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Achtes Buch.

Es würde nur ermüdend für den Leser und unersprießlich für dieser Biographie Zweck und Endziel sein, wollte der Verfasser all' die kleinen Haltepunkte ausführlich beschreiben, die unser Wulf auf seiner ferneren Wanderung machte. Sieht sich doch der Jammer kleiner Truppen überall gleich, und wo nicht gerade ein besonderes Ereignis in des Wanderers Schicksale eingreift, lohnt es selten der Mühe, auf hellere und dunklere Schattierungen des Komödiantenelendes einzugehen. Der Tadel, den man uns alten Schriftstellern so bereitwillig an den Kopf schleudert: daß wir die Vergangenheit auf Kosten der Gegenwart loben, weil wir in jener jung und lebensfroh waren, in und mit dieser jedoch, eben unseres Alters wegen, nicht mehr zu leben verstehen ... der Tadel trifft in vorliegendem Falle nicht. Wir sind imstande, mit zwei Worten darzuthun, weshalb noch zu Anfange des neunzehnten Jahrhunderts die reisenden Schauspielergesellschaften besser gewesen sein müssen, als in der letzteren Hälfte desselben. Nämlich, weil es damals ungleich weniger sogenannte stehende Theater gab, und weil auch bedeutendere Mittelstädte nur von ambulanten Unternehmungen besucht wurden, bei denen sehr ausgezeichnete Talente mitwirkten. Eine anständige Truppe hatte nicht nötig, ihr Dasein in Märkten und Flecken zu fristen; auch größere Plätze standen ihr offen, welche späterhin Anspruch auf stabile »Kunstanstalten« gemacht haben. Da bildeten sich Komitees, zusammengestellt aus prunkenden Namen und Titeln; da giebt es Präsides und Konsulenten und Theaterärzte und Kassenverwaltungen, und das klingt ausnehmend grandios. Geht man aber den Dingen schärfer zu Leibe, so zeigt sich, daß all' diese Herrlichkeiten nur auswendig schimmern, und daß die innere Beschaffenheit der Kunstanstalten zum Erbarmen ist. Denn das unter so ruhmredigen Auspicien im Herbst zusammengetrommelte Personal bringt seine in Hast und Willkür hingeschleuderten Darstellungen mit Not und Mühe über den Winter hinaus und läuft im Frühjahr auseinander, um nächsten Herbst durch eine eben so ungeschulte, sich gegenseitig fremde, uneingeübte, vom Zufall vereinigte Anzahl neuer Mitglieder ersetzt zu werden. Daraus erwachsen sämtliche Nachteile reisender Truppen, ohne daß ein einziger ihrer Vorzüge erreicht wird. Die relativ besten solcher Stadt- oder Aktientheater, wie sie heißen mögen, bieten weniger Ensemble und Zusammenspiel, als früher von der mittelmäßigsten reisenden Bande verlangt und gewährt wurde. Schon darin liegt der unumstößliche Beweis, daß es sonst besser gewesen. Der Verfasser hat seine Ansichten über diese Zustände in einem Aufsatze A. A. Zeitung 1858 Nr. 342, 343 und 344 einigermaßen zu entwickeln und die Aufmerksamkeit der Regierungen Deutschlands darauf hinzulenken versucht. Natürlicherweise wurde davon und von seinen bescheidenen Vorschlägen nicht die geringste Notiz genommen. Wozu auch?

Wulf ist von solchen sich schon zu seiner Zeit reichlich darbietenden Betrachtungen schwer bedrückt worden. Er hat, seitdem wir ihn den Wanderstab wieder zur Hand nehmen sahen, harte Prüfungen erduldet, denen sein unverwüstlicher Körper Trotz bietet, und aus welchen er, allerdings nach düsteren Gemütsleiden, endlich doch als Sieger hervorgegangen ist. Einigemal, wenn's gar nicht mehr fortwollte, wenn er Hunger und Frost erlitt, wenn keine Hilfe zu spüren war, so weit Menschenaugen reichen, überkam ihn wohl der ganze volle Überdruß am Leben, und er fragte sich ernstlich, ob es sträflich sei, solche Plackerei mit einem Male abzuschütteln. Jedesmal aber entschied seine bessere Überzeugung dahin, es sei löblicher, sich in Geduld zu fügen und Kraft wie Mut im Kampfe gegen das Verhängnis geltend zu machen; sie nicht zerstörend gegen das eigene Selbst zu richten. Nach einem solchen Entschlusse fand er sich regelmäßig belohnt durch irgend ein unverhofftes angenehmes Ereignis, dessen günstige Wirkungen freilich niemals lange anhielten. Dann verglich er sich mit den Duldern, die in früheren Zeiten der Folter überantwortet und, wenn sie schon gar zu sehr abgemartert schienen, auf kurze Zeit losgegeben wurden, damit sie frische Kräfte sammeln möchten für fortgesetzte Tortur.

Und dennoch wiederholte er oft, mitten im tiefsten Jammer, die Äußerung: Gott weiß, was das ist; je näher ich den Fünfzigen rückte, desto lebendiger ward in mir ein Vorgefühl, als ginge ich noch großen Erdenfreuden, ginge einer unbeschreiblichen Wonne entgegen. Wo sie herkommen, worin sie bestehen soll: davon weiß ich nicht das Geringste, zerbreche mir auch nicht den Kopf darüber. Meine alte Neigung, mich in Grübeleien zu versenken, ist abgestorben. Ich frage nicht mehr: was wird morgen geschehen? Ich nehme den Tag, wie er sich giebt. Doch mit jedem Tage wird mein Vertrauen fester. Und da sieht man, wozu das Unglück gut ist. Erst seitdem es mir ganz erbärmlich geht, hab' ich solche Weisheit errungen. Während ich bessere Zeiten genoß, schlug ich mich mit unnützen Sorgen herum und war nie zufrieden.

An allerlei teils ergreifenden, teils belustigenden Ereignissen, deren Zeuge Wulf geworden auf mehrjähriger mühseliger Wanderschaft durch die Sahara der Theaterwelt, mangelt es nicht. Auch liegen dem Verfasser vielfältige schriftliche Aufzeichnungen vor, die nicht benutzt werden dürfen, weil uns kein Raum dafür bleibt. Wir haben Eile, unseres Helden Leben zum Abschlusse zu bringen; sonst könnte es dem Autor geschehen, daß er vom Abschlusse des eigenen überrascht würde, bevor er diese seit Jahren begonnene Arbeit beendet.

So lassen wir ihn denn ziehen, den alten Komödianten, von Süd nach Nord, von Ost nach West, ohne mit ihm einzukehren. Wir finden ihn erst wieder überm Rheine als Mitglied einer Bande, die, nicht viel besser als jene der geschwisterlichen Compagnie Jungzwirn, sich nur in unbedeutende Orte wagt, sich aber gern zu bedeutenden Aufgaben versteigt.

Wir finden ihn wieder ... im Souffleurkasten? Ei, nicht doch; auf den Brettern! Als Darsteller!

Was hat ihn seinen Vorsätzen untreu gemacht und ihn aus dem unterirdischen Asyl wieder vor die Lampen gezogen, die ja doch sein benarbtes Antlitz nicht mehr beleuchten sollten? War's der Hunger? Ja, so prosaisch das klingt, wir dürfen's nicht leugnen, ein bißchen Hunger ist dabei gewesen; aber auch ein bißchen Spaß.

Als Wulf sich dem Prinzipal Safthütl zum Souffleur anbot, hatte er seit zwei Tagen nur ein Stück schwarzes Brot genossen. Die letzten drei Direktionen, bei denen er Einbläsers und Zettelträgers Dienste versehen, waren rasch hintereinander »eingegangen.« Es lag ihm recht viel daran, sich wieder einmal satt zu essen. Safthütl brauchte weder Souffleur noch Zettelträger: »Damit sind wir versorgt! Kann der Herr sonst was?«

»Ich konnte wohl dereinst ein wenig Komödie spielen ...«

»Haben Sie's verlernt? Ihr Organ ist wohlklingend; Sie sprechen gut. Weshalb nicht auftreten?«

»Mein blutig-rotes Ordensband mag ich nicht zur Schau tragen. Es könnten sich Frauen davor entsetzen, und man muß auf die Nachkommenschaft Rücksicht nehmen.«

»Spaßvogel! Das verschminkt sich.«

»Darauf möcht' ich nicht rechnen.«

»Können Sie dreist! Verlassen Sie sich auf meine Erfahrung. Wo bliebe unser Mulak? Der hat noch mehr zu verschminken wie Sie. Was ist Ihre Narbe gegen seine Farbe? Und wie gefällt der! Einer der ersten Intriguants, die ich noch gefunden. Jetzt quält er mich um den Jago im Othello von Rossini.«

»Sie haben auch Oper?«

»Was nicht noch! Das Schauspiel, Trauerspiel, wie Sie's nennen wollen.«

»Ah, Sie meinen den Shakespeareschen Othello?«

»Auch möglich. Mir war das Stück nicht bekannt. Der Mulak hat's in Breslau gesehen, wie er vor acht oder neun Jahren mit Debachs Reitern als junges Bürschlein dort war. Da hat ein Herr Stavinsky diesen Jago gegeben, und nun läßt er mir keine Ruhe damit. Er hat sich's glücklich verschafft. Hab's durchgelesen. Mir sagt's nicht zu; 's ist zu krudeel! Und dann kommt ein ganzes Regiment Menschen drin vor, so viel bringen wir nicht auf, wenn ich ihm wirklich den Gefallen erweisen möchte. Helfen Sie aus, hernach wollen wir weiter sehen. Wie gesagt, die Narbe verschminkt sich.«

Wulf ließ sich das Buch geben; es war die nach des jüngeren Voß Übertragung geschickt eingerichtete Abschrift. Als er sie überflog, ergriff ihn der Drang, auf die Bretter zu treten und die Herrlichkeit dieser Dichtung zu verkündigen, mit einer Gewalt, wie er sie nur als Jüngling empfunden hatte. Für diesen Augenblick vergaß er, daß Herrn Safthütls Truppe und auch ihr Auditorium wenig geeignet sein dürfte, solchem Werke Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; er vergaß, daß er von Hunger, Not und Mangel erschöpft vor einer Stunde fast liegen geblieben sei; er fühlte sich hoch begeistert und stark. »Noch einmal, ehe sie mich einsargen, will ich leben,« rief er aus. »Ja, Herr, ich bin bereit, ich thu's, ich übernehme den Othello; ich spiele binnen acht – sechs Tagen ...nur unter einer Bedingung: Sie müssen mich ernähren, sonst fall' ich um, ehe die Proben beginnen!«

Safthütl mag ein unwissender, unverständiger Direktor gewesen sein, wie es deren so viele giebt; ein hartherziger war er nicht. Sein Mitleid wurde rege. Er mietete für den Debütanten, der ihm gerade gelegen kam, ein »Zimmer mit reichlicher Kost.« Wulf konnte sich erholen, pflegen, stärken und dabei ungestört die ihm längst vertraute Rolle lernen und sich eigen machen. Diese Tage verstrichen ihm wie die glückseligsten, die er jemals verlebt. Mitunter tadelte er wohl, daß er sich zu einer Thorheit habe hinreißen lassen; daß er seiner klügeren Überzeugung zuwider handle; doch beschwichtigte er den Tadel immer wieder mit der »schwarzen Farbe«: die verschminkt wirklich alles, wie Safthütl versichert; unter ihrer schützenden Hülle kann kein Perspektiv den Abgrund meiner Narbe ausmessen. Der Mohr von Venedig braucht kein Adonis zu sein; Wunden hat er, des Krieges rauher Sohn, aus seinen Schlachten mitgebracht. Es wird gehen; ja es wird! Nur noch einmal, nur noch ein einziges Mal vergönne mir die Entzückung, mein Gott und Schöpfer! Laß diese Brust, die seit vielen Jahren im Frondienste zusammengepreßt aus niedriger Höhle flüstern, lispeln, hauchen mußte, wie es einem diskreten Einbläser ziemt, sich noch diesmal frei heben, aufatmen, deine Luft einsaugen und sie mit vollen, gewaltigen Klängen zurückströmen, daß sie Ohr und Herz dieser Kleinstädter dröhnend erschüttere und ihnen ins innerste Mark der Knochen dringe!«

