne Herrlichkeit erkennte?«

»Gestehen Sie mir's ehrlich ein, Ernst, haben Sie die ›Nuance‹ um Ihren etwas zweideutigen Ausdruck anzuwenden, die Sie vor einer halben Stunde anbrachten, wie wir den Schlußmonolog des vierten Aktes durchnahmen, vorher gefunden, oder ist sie Ihnen im Feuer des Gefechtes ... entschlüpft?«

»Welche? Ich weiß nicht was Sie meinen?«

»Nun jene mein' ich, den Kranz betreffend!«

»Den Kranz? im vierten Akte? Da giebt's ja keinen Kranz!«

»Sehen Sie Wohl! Sie können nicht einmal Rechenschaft darüber geben. Und dennoch war's eine wirklich schöne Blüte, die da im ›unbewußten Momente‹ aufging. Und dennoch bin ich überzeugt, Sie würden, auch ohne daß ich Sie jetzt aufmerksam mache, eben so unbewußt vielleicht, dieselbe Aktion bei der Darstellung wiederholt haben. Weshalb? Weil sie dem Sinn der Dichtung entspricht; weil sie die Situation kommentiert; weil Ihr Arm einer höheren Macht als des grübelnden, kalkulierenden Verstandes, weil er der Macht der Wahrheit gehorchte.«

»Mein Arm? Was hat er denn gethan?«

»Das Richtige! Tasso wähnt sich verlassen, verraten, verstoßen. Er zweifelt an allen, sogar an der Prinzessin. ›Die Ankunft des einen Mannes‹ hat sein Geschick zerstört, klagt er; das Gebäude seines Glückes umgestürzt! Und an welchem Tage! An dem Tage, wo die angebetete Fürstin ihren Dichter mit dem Lorbeerkränze schmückte: wo der Poet gekrönt wurde. ›O, muß ich das erfahren! muß ich's heut'!‹ Und wollen Sie nun hören, was Ihr Arm gethan? Er hat vor den Worten: ›muß ich's heut'?‹ sich erhoben, die Hand hat nach dem Kopfe gegriffen, als ob sie den Kranz von heute früh darin suchen wollte, und wie die Finger durch leere Locken streiften, sank sie entmutigt zurück, und Sie sprachen tonlos: ›muß ich's heut'?‹ Ich frage noch einmal: war das ausstudiert?«

»Bei Gott, ich weiß nicht, daß ich's gethan!«

»Sie werden es wieder thun; und jedesmal, wenn Sie Ihren Tasso spielen. Jetzt küssen Sie sich selbst die Hand, zum Danke dafür, daß Sie einen so guten Einfall gehabt; und dann werfen Sie sich mit Seele und Leib noch einmal in Ihre Aufgabe. Sie sind diese Woche wenig beschäftigt, nur in schon gespielten Stücken; Sie können ungestört dabei bleiben. Sonnabend die erste Probe von Tasso. Da putzen wir aus, was uns im Wege ist und die Aussicht verdirbt. Sonntag (abends giebt's eine Posse) Hauptprobe! Montag, nur daß die Zunge im Gange bleibt, eine leichte Repetition. Und dann zum erstenmal ›Torquato Tasso, Schauspiel in fünf Akten von Goethe.‹ Halten Sie fest am Glauben, daß des Wortes geistige Gewalt auch Philister besiegt; denken Sie an Eckhof, von dem wir genug lasen und sprachen, um zu wissen, wie er ohne jeglichen Reiz der Persönlichkeit einzig und allein durch die Macht der Rede groß war; denken Sie an Kordelia, bilden Sie sich ein, die Geliebte stehe an Ihrer Seite, nicht unsere Theaterprinzessin ... und es wird gut gehen.«

»Möchten Sie nur nicht unzufrieden sein. ›Wenn Ihr zufrieden seid, so ist's vollkommen.‹ Ich bin nicht so nachsichtig gegen mich, wie es vielleicht Ihnen bisweilen scheint. So lange ich studiere, übe, agiere, bild' ich mir wohl allerlei auf mein Streben ein. Die Bedenklichkeiten und Zweifel kommen hinterher. Ich war vom Beginne meines Gedankenlebens so unbescheiden, mir ein großes weites Ziel zu setzen, und ich bin nicht von jenen hohlen eitlen Thoren, die sich einbilden, nun sie durch sumpfigen Morast gewatet und den Weg erreicht, auch schon das Ziel gefunden zu haben. Ich will nicht leeren Schein; ich will Wahrheit, so weit sie dem armen Menschen werden kann. Wahrheit will ich finden, Wahrheit will ich geben, und sie soll das Gewand der Schönheit tragen!« Wir dürfen uns nicht mit fremden Federn schmücken. Diese, eines jungen edelstrebenden Künstlers Äußerung ist wörtlich abgeschrieben aus einem Briefe, den Herr Jos. Lewinsky vom k. k. Hofburgtheater an Luise Gräfin Schönfeld gerichtet.

Da er so sprach, zog über sein Angesicht eine wunderbar unheimliche Verklärung, daß Wulf ihn ängstlich betrachtete, mit jenem rätselhaften Gefühle banger Vorahnungen, die uns nicht selten inmitten gleichgültiger oder auch angenehmer Beschäftigungen erfassen. Diese völlig unbegründete Bangigkeit sprach sich in der Frage aus: Ob kürzlich erwünschte Nachrichten von Kordelia angelangt wären. Worauf Ernst erwiderte: »Kürzlich eben nicht; ich hoffe täglich auf ein Schreiben. Das zuletzt erhaltene war kurz und flüchtig. Kordelia entschuldigte sich deswegen; sie sei durch ein leichtes Übelbefinden ihrer Mutter an deren Lager gefesselt, denke jedoch in nächster Woche schon die Genesende außerhalb des Bettes zu sehen.«

Wulf bezwang sich so ziemlich, damit der junge Freund nicht gewahr werden möge, welch' fruchtbaren Boden diese scheinbar unbedeutende Krankheitskunde in seinem Herzen gefunden. So wie er aber allein war, überließ er sich tiefster Niedergeschlagenheit. Zwar schalt er sich selbst deswegen und gestand sich willig ein, daß nicht der geringste Grund vorliege für solch' plötzlichen Übergang aus lebensfreudiger Zuversicht in wehmütige Traurigkeit. Aber wer achtet auf Gründe, auf vernünftige Ursachen bei ähnlichen Stimmungen? Wer kann den schwarzen Flor von der Seele nehmen, worein sie bisweilen eingehüllt wird, daß alles um sie her trüb' und dunkel erscheint? Das düstere Gewebe senkt sich über uns, und kein Sterblicher noch hat erklären können, welche Mächte es woben, noch woher solche Trauerbotschaft ihm kam. Auch giebt es nur ein Mittel dagegen, und dieses heißt: Thätigkeit. Was kommen soll, wird freilich dadurch nicht abgewendet; denn welche Erdenmacht vermöchte höhere Ratschlüsse zu wenden?

Wulf ging an seine Geschäfte und seufzte aus tiefer Brust: Wie Gott will!

An einem Sonntage war's. Sie spielten »Fridolin.« Als Ernst Balde, der den seiner »Gebieterin treu ergebenen, frommen Knecht« sehr ungern darstellte, doch bezaubernd aussah, auf die Bühne kam, trat ihn Wulf zwischen den Coulissen an: »Wie ist's? Ich sah den Briefträger ins Ankleidezimmer eilen; hat er Ihnen etwas gebracht?«

»Zwei Anträge! Wollen Sie lesen?«

»Was kümmern mich die Anträge! Nichts von ihr?«

»Nichts! Wenn nur die Mutter nicht kränker geworden ist!« – Sein Stichwort rief ihn auf die Scene.

»Julia ist tot,« murmelte Wulf; »ich fühl' es hier! Diesmal täusch' ich mich nicht!« Dabei preßte er die Hand gegen die Brust und blieb starr lächelnd stehen.

Wie die Aufführung des Holbeinschen Dramas vorübergegangen, wußte er nicht, da es aus war. Doch hatte er pflichtschuldigst sein Amt als Inspizient versehen, gleich einem im Mechanismus des Theaterwesens alt gewordenen Praktiker, den nichts aus dem Geleise bringt. Er träumte schon, ehe er sich noch zum Schlafen niederlegte; er träumte fort, nachdem er entschlummert war. Es waren liebliche Gestalten, die ihn im Traume umschwebten. Julia, blühend und hold, wie er sie gekannt; ihr Kind ein Engel mit strahlenden Fittichen. Und sie führten ihn durch Felsenspalten und Steingeklüft, durch öde Sandflächen und überschwemmte Wiesen, über schlüpfrige Abgründe, wo es von kriechendem Getier wimmelte ... doch er folgte ihnen unverzagt, denn immer noch, wie wüst und dunkel es um ihn sein mochte, erblickte er einen hellglänzenden Stern in weiter Ferne, und auf den zeigten sie hin, Mutter und Tochter; den ließ er nicht aus den Augen; der hielt ihn bei Mut und Kraft. Sein ganzes Leben schien in diesem Traume halb symbolisch, halb allegorisch enthalten; überall meinte er Bekanntem, Erlebtem zu begegnen; die Felsen glichen Städten, die Bäume glichen Menschen, die Tiere schienen seine eigenen Fehler und Irrtümer zu sein und er brach einmal in die Worte aus: »Ach, wenn doch Raimund hier wäre! Das war' ein gefundener Handel für den! Was würde der für Zauberspiele daraus machen!« – Darüber wachte er auf. Der Traum hatte seine wohlthätige Heilkraft verloren. Fester und enger noch als gestern Abend schnürte dumpfe Ahnung ihm heute die Brust zusammen; der helle reine Morgen schaute drohend ins Fenster hinein, wie wenn er sagen wollte: traue mir keiner; man soll den Tag nicht vor dem Abend loben!

Der Tag zog sich in hergebrachten alltäglichen Beschäftigungen hin, die abermals ihren zerstreuenden Einfluß bewährten und Wulfen sogar vergessen ließen, bei Ernst nachzufragen, ob ein Brief da sei. Erst abends im Theater fiel ihm aufs Herz, daß er den ganzen Tag nichts von Ernst gesehen, noch gehört.

– Niemand wußte etwas von Herrn Balde. – Schlechte Nachrichten, dachte Wulf, sind nicht eingetroffen ... aber gute auch nicht;, sonst wär' er hier, sie mir zu bringen. Und was kann ihn abhalten, sich im Schauspielhause einzustellen, wo er keinen Abend fehlt, sei's auch nur um ein Weilchen mit mir zu plaudern.

Der Theaterdiener wurde nach Ernsts Wohnung gesendet. Dieser brachte den Bescheid zurück: Herr Balde könne nicht gehen, »es sei ihm in die Beine gefahren;« wahrscheinlich eine Erkältung von gestern Abend! Er habe sich »gelegt« und denke morgen wieder auf den Füßen zu sein.

Wulf, dessen Phantasie ausschließlich auf Julia und deren Tochter gerichtet nur für diese bangte, fand nichts Besorgniserregendes in einem leichten Rheumatismus und sprach vor sich hin: So empfindlich ist unsere heutige Jugend; zu meiner Zeit hätten wir wegen eines bißchen »Fußreißen,« nicht das Bett gehütet!