Sein Gemach verließ er nicht. Safthütl kam bisweilen nach ihm zu sehen. »Sie kosten mich täglich beinahe fünfzehn Silbergroschen,« sprach er; »es ist eine große Auslage, doch wir wollen's schon hereinbringen. Ich habe Anzeigen in die Umgegend geschickt; große Zettel. Sonntag ist Vogelschießen – Montag schießen wir los!«

»Und wie sind Sie mit Besetzung der Rollen durchgekommen?«

»Zur Not werden wir ausreichen. Etliche haben wir, ich und Mulak, in eine zusammen gezogen. Es macht sich schon. Man darf den Herren Dichtern auch nicht in allem ihren Willen thun. Wenn nur die Hauptpersonen in sichern Händen sind. Und darüber hab ich keine Sorge. Weiß der Teufel, wie's zugeht, auf Sie hab' ich eine klobige Zuversicht. Gleich, wie Sie's erste Mal mit mir sprachen; .. mir ist so, als wär's ganz was Besonderes um Sie; als ob .. na, mit einem Worte: Sie reden anders wie die andern! Und wenn Sie einen ansehen ... mir wird ganz wunlich bei. Ihre Augen müssen aus der Schwärze rausfunkeln, daß den Leuten angst und bange wird.«

»Besorgen Sie mir soliden Anstrich, der fest sitzt.«

»Ohne Kummer, Herr Tod! Kienruß mit Öl; hält Farbe wie Gift. Und das Kostüm hat Ihnen meine Frau schon eingerichtet; das wird eine Pracht sein; hier noch nicht dagewesen. Morgen, Sonntag, spielen wir nicht, von wegen des Vogelschießens; haben den ganzen Nachmittag und Abend zur Probe. Montag nur noch ein Repetitionspröbchen, damit Ihr Eure schwarzen Lungen schont, und dann ... hurra! Es wird eine Mordhetze werden! Ich wette, der Othello verträgt eine Wiederholung. Dann geht's fort von hier, und drüben in ... heim beginnen wir gleich wieder mit Othello. Das klingt vornehm. Der Schuldirektor hat mir gestern erst erklärt, wie es mit diesem Othello beschaffen ist; daß ihn derselbe Engländer geschrieben, der den Hamlet gemacht hat! Der, meint' ich immer, wäre von Schröder. Man lernt nicht aus! Sie haben das wohl alles am Schnürchen?«

»So ziemlich, Herr Safthütl.«

»Mir fehlt's ein bißchen an Vorbildung, Herr Tod; dieses ist der Umstand. Ich bin zur Direktion gekommen wie jener zur Ohrfeige; durch meine Frau nämlich. Die ist eine geborene Direktionstochter, und ich bin gelernter Lohgerber. Wie's denn so geht! Sie logierten bei uns, ihre Eltern und sie, und wir verliebten uns, da ließ ich gerben gerben sein und reiste mit. Peu à peu habe ich mich denn so eingerichtet und spiele meinen Stiefel. Zärtliche Väter sind mein Fach. Aber manchmal spür' ich Lücken, und da fehlt's an einem Kopfe, der für mich denkt. Denn meine Frau ist ganz Mutter. Der Mulak wär' schon pfiffig, aber dem trau' ich nicht völlig. Diese Sorte bleibt immer etwas hinterlistig; das mag im Blute liegen. Sonst als Spieler läßt sich nichts gegen ihn einwenden. Sie werden ja sehen!«

Durch dergleichen Andeutungen wurde Wulf immer neugieriger auf seinen Jago.

Der ersehnte Nachmittag kam heran, und unser Held eilte dem altertümlich ergrauten Gebäude zu, in dessen hinteren Hallen sich das Schauspielhaus befand; viel zu groß für den hier gewöhnlichen Besuch. Zum Glück hatte das Vogelschießen sämtliche Einwohnerschaft hinausgelockt; er begegnete nur »Kunstgenossen.« Ruppig genug sahen sie aus, sahen ihn deswegen doch sehr hochmütig an. War seine Not doch kein Geheimnis; sie taxierten ihn als ihresgleichen und noch darunter. Dann die Narbe... »Was der Safthütl für Subjekte auftreten läßt!« – »Das geht bloß von Mulaken aus; der will einen neben sich haben, wo menschenmöglich noch häßlicher wie er!« – »Donnerwachsstock ja, der Tod ist garstig wie ... wie der Tod!« – »Die Augen entschädigen für alles!« – Die letzte Äußerung kam aus dem Munde eines niedlichen übermütigen Mädels, welchem Desdemona anvertraut war. Demoiselle Alphonsine Watzelwik wollte sich krank lachen über diese »Desdemona, die sich so erschrecklich hätte, und wo so'n Embarras wäre wegen ihrer Tugend!« Sie war aber die erste, die Wulfen entgegentrat, um ihm die Honneurs des Hauses zu machen,« weil Safthütl, »das faule Twall, noch nicht bei Wege sei.« – »Und wo sticht denn der Mulak?« fragte sie die anderen. Dann gleich wieder zu Wulf gewendet: »Sind Sie auch aus Berlin? Nicht? Schade! Wir alle miteinander, außer dem Direktor ... und Mulaken.«

»Na, das versteht sich nu wohl am Rande,« unterbrach sie ein Jüngling, welcher die Rolle des Rodrigo schwenkte; »das ist klar, daß der kein Berliner sein kann.«

»Sabbre nicht, langer Duselfriede. Jar nischt versteht sich; weder klar, noch am Rande, noch sonst wo; jar nischte nich! Wo liegt die Mulaksgasse, wenn sie nicht in Berlin liegt? Und warum soll einer nicht aus der Mulaksgasse gebürtig sein, der Mulak heißt?«

»Aber es ist doch rein unmöglich ...«

»Nichts ist unmöglich, wenn die Natur spielt. Bei Tanten draußen in Schöneberg hielten sie Ziegen; hic haec hoc, drei Ziegen und 'nen Bock. Alle viere schlohblütenweiß. Na, und die eine kriegte zwei Junge, davon war eins wie die Eltern und das andere kohlpechbrandrabenschwarz. Also wenn das bei einer ›Zibbe‹ möglich, ist ... Schafskopp von 'nem Jungen, der Friede!«

Wulf verstand diese Anspielungen nicht; gab sich auch keine Mühe, ins Verständnis einzudringen. Er überlegte nur, was das für eine Desdemona abgeben werde!

Da sind sie, hieß es; Safthütl kam; ihm zur Seite zeigte sich ein ... Neger! Ein echter, breitnasichter, wulstlippiger, krummbeiniger, plattfüßiger Neger.

»Wer ist das?«

»Eben der Mulak, von dem wir sprechen! Herrje! kennen Sie denn Mulaken nicht?«

Dieser Mensch hat sich schwarz angestrichen, um mir eine Probe der von Safthütl empfohlenen Mischung zu zeigen; er will mir seine Dankbarkeit an den Tag legen, dafür, daß ich ihm behilflich bin, den Jago zu geben. Das war Wulfs erster Gedanke. Er näherte sich jenem und sprach ihn verbindlich an: »Es ist eine große Güte von Ihnen, Herr Mulak! Aber wirklich, die Farbe könnte nicht besser sein.« Dabei fuhr er ihm mit dem Finger ins Gesicht, rieb die Wangen, betrachtete dann den Finger und rief erstaunt: »Vortrefflich; keine Spur!«

Die Umstehenden erhoben ein brüllendes Gelächter.

»Sie sind im Irrtum,« sagte Mulak verlegen; »das ist keine Schminke, ich seh' so aus.«

»Wie denn?«

»Ich bin wirklich ein Schwarzer.«

Darauf ersuchte er die Watzelwik, ihm ihre »Thränenfahne« zu leihen, bearbeitete eine Minute lang sein Angesicht mit dem blendendweißen Taschentuche (von Battist war es aber nicht!), und nachdem er sich »höllisch abgerumpelt,« um Alphonsinens kräftigen Ausdruck zu wiederholen, zeigte er's triumphierend vor und gab es graziös zurück mit den Worten: »So rein wie Ihre Seele!«

»Habe dir nicht, Mulak,« entgegnete Demoiselle.

»Ein Neger! Ein natürlicher Schwarzer? Und Schauspieler bei Safthütls Truppe? Und er wird den weißen Jago darstellen? Und ich den schwarzen Othello? Und ich muß mich schwarz anstreichen? Und er wird sich weiß anstreichen? Sind wir denn wahnsinnig? Sagt mir nur, liebe Leute, wie ist das möglich? Es ist ja ganz unglaublich!«

So redete Wulf ein Weilchen fort und stieß eine Frage ungläubiger Verwunderung um die andere aus. Dann fragte er mit Lessing: »Wie kommt der Mohr nach Venedig? Hatte der Mohr kein Vaterland?«

Mulak erwiderte, indem er sein prachtvolles Gebiß fletschte: »Mein Vaterland ist die Debachsche Reitertruppe gewesen, bei dieser bin ich aufgewachsen, habe von Kindheit an den Trieb zum Theater gehabt. Wenn und wo sich's thun ließ, stahl ich mich hinter die Coulissen, durft' ich auch nur ein paar Scenen auf den Raub ansehen. Endlich bin ich den Reitern ausgerissen, bin zu den Schauspielern gelaufen. Jetzt hören Sie aber auf, sich über mich zu verwundern, Herr Tod; und fangen wir an zu probieren!«

Das wurde artig, aber entschieden gesagt. Wulf gab das Zeichen der Zustimmung, und die Probe begann.

Gleich im ersten Auftritte bewährte sich der Schwarze als ein gewandter Akteur, der zugleich weiß, was er spricht und über seine Rolle gedacht hat. Wulf nickte ihm freundlich zu; doch brachten diese ersten Zeichen der Anerkennung keinen sonderlichen Effekt bei Mulak hervor, der hinter einem wandernden Souffleur Namens Tod nichts weniger denn einen Künstler und hinter dessen gespaltener Stirn mäßigen Kunstverstand suchte. In der Scene vor dem Dogen, wo Othello Rede stehen soll, wie er Desdemona verführt habe, ging Wulf, der bis dahin nur eintönig, fast schüchtern reciterte, auf die Situation mit ganzer Seele ein. Er hatte in der Probe nicht spielen wollen; die Umgebungen reizten ihn zu wenig. Aber sei's nun, daß die Macht der Dichtung ihn unwillkürlich zwang; sei's, daß er nach so langer Pause dem inneren Antrieb nicht widerstehen konnte; sei's endlich, daß des aufmerksamen Negers Gegenwart ihn anspornte; ... er gab die erzwungene Gleichgültigkeit auf; er wurde warm. »Ich führe rauhe Sprache und bin nicht begabt mit friedlich sanftem Wort« – das klang noch scharf und schroff heraus. Doch im weiteren Verfolge, und wie er an die Stelle kam: »Und oft hab' ich zu Thränen sie gerührt« – später: »Wenn einst ein Freund von mir sie lieben sollte« – that sich die ganze Fülle des Wohllautes noch einmal auf, der mit unwiderstehlichen Tönen so oft die Hörer ergriffen. Und als er dann schloß: »Das ist der Zauber all', den ich gebraucht!« ... da stürzte Mulak mit all' der kindischen unterwürfigen Hingebung, die Schwarzen angeboren ist, ihm zu Füßen und wollte ihm die Hände küssen. Die übrigen äußerten sich zwar nicht so heftig, doch auf ihre Weise drückten sie ebenfalls deutlich aus, daß sie, ohne sich Rechenschaft darüber geben zu können, durch etwas Außerordentliches überrascht waren und etwas Niegehörtes vernommen hätten. Wie gering denn auch Wulf all' diese Leute vorher angeschlagen, ihre stumme und dennoch so beredte Huldigung that ihm unendlich wohl. Vielleicht sah er, was sie zu leisten vermochten, deshalb nachsichtiger an. Sie dünkten ihm nicht mehr so schlechte Schauspieler, wie er an ihnen zu finden erwartet hatte.

Nach Beendigung der Probe, die mit Eifer und Aufmerksamkeit fortgesetzt wurde, bat ihn Mulak um Erlaubnis, ihn begleiten zu dürfen. Wulf nahm das willig an, doch erst langte er sich noch Herrn Safthütl heraus, welcher Desdemonas Vater Brabantio übernommen, um diesem eine vertrauliche Mitteilung zu machen. Die Truppe rannte auseinander, noch einige Vergnügungen auf der Vogelwiese nachzuholen; der Direktor sah sich widerstrebend zurück gehalten; schon befürchtete er, sein Gast werde jetzt, nach so großem Erfolge von seiten der Schauspieler auch größere Ansprüche machen. Doch er täuschte sich. Wulf dachte nur an das möglichste Gedeihen der Darstellung: »Mein bester Herr,« sagte er zu ihm, »ich muß Ihre Leute insgesamt loben; sie thun, was sie nur irgend vermögen, und sogar die kleine windige Desdemona zeigt Gefühl. Es wäre höchst ungerecht, mehr zu verlangen von Leuten, denen eine solche Aufgabe eine ungewöhnliche ist. Ich hoffe, es wird nichts Störendes vorfallen morgen Abend, wenn wir am Vormittage noch eine gründliche Probe gemacht haben. Nur Ihnen muß ich mir erlauben einen Tadel auszusprechen. Ich würde mir diese Freiheit nicht herausnehmen, beträfe es nicht zwei Zeilen, die so tief in die Auffassung meiner eigenen Rolle eingreifen, daß ich außer stände bin, sie konsequent durchzuführen, wofern Sie meinen Vorschlag abweisen.«

»Das ist mir zu hoch,« entgegnete Safthütl. »Wie hängt das zusammen? Ein paar Zeilen, die ich nach Ihrer Meinung unrichtig spreche, sollen Einfluß haben auf Ihre ... nein, darauf wär' ich wahrhaftig neugierig.«

»Die Sache ist die: Brabantio hat sein geliebtes Kind aufgegeben, ohne Fluch, doch auch ohne Segen. Er wird Desdemona noch lieben und betrauern mit zerrissenem Vaterherzen. Othello hat sie ihm geraubt; Othello ist Sieger... den soll des Vaters Fluch treffen. Dem ruft der unglückliche Vater die letzte Warnung zu: ›Sei wachsam! Thu' die Augen auf! Meine Tochter, die ihren Vater betrog, wird auch dich betrügen!‹ Diese Drohung ist der Fluch, womit der verlassene Greis den beglückten Liebhaber fortschickt. Sie gräbt sich in Othellos Brust, erweckt den Argwohn, und dieser wühlt Grund und Boden auf, worin Jagos giftige Saat ohne diesen Vorgang nicht Wurzel fassen, woraus die furchtbare Eifersucht sonst nicht erwachsen könnte. Bringen Sie mir diese zwei Verse nicht mit dem darauf zu legenden gehörigen Nachdruck; geben Sie nicht deutlich zu erkennen, welch' fürchterliches Gewicht Brabantios Haß gegen den Mohren daran knüpft, so bin ich nicht imstande, die Wirkung hervorzuheben, die in Othellos Innerem dadurch entsteht. Ich leite den tragischen Ausgang von dieser Drohung her, und das sollen die Zuschauer mit empfinden. Folglich haben Sie mich in Ihrer Gewalt.«

Mulak stierte mit weit hervortretenden Augen nach dem Sprechenden, und als dieser schwieg, rollte er diese seine glänzenden Halbkugeln im Kopfe herum nach Safthütls Seite, voll Erwartung, wie der die Belehrung aufnehmen werde. Es war Zehn gegen Eins zu wetten, daß der Neger jede Weigerung des Direktors mit einem Angriff auf dessen gesunde Gliedmaßen bestraft haben würde. Doch das geschah nicht.

Safthütl erklärte sich bereit, dem Gaste »in die Hände zu spielen, so gut er's vermöchte,« nur müsse Letzterer es ihm vormachen; »denn,« meinte er, »so schön Ihre Entwicklung sich anhört, mein Herr Tod, Sie verlangen mir ein bißchen zu viel, was ich alles in zwanzig Silben hineinlegen soll; daß geht über mein Firmament.«

»Nicht mehr als billig,« sprach Wulf, ergriff Safthütls Part und spielte ihm die ganze Rolle vor. Die fragliche Stelle ließ er ihn etlichemal nachmachen, und als es so ziemlich in seinem Sinne war, trennten sie sich, gegenseitig miteinander zufrieden.

Mulak – wir nennen ihn, wie er bei Safthütls gerufen wurde; sein eigentlicher Name soll Mulay gewesen sein, den die Theatermädel berlinisiert hätten; – Mulak blieb bei ihm und ging ihm, einem Watzelwikschen Ausdruck zur Folge, »nich von der Pelle.«

»Ich habe nichts einzuwenden gegen Ihr Spiel, Herr Mulak,« antwortete Wulf auf die dringenden Anfragen, was er von seinem Talente halte. »So viel ich aus dieser Probe entnehmen konnte, müssen Sie entschiedenen Beruf besitzen, sonst wär' es nicht denkbar, daß Sie sich so rasch aus dem Stalle auf die Bretter arbeiteten; und auch Ihre Aussprache mag, etliche Provinzialismen abgerechnet, ganz gut sein. Bei alledem begreif' ich denn doch nicht, wie Sie's auf die Länge durchsetzen wollen. Ein schwarzer Schauspieler zwischen weißen ... es geht einmal nicht; nein wahrhaftig, es geht nicht. Sehen Sie mich an: ich hab' mich von der Bühne in die Unterwelt begeben, weil ich nicht mit verschmiertem Gesicht auftreten wollte und mit einer Narbe nicht auftreten darf. Das Gesicht ist der Spiegel unserer Seele, nächst der Stimme das Wichtigste für den Schauspieler. Und wenn Sie ganze Farbenkasten voll Rot und Weiß auf sich hinaufpinseln ... der Neger wird immer durchgucken. Das geht wahrhaftig nicht. Es fällt mir schwer, Sie so betrüben und Ihre Hoffnungen zu zerstören. Aber nach meiner Ansicht werden Sie diese Laufbahn nicht verfolgen können; Sie sollten beizeiten ...«

»Was sollte ich? Doch nicht wieder Stallknecht werden? Denn viel mehr bin ich nicht gewesen. Und man duldet mich ja hier; ich habe schon an mehreren Orten mitgespielt und bin ausgezeichnet worden! Als Franz Moor wurde ich ...«

Hier brach Wulf in lautes Lachen aus: »O mein lieber Papa Bäcker, das wär' ein Franz Moor nach deinem Sinne; der würde dir doch genug ›Bürde von Häßlichkeit‹ getragen haben! Nun, nehmen Sie's nicht übel, Herr Mulak, ich wollte Sie nicht beleidigen. Hab' ich unrecht, dann desto besser für Sie. Ich wünsche Ihnen gewiß alles Gute!«

Mulak schwatzte noch tief in die Nacht und fragte um tausend Dinge und zeigte sich so empfänglich für Belehrung, daß Wulf seine Müdigkeit überwand. Als der Neger endlich gegangen und unser Freund sich selbst überlassen war, brach er noch einmal in Erstaunen aus über die schafsmäßige Geduld des hochpreislichen Publikums, welches sich geradezu alles gefallen lasse. Und wenn dieser Mulak, rief er aus, Fleck, Schröder, Iffland in sich vereinigte, sie dürften doch nicht dulden, daß er mit seinem Gesicht die ästhetische Schönheit ins Gesicht schlüge! Und in größeren Städten wird man es auch nicht dulden; ich bin überzeugt davon! – –

Lieber Freund Wulf, genannt Tod! Was radotierst du durcheinander! Gönne doch dem armen Jungen sein Vergnügen und ärgere dich nicht über die Langmut und Indolenz der Tonangeber in kleinen Städten! Schadet es der dramatischen Kunst, wenn in Krähwinkel, Schöppenstedt und Schilda der böse Graf von Moor durch Mulak repräsentiert wird? Gedulde dich nur ein Weilchen, und wenn du Mut findest, noch ein Vierteljahrhundert am Leben zu bleiben, so wirst du ganz andere Wundersachen erleben! Dir kann das Glück zu teil werden, in den größten Städten Deutschlands einen rechten »Nigger« bewundern zu sehen, der mit Mulak verglichen in jeder Beziehung verlieren müßte. Weder dessen glänzende Schwärze, die doch mindestens etwas entschieden Ausgesprochenes ist, noch weniger dessen produzierendes Talent wird er mitbringen. Er wird die karikierte, fratzenhafte Kopie der karikierten Kopie eines schon an Karikatur streifenden englischen Manieristen sein, dem ein amerikanischer Coulissenreißer (obgleich ihn mit gehässigem Neide verfolgend) verschiedene Theatercoups abgelauert und dieselben amerikanisiert hat. Der Nigger wird letzterem besagte Coups wiederum abgelauert haben, während er ihm die Röcke bürstete und die Stiefeln putzte, und wird sich sodann – da im freien Nordamerika, wo alle Menschen gleich sind, ein auf der Bühne erscheinender Farbiger unfehlbar totgeschlagen werden müßte – nach London begeben, um daselbst in geringgeschätzten Strandtheatern dem Pöbel einige Faxen vorzumachen. Wenn es dort nicht länger geht, wird er die guten Deutschen heimsuchen; diese werden ihn mit offenen Armen empfangen; er wird das Prinzip der Emancipation vertreten; man wird finden, daß er vortrefflich englisch redet (in London herrschte die entgegengesetzte Meinung!), und besonders diejenigen werden das finden, die ihn nicht verstehen; man wird sich einbilden, einen Künstler zu hören, besonders dann, wenn er dem Geiste der Dichtung schnurstracks zuwider handelt; und du kannst – du mußt nur Sorge tragen, lieber Wulf, genannt Tod, daß Bruder Tod dich nicht früher abholt! – Du kannst dann erleben, daß der Nigger als Macbeth, Shylock? sein schlechtes Englisch auf der Bühne redet, während die Mitspielenden Deutsch zu sprechen genötigt sind. Du kannst erleben, daß diese Frevel gegen die von dir so treu gepflegte deutsche Schauspielkunst vor überfüllten Häusern verübt werden: und kannst endlich den plattfüßigen Roscius mit deutschen Ehrenzeichen geziert herumlaufen sehen! Wie gesagt, das alles kannst du erleben, wenn du nicht vorher stirbst. Aber ich müßte mich in dir irren, solltest du nicht vorziehen, die Augen auf ewig zu schließen, ehe es so weit kommt. Für heute gehe zu Bett und stärke dich durch guten! Schlaf auf morgen. Ärgere dich nicht über den armen Mann und nimm mit einem rein schwarzen Jago vorlieb. Der ist lange noch nicht so schlimm, wie ein schmutzig schwarzer Usurpator von Schottland! Hic niger est, hunc tu o Wulfi caveto!