Das war Montags. Am Dienstage früh brachte ihm der Theaterdiener ein vom Stadtphysikus unterzeichnetes Krankheitsattest: »Herr Balde ist außer stande aufzutreten.« – Sollte dieser Doppelsinn ein Witz des Arztes sein, oder hatte er noch eine andere Bedeutung? Wulf eilte zu Ernst. Dieser begrüßte ihn fröhlich und in bester Laune: »Ich kann nicht gehen. Freund Tod! Meine Füße sind wie gelähmt. Gestern waren's nur die Füße, heute reicht's schon bis an die Kniee.«

»Was meint denn der Arzt?«

»Ja, der will nichts davon hören, daß ich Sonnabend die Probe von Tasso mitmache. Aber ich hab' ihm erklärt, es müsse sein! Und da soll ich denn fürchterlich schwitzen. Das ist mir wohl schrecklich zuwider; ich bin so ungeduldig im Bette. Doch für den Tasso bring' ich jedes Opfer. Ich werde aushalten.«

»Und ich werde bei Ihnen bleiben; werde mich hier bei Ihnen einrichten mit meiner Schreiberei; Ihnen auf den Dienst lauern; so wenig wie möglich mich entfernen und darauf achten, daß Sie die Geduld nicht verlieren.«

»Wenn Sie mit mir plaudern, Tod, will ich still liegen und gehorchen, sollt' ich noch so viel leiden.«

»Haben Sie Schmerzen?«

»Keine Spur. Unter dem Leiden versteh' ich nur den widerwärtigen Schweiß.«

»Was ist das aber für ein Rheumatismus ohne Schmerz?«

»Ich weiß es nicht. Der Arzt scheint es auch nicht zu wissen. Doch bin ich wie gelähmt. In keinem Falle hat's viel zu bedeuten, und rasch, wie es kam, wird's auch vergehen. Mit vierundzwanzig Jahren schüttelt man solche kleine Neckerei geschwind wieder ab.«

»Das denk' ich auch,« sprach Wulf so vergnügt wie möglich, lief aber gleich darauf aus dem Zimmer, um draußen recht herzlich zu weinen. Eine Stunde später kehrte er zurück mit Büchern, Papieren, Komödienzetteln und anderem Kram. Er hatte sich ein so heiteres Gesicht angelegt, wie er's als »Schmarren-Tod« nur irgend aufbringen mochte. »Jetzt schlägt die Bühnenverwaltung ihr Privatbureau hier auf,« sagte er, »und der erste Erlaß, den sie von sich giebt, ist ein strenges Edikt, welches jeden Besuch verweigert. Sogar eine hohe Direktion würde hinausgeworfen, wenn sie eindringen wollte.« – Er blieb beim Kranken, bis die Theaterstunde ihn abrief. Als er nach beendigter Vorstellung wiederkam, fand er den jungen Freund schlummernd. Die Nacht ging, ruhig vorüber.

Am Mittwoch erwachte Ernst mit heitern Augen, und sie wünschten sich fast fröhlich guten Morgen. Doch kaum hatte jener versucht sich zu bewegen, so veränderte sich diese Heiterkeit in den Ausdruck banger Besorgnis: »Das ist doch seltsam; jetzt reicht die Lähmung schon bis an die Hüften. Die Beine sind völlig abgestorben!«

Gleich darauf erschien der Arzt. Wulf, dem alles daran lag, diesen allein zu sprechen, stellte sich an, wie wenn er nicht den geringsten Wert auf dessen Gegenwart legte, schützte einen notwendigen Geschäftsgang vor und begab sich in den Hausflur hinab, um dort zu warten. Der Arzt blieb lange. Die halbe Stunde dünkte ihn ein halbes Jahr. Bekümmert und niedergeschlagen stieg der Physikus die Treppe hernieder.

»Traurig, traurig, Herr Tod!« redete er den Harrenden an. »Um Gottes willen, wie steht es denn?«

»Hoffnungslos! Balde hat, wie er nur sagt, an einem schweren typhösen Fieber vor zwei Jahren danieder gelegen. Seine Jugendkraft hat ihn zwar gerettet. Doch jener tückische Feind, wenn er auch in die Flucht geschlagen wird, hinterläßt häufig versteckte Bundesgenossen, die heimlich fortwühlen und untergraben. Hier ist es eine akute Auflösung des Rückenmarkes, die binnen sehr kurzer Zeit das Ende herbeiführen muß. Der junge Mann wird von unten absterben und wird bis zum letzten Augenblicke bei vollem Bewußtsein bleiben. Morgen, spätestens übermorgen werden Sie ihm die Augen zudrücken... Ich höre, er hat eine Braut? Wollen Sie dieser vielleicht schreiben ... doch lieber nicht. Es ist schon zu spät. Ehe sie einträfe, liegt er auf der Bahre. Ein großer Verlust für Ihr Theater! Ein großer Verlust für uns; ein unersetzlicher. Es war ein liebenswürdiger junger Mann, wie man sie selten unter den Schauspielern findet .... Guten Morgen, Herr Tod! Bleiben Sie bei ihm, damit er nicht so einsam in der Fremde stirbt.«

»Es war ein liebenswürdiger junger Mann!« wiederholte Wulf. »Es war ... Und er hatte eine Braut! Wie das klingt! Wie fernes Glockengeläute. Ich höre schon die Glocken bei seiner Beerdigung. Die Schläge meines Herzens dröhnen wie Glockenschläge. Glockenspeise ... daraus gießt man auch Kanonen ... Kanonendonner ... Glockenklang ... O warum hat mich nicht eine Kugel weggerafft vom Schlachtfelde? Warum bin ich nicht mit den andern ins große Grab geworfen worden? Warum ist meine Wunde nicht tödlich gewesen? Wie still' könnt' ich da drunten liegen, statt jetzt seinem Sarge zu folgen! ... Und Kordelia ... und Julia ... Bleiben Sie bei ihm, hat der Arzt gesagt, damit er nicht so einsam in der Fremde stirbt! Nein, er soll nicht einsam sterben! Seiner Braut Vater wird ausdauern bei ihm bis zum letzten Atemzuge. In meinen Armen wird er sterben. Nicht einsam.«

Am dritten Tage, des Donnerstags, gab der Kranke selbst jede Hoffnung auf. »Ich bin schon ein halber Leichnam,« sagte er zu Wulf, »und ich empfinde jetzt auch, von wo der Tod ausgeht. Er streicht mir mit seinen kalten Händen über den Rücken, daß es Mark und Knochen durchschauert. Es ist vorbei mit mir! Ja, ich fühle die Hand des Todes, ich fühle sie. Reichen Sie mir Ihre warme Hand, lieber Freund, der Sie sich Tod nennen, aber reich an lebendiger Herzlichkeit für mich gewesen sind. Versprechen Sie mir jetzt, heute schon ... wer weiß, ob ich morgen noch reden kann? ... versprechen Sie mir an Kordelias Mutter zu schreiben, umständlich, ausführlich, damit diese das arme Mädchen sanft und mütterlich vorbereite auf die Todeskunde. Versprechen Sie mir zu schreiben, sobald ich hinüber bin, ohne Aufschub. In meinem Portefeuille, welches Sie ohnedies an sich nehmen und samt seinem Inhalte bewahren wollen zur Erinnerung an mich, finden Sie der guten Mutter Adresse. Sie haben stets vermieden, mich nach Familiennamen und Wohnort der Teuren zu fragen, als ob Sie fürchteten, beides nennen zu hören, was mir befremdlich war. Jetzt müssen Sie schon Kenntnis davon nehmen. Schreiben Sie der Mutter und legen Sie für Kordelia den angefangenen Brief bei, den ich vorgestern schrieb und nicht vollendete, weil ich immer noch auf den ihrigen wartete. Es ist nichts angekommen?«

»Nichts! Wahrscheinlich ist Kordelia noch als Pflegerin der kranken Mutter verhindert gewesen ...!«

»Wahrscheinlich! Daran dacht' ich nicht in diesem Augenblicke. Richtig, die Mutter ist ja auch krank. Nun, da wird's wohl klüger sein, Sie zögern mit Ihrer Meldung, bis von dort eine anlangt ... vielleicht kreuzen sich zwei Todesnachrichten? ... o die arme Kordelia, was soll aus ihr werden? Keinen, keinen Menschen mehr, den sie liebt! Zwei Herzen gebrochen, die ihr gehörten. Zwei auf einmal! Sie ganz allem in der Welt! Das macht mir mein Sterben schwer! Das ist zu hart! Das ist, um an Gott zu verzweifeln!«

Wulf trocknete mit einem reinen Tuche die Thränen ab, die dem Klagenden heiß über die Wangen rannen. »Kordelia,« flüsterte er jenem zu, »wird nicht ganz allein in der Welt stehen nach ihrer Mutter Tode. Sollte sich's bestätigen, was wir jetzt befürchten; sollten Sie, lieber Ernst, wirklich von diesem Lager nicht mehr aufstehen ... dann werd' ich Ihrer Braut nicht schreiben; nein, ich werde mich selbst auf den Weg machen, werde ihr die Botschaft, die Grüße des Geliebten bringen, werde mich ihr als des Verstorbenen treuer Freund empfehlen, ihr meine Dienste anbieten, nicht mehr von ihr weichen ...«

»Tod, wohin verirrt sich Ihr Wohlwollen für mich! Vergessen Sie, daß Sie hier gebunden, daß Sie hier nötig, unentbehrlich geworden sind; daß Ihre Existenz, Sie Armer, Mittelloser, von gewissenhafter Ausübung Ihres Berufes abhängt? Das wollten Sie hinwerfen, um sich einem jungen Mädchen anzuschließen, welchem Sie ein Fremder sind, welches weiblichen Umganges und Schutzes bedarf? Was sollte Kordelia beginnen an der Seite eines einzelnen, unverheirateten Mannes, der darauf hingewiesen bleibt, seinen Unterhalt sich beim Theater zu erringen? Ich bin Ihnen dankbar für die edle Absicht, aber damit kann weder ihr geholfen werden ... noch Ihnen. Ach, und mir auch nicht! Ein fremder Mann, sei er auch in Ihren Jahren, ist kein Schutz für die Jungfrau!«

»Auch dann nicht, Ernst, wenn dieser fremde Mann der Jungfrau Vater wäre?«

Der Kranke wollte sich aufrichten ... die gelähmten Glieder versagten ihm. Mit größter Anstrengung regte er den Arm und faßte Wulfs Hand: »Reden Sie im Wahnsinn, Freund, oder hat diese Frage Bedeutung?«

»Ernst! Mein liebster junger Freund! Meines Kindes Geliebter! Mein Sohn! Hast du nicht aus Julias Worten entnommen, daß über Kordelias Herkunft sich ein Geheimnis zieht? Hast du mir nicht gesagt, aus ihrer Mutter Andeutungen habest du entnommen, ihr Vater könne wohl gar ein Schauspieler sein? Und jetzt ist es Zeit zu reden. Wenn die Pforten des Grabes sich öffnen, da verschwindet jede kleinliche Rücksicht auf leere Förmlichkeiten, jedes peinliche Bedenken, jede menschliche Satzung vor der Stimme der Wahrheit. Ich bin der ehemalige Schauspieler Wulf, von dem dir ältere Mitglieder unserer Truppe gesprochen haben; der für längst vermodert gilt und dennoch nicht gänzlich vergessen ist. Ich habe deiner Braut Mutter geliebt, da sie jung, schön, klug, edel, rein, an der Seite eines aufgeblähten, albernen, herzlosen, reichen Gatten ihr Dasein vertrauerte. Ich habe Julias Herz mir gewonnen; wir sind schuldlos geblieben. Sie schickte mich hinaus in den heiligen Krieg. Um ihre volle Achtung zu verdienen, trennte ich mich von ihr. Dieser höchste Beweis treuer Liebe hat sie gerührt. Als ich, gerüstet zum Kampfe, Abschied nahm, hatte sie mir nichts mehr zu versagen, und unsere Scheidestunde gab Kordelien das Leben. Ich hab' ihre Handschrift erkannt, da ich dir den Brief brachte, den ersten, den du hier empfingst. Die Inschrift ihres Siegels verkündete mir, daß sie dem Getreuen treu blieb, daß sie den Totgewähnten noch liebe. Um ihretwillen hab' ich mich dir genähert, um Kordelias willen hab' ich mich an dich geschlossen wie an einen eigenen Sohn. Ja, du warst mein Sohn, ich war dein Vater geworden. Und wenn dich der Tod von meiner Seite reißt, wenn er dich meinem Kinde raubt, so wird der alte Tod die Verlassene aufsuchen, wird sich zu ihren Füßen werfen und wird bitten: Nimm deinen armen Vater liebreich auf um der Mutter willen, die ihn sehr geliebt; um des Geliebten willen, dem er ein sorgsamer Freund gewesen. Liebe die Toten in mir und stoße mich nicht zurück, weil ich dir diese abschreckende Larve entgegen trage. Lass mich dein Sklave sein. Dulde mich in deiner Nähe! Wir wollen nur von ihr sprechen und von ihm! Ich melde dir seine letzten Grüße, sage du mir, ob sie meiner noch gedacht?«

Ernsts Augen hoben sich gen Himmel; die verblichenen Lippen lispelten ein Dankgebet und eine Bitte um Verzeihung. – »Kordelias Vater? Mein Vater!« sprach er freudig. »O Gott sei gelobt! Jetzt wird sich's leichter sterben... nur den Tasso, freilich, hätt' ich gern vorher noch gegeben. Einmal nur! Nicht wahr, das ist recht kindisch, Vater Wulf? Und anderen möcht' ich's auch gar nicht anvertrauen: sie würden mich mitleidig oder verächtlich belächeln. Dir darf ich's schon eingestehen, und ihr darfst du's auch sagen: seitdem ich nicht mehr schlafe, die ganze vergangene Nacht, hab' ich meinen Tasso in Gedanken durchgenommen. Kordelia war Leonore. Du hörtest zu und nicktest mir Beifall. Und wenn ich an die Stelle kam:

»Verbiete du dem Seidenwurm zu spinnen,
Wenn er sich schon dem Tode näher spinnt,«

da überkam eine göttliche Zuversicht mein bangendes Herz, und aus tiefster Seele drang mir das Flehen:

»O, geb' ein guter Gott uns auch dereinst
Das Schicksal des beneidenswerten Wurmes,
Im neuen Sonnenthal die Flügel rasch
Und freudig zu entfalten.« –

»Amen!« sagte Wulf. – – –

Am Freitage wunderte sich der Arzt, den Sterbenden noch lebend zu finden. Es war ein trauriger Anblick. Ohne Rettung, der ganze Körper gelähmt, lag er... glücklicherweise schmerzlos. Nur die Zunge bewegte sich noch schwach.