Wir lassen ihn schlafen; lassen ihn seine zweite Probe abhalten, in welcher es ihm gelang, sich zurückzuhalten und seine Kräfte zu schonen; lassen ihn dann still und nur innerlich erregt den Nachmittag verträumen und suchen ihn erst wieder auf, da er, altem Brauche treu, eine Stunde vor Ankunft der übrigen, dem kleinen Spiegel gegenüber sitzt und die zwei ungleichen Hälften seines noch ziemlich weißen Antlitzes in ein schwarzes Ganzes zu vereinigen strebt durch Safthütls meisterlich präparierte Fettmasse. Eigentlich weiß man nicht genau, ob unter dem Mohren von Venedig ein Neger oder nur ein Maure verstanden wird. Die Ausleger haben sich auch darüber gestritten, glaub' ich. Was kümmert's mich? Ich halte mich an einige Ausdrücke, die der Dichter selbst mir in den Mund legt, und mache mich »schwarz wie die Nacht.« Ja. Safthütl hat wahr gesprochen. Die Narbe verschminkt sich. Es wird gelingen!... War' nur die Hundeangst nicht. Herr Wolfs äußerte damals bei unseren Gesprächen in Berlin, der Schauspieler, dem ein paar Stunden vor Beginn der Vorstellung, worin ihm eine wichtige Rolle obliegt, nicht das gewisse ängstliche Gefühl im Unterleibe aufstiege, der wäre kein rechter Schauspieler. Ich geb's zu; hab's auch immer und jedesmal empfunden. Aber heute ist mir's zu stark! Ich hab' Höllenangst. Nicht vor den Zuhörern. Nur vor mir selbst! Nur vor der Sache! Werd' ich ausreichen bis an den Schluß? Wird der ausrangierte marode Gaul noch traben bis zur Station? Und was soll ich mir wünschen? Ist's nicht besser für mich, wenn mein tollkühner Versuch mißlingt? Wenn sich's zeigt, daß die Maschine rostig wurde, die Druckfedern schlaff, daß die Räder knarren? Dann werd' ich mich gedemütigt davon schleichen, werde nie mehr beunruhigt sein von eitlen Gelüsten! Ja, das wäre nicht nur besser; es wäre das Beste! Denn um alles in der Welt, wohin sollt' es führen, bestünd' ich heute mit Ehren? Doch nur zum furchtbarsten Widerstreit in mir selbst, zum unaufhörlichen Zwiespalt des ruhmsüchtigen, spielkranken Komödianten mit seinem nichts weniger als präsentablen Jammerfratz! Pfui über meine kindische Eitelkeit, die mich in solche Widersprüche verwickelte. Wer so nahe an den Fünfzigen steht, müßte mehr Besonnenheit gezeigt haben!... Ach, was da! »Wär' ich besonnen, hieß' ich nicht der Tell!« Geschehe morgen was da wolle, heute wollen wir noch einmal schwelgen! Fort mit armseliger Vorsicht! Ich bin der Mohr von Venedig; ich bin Wulf, der Heldenspieler! Ich singe mein Schwanenlied!

Da er auf die Bühne kam, geigten die Musikanten schon über ihrer Einleitungsmusik, die sich gar nicht so übel ausnahm. Sie hatten sich durch mehrere Blasinstrumente der Militärkapelle verstärkt; Trompeten schmetterten kriegerisch, wie es dem tapferen Othello gebührt, dazwischen; das Haus war zum Erdrücken voll; die Schauspieler zeigten feierlichen Ernst; das Ganze hatte einen festlichen Anstrich. Brabantio rannte im Hintergrunde auf und ab, die gewichtigen zwei Zeilen wiederholend. Mulak zitterte vor Aufregung, da er Othello erblickte. Wer hätte in diesem den bedrückten Tod wieder erkannt, welcher sich vor einigen Tagen zum Souffleur angeboten? Wie fest er auftrat; wie hoch er das Haupt hielt; wie stolz er umher sah; wie schlank und kräftig die edle Gestalt sich ausnahm!

»Sind Sie's denn?« fragte Desdemona... die Schlußaccorde der Symphonie ertönten, und der Vorhang ging auf.

Wulf hatte während der ersten Auftritte Muße genug, das Publikum zu mustern. Mit seinem scharfen und geübten Blicke, mehr noch mit jenem ahnungsreichen Sinne, der instinktartig den Ausdruck der Physiognomien zu deuten weiß, erkannte er, daß die Mehrzahl der Gebildeten unter den Anwesenden sich auf ein belustigendes Trauerspiel freute, wie dergleichen von Schauspielertruppen ähnlicher Gattung gewöhnlich zu erwarten steht. Schon ging, wenn Mulak sprach, ein höchst bedenkliches Flüstern hin und her, des armen Jungen seltsam verschmierten Gesichtszügen geltend; brach dennoch nicht zum entschiedenen Hohngelächter aus, weil der Neger seinen Jago ganz verständig sprach und eine für ihn doppelt schätzbare Zungengeläufigkeit entwickelte. Diese Wahrnehmung üblen Willens erfüllte den Beobachter mit begreiflichem Zorn, der wiederum ganz naturgemäß dem Grundtone seines Othello zu statten kam. Es bebte durch seine Reden wie ferngrollender Donner. Wenn er sprach, herrschte tiefe Stille. Die Hörer zweifelten offenbar noch immer, daß auf Safthütls Theater so gesprochen werden könne, und ihr Erstaunen verhinderte eine laute Kundgebung. Der erste Akt ging ohne jede Äußerung des Beifalls vorüber, aber alle Mitspielenden empfanden, daß darin eine ihren Vorstellungen noch nie zu teil gewordene Anerkennung liege.

Wulf hatte die Aufmerksamkeit, welche er anfänglich dem gesamten Auditorium zu gönnen Zeit gefunden, bald auf zwei Herren beschränkt, die dicht hinter dem kleinen Orchester in erster Reihe saßen. Beide waren ihm, da sein Auge sie zuerst getroffen, vorzüglich spöttisch und zum Lachen gestimmt aufgefallen. Beide waren aber auch, das fühlte er mehr, wie daß er es gesehen hätte, durch ihn entwaffnet worden. Er führte den Unternehmer im Zwischenakte an den unvermeidlichen Schlitz der Vordergardine, in der Voraussetzung, hier am Orte könne kein Unbekannter vorhanden sein, und verlangte Auskunft, wem die zwei bedeutenden Köpfe angehörten.

»Das müssen Fremde sein,« sagte Safthütl.

Für diese zwei Fremden spielte Wulf von jetzt an. Sie galten ihm für urteilsfähig. In der gespannten Aufmerksamkeit, die sie ihm widmeten, lag mehr als oberflächliche Neugierde; er sah künstlerisches Einverständnis darin. Jetzt weiß ich doch, daß ich nicht in der Wüste predige! Das war die belebende Zuversicht, die ihn nun erhob. Wie dann die leidenschaftlicheren Ausbrüche des Mohren ihn fortrissen, da vergaß er freilich auch die beiden; da war und blieb er nur noch Othello; da verschwanden auch die letzten Schatten der Skrupel, die er sich während des Ankleidens gemacht; da schwelgte er wirklich und wahrhaftig in dem wonnigen Gefühle, daß kein Ton ihm versagte; daß die »Maschine« nicht eingerostet war; daß er dem verstorbenen Wulf keine Schande mache. Er vergaß sogar das entstellte Angesicht, diesen wunden Fleck seines Daseins, und lauschte selbst mit schauerndem Entzücken den furchtbaren, entsetzlichen Klängen der Verzweiflung, die von rührenden Klagen gemildert aus der unermüdlichen Brust drangen. Sich hörte er; Shakespeares Dichtung hörte er;... von dem Jauchzen und Schluchzen und Jubelgeschrei der Versammlung vernahm er nichts mehr. Die war für ihn nicht vorhanden. Auch die zwei fremden Herren nicht.

Er lag auf dem hölzernen Schemel im Ankleidezimmer, Arm und Kopf über den schmutzigen Tisch gelegt, keuchend und erschöpft; die Schauspieler standen um ihn her; Mulak lag vor ihm auf den Knieen; die linke Hand hatte er ihm schon ganz weiß geküßt. Das ruchlose Völkchen, die unbändige Schar sah ihn an, wie Strandbewohner den Leib eines Riesen betrachten würden, den die Flut ans Ufer gespült. Sie waren gebändigt. Kein roher Scherz, kein kecker Witz ließ sich hören. Es war über sie gekommen wie eine Macht von oben. »Wenn er's nur überlebt!« flüsterte Madame Safthütl, die Darstellerin der Emilia.

Und Desdemona erwiderte: »Na, ich weiß nicht, nach so 'neim Abende müßte man prächtig sterben!«

Da raffte Wulf sich auf, reichte dem Mädchen die Hand und nickte ihr freundlich zu. Sie warf sich ihm an den Hals, küßte ihn feurig und lachte dann, indem sie sich Thränen und schwarze Schminke zugleich fortwischte: »Er denkt nicht an Sterben! Aber abfärben thut er höllisch. Da lob' ich mir Mulaken; der hält Farbe!«

In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür, und die beiden fremden Herren traten ein. Der eine ein wenig gebückt, obgleich noch rüstig, der andere jünger, kräftiger, mit sicherem und fast herausforderndem Wesen. Der Letztere nahm das Wort, ohne sich weiter um die Schauspieler zu bekümmern, die sich sämtlich zur Seint zogen und jenen Raum machten. »Wir kommen,« sprach der Fremde, »mein Freund und ich, Ihnen zu sagen, daß wir den glücklichen Zufall loben, der uns heute hier durchführte. Wir müssen augenblicklich abreisen, um morgen bei guter Zeit Düsseldorf zu erreichen. Doch geben wir die Zuversicht keineswegs auf, Sie wiederzusehen. Ein Mann wie Sie konnte nur durch mißliche Umstände hierher verschlagen werden; verweilen wird er nicht. Ich erwarte Sie in Düsfeldorf. Wir haben viel miteinander zu reden. Lassen Sie uns nicht zu lange warten. Mein Begleiter ist Schadow, der Direktor der Malerakademie; ich heiße Immermann. Jetzt müssen wir aufbrechen, doch wir trennen uns nicht.«

»Nein,« fügte Schadow hinzu, »Ihr Othello geht mit uns, den wird man nicht mehr los.«

»Auf baldiges Wiedersehen!«

Safthütl und seine Leute begleiteten voll Unterwürfigkeit den Herrn »Direktor« und den Herrn »Landesgerichtsrat.« Mulak blieb natürlich bei Wulf. Dieser wischte sich jetzt die Farbe von Stirn und Wangen. Als er sich mit Öl gesalbt und hinreichend gereinigt, wies er auf die hochgerötete Narbe und sprach wehmütig: »Hätten sie mich so gesehen, sie würden mich nicht eingeladen haben, bei ihnen vorzusprechen. Ihre Absichten sind gewiß vortrefflich; sie gedenken mich an einflußreiche Männer zu empfehlen, wollen mir förderlich sein. Ha, wie sie erschrecken werden, wenn ich ihnen so entgegentrete! – Wieder eine Täuschung!«

»Ach, wie mir das leid thut,« rief Mulak! »Es ist doch schrecklich, daß der verfluchte Kerl gerade den Hieb gethan hat! Konnt' er nicht auf eine Stelle schlagen, wo die Kleidung darüber kommt. Und daß Sie deshalb unserer Kunst entsagen sollen. Sie, der größte Meister! Gott weiß es, wenn sich's machen ließe, mit Freude gäb' ich mein Gesicht her, um Ihnen zu dienen.«

Wulf mußte doch lachen: »Herzlichen Dank, guter Mulak; aber mit dem Tausche wär' nur auch nicht viel geholfen.«

*   *   *

Allzu teuer bezahlter Triumph, der mit schweren Seelenleiden, mit harten Kämpfen erkauft werden muß!

Die erste Empfindung beim Erwachen des nächsten Morgens war eine wohlthätige. »Glorreich, glorreich hab' ich mich gehalten; der Wulf hat sich bewährt!« Dann stellten sich Gedanken ein: Wir dürfen's weiter versuchen; die Pein im engen Kasten ist vorüber, man nimmt mich überall mit Freuden auf! ... Nun folgten die Zweifel: Ich kann doch unmöglich immer Schwarze spielen? Das wär' ein kleines Repertoire; ein Mohr von Venedig und einer von Genua. Im übrigen hat sich ja seit gestern an mir nichts geändert; die Menschen werden sich immer noch vor meinem Anblick entsetzen, wie sie's vor zehn Jahren gethan. Welch' ein Feind bin ich mir selbst gewesen, daß ich mich beschwatzen ließ! Nun ist's vorbei mit der so lange mühsam festgehaltenen Resignation. Auf jedwedes ernste und verweisende Gebot der Vernunft werden kreischende Stimmen mir ins Ohr schreien: Dein Genius besiegt den Abscheu, welchen dein Äußeres erregen könnte! Ich vernehme sie jetzt schon. Sie werden mich nicht mehr schlafen lassen; ich werde keine ruhige Stunde mehr haben; mein Wille wird zerrissen sein, wie mein armes Angesicht ... O verwünscht, verwünscht auf ewig des gestrigen Abends Erfolg!

Safthütl unterbrach den Ratlosen. Er brachte ihm zehn bare Thaler: »Dreißig sind eingegangen, zehn machen die Kosten aus, zwanzig teilen wir. Das ist für gestern. Künftig zahl' ich Ihnen jedesmal, wenn Sie auftreten fünf Thaler. Meine höchste Wochengage für jeden einzelnen Abend. Das ist anständig, will ich hoffen; aber Sie verdienen's. Übermorgen wiederholen wir den Othello. Meine Frau meinte morgen schon, aber das ist zu früh; ich muß erst Lärm schlagen in den Umgebungen. Und was soll dann Ihre nächste Rolle sein?«

»Den Othello will ich noch einmal geben, weil Sie es wünschen, und ohne Honorar. Weiter nichts.«

»Ah, die Düsseldorfer Herren haben Ihnen etwas in den Kopf gesetzt; Sie wollen abtrünnig werden. Freund, überlegen Sie, Was Sie thun! Einen so sicheren Boden wie bei mir finden Sie nirgends. Die Orte, die ich bespiele, lassen sich mehr gefallen, wie alle andern. Weshalb? Weil sie an meinen Mulak gewöhnt sind, dessen schwarzes Affengesicht sie bereits verdaut haben. Sehen Sie, Herr, das wird Ihre Folie sein. Wenn der Junge neben Ihnen steht, profitieren Sie. Was ist Ihre Schmarre gegen Mulaks Couleur? In Düsseldorf haben Sie diesen Vorteil nicht. Oder wollen Sie ihn etwa mitnehmen? Der Bengel ließe sich leicht beschwatzen. Es wäre just nicht sehr dankbar von ihm, denn ich hab' ihn gewissermaßen vom Pferdemist aufgelesen und viel für ihn gethan; doch auf Dankbarkeit darf kein Mensch von einem Menschen rechnen; von Tieren etwa eher.«

»Wenn Sie mir die Pistole an die Brust setzen, so füg' ich mich. Nur damit Sie nicht argwöhnen, ich trachtete nach Verbotenem. Meine Weigerung, weiter zu spielen, entspringt nicht aus Nebengründen. Der Spiegel hat sie mir diktiert. Sei's denn, ich will ferner auftreten. Die Verantwortung kommt Ihnen zu.«

»Die übernehm' ich. Wir sind im reinen. Auf allgemeines Verlangen: ›Zum zweitenmal, Othello‹ Herr Tod, als neuengagiertes Mitglied. Und die dritte Rolle? Wir müssen uns vorbereiten. Wenn ein Mann wie Sie neben uns steht, darf mir niemand in der Probe aus der Rolle buchstabieren. Das geht an, wenn wir unter uns sind. Ich bin kein großes Licht, doch so viel Griebs hab' ich im Schädel, daß ich weiß, was ich Ihnen an Achtung schuldig bin.«

Diese letzte Äußerung, wie sie, ganz unabsichtlich hingeworfen, dem ehrlichen Safthütl aus der Seele drang, erschütterte unsern Freund gewaltig. »Was Sie mir jetzt sagten.« rief er aus, »hat mir noch kein Schauspieldirektor gesagt, in meinen besten Tagen nicht. Nicht weil Sie es an mich richteten, ergreift und rührt es mich, sondern weil es zeigt, wie Sie die Kunst schätzen; wie Sie in Ihren geringen Verhältnissen, in dieser dürftigen Existenz mehr Herz dafür haben, als gar viele Ihrer beglückteren hochfahrenden Kollegen. Sie verdienen wahrlich, daß etwas für Sie geschieht. Und vielleicht kann ich dazu beitragen.«

»Das hoff' ich auch; darum ist mir's bei Ihrem Engagement zu thun.«

»So war es nicht gemeint; wenigstens dachte ich dabei nicht stehen zu bleiben. Sollten Sie nicht Neigung und Geschick in sich fühlen, Ihr Geschäft weiter auszudehnen, sich um größere Städte zu bewerben?«

»Dazu fehlen mir weder Neigung noch Geschick; auch die Mittel würd' ich auftreiben. Doch wer verschafft mir die Konzession? Ohne besondere Begünstigung ist das nicht zu erreichen, und wenn auch manchmal einer von den Bevorzugten mit Tode abgeht oder Bankerott macht... Unseresgleichen rückt nicht vor, denn man hat nicht die gehörigen Bekanntschaften.«

»Wie denn also, wenn ich die Düsseldorfer Herren und deren gütiges Entgegenkommen benützte, um auf diesem Wege für Sie zu wirken? Wenn ich zur Geltung brächte, daß ich mit Ihnen vereint ...«

»Mann, das ist ein großer Gedanke! Sie können gar nicht wissen, wie vortrefflich er ist. Dieser Akademiedirektor steht in größten Gnaden beim Prinzen Friedrich ...«

»Und Immermann steht in Gnaden bei mir, denn ich kenne seine Werke und liebe ihn als Dichter. Das öffnet Thor und Thür! Übermorgen Othello und über-übermorgen nach Düsseldorf! – vorausgesetzt, daß Sie mich einigermaßen anständig kleiden wollen. Denn als venetianischer General darf ich mich dort nicht vorstellen, und mit meiner eigenen Garderobe ist's bestellt ... wie Sie sehen!«

Safthütl bot seine besten Gewänder dar, die leidlich paßten; die zweite Vorstellung des Othello that ihre Schuldigkeit, und den Tag nachher saß Wulf im Postwagen, welcher ihn auf Kosten der Direktion, wie sich versteht, nach Düsseldorf beförderte. Die Reise verging ihm nicht allzu angenehm, denn im vollgepfropften Wagen befanden sich ihm gegenüber zwei Damen, die förmlichen Abscheu gegen seinen Anblick offenbarten und sich fast die Hälse ausrenkten, um rechts und links aus den Fenstern ins Freie, nur nicht auf ihn zu schauen. Vor acht Tagen noch wär' ihm das höchst gleichgültig gewesen, hätte ihn wohl gar aufgemuntert zu mancherlei spaßhaften Gesprächen. Jetzt aber kränkte es ihn tief, und er langte recht niedergeschlagen in der heiteren Rheinstadt an.

Gleich der erste Gang war ein Fehlgang. »Der Herr Landesgerichtsrat sind in Gesellschaft,« hieß es bei Immermann. Wer weiß nicht aus Erfahrung, wie das niederschlägt! Erst ein übles omen auf der Reise, dann eine erste Täuschung bei der Ankunft! Sind wir nicht alle so kindisch? Wähnt nicht ein jeder in Wulfs Lage, er müsse schon erwartet werden, wo er von Erwartungen und Hoffnungen angetrieben einsprechen will? Wie wenn Welt und Menschen um seinetwillen da wären! Ach, das ist der Egoismus des Unglücks, den keine noch so trostlose Erfahrung gänzlich niederschlägt; der sich immer aufs neue zeigt, sobald die dumme Hoffnung nur einen Finger bewegt.

Lebhaft, rasch, mitteilungslustig war Wulf zu Immermann gegangen. Langsam, niedergeschlagen, schüchtern begab er sich nun zu Schadow.

Hier machte sein Erscheinen im Vorzimmer einiges Aufsehen und setzte die Dienstboten in Verlegenheit. Man fragte ihn, ob er »eingeladen sei.« Er antwortete: »Der Herr Direktor erwartet mich.« Das klang dem Diener nicht bestimmt genug, und er bat sich den Namen des Anzumeldenden aus. »Schauspieler Tod« klang ihm doch bekannt; wahrscheinlich hatte er von dessen Othello den Herrn erzählen hören. Er nahm ihn samt einem Theebrett voll Kuchenwerk mit hinein. Wulf hörte, wie gleich nachher ein allgemeines Geräusch im Gesellschaftszimmer sich erhob, und die Thür wurde ihm weit geöffnet. Der Herr des Hauses und Immermann kamen ihm freudig entgegen, doch bevor sie ihn noch willkommen geheißen, fuhren sie erschrocken vor ihm zurück. Was sie für eine das kriegerische Mohrenantlitz schmückende Erfindung des denkenden Künstlers genommen, zeigte sich als entstellende Wahrheit; als ein grausamer Strich und Riß durch jegliche mimische Anmut. Die anwesenden Damen wollten gar nicht glauben, daß dieses der Mann sein könnte, von dessen unwiderstehlich dramatischer Gewalt ihnen so viel gesagt worden, den zu sehen man sie ungeduldig gemacht. Sie gaben ihr zweifelndes Befremden deutlich zu erkennen. Der berühmte Maler und Meister fand sich zu grausam verletzt in seinem Sinne für Schönheit, den er von der Staffelei auf die Bühne zu übertragen gewöhnt war. Er brachte keine passende Anrede auf. Immermann wollte für ihn eintreten, doch eh' er noch das ängstliche Schweigen brach, hatte Wulf es gethan! Es geschieht mir ganz recht! murmelte er, schlug sich mit der Faust vor die Stirn, verbeugte sich ringsum und entfernte sich eiligst. Als sie oben einigermaßen von ihrer zweifachen Überraschung sich erholt hatten und ihn zurückrufen wollten, war es zu spät.

Dieser Abend, diese Nacht, daß gesteht unser unglücklicher Freund in seinen Selbstbekenntnissen willig ein, sind die unglücklichsten, die qualvollsten seines Daseins gewesen. Nur dadurch tröstete er sich endlich, daß er als wohlverdiente Strafe hinnahm und anerkannte, was über ihn verhängt worden: Ja, es geschieht mir ganz recht! Ich verdiene kein Mitleid, keine Nachsicht. Wer mit offenen Augen in die Grube rennt, soll die Beine brechen. Wer sich so richtig beurteilte wie ich, so fest überzeugt war, daß er keinen Anspruch mehr habe, sich zur Schau zu stellen, wer so lange dieser Überzeugung getreu handelte und sich endlich dennoch von Eitelkeit, Theaternarrheit, Übermut verführen ließ, mit beinahe fünfzig Jahren wie ein dummer Junge zu handeln, für den giebt es keine Entschuldigung, der muß derb gezüchtigt werden!

Zu dieser Anschauung seines Zustandes erniedrigt, fühlte er sich auch wieder gekräftigt und erhoben. Der ewig wahre göttliche Ausspruch, wer sich selbst erniedriget, der soll erhöhet werden,« gilt für alle Zeiten und für alle Menschen. Wer ohne Trotz und Groll hinnimmt, was eigenes Verschulden ihm zuzog, und beizeiten eingesteht, worin er fehlte, ohne Beschönigung, mit strenger Aufrichtigkeit, der stumpft des Schmerzes Stachel ab, bevor noch unheilbare Wunden entstanden. Und auf die heilbaren läßt des Himmels Huld irgend einen Balsam träufeln, der lindert und erquickt. Nicht selten bedient sie sich dazu derselben Menschen, welche vorher verwunden halfen. So widerfuhr's unserem Wulf.

Immermann machte sich Vorwürfe wegen seines schroffen Benehmens vom vorigen Abend. Er war ja viel zu sehr Dichter, um nicht nachzuempfinden, was der gleichsam Ausgestoßene diese Nacht hindurch empfunden haben müsse. Und mag der Kerl, sagte er, noch so furchtbar zusammengehauen, noch so erbärmlich zusammen geflickt sein, den Othello hat er darum doch außerordentlich gespielt, und hierher bestellt haben wir ihn einmal, und jetzt feig zurückschaudern vor ihm darf ich nicht; und endlich wär's ja wohl gar möglich ...