»Es geht so langsam, Doktor...!« das flüsterte er noch mit erlöschendem Tone.

Eine Stunde später war's überstanden.

Der Platz vor seiner Wohnung, die halbe Gasse stand von Menschen voll. Männer, Frauen und Mädchen drängten sich herbei, nach ihm zu fragen, und bestürmten den Arzt. Als Wulf die Fenster öffnete, ging ein Wehklagen durch die Reihen, und manche stolze Damen, viele schüchterne Mädchen weinten laut; strenge Männer schämten sich ihrer Thränen nicht. Ernst Balde war aller Liebling gewesen. Sein Talent, sein Fleiß, sein bescheiden stilles Betragen außerhalb der Bühne hatten ihn ja vor sonst am Orte beliebt gewesenen jüngeren wie älteren Schauspielern so sehr zu seiner Ehre ausgezeichnet! Man wußte, daß er eine Braut hinterließ. Das erhöhte die ihm gewidmete Teilnahme.

Am nächsten Montage, für welchen, wie uns bekannt ist, die erste Aufführung des »Torquato Tasso« bestimmt gewesen, klebten statt der dieses Schauspiel betreffenden Anzeigen große Zettel an den Ecken, auf denen, von breitem, schwarzem Rande umgeben, zu lesen stand: »Heute bleibt die Bühne geschlossen.« Um die Stunde, wo die Darstellungen gewöhnlich begannen, wurde die Leiche gehoben. Die ganze Stadt fand sich beim Begängnisse ein. Der Sarg, von Kränzen überhäuft, glich einem schwebenden Blumenbeete; das Grab duftete von Rosen, die es erfüllten. Die Totengräber kamen nicht dazu, ihre Schaufeln anzusetzen. Jung und Alt drängte sich herbei, drei Hände voll Erde hinabzuwerfen; aber man hörte die Erde auf dem Sargdeckel nicht poltern; weiche Blätter und Blüten erstickten den schauerlichen Klang. Die Nacht war schon ein gebrochen, als noch immer sich Leute einfanden, den frommen Brauch zu üben.

Wulf saß längst in seiner Stube. Ernsts Brieftasche lag neben ihm. Er hatte das Schreiben an Kordelia beendet. In ihm waltete kein Zweifel ob, daß Julia lebensgefährlich erkrankt oder tot sein müsse. Wie ließe sich sonst ein so langes Stillschweigen erklären? Danach hatte er seinen Brief eingerichtet. Morgen wollte er ihn zur Post tragen.

Ein schüchternes Klopfen schreckte ihn aus tiefem Sinnen. Wenzel trat ein: »Bin ich Ihnen nicht zuwider?« fragte er; »wollen Sie mich um sich haben? So lange Ihr junger Freund und Schützling lebte, hielt sich der alte fern. Der Platz ist leer geworden. Ich stelle mich wieder ein. Meine Anhänglichkeit ist unverändert geblieben. Kann sein, daß Sie einer Menschenseele bedürftig sind, die es ehrlich meint; und wenn kein Besserer mehr da ist, nehmen Sie mit mir vorlieb.«

Wulf befand sich in jener weichen, nachgiebigen Stimmung, mit welcher edle Menschen stets vom kaum zugeworfenen Grabe kehren; deshalb trug er dem Reuigen seinen doch eigentlich aus Neid hervorgegangenen Abfall nicht nach, machte ihm keine Vorwürfe und nahm ihn gütig auf. »Der Verstorbene,« sagte er, »schätzte sehr Ihre Zuverlässigkeit auf der Bühne. Er wußte nicht, daß Sie sich seinetwegen im Grolle von mir gewendet. Ich schwieg darüber. Freundlicher wär' es gewesen, hätten Sie den ungerechten Unmut bezwungen, während mein guter Ernst noch lebte. Sie kommen erst heute zurück, wo ihm sein Blumenbeet im Schoße der Erde aufgeschüttet ward. Ich heiße Sie willkommen!«

»Ist's denn wahr, Herr Inspektor, daß Herr Balde verlobt war mit einer schrecklich reichen Erbin?«

»Daß er eine Braut hinterläßt, ist sicher. Dieser Brief ist an sie gerichtet. Weshalb wollen Sie, lieber Wenzel, wissen, ob sie ›schreckliche‹ reich war? So viel mir bekannt worden, gehört dies Gerücht in die Reihe der gewöhnlichen Übertreibungen. Fragen Sie mich in Ihrem eigenen Namen? Oder sind Sie beauftragt...? Hätten sich vielleicht Gläubiger gemeldet?«

»Wie käme Herr Balde zu Gläubigern? Schuldner hat er etliche hinterlassen bei der Truppe, die werden sich, scheint mir, nicht melden. Nein, Herr Inspektor, meine Frage hat einen anderen ganz natürlichen Grund. Auf dem Friedhofe hat sich eine junge Fremde in tiefer Trauer gezeigt. Niemand hatte sie sonst hier gesehen. Sie hielt sich hinter dem stärksten Gewühl dem Grabe fern. Wie sich die meisten Menschen verlaufen hatten, bin ich noch einmal hinausgegangen; ich dachte Sie noch draußen zu finden. Wollte mich gern bei dem frisch aufgeworfenen Hügel mit Ihnen versöhnen, Es war so eine Idee! Verstanden? Sie fand ich nicht; wohl aber die schwarze Dame; die kniete und betete da. Und der Wächter aus dem Leichenhäuschen stand neben ihr, die Thorschlüssel in der Hand, und wartete willig, bis sie sich entfernen würde. Sie muß ihn reichlich beschenkt haben, denn er benahm sich sehr gehorsam. Als sie endlich aufbrach, ging ich auch. Der Wächter mag ihr einen Wink gegeben haben, daß ich zum Theater gehöre, denn sie rief mich an und erkundigte sich nach Ihrer Wohnung. Dorthin begeb' ich mich geradeswegs, erwiderte ich. Sie schritt neben mir her. Dann bat sie mich, wenn mein Geschäft bei Ihnen abgemacht sei, möcht' ich sie's wissen lassen. Sie wartet unten. Soll ich sie heraufschicken?«

»Wir sprechen uns morgen wieder,« sagte Wulf mit Beben. »Schicken Sie mir die Fremde!« – Wenzel gehorchte.

Wie Wulf allein war, faltete er die Hände: »Gott sei mir gnädig... und auch ihr!« Nach diesem kurzen Gebete öffnete er die Stubenthür und ging ihr, einen Leuchter vorhaltend, auf der dunklen Treppe entgegen.

»Julia!« flüsterte er, indem er sich vor ihr verneigte. Er geleitete sie in seine Arbeitsstube, schob ihr einen Stuhl an den Schreibtisch und setzte sich ihr gegenüber: »So saßen wir, wenn er kam mit mir zu plaudern!«

Sie schwieg und weinte. Wulf gönnte ihr Frist sich auszuweinen, und spät erst that er die Frage, deren Antwort ihm vorher schon unzweifelhaft dünkte: »Trauern Sie um Ernst?«

»Ob ich um ihn trauere? ...?«

»Ich meinte, ob Sie diese Trauerkleider für ihn angelegt haben?«

»Wie sollte ich? Daß er tot sei, erfuhr ich erst, da ich seinem Sarge begegnete. Ich verließ den Wagen und schloß mich dem Leichenzuge an. Schwarz gekleidet bin ich als Tochter. Vor acht Tagen starb meine Mutter.«

»Ich wußt' es ja!«

»Ihren letzten Willen hab' ich befolgt, indem ich die Reise hierher antrat. ›Du hast nur noch ihn auf Erden, gehe zu deinem Bräutigam und nimm meinen Segen mit dir! For ever, vor ever!‹ In diesen Worten erlosch ihr Lebenshauch. Nun kam ich an, den begraben zu sehen, der mir Gatte sein, dessen Liebe mich für den Verlust der liebendsten Mutter entschädigen sollte. Ich suche seinen Freund, seinen Lehrer auf. Ich wende mich trostlos und verlassen an Sie, den ich kenne und achte, wie wenn ich in seiner Nähe gelebt hätte. Was Ernst uns von Ihnen geschrieben – ach, er schrieb ja eigentlich nur von Ihnen: wie viel er von Ihnen lerne, welche neuen ungeahnten Ansichten Sie ihm eröffnet, was Sie für ihn gethan haben!... Wie er selbst nicht begreife, wodurch er diese beispiellose Aufopferung verdiene!... Und jedesmal, wenn meine gute, selige Mutter solche Berichte las oder mich vorlesen ließ, rief sie aus: ›Als ob ich ihn hörte! Als ob Wulf mit mir spräche!‹... Dieser Wulf, Sie lieber Herr, müssen Sie wissen, ist mein Vater gewesen. Mutter Julie hat um seinetwillen viel erduldet; auch verschuldet, meinte sie! Arme, demütige Seele; was kannst du Heilige verschuldet haben? Doch dabei blieb sie. Ich habe nie geforscht. Sie blieb aber auch bei ihrer Liebe zu ihm, bei der Treue, die sie ihm bewahrte, fest bewahrte bis in den Tod. › For ever,‹ lispelte sie noch sterbend. Und es galt ihm dieses: Für ewig!«

»Galt mir! galt mir!«

»Herr Tod...?«

»Wulf ist tot und Tod ist Wulf! Treue hat sie ihm bewahrt, bis in den Tod! War's nicht so, Kordelia?«

»Mein Vater ist auf dem Schlachtfelde gefallen!«

»Dein Vater ist auf dem Schlachtfelde gefallen, die Grube hat ihn wieder ausgeworfen, und er trug den Stempel des Todes auf dem zerstörten Antlitz. Deshalb nannte er sich Tod, deshalb entsagte er jeder Hoffnung, jedem Glücke, deshalb zog er, ein Toter, durchs Leben. Dein Geliebter gab mir neues Dasein, gab mir Hoffnung und Freude wieder. Ich habe ihn geliebt; in ihm liebte ich deine Mutter, liebte dich. Ernst und Julia sind uns vorangegangen. Wirst du sie lieben lernen in deinem Vater? Wirst du dich nicht entsetzen vor ihm? Wirst du an ihn glauben können, wie unsere Seligen gethan? Dich seiner nicht schämen? Ernst hat mein Geheimnis erfahren, ehe sein Auge sich schloß. Ich hab' ihn Sohn genannt! Willst du mich Vater nennen?«

Beide waren aufgestanden. Wulf sank vor ihr nieder und erhob, auf seinen Knieen liegend, die Hände flehend zu ihr. Sie aber zog ihn zu sich empor und küßte seine Hände und liebkoste ihn, streichelte die Narbe, warf sich an seine Brust und schluchzte unzähligemal: »Vater! mein armer Vater!« – – –