Mit dem letzten Gedanken trat er bei Wulf ein, ließ ihn gleich zum Worte werden und fragte mit dem etwas barschen und hochfahrenden Wesen, das ihm eigen: »Wo erhielten Sie Ihre Wunde, Herr Tod?«

»Bei Ligny, Herr Landgerichtsrat, wo wir alles dran setzten für Blüchers Rettung.«

»Und ich ...? Ha, das ist unverzeihlich! Was haben Sie gestern Abend von mir gedacht?«

»Daß Sie vor mir erschrocken sind? Weiter nichts.«

»Ich war darauf nicht gefaßt! Dennoch war's unverzeihlich. Oder können Sie mir verzeihen?«

»Ihnen hab' ich nicht gezürnt. Nur mir! Nur meinem gedankenlosen Leichtsinn. Jetzt ist's überstanden, mein Zorn hat sich gelegt, ich krieche in den Kasten zurück, aus dem ich thöricht noch einmal aufducken wollte.«

»Was heißt das? Ich verstehe Sie nicht!« Nun setzte Wulf im Zusammenhange kürzlich auseinander, wie es geschehen sei, daß er sich von schwarzer Schminke verführen ließ, an der ihm verbotenen Frucht nach so langer Entbehrung zu naschen. Immermann hörte ihm aufmerksam zu, wie seine Rede so schlicht und eindringlich, ohne unnützen Prunk über die Lippen floß. Nur als die Absicht zur Sprache kam, die ihn gestern schon hierher geführt: der Wunsch, für Safthütl eine größere Konzession zu erwirken, die Verblendung, die ihn wähnen ließ, er könne durch seinen Beitritt, durch seine künstlerische Begabung dazu beitragen! ... da verwirrte er sich einigermaßen, die Perioden verloren an Abrundung, und er geriet etlichemal ins Stocken.

»Dafür, mein lieber Kamerad,« hob der Dichter an, »wird schwerlich etwas zu thun sein. Die größeren Städte unserer Provinz, dünkt mich, sind schon allzu reichlich mit derlei berechtigten Unternehmern versehen; und Ihr Schützling hat denn doch bisher eine allzu verwahrloste Bande befehligt, um besondere Gunst erwarten zu dürfen. Etwas anderes wär' es, wenn Sie für sich ...«

»Nimmermehr,« unterbrach ihn Wulf. »Der Mann hat mir vertraut: für ihn bin ich hierher gekommen; in seinen Kleidern steh' ich vor Ihnen; mit seinem Gelde hab' ich die Reise gemacht. Mich reizt es nicht, zu erstreben, was ihn beglücken würde. Mir bleibt nur eine Sorge, nur eine Pflicht: ihm sein Eigentum heimzubringen, meine Schuld an ihn abzutragen ... dann zieh' ich fürbaß.«

»Mit nichten! Wir haben auch drein zu reden. Trennen sollen Sie sich von jener Bande, zu der Sie nicht gehören, das steht fest. Doch Ihre Redlichkeit darf darunter nicht leiden. Sie werden ihm seine Kleider schicken, Sie werden ihm das Reisegeld erstatten, Sie selbst werden hierbleiben und mit uns beraten, was für Sie geschehen kann. Wer Shakespeare auffaßt und darstellt wie Sie; wer sich ein solches Ehrenzeichen bei Ligny geholt hat, der darf nicht das Nötigste entbehren.«

Wulf gedachte wohl allerlei Einwendungen vorzubringen, doch Immermann ließ dergleichen nicht aufkommen. Gegen seinen Willen litt er keinen Widerspruch; so weit seine Gewalt reichte, war er Tyrann, in Wollen und Thun unerschütterlich fest. Niemals hat ein Name so gut zu einem Charakter gepaßt, wie bei ihm. Er war und blieb immer Mann. Und ein schlechterer Witz ist nie gemacht worden, als den sich Graf Platen wider ihn erlaubte, da er ihn in jenem durch Heines boshaftes Verhetzen erbitterten Streite (dem unseligsten, dem edle deutsche Dichter gegeneinander führten) spottweise »Nimmermann« taufte. Wulf unterwarf sich und blieb. Die Mittel, sich in jeder Art anständig und befriedigend mit Safthütl auszugleichen, wurden ihm aufgedrungen. Um den Unterstützungen, welche man ihm darreichte, jeden verletzenden Nebenbegriff zu nehmen, gab man ihm mäßige Beschäftigung, die zugleich dem produktiven Autor ersprießlich wurde, weil zuverlässige Kopisten überall selten sind.

Die Hauptfrage richtete sich aber darauf, ob es überhaupt denkbar sei, daß Wulf, unerachtet seines entstellten Angesichtes, für die Ausübung der dramatischen Kunst gerettet werden könne. Darüber pflogen Dichter, Maler und Schauspieler lange Verhandlungen. »Es giebt,« sagte Immermann, »so wenig lebende Akteurs, die Ihnen an Kraft und Fähigkeit gleich stehen, und die Macht Ihrer Rede wirkt so eigentümlich, daß es mir wie ein unersetzlicher Verlust vorkommt, sollen Sie für immer verstummen. Dennoch muß ich eingestehen, Ihre Besorgnisse waren nur allzu begründet. Ihr Anblick ist zurückschreckend, und ehe es dem Künstler gelingen wird, die Zuschauer damit zu versöhnen, dürfte der Mensch Ihre Teilnahme schon verscherzt haben. Es giebt keine Hilfe dagegen; man müßte denn auf den Affichen die Bemerkung anbringen: das Publikum wird ergebenst aufgefordert, sich vor Herrn Tods Äußerem nicht zu entsetzen. Und das geht nicht. Was bleibt übrig? Wir haben viel darüber nachgesonnen. Ich bin endlich auf die Idee verfallen, dramatische Werke für Sie ausfindig zu machen, deren Hauptrolle gewissermaßen vom Dichter schon mit dem Stempel der Häßlichkeit versehen ward. Beim Othello konnten. Sie die Farbe der Nacht zur Deckung benützen. Nun heißt es nach Rollen greifen, welche dieser Hülle nicht bedürfen. Es bieten sich nicht viele dar. Franz Moor fragt wohl, warum die Natur gerade ihm diese Bürde von Häßlichkeit aufladen mußte« ...

Hier fiel Wulf seinem Gönner in die Rede und machte die Ansicht geltend, womit er einstmals gegen Vater Bäcker zu streiten versucht. Doch Immermann erklärte das für eine nicht zu duldende Willkürlichkeit, die dem Darsteller nicht erlaubt sei, wo sich der Dichter so bestimmt ausgesprochen habe. »Jener Franz,« fuhr er fort, »wie Sie ihn konstruieren wollten, mag für Sie damals ganz brauchbar gewesen sein, um Ihr Doppelspiel durchzuführen, welches ich aus poetischem Standpunkte völlig verwerfe. Aber mit Ihrer ›geistigen Häßlichkeit‹ kommen Sie mir bei Schillers Schreckbild nicht. Dieses verträgt, dieses verlangt nackte, derbe Realität. Was ist's denn anders als ein Abkömmling jener furchtbaren Schöpfung ... kennen Sie Shakespeares Richard den Dritten?«

»Zu meiner Schande muß ich erwidern nein! Ich kenne, was ich von Shakespeare kenne, nur aus Eschenburgs Übertragung, von welcher ich einst etliche Bände besaß, als ich noch Bücher mein nannte. Außer Othello, den Freund Mulak in Breslau gestohlen, wie ich fürchte, kam noch keine verifizierte Verdeutschung seiner Werke mir vor Augen. Auch den Hamlet hab' ich nur in Schröders Bearbeitung gespielt.«

»Nun gut; so will ich Ihnen heut' Abend den Richard in Schlegels Übersetzung vorlesen. Er wird jetzt in Berlin nach einer auf Devrient berechneten Einrichtung gegeben. Die Frage, ob er möglich sei für uns und unsere Zeiten, ist demnach erledigt. Nach der Lektüre wollen wir weiter sprechen.«

Immermann galt für einen guten dramatischen Vorleser und nicht mit Unrecht. Nur fehlte es ihm an nachgiebiger Schmiegsamkeit, um individualisierend einzugehen in das Wesen derjenigen Personen eines Stückes, welche seinem Wesen nicht zusagten. Fest und starr wie im Betragen, in seinen Ansichten, blieb er auch bei Ausübung dieser Virtuosität, die er nicht wie ein Dilettant, sondern mit bestimmter Absicht betrieb, Einfluß durch dieselbe zu gewinnen auf die Mitglieder einer Bühne, von deren Führung er schon träumte und ahnte. Die Sache selbst stand zwar noch im weiten Felde und sollte erst fünf Jahre später ins Leben treten.

Außer Wulf befanden sich noch einige Freunde des Dichters bei ihm, den Vortrag der Tragödie mit anzuhören, der volle drei Stunden ohne Unterbrechung reichlich in Anspruch nahm. Es hatte längst zehn Uhr geschlagen, als das »Amen« des frommen Wunsches ertönte, womit Richmond die düstere Handlung voll blutiger Greuel beschließt. Der Vorleser mag angegriffen und ermüdet gewesen sein. Mehr war er's nicht als seine Zuhörer. Wenn diesen Brust und Hals nicht weh thaten, so litten sie desto heftiger von ihren angespannten Nerven. Die dargebotenen Erfrischungen, aus kalter Küche und duftigem Rheinwein bestehend, kamen höchst erwünscht und wurden gern genossen. Nachdem erst wieder neues Leben in den Erquickten sich regte, begannen sie ihre Meinungen über das ungeheure Gedicht zu äußern. Von Immermanns näheren Freunden läßt sich erwarten, daß sie sämtlich, wie er in seinen dramatischen Erstlingswerken für einen Nachahmer des ewigen Briten betrachtet ward, für unbedingte Verehrer desselben, nicht nur im ganzen (was sich bei denkenden und gebildeten Männern ja von selbst versteht!), sondern auch bis ins Einzelne hinein betrachtet werden durften. Alle sprachen sich dahin aus, dieses Werk sei das vollkommenste seiner historischen Dramen, sei überhaupt das Tiefste, Größeste, Gewaltigste, was er überhaupt geschaffen. Immermann selbst ging so weit gerade nicht, hob jedoch die drastische, die theatralische Wirkung besonders heraus und erklärte König Richard den Dritten für die interessanteste, belohnendste Aufgabe, welche dem darstellenden Künstler jemals zu teil werden könne. Dann forderte er Wulf lebhaft auf, ihm beizustimmen.

Bescheiden entgegnete dieser: »Mir steht nach einmaligem Anhören kein Urteil zu. Das ist kein Schauspiel, das ist ein Stück Weltgeschichte voll Schauder, Mord, Willtür, Verrat und Grausamkeit. Ich war außer stande, die Fäden zu verfolgen, welche Scene für Scene, Akt für Akt innerlich verbinden. Betäubt vom Lärm der Aktion, umnebelt vom ekelhaften Blutgeruch, fühlt' ich mich wie in einem Schlachthofe, und da ich in meiner Seele gar keine Fähigkeit entdecke, mich nur auf einen Moment an des grausamen Schlächters Stelle zu setzen, so empfind' ich auch keine Neigung, seine Rolle auf der Bühne auszufüllen. Ich fühle mich solcher Arbeit nicht gewachsen.«

»Damit wollen Sie andeuten, daß sie Ihnen nicht behagt?«

»Aufrichtig gestanden, so ist es. Ich wüßte nicht, was ich damit anfangen, noch wie ich es anfangen sollte, dem Bilde Leben und Wahrheit zu geben. Ich müßte ein Zerrbild daraus machen. Das mag an mir liegen, an meiner geistigen Beschränktheit. Ich begreife einen Menschen, sei's auch ein teuflischer, nicht als einen darstellbar natürlichen, der in den ersten Lästerungen, die er ausstößt, damit beginnt, die Zuhörer zu versichern, daß er gewillt sei, ein Bösewicht zu werden. Wer das will, ist es schon längst; aber gesagt, eingestanden hat sich's noch keiner selbst. Jeder, auch der Böseste, täuscht sich, von irgend einer Leidenschaft, irgend einem Zwecke verblendet, über die Wahl der Mittel. Die Königskrone ist Richards Zweck, das zeigt sich wohl. Spräch' er das im Auftritts-Monologe aus, so ließe sich daran halten, und ich könnte mir zutrauen, den blutigen Ehrgeiz wie ein feurig Meteor in ihm aufsteigen zu lassen, mit heroischer und darum doch veredelter Teufelei. Der Teufel jedoch, der uns sagt, daß, weil er entstellt, abschreckend häßlich, verwachsen, kaum halb fertig als Hundeschreck durch die Welt hinke, alles um ihn her verraten, betrogen, aufeinander gehetzt, gequält, geschändet, ermordet werden müsse, der ist denn doch nur eine karikierte Fratze. So ist er auch ganz ernstlich vom Dichter gemeint. Das zeigt sich deutlich in den Äußerungen anderer, besonders der Frauen: ›Igel, Klumpe schnöder Mißgestalt, Mißgeburt voll Mäler, ekler Sprößling, wühlendes Schwein,‹ die man ihm an den Hals wirft. Damit, wie gesagt, weiß ich nichts anzufangen; denn erstens begreif' ich nicht, wo ich für solchen Wechselbalg die tragische Würde hernehmen soll, und zweitens hab' ich, trotz mancher niederschlagenden Erfahrung, immer noch zu tiefe Verehrung vor dem weiblichen Geschlechte, um einen tückischen, gottverfluchten Mörder so raschen Sieg über die Witwe seines Opfers erringen zu sehen, wenn die Witwe dem Sarge des Gatten folgt, und der Mörder ein Klumpen schnöder Mißgestalt ist. Ob es historisch wahr, kümmert mich nicht. Poetisch ist es unwahr; und soll der Redner die Möglichkeit solches Vorgangs nur einigermaßen zur Geltung bringen, so darf er keine Mißgeburt voll Mäler sein. Ja, ich komme wieder auf meinen Franz Moor zurück. Nach meinen Begriffen von poetischer Häßlichkeit, die zugleich tragische Schönheit sein muß, darf ich mit meinem Gesichte den Franz nicht mehr darstellen, obgleich dieser es nur bis zu einer Ohrfeige von Amalien bringt. Wie ich um Anna freien und ihr den Ring an den Finger schwatzen soll, wenn ich als wühlendes Schwein mit blutigem Rüssel vor ihr agiere, das geht über meine Einbildungskraft.«

Es geschah Immermann, was leichtlich jedem geschehen kann, der, von einem Kunstwerke sehr eingenommen, durch lebendigen Vortrag desselben ergriffen, auf kalten Widerspruch stößt, wo er wärmstes Gefühl erregt zu haben hoffte; er fand sich beleidigt und gekränkt. Mit höhnischer Nachgiebigkeit sagte er: »Es ist zu bedauern, daß Shakespeare nicht Ihren Rat einholen konnte, eh' er die Tragödie schrieb; das wäre ganz etwas anderes geworden.«

»O,« erwiderte Wulf, den der Spott kränkte, »ich rede nur als Darsteller, rede nur für mich. Von den Dramen Shakespeares, die ich kenne, hat mich dieses am wenigsten befriedigt, und mit all' seinen Haupt- und Staatsaktionen läßt es mich kalt. Das ist eine persönliche Empfindung; es giebt sich keineswegs für eine Ansicht oder Meinung; noch weniger für ein Urteil.«

»Mir aber giebt sie den Beweis, daß wir uns in Ihnen getäuscht haben. Sie stehen durchaus nicht so hoch, wie wir Sie nach Ihrem Othello erheben wollten; daß Ihnen diese Rolle gelang, war ein glücklicher Zufall.«

»Und daß Sie zugegen sein mußten, war ein unglücklicher ... für mich. Gern geb' ich zu, daß Sie mich überschätzten und sich in meinem Berufe für das Höchste täuschten: meine Schuld ist das nicht. Daß ich mich aber noch einmal über mich selbst habe täuschen lassen, durch Sie, das trifft mich desto schwerer, weil ich bereits Wohlthaten von Ihnen und von Ihren Freunden durch Sie empfing, die wiedererstatten zu können ich keine Aussicht habe. Das ist ein Elend, welches mit meiner Verwundung, mit deren schlechten Heilung zusammenhängt, und wenn ich mich diesen Gedanken hingebe, möcht' ich verwünschen und verfluchen, daß ich in den Krieg zog. Erwäg' ich aber dann, welch' stolze Zuversicht der eitle und verwöhnte Komödiant auf sein glattes Antlitz, auf seine sprechenden Züge gesetzt hat; erwäg' ich, welch' ein Gemisch großmütiger und selbstsüchtiger Anregungen mich in den heiligen Kampf getrieben; erwäg' ich endlich die Folgen, welche für andere sich daraus herleiteten! ... so betracht' ich, was über mich verhängt wurde, wie eine gerechterweise mir auferlegte Buße und schicke mich in mein Elend. Denn womit du sündigst, damit sollst du gestraft werden. Fürchten Sie nicht etwa, daß ich in pietistischen Jammer geraten will, meine Herren. Bon der Unzulässigkeit, es fürder als Schauspieler zu versuchen, hab' ich mich nun endlich vollständig überzeugt, und für immer. Prediger denk' ich ebensowenig zu werden. Ich ziehe mich unter die Erde zurück, wie es dem ›Tode‹ geziemt, und befreie Sie von meinem Anblick.«

Als er die kleine Gesellschaft verlassen hatte, vereinten sich sämtliche Beisitzer derselben zum Lobe des Abwesenden. Immermann war der erste, sich wegen seiner Herbigkeit anzuklagen, und man beschloß einstimmig, dem Gegner König Richard des Dritten das bisher bewiesene Wohlwollen nicht zu entziehen. »Vielleicht auch,« sprach Immermann mit sarkastischem Lächeln, »hat er auf seinem Standpunkte, als Theatermensch des neunzehnten Jahrhunderts, gar nicht weit vom Ziele vorbeigeschossen, wie er jetzt gegen mich auftrat. Bleibe Shakespeare immer und ewig der Liebling der Besten, zu denen wir uns zählen, weil er der Beste ist; dessen ungeachtet thäten wir gut, wenn wir endlich den Gedanken aufgeben wollten, ihn im eigentlichen Sinne des Wortes, im ausgedehntesten und umfassendsten nämlich, auf unseren Bühnen einheimisch zu machen, oder gar eine der seinigen verwandte Herrlichkeit in unseren Tagen dichtend hervorzurufen. Ein Bestreben.« schloß er seufzend, »woran auch ich schöne Jahre meiner produktiven Jugend nutzlos vergeudet habe!«

*   *   *

Was heute geschehen kann, sollst du nicht auf morgen verschieben. Ist's etwas Unangenehmes, so erweisest du dir selbst den besten Dienst durch Beschleunigung; und ist's eine gute That, die du vor hast, so gewinnt sie an Wert, je früher sie ausgeübt wird. Wer bald giebt, giebt doppelt, sagt ein lateinisches Sprichwort. Unser Dichter verzögerte den Besuch bei Wulf, womit er diesem eine freundliche Aussöhnung darbieten und ihm neuerdings Vorschläge zu einer geregelten Existenz machen wollte, bis zum zweiten Tage, weil es ihm nicht eben leicht wurde, einzugestehen, wenn auch nur stillschweigend, daß er nachgeben wolle. Und wie er sich die entsprechende Stimmung abgerungen zu haben meinte, wie er an die Thür der niedrigen Wohnung pochte... da erfuhr er, daß Herr Tod fort sei und ein Paket für ihn hinterlassen habe, welches gerade befördert werden sollte. Dies enthielt die sauber gelieferten Abschriften und ein wehmütig-dankbares Lebewohl mit der Bitte um Verzeihung.

Der Dichter ging betrübt davon. Zwar schalt er den Entflohenen, mit dem er es gut gemeint, und dem er eine ganze Tasche voll Trost und Beistand mitgebracht, eigensinnig und empfindlich; dennoch bedauerte er ihn. »Wär' ich doch gestern gegangen,« rief er ärgerlich aus; »nun ist's zu spät!«

»Zu spät!« ein traurig Lied, das täglich erklingt. Das alte Lied, das alte Lied, so lange sich die Erde dreht.

Doch dieses »zu spät« hat zweierlei Bedeutungen. In der ersten ist's am schmerzhaftesten. In der zweiten, wo es keinem andern gilt, wo wir selbst für unsern eigenen Vorteil zu spät eintreffen; wo es nur an einer Stunde, einem Tage hing, daß wir erreicht hätten, was wir wünschen, da läßt sich's eher tragen; besonders wenn Gewohnheit tragen hilft. Es giebt Menschen, die ein für allemal bestimmt find, zu spät zu kommen oder auch zu früh, was eigentlich auf eins hinausläuft. Unter diese gehörte, einige wenige Fälle ausgenommen, unser Held. Deshalb hat es ihn weder überrascht, noch gekränkt, daß ihn der Theatersekretär Malß in Frankfurt a. M. mit der Versicherung empfing: »Wären Sie gestern dagewesen, Sie hätten Probe soufflieren können; heute früh ist der Kontrakt mit einem andern auf ein Jahr abgeschlossen worden.«

Er verriet nicht die geringste Unzufriedenheit darüber und sagte so gleichgültig, wie wenn es ihn nichts anginge: »Ich hätt' mir's denken können; es schadet auch nichts. Doch hätte ich noch eine Bitte an Herrn Malß.«

»Welche?« fragte dieser mit dem Ausdruck unbestimmter Besorgnis.

»Daß Sie mir beschreiben möchten, wo ich auf geradestem Wege nach dem Hirschgraben gelange.«

»Was wollen Sie dort?«

»Ein gewisses Haus betrachten, weiter nichts. Nur deshalb hab' ich in der freien Reichsstadt halt gemacht; die Erkundigung, ob es ein Engagement für mich gebe, geschah bloß nebenbei.«

»Sind Sie ein so großer Verehrer Goethes?«

»Ich weiß das nicht genau zu sagen; es mag wohl sein. Je älter ich wurde, desto tiefer hab' ich mich in ihn hineingelebt, und je schlechter mir's ging, desto mehr Freude hab' ich an ihm gefunden. Wo ich wußte und konnte, griff ich nach seinen Schriften – man kann das nicht lesen nennen, ebensowenig bewundern ... mir war immer nur, als wüßte ich schon längst, was er sagen würde, als wären es meine Gedanken und Gefühle, die er ausspräche, als wär' es keine Dichtung, die ich anstaunen, als wär's die Wahrheit, die ich erwarten müßte, die nicht anders klingen könnte. Zu jener Zeit, wo ich Tag und Nacht das Theater im Sinne hatte, hab' ich nicht viel aus ihm gemacht; seitdem ich auf den Brettern wie im Leben nicht mehr mitspiele und mir den ganzen Spuk von unten betrachte, hab' ich Goethes Poesie erst würdigen gelernt; sie erscheint mir vom Dasein unzertrennlich. Die andern will ich samt und sonders entbehren, wenn's sein muß; den Goethe lass' ich nicht mehr. Ich brauch' ihn notwendig, um auf jedweden Schmerz den Balsam zu gießen, den ein Spruch von ihm giebt; um jedwede freudige Regung in mir, die sonst gleich absterben würde, mit einem Spruche von ihm zu beleben, zu erfrischen. Er hilft mir für alles, von ihm lern' ich alles, er hat alles gesagt. Glauben Sie mir, Herr Malß, wenn ich manchmal meinte, nun ging's gar nicht mehr, da nahm ich nur ein Goethesches Stoßgebetlein in den Mund, wie andere Landstreicher einen Schnaps, und kaum hatt' ich's gemurmelt, war ich bei Wege.... Entschuldigen Sie das Geschwätz; ich will mich nach dem Hirschgraben begeben.«