*   *   *

Was längst vorausgesehen worden, was nur Wulfs umsichtiger Fleiß so lange hinausgeschoben, brach endlich herein. Der leichtsinnige verschwenderische Regisseur, der den schwachen Hoffnur zu tausend Thorheiten verlockt hatte, war eines Morgens verschwunden; seine Flucht wurde zum Feldgeschrei für alle, deren Forderungen, durch vielfältige Lügen und Schwindeleien bis jetzt hingehalten, sich nicht länger beschwichtigen ließen; und die ganze Unternehmung stürzte zusammen. Vergebens suchte Inspektor Tod den aufgebrachten Schreiern deutlich zu machen, daß sie auf diese ungestüme Weise wenig oder nichts retten würden; daß es klüger sei, dem wankenden Gebäude einige Unterstützung zu gönnen. Er schlug ihnen vor, dem insolventen Direktor eine kleine Gage auszusetzen, ihm die Führung abzunehmen und einstweilen auf eigene Rechnung weiterspielen zu lassen. Ja, er erbot sich sogar, aus Mitleid für die brotlos werdenden Schauspieler, die Leitung selbst zu übernehmen, und bewies durch Zahlen, wie es möglich sei, bei vernünftiger Sparsamkeit die Anstalt wieder zu befestigen... Vergeblich! Der Ingrimm gegen den allgemein verhaßten »Bankerottierer,« wie sie ihn schalten, überwog die Rücksicht auf eigenen Vorteil. »Die Bude muß geschlossen werden,« schrien sie, »und der Betrüger in den Schuldarrest wandern!«

So geschah es. Die Schauspieler zerstreuten sich. Nur Wenzel blieb zurück. »Ich kann's ein Weilchen mit ansehen,« versicherte er; »ich habe mir einen Notpfennig zusammengekratzt, und ich bleibe beim Herrn Inspektor.«

Wulf beschwichtigte sich bald in dem Bewußtsein, daß er für die um ihr Engagement gebrachten Schauspieler gehandelt habe, wie wenn sie seine Brüder und Kinder wären. Wenn man redlich gemeinte Vorschläge eigensinnig zurückgewiesen, so traf ihn keine Schuld. Für sich hatte er wahrlich nicht geredet, sondern nur für jene. Ihm war die Lust am Theater seit Ernsts Ableben vollends verleidet, und müde, wie er sich von diesem Wirrwarr längst fühlte, konnte ihm nichts erwünschter sein als ungestörte Ruhe in zurückgezogener Abgeschiedenheit vom Geräusche der Welt. Mit Kordelia ein stilles Dasein zu führen; mit ihr von den geliebten Verstorbenen zu plaudern; sich erzählen zu lassen was Julia betraf; aus der Tochter Munde es zu vernehmen... welche ein unversieglicher Quell wehmütig beglückender Freuden!

Nahrungssorgen beängstigten sie nicht. Kordelien war ein Vermögen sichergestellt, dessen Zinsen ihr nach der seligen Mutter Vermächtnisse zu freier Schaltung ausbezahlt wurden; und diese Summe genügte überreichlich ihren kleinen Bedürfnissen. Bon einem Wechsel ihrer jetzigen Lage wollte sie nichts wissen. Beim Vater zu bleiben, ihn zu Pflegen, ihm jede Stunde des Tages zu widmen, seine ganze Vergangenheit mit ihm zu durchleben... andere Wünsche kannte sie nicht mehr. Und wenn er einwendete, das sei unnatürlich; so jung könne und dürfe sie um seinetwillen sich nicht in Einsamkeit verlieren!... da erwiderte sie: »So lange du es aushältst, soll es nicht anders werden!«

Sie hatten ein kleines, schlichtes Häuschen gemietet, worin sie eine Stube und Kammer an Wenzel abgegeben. Dieser, ihr einziger Umgang, betrug sich mehr als Diener wie als Hausfreund. Er drängte sich niemals auf, kam nur, wenn er ausdrücklich verlangt wurde, und machte keinen Anspruch, außer sich an Kordelias Zärtlichkeit für ihren Vater freuen zu dürfen.

Wenn dieser eigentümliche, nicht nach gewöhnlichem Maße zu beurteilende Mensch, der ohne jegliche gesellige, noch wissenschaftliche Bildung sich nur durch Routine zum brauchbaren Schauspieler ausgearbeitet, tief unter Wulf in allem stand, was natürliche Anlagen, ausdauernder Fleiß, klarer Verstand und lange Erfahrung Letzterem verliehen; wenn er dies mit einer fast unterwürfigen Hochachtung anerkannte;... in einem sah er schärfer als jener, der ihm sonst für unfehlbar galt! Wulf, der seine Tochter aus den von blindmachender Vaterliebe umnebelten Augen betrachtete, hielt sie für so glücklich, als sie ihrem Wesen und ihren Verhältnissen nach überhaupt noch sein könnte; und darin hatte er gewissermaßen recht; nur darin täuschte er sich gewaltig, daß er wähnte, jene entsagende Heiterkeit, die Kordelia ihm zeigte, jener sich immer gleichbleibende, sanfte Frohsinn, den sie vor ihm entfaltete, seien der wahre unverstellte Ausdruck ihres inneren Zustandes. Darin täuschte er sich, ließ er sich bereitwillig täuschen durch die Selbstsucht, wovon auch die reinste irdische, die Vaterliebe nicht frei ist. Weil er in ihr Ersatz gefunden für sein verlorenes Lebensglück, meinte er, sie finde Ersatz in ihm für das ihrige. Er vergaß, daß sie am Eingange, daß er am Ausgange stand; daß sie zwanzig Sommer zählte, daß sein Haupt der sechzigste Winter bald beugen sollte. Darin, wie gesagt, sah Wenzel unbefangener, folglich schärfer. Ihm war Kordelia ein »sauberes Madl, ein Mordmadl!«... die Tochter Wulfs... nicht minder die Braut des verstorbenen Ernst Balde. Er hätte sie vielleicht gern auf einem langsam erwachenden Herzensbedürfnisse, auf einer neuen Regung in Thränen noch nicht abgestorbener Gefühle ertappt. Er beobachtete genau; er durchschaute sie; und er entdeckte zu seiner Beschämung wie zu seinem Schrecken, daß ihr Frohsinn, ihre Heiterkeit erkünstelt waren; daß der Wurm an ihrer Jugend nagte; daß sie in unbewachten Momenten nachholte, was sie vor ihrem Vater verbarg; daß sie schlaflose Nächte durchweinte; daß sie an dieser Verstellung zu Grunde gehen, sich im Grame verzehren müsse. Das sah er vollkommen richtig; die Erscheinung faßte er auf. Dochten Sinn, die Bedeutung derselben durchdrang er nicht. Nach seiner Ansicht von jungen Frauenzimmern, wie er sie aus der kerngesunden, kräftigen, sehr lebenslustigen tschechischen Heimat mitgebracht und als reisender Schauspieler von der Jugend bis ins Mannesalter selbst kultiviert, gab es keine Liebe als im Besitz des ersehnten Gegenstandes; was darüber hinausging, waren ihm »Dummheiten,« womit er häufig die sentimentalsten Scenen beliebter Dramen bezeichnet hatte. Da nun der im Sarge, obgleich in Blumen, modernde Ernst nicht mehr »besessen« werden konnte, so zeigte seine Logik ihm für die verwitwete, verschmachtende, sich in Sehnsucht verzehrende Braut nur einen Ausweg; und da sie diesen aus Hingebung für den Vater nicht freiwillig betreten werde, so müsse man sie, meinte er, wider ihren Willen dazu zwingen! Das heißt, man müsse sie nötigen, sich aus ihrer Klausur wieder in die Welt zu begeben; müsse ihr Gelegenheit verschaffen, sich zu zerstreuen, Bekanntschaften zu machen ... das übrige werde sich finden.

Wir verhehlen es nicht, samt seinem schärferen Blicke täuschte er sich doch eben so gewaltig in Kordelia wie deren Vater. Dieser sah das Übel gar nicht; Wenzel sah es und verkannte es gänzlich. Aber zu seiner Ehre dürfen wir auch nicht unerwähnt lassen, daß ihm nicht ein einziges Mal der kühne Gedanke aufstieg, er selbst könne vielleicht der Tröster werden, dessen die sich sehnende Jungfrau bedürfe. Dazu war sein »Respekt für Wulf« viel zu tief begründet, obgleich es ihm sonst an Eitelkeit nicht fehlte, und er sich, den ergrauenden Haaren zum Trotze, für einen »immer noch fäschen Kerl« hielt. Uneigennützig und aus edlen Motiven ging er zu Werke. Er sparte sich die späteren Abendstunden auf, in denen Wulf, sobald Kordelia gute Nacht gesagt, zugänglich für ihn, gern von alten Geschichten schwatzen hörte und sich an den originellen Schilderungen des (wie er ihn nannte): »kindlichsten Empirikers von sämtlichen Komödianten« ergötzte. In solchen Stunden rückte Wenzel nach und nach, sehr vorsichtig, mit seinen Wahrnehmungen ins Gefecht. Die ersten Angriffe wurden heftig zurückgeschlagen, und der Besiegte räumte das Feld, doch immer nur, um am nächsten Abend wieder vorzudringen. Zuletzt ersah er denn doch seinen Vorteil, Wulf streckte die Waffen, gab nach und überzeugte sich von seinem Irrtume. Wie er erst die Augen recht aufthat, sah er mehr, als Wenzel gesehen. Kordelia war wirklich krank, sie zehrte sich ab, es war die höchste Zeit, sie »zu zerstreuen!« Als der Vater sie fragte, ob sie nicht auch wünschenswert finde, einen belebenden Wechsel eintreten zu lassen, sich aus den traurigen Umgebungen zu entfernen, entgegnete sie, lächelnd und freundlich wie immer: »Gewiß hast du recht, lieber Vater, es wird das beste sein!« In ihrem Zimmer aber klagte sie: Ach Gott, ich wäre so gern in Ruhe geblieben und hätte mich so gern neben Ernst begraben lassen! Doch den Vater leidet's nicht länger an einer und derselben Stelle; der Wandertrieb ist wieder in ihm erwacht. Ich darf seine Freude nicht stören. So lange wie möglich will ich ihn begleiten, und geht's nicht weiter... ein Plätzchen für mich wird sich überall finden!

Die Gläubiger der zu Grunde gegangenen Unternehmung sahen jetzt wohl ein, daß sie besser gefahren wären, hätten sie die Vorschläge des Inspektors Tod vor einem halben Jahre angenommen. Nun war's zu spät. Das Inventarium, bestehend aus Dekorationen, Garderobe, Bibliothek, reichhaltiger wie sonst irgend bei solchen Truppen, gerichtlich taxiert, bot seinem Schätzungswerte nach eine so geringe Entschädigungssumme, daß kaum zehn Prozent gerettet werden konnten. Und auch dies nur, sofern sich ein Käufer fand, der bar zu bezahlen vermochte. Denn an Prinzipalen, die auf Kredit zu kaufen wünschten, wäre kein Mangel gewesen.

Wer jetzt ein paar tausend Thaler im Sacke trüge, seufzte Wenzel, da er das Subhastationsedikt und den daran geknüpften Licitationstermin im Wochenblatte fand; wer jetzt aufs Stadtgericht ginge und sagte: ich zahle die Taxe, hier ist Geld!... mit Handkuß würden die Kreditoren Ja sagen...! Das wär' ein famoses Geschäft!

Kordelia vernahm diesen Stoßseufzer. Sie wendete sich zum Vater: »Wie wär's, hättest du Lust, den Kauf zu machen?«

»Was sollten wir mit dem Trödel!«

»Meintest du nicht, reisen würde dir... würde uns gut thun? Du pachtest dem nächsten besten Entrepreneur seine Konzession ab, wozu sich Bereitwillige leicht finden werden, kaufst das Inventarium und führst ein Theaterchen nach deinem Geschmack. Wie, Väterchen?«

Wenzel stieß unterm Tische Wulfs Fuß mit dem seinigen und wollte damit sagen: »Hatt' ich nicht das Richtige getroffen? Sie kann's nicht erwarten!«

Wulf aber sagte: »Kordelchen, dein Vorschlag ist nicht übel an sich; doch du gehst so leicht über den ›Kauf‹ hinweg. Kaufen heißt bezahlen. Wovon?«

»Von meinem... von deinem Gelde, lieber Vater!«

»Von deinem Kapital? Das wär' noch schöner! Dir die Renten schmälern! Deine Zukunft gefährden durch eine so unsichere Sache...«

»Wer denkt daran? Mein Kapital dürft' ich gar nicht angreifen, wenn wir auch wollten. Das würde mein Vormund nicht gestatten, ehe ich volljährig bin. Nein, so ist's nicht gemeint. Warte nur einen Augenblick.«

Sie entfernte sich rasch. Wenzel und Wulf sahen sich fragend an: was hat sie vor?

Nach wenigen Minuten legte sie ein ledernes Täschchen auf den Tisch: »Daran hat Mutter Julia gesammelt, seitdem ich geboren wurde. Es ist für meine Ausstattung bestimmt gewesen; es reicht zu zwei solchen Käufen hin, wie ihr einen zu machen gedenkt. Sie gab mir's den Tag vor ihrem Ende, damit ich's unserm Ernst bringen sollte. Vielleicht hätte der's zu ähnlichem Zwecke verwendet. Du bist sein Erbe, Väterchen!«

»Nimmermehr! Deine Ausstattung, Kordelia! Und wenn nun doch über kurz oder lang ...«

Er wagte nicht den Satz auszusprechen; die Erinnerung an Ernst schloß ihm die Lippen. Er schob das Geld weit von sich weg. Kordelia rief lachend: »Weißt du, Vater Wulf, daß du meine Eitelkeit kränkst? Als ob ich eine Tasche voll Banknoten brauchte, um liebenswürdig gefunden zu werden? Das beleidigt mich! Nimm, nimm, kaufe, bezahle, werde Direktor, bilde eine gute Gesellschaft, führt schöne Stücke auf, zeige was du kannst, erwirb recht viel Beifall, das wird dich vergnügen, wird dir Genugthuung gewähren für manche Zurücksetzung; du wirst noch einmal aufleben, und ich werde einen jungen Vater haben. – Sie küßte ihn herzlich und sagte gute Nacht!

Und als sie allein war, sank sie auf ihr Lager und bat ihren Geliebten um Verzeihung wegen dieser leichtsinnigen Scherze. Du weißt ja, betete sie, du weißt ja, Seliger, daß ich nur den armen alten Mann betrügen will zu seinem Besten! Du weißt ja, wie's mit mir steht, und daß ich nicht säumen werde, dir zu folgen! Ich komme bald, mein Ernst, und will's Gott, beschleunigt dieses Unternehmen unser Wiedersehen! – –

Die beiden Männer machten Pläne.

»Fräulein Kordelia, scheint mir, könnte sich gar entschließen aufzutreten! Meinen nicht ebenfalls?«

»Glaubt Ihr, Wenzel? Glaubt Ihr? O, Talent hat sie unfehlbar! Großes, großes Talent! Ja, wenn ich das noch erlebte! Diese Augen, diese Sittsamkeit, diese hinreißende Stimme ... Sophie Müller die Zweite! Gott im Himmel, wenn ich das noch erlebte!«

Und der alte Komödiant war wieder aufgewacht aus seinem Winterschlafe.

*   *   *

Die Kunde, daß der »Schmarren-Tod« eine »Direktion« übernommen, Hoffnurs Inventar angekauft und in Berücksichtigung seiner als Inspektor geleisteten Dienste eine ziemlich ausgedehnte Konzession erhalten habe, machte in der wandernden Theaterwelt nur mittelmäßigen Eindruck; und obgleich überall die Ansicht verbreitet war: der Alte müsse durch seine aus der Luft herabgeschneite Tochter reich geworden sein und deshalb von der Behörde so auffallend begünstigt werden, zeigten doch von den älteren, auf Direktionswechsel und Luftveränderung eingeübten Schauspielern die wenigsten Neigung, sich ihm anzutragen. Bei sämtlichen ziehenden Truppen galt Herr Tod für einen Pedanten; für einen eigensinnigen Vertreter des »überwundenen Standpunktes;« für einen unausstehlichen »Resischör,« dem nichts recht zu machen sei, der das Personal mit unnützen Proben »schinde,« der die »zopfigsten Ansichten« von Zusammenspiel, vom Aufgehen des Einzelnen ins Ganze und ähnlichen Unsinn ausspreche; der sogar verlange, daß man seine Rollen wörtlich lerne... was denn doch wirklich eine unverschämte Zumutung sei!

Dieser üble Ruf schützte unsern alten Freund vor vielerlei lästigen Zumutungen, und da er durch Not nicht getrieben ward, den Beginn seiner Vorstellungen zu beschleunigen, so hatte er hinreichende Muße, besonnene Auswahl zu treffen und mit Bedacht zu rekrutieren; wobei ihm Wenzel, dessen Bühnenbekanntschaften ins Unzählige gingen, vortreffliche Dienste leistete. Er vermied grundsätzlich all' jene Mitglieder, die im dünkelhaften Schlendrian und in der indolenten Nachsicht des heutigen Publikums sich als sogenannte gute Akteurs behaupteten, ohne andere Vorzüge, nur durch starke Lungen, anmaßenden Dünkel, langjährige Übung. »Mit solchen Menschen, die man von allen Seiten rühmen hört, ist nichts zu erzielen,« äußerte er gegen Wenzel. »Willige, fleißige Anfänger sind mir lieber. Es wird so viel von Theaterschulen geredet und geschrieben. Versuchen wir's einmal damit!«

Wenzel wurde für Wulf, was Inspektor Tod für die Hoffnursche Unternehmung gewesen war, mit dem Unterschiede, daß hier die Grenzen scharf gesondert, jenen thätigen und anhänglichen Menschen einzig und allein im Gebiete des Materiellen und Mechanischen festhielten, während Wulf, der ihm vollkommen vertraute, sich ausschließlich um das Gedeihen der Darstellung bekümmerte, für welches ihn keine Mühe, keine Anstrengung verdroß. Es läßt sich behaupten, daß er in den Erfolgen seiner überall mit ehrenvoller Anerkennung aufgenommenen Truppe noch einmal wieder auflebte. Viele achtbare Stimmen wurden laut, die öffentlich rühmten, daß Tods Bühnenleitung sich in diesen der Schauspielkunst so ungünstigen Zeiten nicht bloß vor allen ihresgleichen, sondern auch vor manchen höher gestellten auszeichne. Wulf machte, indem er unermüdlich auf sein Hauptziel hinarbeitete, gewissermaßen die idealen Träume seiner Jugend zur Wahrheit. Das kräftigte ihn allerdings und ließ ihn nicht ermatten. Aneifernder jedoch als diese Befriedigung angeborner Theaterlust wirkte noch der Anteil, welchen Kordelia den Fortschritten der ambulanten Gesellschaft zu gönnen ... schien! Sie besaß die Fähigkeit, den Vater glauben zu machen, ihr Gram könne allgemach erlöschen, ihr Schmerz könne schwinden, ihr Herz könne gesunden! Die Zeit sei der beste Arzt. Lebenslust und Freude würden wiederkehren und mit ihnen auch vielleicht der Trieb, sich selbst einer Kunst und deren Ausübung zu widmen, deren vielversprechenden begeisterten Jünger sie in Ernst geliebt! Sie besprach mit ihrem Vater ausführlich, was diesen so ganz erfüllte, daß er, taub und blind für ihren Zustand, in ihr die »theatertolle Tochter eines theatertollen Vaters« erblickte. »Es steckt im Blute,« sagte er oft zu Wenzel, »sie hat's von mir! Und das ist ein großes Glück; denn wie können wir sonst so gut zusammen passen und wie könnten wir so glücklich miteinander leben, wenn es unglücklicherweise anders wäre?«

Wenzel schwieg zu diesen Ergüssen zweifacher Befriedigung. Ihm war die Tochter des Herrn und Meisters längst nicht mehr ein Mädchen wie andere junge Mädchen, welche Blumen vom Grabe des ersten Geliebten pflücken, um sie noch von Thränen bethaut dem zweiten zu reichen. Er war längst von der Ansicht abgekommen, daß sie sich »erholen« werde. Ihre erkünstelte Teilnahme an Wulfs scenischen Experimenten erkannte er nun, nicht mehr umnebelt von poetischen Anregungen, in seiner prosaischen handwerksmäßigen Würdigung des Theaterwesens, für das, was sie war: für das Übermaß kindlicher Hingebung, für die sublimste Lüge einer des irdischen Daseins überdrüssigen Schwärmerin; – wenn er gleich sich einfacher darüber ausdrückte. Komödie spielen, sagte er zu sich selbst, wird sie, scheint mir, niemals; gleichwohl ist sie eine große Komödiantin und spielt unserm Herrn täglich eine Komödie vor. Aber wir sind nicht weit vom fünften Akte, und da wird unversehens eine Tragödie daraus werden.

»Schmarren-Tods Entreprise« machte auch darin eine Ausnahme von den meisten andern, daß die Kasse prosperierte. Er gewann kleine Überschüsse. Eine seiner ersten Sorgen ließ er es sein, denen, die ihn großmütig unterstützt hatten, ihre Vorschüsse zu überschicken. Einige Rimessen (z. B. an Raimund, an Schuster) kamen zu spät; die sie empfangen sollten, hatte man schon begraben. Julius erwiderte: Das sei höchst unnütz gewesen, aber die Sendung freue ihn, weil sie beweise, daß Kamerad Tod wieder zum Leben gekommen. Was ihn betreffe, so fehle es ihm an Fähigkeit, das Alter mit gebührender Würde zu tragen. Er habe sich so lange wie möglich dagegen zur Wehr gesetzt; nun gehe das nicht weiter; er müsse klein beigeben. Und wenn der Tod (er meine hier nicht den Kameraden dieses Namens) nicht freiwillig und beizeiten ihn abhole, so fürchte er fast, er werde der Versuchung unterliegen, dem Sensenmanne entgegen zu gehen. Ist leider eingetroffen.

Wie Wulf Kordelien diese Zeilen vorlas, äußerte er: »Der Gute hat keine Tochter wie ich! Er lebt mit seiner alten mürrischen Haushälterin. Es ginge mir wahrscheinlich wie ihm, wenn du nicht bei mir wärest. O, welch' ein Segen Gottes, daß er's mir so schlecht gehen ließ mein langes Leben hindurch! daß er mir die schönen Gaben nur verlieh, damit ich desto schmerzlicher empfinden sollte, wie sie mich auf keinen grünen Zweig brachten, weil das Glück mir fehlte. Was wär' ich wahrscheinlich für ein übermütiger, undankbarer Patron geworden! Und wie unglücklich wär' ich auf meine alten Tage als Glückspilz, während jetzt ... o, gesegnet sei mein Unglück; es gab mir dich!«

Ich kann, ich darf ihn nicht um seinen Frieden bringen, rief Kordelia, wie sie allein war. Ich muß ihn in dem Wahne erhalten, der ihn beseligt. Hat er nicht lange genug entbehren, leiden, ringen müssen? Hat er nicht mühselig genug das Recht erworben, nach so viel Stürmen die Sonne heiter sinken zu sehen? Freue er sich des kurzen, frohen Abends! Die Nacht wird rasch genug hereinbrechen ... Armer Vater! – – –

Sie sind einige Jahre umhergezogen. Der gute Ruf, der ihnen voranging, erwarb ihnen Gunst und wohlwollende Gönner. Ihre Konzession wurde erweitert. Man berief sie aus einer Provinz in die andere. Wulf, der sich in einigen Lieblingsschülern selbst wieder zu hören glaubte, verfiel der eben so verzeihlichen als erklärlichen Täuschung, die von ihm sorgfältig einstudierten Aufführungen für vollkommen zu halten. Alte Leute, wenn sie sich nicht in demütigem Eingeständnis ihrer Schwächen einer entsagenden Bescheidenheit befleißigen, sind allzu geneigt, sich und ihren Wert zu überschätzen. Unser Freund geriet auf diesen Irrweg. Seine artistische Selbstüberhebung brachte ihn denn auch in mancherlei Konflikte mit eitlen, unlenksamen Schauspielern. Wir könnten verschiedene spaßhafte Theater-Anekdoten einweben. An allzu reichlichem Vorrat mangelt es nicht, und wo unser Held sie nicht liefert, stünden deren im Überfluß zur Auswahl von großen litterarisch-dramaturgischen Celebritäten geliefert. Dies Kapitel ist unerschöpflich... wie die Eitelkeit der Menschen. Doch weil jeder Scherz ein frivoler Mißton zu werden droht, wo der feierliche Ernst in Gestalt einer sterbenden Jungfrau bereits die Grabtücher und Trauerflore entfaltet, wollen wir gern unterschlagen, was nicht unbedingt zur Sache gehört. Die Wirklichkeit nimmt solche Rücksichten keineswegs; die Erfahrung lehrt es, daß die keckste Posse häufig der Trauer auf die Schleppe tritt; daß Lachen und Weinen sich kampfhaft mischen. Der Erzähler dürfte diese Mischung nur wagen, wenn er seiner Sache sehr gewiß wäre. Und wer ist das? – Jean Paul Friedrich Richter lebt nicht mehr.

Der Leser weiß Wohl, was diese kurze Einleitung bedeuten soll? Wir führen ihn an Kordelias Ruhebett. Sie hat gestern ihrem Vater nach langem Zögern eingestanden, daß sie unfähig sei, fürder die ihr anvertrauten Kleidervorräte zu beaufsichtigen. Mit diesem Geständnis in einem Atem war ausgesprochen: »Ich erliege!« Nicht in Worten. Wohl in der That. Als ob die letzten Kräfte eines sich innerlich verzehrenden Lebens nur noch ausgereicht hätten bis dahin, war es plötzlich mit jeder Täuschung vorbei. Wulf erkannte die schreckliche Wahrheit. Ein greller Blitz hatte das Dunkel beleuchtet, worin er so lange blind gewesen. »War ich wahnsinnig?« fragte er den auf diesen Ausgang vorbereiteten Wenzel; »war ich wahnsinnig, das nicht zu erkennen? Sie stirbt ja, seitdem sie bei mir ist! Gebrochenen Herzens kam sie von seinem Grabe in meine Arme! Und wir haben sie gequält mit dem Theatertrödel! Wie nichtig, kleinlich, erbärmlich muß ich ihr erschienen sein! Wie lieblos und selbstsüchtig, daß ich sie, die ja schon jener Welt angehört, in die Lappen unserer Thorheit verwickelte! Konnte ich sie nicht ruhig sterben lassen, wo er begraben liegt?«

Wenzel widersprach nicht. Er beugte sich und bekannte auch seine Schuld. Er habe »das Fräulein halt nach andern Schauspielern beurteilt!« Zu spät habe er den Irrtum entdeckt!

»Ihnen mach' ich keine Vorwürfe. Sie meinten es gut mit uns, da Sie mir Beschäftigung und erneuerte Thätigkeit anrieten; Sie konnten Kordelias Herz nicht ergründen! Ich hätt' es auf den ersten Blick durchschauen müssen, wär' ich nicht der unverbesserliche Theaternarr, der aus unzähligen Belehrungen und Züchtigungen nichts mitbringt als den wilden Trieb, sich wieder in den Jammer zu stürzen, dem er kaum entronnen war; der sogar den Segen, Vater zu sein, in Fluch verkehrt und die geliebteste Tochter umbringt.«

Diese seine Anklagen legte er auch zu Kordelias Füßen nieder und erflehte knieend ihre Verzeihung.

Doch sie richtete ihn mit sanftem Tone auf, und wie eine Stimme aus dem Jenseits klang ihre Rede: »Sei gerechter gegen dich selbst, mein guter Vater, und erbitte nicht Verzeihung für dich, die du mir gewähren sollst. Ich bin es, welche sich anzuklagen hat, weil ich die Pflichten des Kindes verletzt, weil ich den Geliebten dir vorgezogen habe. Dir, dir allein hätte ich gehören sollen vom Tage an, wo Gott mich den unvergessenen, treugeliebten Freund meiner Mutter finden ließ! In dir, in deinem Glücke, in deinen Freuden hätte ich aufgehen müssen. Du wärest billig der Zweck meines Daseins geworden ...! Ach, und ich habe dich verraten, betrogen, habe dir heuchlerisch zugelächelt, voll kindlicher Liebe zwar, dabei dennoch ohne rechte Freude, ohne wahre Lebenslust. Mit verheimlichter Sehnsucht, die von heißen Thränen genährt allmählich wuchs und an mir nagte, hab' ich mich dem Wunsche hingegeben, dem Verstorbenen recht bald nachfolgen zu dürfen. In ihrem Schmerze schwelgend hat die böse Tochter ihren armen einsamen Vater dem verstorbenen Geliebten nachgesetzt, der ja ihrer nicht bedarf, um selig zu sein. Und nun, wo jener unkindliche Wunsch in Erfüllung gehen will, wo ich seinen Ruf, seinen Gruß schon zu vernehmen wähne, kommst du, dich vor mir anzuklagen, und bittere Reue überfällt mich. O, ich bin undankbar gegen dich gewesen; entsetzlich undankbar! Hast du nicht alles angewendet, mir wohlzuthun, mein Dasein freundlich zu beleben? Diese bunte poetische Welt, die du wie ein Zauberer aus Nichts um mich her geschaffen; dieses phantastische Reich, worin die Gestalten unserer Dichter sich bewegen wie Boten einer geistigen Zukunft; ... war diese Welt nicht auch des Verstorbenen Heimat? Gehörte er nicht diesem Reiche als eifriger Bürger an mit fleißigem Streben? Ist nicht in dieser Umgebung, worein du mich versetztest, seine Nähe mir stündlich fühlbar geworden? War nicht jede gelungene Vorstellung eines schönen Werkes, einer sinnigen Dichtung, gleichsam eine Totenfeier, die seinem Andenken galt? Ein Opfer, ihm dargebracht? Was irgend einem deiner Schüler Gutes geschah durch dich, was sie von dir lernten, wozu sie durch dich aufgemuntert gelangten, das war ja zugleich eine Blume in den Kranz deines fleißigsten, deines besten Schülers, wurde ein neues Band zwischen ihm, dir und mir! Und diese Wohlthaten hab' ich dir schlecht vergolten; habe mich hinterlistig vorbereitet zur Flucht von dir; will dich allein lassen, armer, alter, betrogener Vater, mit der tiefen Wunde im Angesicht, mit so vielen tieferen Wunden in der Brust. Sterben wär' eine Wonne, wenn die Reue, wenn das Erbarmen für dich sie mir nicht trübten! Ich konnte den Tod kaum erwarten, und nun er kommt, fürcht' ich ihn um deinetwillen!«

»Kordelia, habe Dank! Du entsündigst mich, du zeigst mir den Pfad zum Lichte. Lehre mich sterben! Ich spreche dich los von allem, was du kindliche Pflicht nennst. Wie könntest du Pflichten gegen den haben, der kein Recht auf dich erwarb? Nur die Liebe vereinte uns; möge die Liebe uns trennen. Ich trete dich dem Seligen ab, ohne Neid, ohne Verzweiflung. Ziehe voran ... ich bleibe noch! Wie lange? Wer weiß es? ... Ich werde dir folgen! Wohin? Wer sagt es? ... Und nun keine Silbe weiter. Wenzel besorgt unsere Geschäfte. Ich gehe nicht mehr von dir, so lange du atmest. Und ich will in diesen Tagen nur von ihr mit dir sprechen, nur von ihm! Julia und Ernst ... diese zwei Namen sollen unsere ganze Weisheit ausmachen und Vertrauen auf Gott unsere Stärke.«

Wie der Arzt vorher gesagt, so begab sich's: Kordelia hatte keinen Todeskampf. Sie entschlummerte lächelnd.

»Nun ist sie erst recht schön,« sagte Wulf, da Wenzel mit gefalteten Händen vor der Leiche stand und schluchzte; »nun sieht sie ihrer Mutter gleich, wie die in der Morgendämmerung bleich und starr in Ohnmacht lag, als ich Abschied genommen hatte ... für immer! Nun ist sie schön! So schön kann nur ein Leichnam sein! Ja, Freund, das ist was man einen Leichnam nennt! Das steht nicht mehr auf, das regt sich nicht, das flüstert nicht mehr ... keinen Hauch mehr! ›Ein Hund, ein Pferd, eine Ratte soll Leben haben, und meine Kordelia keinen Hauch!‹ König Lear stirbt gleich hinterher. So weit sind wir noch nicht. Wir haben noch Geschäfte. Regierungsgeschäfte! Ich dachte den Scepter in Eure Hände niederzulegen, Wenzel Böhm, und mich auf meine Herrschaften zurückzuziehen. Jedoch sie hat es anders gewollt. Sie sah in diesen Spielen eine Totenfeier für ihren verstorbenen Bräutigam. Dadurch hat sie dem unheiligen irdischen Bühnentreiben eine gewisse Weihe, eine höhere Bedeutung hinterlassen. Ich darf mich nicht so plötzlich davon entfernen. Noch einige Wochen will ich's mit ansehen, in ihrem Sinne walten, Euch vorbereiten auf die gänzliche Übernahme... und wenn wir so weit sind, und Ihr seid gründlich eingeschossen ... dann Wenzel Böhm .. dann kann ich abkommen. Nicht wahr? ... Jetzt wollen wir zur Probe gehen.« –

Ein Vierteljahr nachher ordnete Wulf mancherlei Kleinigkeiten, von denen er sich nicht trennen und die er in einem nicht sehr umfangreichen alten Koffer noch unterbringen wollte. Das war derselbe Koffer, der seine geringen Effekten barg, als er Berlin, nach seinem letzten Aufenthalte daselbst, zu verlassen eilte. Verschiedene unbenutzte Gegenstände, auch Bücher, Papiere lagen zerstreut auf dem Boden dieses Behältnisses durcheinander. Beim Herausnehmen derselben geriet ihm ein mit Mundlack geschlossenes Couvert in die Hand, welches keine Aufschrift trug. Er öffnete es und fand eine Anweisung an das Haus I. M. und Comp., welche dahin lautete, ihm, dem Überbringer, die Summe von fünftausend Thalern gegen Quittung bar auszuzahlen. Diese Anweisung war unterzeichnet: Ludmilla, Gräfin Tauern-Kauzburg-Tauern. Jahreszahl und Datum trafen überein mit dem letzten Tage, den er in der Residenz verlebt hatte. Er besann sich jetzt auf jenen wortkargen Diener Ludmillas, der ihn damals beim Einpacken angetroffen und sich in der Nähe des Koffers zu thun gemacht. – »Nun weiß ich,« sprach er, »wohin mich mein Schicksal führt. Und ist sie tot, so werden ihre Nachkommen leben, und Kauzburg wird auch noch stehen. Das muß ins reine gebracht werden vor meinem Ende.«

*   *   *

Im alten Schlosse zu Kauzburg ist soeben die herrschaftliche Tafel aufgehoben worden. Zwei Knaben von elf bis zwölf Jahren stehen vor einer alten, mehr traurig als verdrießlich darein schauenden Dame und erinnern sie wiederholentlich an ihr Versprechen, dessen Erfüllung sie endlich einmal verlangen.

»Seid doch nicht gar so kindisch,« erwiderte sie ihnen; »wozu bedürft ihr meiner dazu? Bittet den Kastellan, daß er euch hinauf geleitet. Übrigens ist nicht viel zu sehen!«

»O doch, liebe Großmutter! Die Tochter des Kastellans hat uns wohl gesagt von den schönen großen Bildern an den Wänden, größer wie wir ... nicht wahr, Ägydius?«

»Ja gewiß, größer wie wir; und wir sind doch schon recht groß für unser Alter!«

»Und die Porträts, die da oben hängen, sind samt und sonders unsere Ahnen, von denen wir abstammen.«

»Hat euch das auch des Kastellans Tochter gesagt?«

»Ja! Sie weiß es ganz genau, von ihrem Vater weiß sie's.«

»In gerader Linie, wie's auch auf einem großen Stammbaum eingeschrieben ist. Daher wissen sie's so bestimmt.«

»Das freut mich zu hören!«

»Und, siehst du, liebe Großmama, du sollst uns die Stelle am Stammbaum zeigen, wo unsere Namen zu stehen kommen, denn wir sind doch auch Zweige des alten Geschlechtes.«

»Ein paar dumme Jungen seid ihr, denen einstweilen die Zweige der Birke zu einer Rute geflochten dienlicher wären, als die Verzweigung des Tauern-Kauzburgischen Stammbaumes.«

»Großmutter, wo denkst du hin? Wir, und die Rute? Schickt sich das für junge Kavaliere, die schon ihre eigenen Reitpferde haben?«

»Besser vielleicht, als die Reitpferde sich für sie schicken!«

»Wer hat sie uns denn geschenkt, als du?«

»Weil ich zu schwach bin!«

»Nein, weil du so gut bist! Und deshalb wirst du jetzt auch mit uns in den Ahnensaal gehen; und damit du nicht so viel zu steigen brauchst, wollen wir dich tragen. Komm, Wulf, hilf du mir bitten: dir kann sie nichts abschlagen.«

Der Jüngere, den sein Bruder Wulf angeredet, schmeichelte sich an die Großmutter heran und bat wie ein recht verwöhntes Kind, im voraus überzeugt, daß seinen Bitten kein Widerstand geleistet werden könne: »Sieh, Großmutterchen, Kastellans Hanne sagt, dort oben hinge auch das Porträt von einer alten Dame, der du aufs Haar ähnlich bist. Da sollst du dich neben hinstellen, und wir wollen dich Zug für Zug mit dem Bilde vergleichen. Weißt du, was für eins ich meine?«

»Das weiß ich nicht, mein Wulf! Es sind mehr als vierzig Jahre vergangen, seitdem ich diesen Saal betreten. Damals bin ich ein junges Mädchen gewesen und wenig geneigt, Ähnlichkeiten zwischen mir und alten Frauen hervorzusuchen. Ich wüßte auch wahrlich nicht (setzte sie leise hinzu), woher sie kommen sollten.«

»Seit vierzig Jahren nicht? – So lange hast du unsern Ahnen deine Aufwartung nicht gemacht? – Dann ist's die höchste Zeit! – Komm, Großmutter! – Du mußt!«

Sie faßten ihre beiden Hände und zogen an ihr. Da sie sich immer noch weigerte, rief der Wulf: »Auf Ehre, Großmutter, wenn du nicht dein Wort hältst, bin ich böse!«

Dabei warf er ihr einen drohenden Blick zu und spitzte zugleich die aufgeworfenen Lippen wie zu einem Kusse.

»Wulf! sieh mich nicht so durchdringend an; diese Augen thun mir weh!«

»Aha, Hab' ich dich? Ja, wenn ich dich scharf ansehe, mußt du alles thun, was ich verlange. Das Hab' ich schon von klein auf weg gehabt. Jetzt zieh' tüchtig, Ägydius; jetzt wird sie sich nicht mehr sträuben!«

Und die muntern Knaben ließen nicht los; bald küßten sie der alten Frau die Hände, bald zerrten sie wieder an ihr und brachten sie wirklich zum Nachgeben.

Der Kastellan harrte bereits am Ende des Korridors, wohin Ägydius ihn bestellen lassen, wo er sich auch, sein gewaltiges Schlüsselbund tragend, gehorsamst eingefunden hatte, doch nur der »kleinen Herrschaft« gewärtig. Daß die alte Gräfin ihm und dem Schlosse die Ehre erweisen werde, auch nur einen Schritt in jene, außerhalb ihrer Apartements gelegenen, nie besuchten Räume zu thun, hätte er sich nicht träumen lassen. »Gräfliche Gnaden,« sprach er, »überraschen mich zwar durch Hochdero ganz unerwartete Gnadenbezeugung, doch werden Hochdieselben zufrieden sein und, wie ich verhoffe, alles in schönster Ordnung finden. Wie ich vor drei Jahren, gleich nach unseres Grafen Tode, von Tauern hierher versetzt worden bin, sah's wohl erschrecklich wüst aus, und ich fiel in eine entsetzliche Unordnung hinein. Nach und nach hab' ich denn aufgeräumt. Wenn Reisende einsprechen, die das Schloß betrachten, da freuen sie sich immer über die Sauberkeit, die überall vorherrscht, und besonders den Ahnensaal können sie nicht genug loben. Der ist in früheren Zeiten ein förmliches Fledermausnest gewesen, wie die Leute sagen; unverschlossene Thüren, zerbrochene Fensterscheiben ... Es soll auch arg hier zugegangen sein. Die Komödianten, die dazumal ...«

Hier unterbrach sich der geschwätzige Mann. Ob deshalb, weil er vor der ersten Eingangsthür angelangt diese mit Hilfe des schweren Schlüssels öffnen mußte, ob deshalb, weil ihm noch rechtzeitig in den Sinn kam, daß der alten Gräfin gegenüber kein Mensch in Tauern jemals gewagt von Kauzburger Komödianten zu reden ... wir wollen das nicht entscheiden.

Die Knaben rannten wie toll durch das weite Gefilde, blieben vor einzelnen Porträts stehen, machten ihre Glossen, liefen weiter; Ägydius suchte den Stammbaum und an diesem »seinen Platz;« Wulf suchte das Bild auf, welches der geliebten Großmama gleichen sollte, fand nicht die geringste Ähnlichkeit und erklärte es für Blasphemie, jene »langweilige häßliche Frisur« mit seinem schönen Großmütterchen vergleichen zu wollen.

Die alte Gräfin ging langsamen festen Schrittes im Saale auf und ab. Sie würdigte weder die Ahnenbilder, noch die Beschreibungen des Kastellans, was er für Herstellung der kostbar geschnitzten Rahmen und der gebrechlichen Sessel gethan, ihrer Aufmerksamkeit. Sie war außerhalb der Gegenwart.

Nachdem Wulf seine Neugierde gesättigt hatte, machte er sich an sie: »Was ist dir denn, Großmama? Ärgerst du dich, daß wir dich beschwatzt haben? Viel Schönes giebt's nicht hier. Ich hatte mir's weit anders vorgestellt!«

»So geht's mit all unsern Erwartungen und Hoffnungen im Leben, mein liebes Kind. Wir machen uns gern große Vorstellungen von dem, was wir wünschen; und wenn wir's dann erreichen, befriedigt es uns selten.«

»Aber weshalb bist du traurig?«

»Ich bin nicht traurig, mein Wulf!«

»Oder verdrießlich? Bist du mir böse?«

»Dir? Dir?« – Und sie nahm des Knaben Kopf in beide Hände, küßte ihn auf die Stirn und wiederholte: »Dir? ... und hier! in diesem Saale!«

Als er sich von ihr losmachte, um ihr ins Gesicht zu gucken, sah er Thränen über ihre Wangen rinnen.

Die Gräfin, die feste, starke, unerschütterliche Frau, die immer ernsthaft, gegen all' ihre Umgebungen kalt und verschlossen blieb, die als völlig gefühllos gegolten haben würde, hätte sie nicht für die vater- und mutterlosen Enkel wahrhaft mütterliche Sorgfalt, hätte sie nicht für Wulf manchmal einen zärtlichen Blick gehabt! ... die alte Gräfin, und Thränen?

Wulf schrie, daß es im großen hohen Räume wiederhallte: »Ägydius, die Großmutter weint!«

Beide Knaben umschlangen sie und stürmten mit Fragen in sie ein: »Du hast ja nicht geweint, als Vater Konstantin begraben wurde, das weiß ich noch ganz gut! – Ich habe geglaubt, du könntest gar nie weinen! – Was ist dir denn widerfahren?«

Der Kastellan trat auch herzu ...

Sie winkte diesem und dem älteren Enkel, man möge sich nicht um sie bekümmern. Beide zogen sich zurück, und Ägydius führte den Kastellan zum Stammbaum und ließ sich die Verschlingungen der Häuser Tauern und Kauzburg auseinandersetzen.

Die Gräfin nahm Platz auf einem der alten hohen Lehnsessel und umschlang ihren Liebling Wulf mit dem Arme. »Sage mir, mein teures Kind,« fragte sie, nur ihm verständlich, »wie würde dir sein, wenn du heute plötzlich, unerwartet den Befehl erhieltest, von Kauzburg, wo du dich so heimisch und glücklich fühlst, von deinem Erzieher, deinen guten Lehrern, von mir, von deinem Bruder, von allem, was dir wert ist, zu scheiden, auf lange unbestimmte Zeit dich zu trennen? Was würdest du beginnen?«

»Ich würde mich dagegen wehren!«

»Wenn das aber vergeblich bliebe? Wenn du gewaltsam dazu gezwungen würdest?«

»Was wollte ich machen? Ich bin ja noch ein Kind! Ich würde halt schrecklich heulen!«

»Und wenn du dann nach vielen vielen Jahren zurückkämst, fändest die Deinigen tot, ringsumher vieles verändert, nur die Mauern unseres alten Schlosses stünden noch, und du gedächtest dieser Stunde, gedächtest meiner ... und stiegst herauf in diesen Saal, stelltest dich vor diesen Sessel, fändest ihn leer... was würdest du thun, mein Wulf?«

»Weinen würd' ich, Großmutter; recht erbärmlich weinen, wie ein ganz kleines Kind!«

»Nun siehst du! Also sei gerecht und laß mich auch weinen!«

Er küßte ihr die Thränen von den Augen, trocknete verstohlen die seinigen ab, und begab sich zum Bruder, dem der Kastellan mit wichtigen Mienen einen Ägydius zu Tauern um den andern ausstöbern half.

*   *   *

In den Parkanlagen, welche wie ein großer grüner Kranz das altersgraue Schloßgemäuer umschlingen, wandelt ein gebückter, auch altersgrauer Fremdling umher, als wenn er etwas Verlorenes aufsuchen wollte. Er scheint weder Weg noch Steg zu kennen, denn er wendet sich bald rechts, bald links, dreht immer wieder um, blickt forschend nach allen Seiten, so daß es den Gartenarbeiten auffällig wird, und daß ein Bursch in grünem Rocke ihn anruft: »He, Landsmann, Ihr sucht wohl den gestrigen Tag, oder habt Ihr einen Trunk über den Durst gethan?« – Dann wendet er sich zu den Tagelöhnern: »Donnerwetter, das ist eine verfluchte Physiognomie, die der alte Rumtreiber im Gesichte trägt!«

»Ich wollte nur fragen, wo's nach der ehemaligen Manege geht, nach der alten Reitbahn? Die muß doch hier herum wo gestanden haben, dächt' ich?«

Der junge Gärtner schüttelte den Kopf. Ein Arbeiter dagegen nickte beistimmend: »Ja, das ist richtig, das weiß ich aus meiner Jugend. Ein großes ödes Gebäude, verfiel schon; der selige Graf, wie er die Herrschaft zum erstenmal besuchte ... heißt das, nicht der Graf Konstantin, seinen Vater mein' ich, der erst Reichsbaron geheißen hat ... der nannt' es den Komödiantenstall; denn da drinnen haben sie gespielt; bin selber drin gewesen. Und weil's zu nichts gebraucht wurde, ließ es der Graf niederreißen. Und wie hernachgehends die alte Gräfin Witwe wurde, und ihr Sohn der selige Konstantin heranwuchs, ist der leere Platz mit in die Anlagen hineingezogen worden und bepflanzt. Seht Ihr, Landsmann, justament wo Ihr jetzt das weiße Ding von Stein seht, die hohe Säule, da war das Theatrum gewesen. Da hat's gestanden. Und die Säule ist aufgerichtet worden vor fünf oder sechs Jahren. Die hat der verstorbene Graf Konstantin setzen lassen. Der Gärtnergehilfe kennt das nicht; der ist erst vorigen Monat eingetreten.«

»Ich dank' Euch vielmals,« sprach der Fremde und schlich nach dem Denkmale hin.

Einfacher weißer Marmor auf einem Postamente von schönem grauem Granit. Üppig wuchernder Epheu rankte sich in reichen Gewinden um die schlanke, glänzend blanke Säule. Zwischen dem Grün zitternder Blätter war in goldenen Lettern zu lesen:

»Dem Vater!«

»Ein guter Sohn, der verstorbene Graf!« murmelte der Fremde; »hat seinen Vater auch noch im Tode geehrt! Oder denjenigen vielmehr, den er dafür hielt! Und das kommt auf eins heraus; denn Gott sieht das Herz an.«

Dann pflückte er ein Epheublatt und legte es zwischen die Papierblätter einer großen Brieftasche, wo schon mehrere getrocknete Zweiglein und Blüten sich befanden. Und aus unterschiedlichen zusammengelegten Papieren suchte er eines in Briefform hervor, überschrieben: »Der hochgeborenen Frau Ludmilla Gräfin Tauern-Kauzburg, geborenen Reichsfreiin Tauern-Kauzburg.« Damit begab er sich zu den Arbeitern, die sich gerade anschickten Feierabend zu machen, denn es schlug sieben Uhr. »Möchtet Ihr,« fragte er denjenigen, welcher ihm Auskunft gegeben hatte, »diesen Brief einem der Diener vom Schlosse überreichen?«

»Nein,« entgegnete der Mann, »das thut nur lieber selbst. Mit solchen Bettelbriefen ist man bei der Livrey nicht gern gesehen und wird angeschnauzt.«

»Das ist kein Bettelbrief, mein Lieber; im Gegenteil!«

»Ha ha, Ihr wollt mir, denk' ich, weismachen, daß Ihr der Herrschaft etwas bringt? Ne, Freund, da sucht Euch einen Dümmeren aus, der das glaubt. Holen wollen sie alle, gebracht hat noch keiner nichts!«

»Dann bin ich eine Ausnahme, denn ich reiste eigens nach Kauzburg, um Eurer Gräfin den Inhalt zuzustellen!«

Die Leute gaben sich hinter seinem Rücken Zeichen, daß es wohl in des Fremden Kopfe nicht richtig wäre, rafften Spaten, Schaufeln und Rechen zusammen, warfen sie auf ihre Schubkarren und brachen auf.

»Aber das ist doch ungefällig,« rief ihnen der Fremde nach – und in diesem Augenblicke sprangen zwei muntere Knaben, die sich mit etlichen großen Hunden jagten, hinter den Büschen hervor.

»Was giebt's denn?« fragte der Ältere; »wer ist denn hier ungefällig?«

Der Gartengehilfe setzte dem kleinen Grafen die Sache auseinander, und daß der zerhackte Kerl zuverlässig auf ein Geschenk spekuliere.

»Um desto eher muß Großmama den Brief erhalten,« sprach der Jüngere. »Ägydius, bleibe bei den Hunden, daß sie nicht ausreißen. Ich will das besorgen; gieb her, alter Mann!«

Jetzt, meinten die Arbeiter, wollten sie's auch thun!

»Ist nicht nötig,« rief der kleine Graf; »ich laufe geschwind. Warte nur hier! ich bring' dir Antwort!«

Bald war der Fremde ganz allein.

Er setzte sich auf eine Stufe des Postamentes, welches die Säule trug. Die Abenddämmerung trat ein. Das Epheulaub rauschte von sanften Lüften durchweht. Eh' ein Viertelstündchen vergangen, wurd' es dunkel. Der Fremde recitierte eintönig:

»Das Neue dringt herein mit Macht. Das Alte,
Das Würdige scheidet. Andre Zeiten kommen.
Es lebt ein andersdenkendes Geschlecht!
Was thu' ich hier? Sie sind begraben alle,
Mit denen ich gewaltet und gelebt.
Unter der Erde schon liegt meine Zeit;
Wohl dem, der mit der neuen nicht mehr braucht zu leben!«

»Nicht alle sind begraben,« sprach eine tiefe Frauenstimme dicht hinter ihm. »Es giebt noch eine, die deiner alten Zeit angehört. Sei willkommen in Kauzburg, Wulf!«

Langsam erhob er sich von seinem niedern Sitze: »Gräfin, Sie selbst?...?«

»Wir wähnten dich gestorben, weil die Anweisung meinem Bankier nicht eingereicht worden. Daß du lieber Mangel dulden, als eine Unterstützung von mir annehmen wolltest, schien mir unglaublich.«

»Mangel hab' ich nicht gelitten. Mir ward das Glück zu teil, meine Tochter zu finden. Freilich hat es nicht lange gewährt. Sie ist begraben.«

»Und dein Sohn ist es auch. Die Knaben, die du gesehen, sind deine Enkel.«

»Aber ich darf sie nicht so nennen!«

»Nicht vor den Leuten; das ist der Lauf der Welt. Doch sie sollen dich achten und lieben lernen. Sie wissen schon aus dem Munde ihres seligen Vaters von einem armen Manne, dem er, dem sie unendlich viel zu verdanken haben; dessen zarter Sinn, dessen bescheidene Aufopferung niemals hoch genug angeschlagen werden können.«

»Aus dem Munde ihres Vaters?« ...

»Dem ich es eingestand, daß du sein Vater bist! Ich hielt dich, wie gesagt, für tot. Konstantin verlor seine Gemahlin; eine holde, liebe, reine Frau, in der Geburt des zweiten Knaben; desselben, der mir vorhin deinen Brief gebracht. Er hatte sie schwärmerisch geliebt. Einen Ersatz gab es für diesen Verlust nicht mehr. Da näherte er sich voll tiefer einsamer Trauer mit erneuerter Anhänglichkeit der Mutter, gegen die mancher Argwohn in seiner Seele gewaltet, der er sich einigermaßen entfremdet hatte. Und ich ergriff diese Gelegenheit mit Begierde, mir endlich die Last von der Brust zu wälzen, die mich so lange gequält. Ich legte ein vollständiges Bekenntnis ab, ich machte ihn zu meinem Richter, ich unterwarf mich seinem Urteil. Er war mild. Er kam vom Grabe seiner Frau ... er verzieh seiner Mutter. Ich mußte ihm oft, viel, ausführlich von dir sprechen. Die Überzeugung, daß du nicht mehr hienieden weilest, ließ ihn den Gedanken ertragen, der Sohn eines wandernden Komödianten zu sein. Er wurde vertraut damit, und dankbar hat er anerkannt, was du für uns erduldet, was du – großmütig schweigend – für ihn gethan. Dir zum Gedächtnis taufte er seinen zweiten Sohn, den einstigen Besitzer von Kauzburg, mit deinem Namen. Der Erbe dieser Fluren, dieser Wälder, dieses Schlosses heißt Wulf. Zu deinem Andenken wurde diese Säule aufgerichtet ...«

»Und die Inschrift gilt mir?«

» Dem Vater! Wem sie gilt, wußten nur er und ich! Der Epheu, der sie umrankt, entstammt jenen Pflanzen, die wir einst in Eisenstadt erzogen. Ich hab' auf meiner Flucht den Blumennapf mitgenommen, hab' ihn während der langen, oft beschwerlichen Reise auf meinem Schoße gehalten, hab' ihn mit Thränen getränkt, und zuletzt haben die kräftig gewordenen Stämmchen hier Wurzel gefaßt, damit ich gute Bekannte fände, wenn ich in stiller Abendstunde weile, wo ich dich heute fand. Dies Denkmal bezeichnet genau die Stelle, wo die Bühne stand, von der mir das Leben aufging... Wulf, zweifle, wenn du nicht glauben kannst; trage mir grollend nach, was ich gegen dich verbrochen; aber sagen muß ich's, sagen muß ich es dir, bevor ich auf immer verstumme: nur jene ersten Tage unserer Liebe erscheinen mir wert, gelebt zu haben! Alles übrige war eitel Schein und Blendwerk!«

»Und was ist mein Dasein gewesen? Jene Tage, von denen du sprichst, Ludmilla; jene anderen an Julias Seite; die Begegnung mit meiner – ihrer Tochter; die heutige mit dir! Das sind vier Stunden in sechzig Jahren. Alles übrige war Schein und Blendwerk, darf ich mit größerem Rechte behaupten.«

»Sei nicht ungerecht! Du hattest immer die Kunst, deine Kunst, die du liebtest, für die du lebtest! In Mangel, Entbehrung und Elend hat eine Idee dich beseelt, und wenn dir äußeres Glück und Glanz versagt blieben, hast du doch in dir getragen, genährt und bewahrt, was dich über die Alltäglichkeit erhob. Das war nicht Schein und Blendwerk, das war wirkliche, reine Begeisterung für Höheres, und die kann auch jetzt noch nicht in dir erloschen sein; sonst stündest du nicht hier, sonst lägst du längst in moderichter Grube, sonst strahlten deine Augen nicht wie Gottes Sterne. Daß sie dich nicht erkannt haben, wie du verdientest... wer will ihnen zürnen? Hab' ich dich doch verkannt! Ist mir doch erst später nach unserer Trennung der Sinn aufgegangen für dich und deine Bedeutung. Du hast gelitten, hast schwer gelitten... doch gestehe selbst: war dein Leidensweg nicht eigentlich ein Triumphzug zwischen zwei Reihen hochmütiger und dummer Gaffer? Ich bin denselben Weg gegangen ohne Triumph. Wo du in deinem Berufe, in deiner Kunst Entschädigung fandest für alles, was dir sonst fehlte, da hatte ich nichts, gar nichts mich zu laben, als die Erinnerung an unseren kurzen Liebesfrühling. Und welche Labung konnte das sein, wo schwere Schuld mich bedrückte; wo Reue nichts mehr half; wo Hochmut durch sich selbst seine Strafe fand? Du, der Arme, Darbende, warst der Reiche; ich, die Reiche, bin die Arme geblieben und habe gedarbt. Wenn du deine Bretterwelt die Welt des Scheines, deine Kunst Blendwerk schiltst, so begehst du einen Frevel. Diese Welt will ja nichts weiter sein; auf Täuschung gegründet, erringt sie doch poetische Wahrheit und behauptet ihren Platz in dem Gebiete ewig unvergänglicher Dinge. Meine Welt jedoch, die Ansprüche macht auf gediegene Geltung, die keinen geistigen Halt sucht oder hat ... sie ist die Welt der Lüge, der kalten Form, der hohlen Konvenienz. Ich quäle mich darin ab, seitdem ich dich betrog und verließ; ich trage den Ingrimm wider sie herum wie einen giftigen Wurm, der an meinem Herzen bohrt; ich muß es endlich einmal ausrufen in Gottes freie Luft: es war ein erbärmlich Leben! ... Und jetzt, mein alter, müder Freund, suche dein Lager auf. Morgen miete ein Stübchen im Marktflecken und niste dich ein. Im Schlosse darfst du nicht wohnen; doch Kauzburg darfst du nicht mehr verlassen. Hier sollst du sterben ... und deine Enkel sollen dein Grab pflegen. Gute Nacht, auf Wiedersehen!«

Wulf ging den schmalen Fußpfad zwischen Tannen und Weymutskiefern, die aus starken, frischen Bäumen, wie sie damals gewesen, dürre, dicke, nur in der Krone noch grüne Stämme geworden waren; denselben Fußpfad, den er nach jeder beendigten Vorstellung einzuschlagen pflegte, wenn er sein freundliches Krämerhäuschen, sein trauliches Stübchen gesucht. Wie sich alles verändert hat, sprach er vor sich hin. Die Zweige von beiden Seiten schlangen sich sonst ineinander, ich mußte mich durchs Dickicht drängen. Wie oft kam ich heim bei hellem, reinem Winterhimmel mit Schnee bestreut, den sie auf mich herabgeschüttelt. Jetzt ist's so leer, so öde hier ... es hat sich alles verändert, nicht mein Angesicht allein. Und Ludmilla hat denken gelernt: sie hat lange gelitten; ich bleibe dabei, daß wir erst durch Leiden denken lernen! ... Wulf haben sie den lieben Knaben getauft, der ihr mein Schreiben so willig überbrachte! Und dieser Wulf ist der Erbe von Kauzburg! ...

Und Konstantin hat mir ein Gedächtnis stiften wollen, als er »dem Vater« die Säule auf diesen Platz stellte! – Und unser Epheu umrankt sie.... Ja, ich will hier bleiben; ich will hier sterben!

*   *   *

Noch ein Jahr hindurch sahen die Bewohner von Kauzburg den fremden, »garstig zugerichteten« Mann im Orte umher gehen. Die Enkel der Gräfin Witwe besuchten ihn oft in seiner still abgelegenen Behausung, holten ihn an hübschen Tagen ab und führten ihn ihrer Großmutter zu, die draußen ihrer harrte und bei freundlichem Wetter im Parke mit ihm hin und her wandelte, während die Knaben ab und zu liefen. Da haben die zwei alten Leute lange, lange, vertrauliche Gespräche miteinander geführt. Wovon sie gesprochen? Nun, wir wissend ja. Auch von Kordelia, von Ernst ... von Julia. Ohne Groll, ohne Vorwurf, ohne Bitterkeit ... wie gereinigte Menschen, deren Wünsche, Schmerzen, Irrtümer, Sünden weit hinter ihnen liegen.

Dann flüsterten ältere Kauzburger, die sich noch aus ihrer Jugendzeit her auf mannigfache Gerüchte besannen: das ist der Letzte von den Komödianten aus der Reitbahn, der dazumal...« Aber was folgte, zischelten sie sich ins Ohr.

»Das sieht ihm jetzund keiner mehr an,« sagten schließlich die Frauenzimmer.

Von Tage zu Tage schritt der Alte matter einher; nach und nach erlosch auch seiner Augen Feuer. Wie er zuletzt sein Stübchen gar nicht mehr verließ, da besuchte ihn die Gräfin, und die Enkel brachten ihm eingelegte Früchte zur Erquickung. Eines Abends trat der kleine Wulf weinend unter du Gartenarbeiter: »Unser guter Freund, der meinem seligen Vater so viel Gutes gethan, wie Großmutter sagt, ist heute gestorben; er hat uns gesegnet. Und ich werde sein Grab in Ehren halten, wenn ich Herr bin!«

Gräfin Ludmilla überlebte ihn. Sie ist sehr alt geworden; ja sie hat ihre Enkelsöhne noch als Männer gesehen. Erst kurz nach Wulfs Vermählung ist sie sanft hinüber gegangen.

Und so hätte ich euch, geneigte Leser, die Geschichte von meinem letzten Komödianten erzählt, so gut ich's vermochte. Vielleicht ist es auch meine letzte Erzählung. Möge sie euch nicht mißfallen!

 

Ende


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