»Und ich will Sie begleiten.«

Sie gingen nebeneinander her und kamen sich mit jedem Schritte näher, weil sie sich in Goethe verbunden fühlten, obwohl sie sonst wenig Ähnlichkeit miteinander und wenig Beziehungen zu einander hatten. Malß entdeckte im Souffleur Tod sehr bald den ehemaligen Schauspieler und ließ sich dessen letztes Abenteuer bei Safthütl wohlschmecken; der Neger Mulak gab die tropische Würze daran. Wulf hinwiederum entdeckte in Malß mit Vergnügen den Verfasser der lustigen Komödie vom »Frankfurter Borjer-Kabbedähn,« der für diesen Abend angesetzt war. Sie verbrachten einen guten Tag mitsammen. Malß bewirtete seinen Gast nicht allein mit Speis' und Trank; er setzte ihm auch »Schnaken und Schnurren« vor, an denen er reich war, und ließ dazwischen manch' wohldurchdachtes Wort über Lokal- und Volkspoesie hören, was seinem ergötzlichen »Bürgerkapitän« zur Vor- und Nachrede diente. Wulf zeigte sich sowohl von dem Stücke als von der Aufführung sehr befriedigt und hob vorzüglich die Darstellung der Lindner in die Wolken. Als er nun erfuhr, daß diese kleine, dicke, plumpe, grundhäßliche Dame die nämliche sei, welche nicht nur als vieljähriger Liebling der Frankfurter, sondern auch als Gast in Wien, Berlin, Hamburg und überall in jugendlich tragischen Rollen, die auf körperliche Schönheit basiert sind, mit überschwenglichem Beifall aufgetreten sei ... da wär' er fast wieder unruhig und rebellisch geworden. Der Acceß drohte um so gefährlicher, weil Malß vorzüglich die Wirkung des »unwiderstehlichen Organs« hervorhob, wodurch sie für andere physische Mittel entschädige. Es bedurfte der lebhaftesten Erinnerung an seinen Eintritt in die Düsseldorfer Gesellschaft, um ihn zu beschwichtigen; diese aber reagierte als niederschlagendes Pulver.

Auch Herr Malß zeigte Wunsch und Willen, für diesen »seltensten aller Souffleure« thätig zu sein, blieb jedoch zuletzt auch bei der Unterstützung stehen, die er dem unsteten Wanderer für die Weiterreise zu verschaffen wußte. Er knüpfte an das reichliche, aus ungenannter Senatorenkasse fließende Viatikum eine Hinweisung auf Weimar. »Wer das Haus am Hirschgraben zu betrachten kam,« sprach er, »wo die Wiege stand, der muß doch auch jenes ›am Plan‹ zu betrachten gehen, wo jetzt noch der Lebendige wandelt, wo menschlichem Dafürhalten nach bald der Sarg stehen wird. Umwege giebt es nicht für Sie. Ziehen Sie gen Weimar und gedenken Sie meiner, wenn Sie ihn erblicken!«

»Das ist ein genialer Einfall, Herr Malß; den hätt' ich nimmermehr aufgebracht! Groß, erhaben, herrlich! Jetzt weiß ich doch, wozu ich auf der Welt bin ... bis ich's erreicht und das Frankfurter Urkind, den Weltgreis, den Komödiantenprinzipal gesehen habe! Vater Bäcker war mit Eckhof von Gotha herüber gekommen ... davon wissen Sie nichts ... ich bin noch nicht geboren gewesen ... jetzt bin ich ein alter Knabe geworden, und er lebt noch und singt noch und herrscht noch ... und ich soll ihn schauen von Angesicht zu Angesicht, ausgerüstet mit Frankfurter Golde! Und bei mir wird's nicht heißen, wenn ich sein Haus angaffe, wie Sie von Ihren Reichsstädtern sagen: ›Es geht im Dage mancher vorbei, guckt ennuff... und denkt nix derbei!‹ Ich werd mir was derbei denke, und an Ihne wer ich aach denke! Gott vergelt's!«

 

Fragmente aus W. Tods Leben.

 

45.

Also das ist Weimar? Ich hatte mir eingebildet, man müsse ihm schon von weitem abmerken, daß Goethe darin haust. Es steht ganz alltäglich da, wie andere Städte. Nur im Park hat mich ein poetischer Hauch umweht, und wenn ich in die dunklen Wogen der Ilm starre, mahnt mich ihr Rauschen an die liebliche »Fischerin.« Auch den Erlkönig seh' ich im Nebel reiten.

Im Theater gaben sie gestern Mozarts Figaro. Hummel dirigierte. Ich entdeckte das erst nach Beendigung des ersten Aktes, wo ich einen neben mir stehenden Herrn um den Namen des vortrefflichen Schauspielers befragte, der den Figaro sang. Er nannte mir La Roche. Hätt' er sich damit begnügt, so wär' ich zufrieden gewesen und hätte dem Verlaufe der Aufführung mit Aufmerksamkeit und Freude folgen dürfen. Doch diese Kleinstädter sind froh, wenn sie einen Fremden finden, dem sie ihre heimischen Zustände beschreiben können, der nicht über jedweden Einwohner so genau wie sie unterrichtet ist. Er benützte die willkommene Gelegenheit zu docieren und schloß ein langes Register bekannter und unbekannter Persönlichkeiten mit Herrn Kapellmeister Hummel, dem »berühmten Kompositeur und Virtuosen.« Nun erkannte ich den Mann wieder, den ich in seiner und meiner Jugend gesehen, und da bemächtigte sich meiner die gewaltigste Wehmut. Es brach ein Heimweh aus – anders vermag ich die wundersame Empfindung nicht zu bezeichnen – ein Heimweh nach Eisenstadt überfiel mich, daß ich meinte, die sehnsüchtigste Bangigkeit würde sich in lautem Schluchzen Luft machen. Mir blieb nichts übrig, als mich rasch zu entfernen und Mozarts Göttermusik im Stiche zu lassen. Gram und Schmerzen mildert wohl die Macht der Töne; Sehnsucht und Wehmut werden durch ihren Einfluß vermehrt. Ich hoffte, im Freien sollte mir leichter werden.

Es war ein kühler, feuchter Herbstabend. Der blasse Mond erhellte ihn zwar, doch nebelhaft und unsicher. Die Gassen lagen tot und leer. Die »Residenz« wie ausgestorben. Ich rannte vor Goethes Haus, dachte mich dort zu raffen; denn ich weinte so kindisch, daß ich mich vor mir selber schämte. Die jüngeren Bewohner desselben hatte mir mein Explikator in der Oper gezeigt. Vom Alten keine Spur. Die Fenster dunkel. Alles still. Ich ging, wie ich gekommen: bitterlich weinend. Nun lief ich nach dem Park. Tot und öde. Kein lebendiges Wesen! In der Stadt war mir doch wenigstens ein Hund begegnet. Hier bewegte sich nichts als die Blätter der Bäume und die Zweige der obersten Wipfel und das Heimweh in meiner Brust. Ist es nicht lächerlich, wenn der Heimatlose von Heimweh redet? Ich konnte das Wort nicht loswerden. Es stand mir immer vor Augen, trat mir fortwährend vor die Seele, ich las es im bleichen Mondschein, wie wenn es, gleich Goethes Distichen, den Steinen in Karl Augusts Lustgarten eingegraben wäre! »Und dem Liebenden gönnt, daß ihm begegne sein Glück!« Tausendmal rief ich das den »einsamen Nymphen« zu, aber sie gaben keinen Bescheid; die Sehnsucht nach den Stübchen, die ich mit Ludmilla bewohnt habe, ließ nicht eher nach, als bis die Erinnerung sich auf spätere Bilder aus meinem Leben richtete. Da wurde mir klar, daß sie überall gern haftete; daß ich überall heimisch und zufrieden gewesen zu sein wähnte; daß ich mich nach allem sehne, was nicht mehr ist – daß ich nur die Gegenwart unerträglich finde. O entsetzliches Heimweh! Es gilt nicht einem Orte, nicht einem Lande, es gilt allen Ländern, wo du warst; es gilt der Vergangenheit. Und sie zog mit nur durch die schauerlich bleiche Mondnacht im Parke zu Weimar. Von hier ausgegangen sind die geistigen Gewalten, die dem deutschen Theater des vorigen Jahrhunderts und den letzten Resten seines Zunftwesens den Garaus machten; und hier wandelt nun ein armseliger Zeuge des vorigen Komödiantentumes, sein eigen Gespenst, tot bei lebendigem Leibe, voll Sehnsucht nach dem Untergegangenen, Verdrungenen, wie er gestern voll Sehnsucht war nach diesem klassischen Boden, den er jetzt betritt sonder Befriedigung. – Was hab' ich erreicht, wem hab' ich genützt? Nicht einmal mir! Kein Halt, keine Befriedigung, kein Lohn des Strebens, kein bleibendes Werk heißer Mühen, kein Resultat! Schaum, Träume, Mondnebelbilder von Thränen feucht, den Schatten ähnlich dieser Nacht im Park zu Weimar.

Ich fröstelte. Es trieb mich in meine Herberge. Der verschlafene Hausknecht öffnete unwillig. Der Mond blickte auf mein Lager. »Und dem Liebenden gönnt, daß ihm begegne sein Glück!« so betete ich entschlummernd. Was die Nymphen versagten, der Schlaf hat es mir gewährt. Sie, die einzige, die letzte Liebe meines elenden Lebens erschien mir lebendig. Sie küßte dies zerstörte Angesicht, legte ihre zarte Hand auf die tiefe Narbe, lächelte mich liebreich an ... und ich bin getröstet erwacht; getröstet, gestärkt. So erscheint uns im Traume nur eine Verstorbene. Sollte sie nicht mehr auf Erden weilen? Ist sie in unsere wahre Heimat gezogen? Dann hätte mein Heimweh ein festes Ziel! Ach, wenn ich das wüßte!

 

46.

Zapfe heißt er und ist wohlbestallter Lohndiener allhier, mein jüngsterworbener Freund. Er geht aus und ein bei Goethe, hilft servieren, wenn's Tischgäste giebt; kennt das Haus wie sein eigenes bis in Küche und Keller; macht nicht mehr aus dem Dichter des Werther, des Meister, des Faust, des Egmont. der Iphigenia, wie aus einem ganz ordinären wirklichen Geheimrat. Zapfe ist mein Mann. Durch den kann ich's dazu bringen, daß ich erreiche, was ich will. Er ist intim mit dem Haarkünstler, welcher des größten Dichters Haupt früh morgens in Händen hat. Der alte Kräusler und friseurhafte Säusler wundert sich noch immer, daß der »Geheimrat so zeitig aufsteht und gleich ans Geschäft geht.« »Hätt's doch nicht nötig,« meint er; »hat auch so sein reichlich Auskommen!« Zapfe teilt diese Ansicht. Die Leute entzücken mich. Sie erblicken nur den Staatsbeamten in Goethe. Den Mittelpunkt ihres Ländchens, das ihnen die Welt ist. Sie müssen mir viel von ihm erzählen. Ich frage sie aus bis ins kleinste. Mit Haaren weiß ich umzugehen. Mein Plan ist gemacht.

 

47.

La Roche zeigt sich als höchst bedeutender Künstler. Der wird und muß die Oper ganz aufgeben und mit klingendem Spiel und flatternden Fahnen zum recitierenden Schauspiel übertreten. Ich hab' ihn jetzt dreimal gesehen; im Schauspiel, im Lustspiel und in der unvergänglich lustigen Posse: »Das neue Sonntagskind,« wo er den versoffenen Hausmeister zum Küssen spielte. Wieder mein Wenzel Müller mit seiner unwiderstehlichen Musik! Ein eleganter Herr fiel mir auf durch sein rasendes Lachen; ich glaubte, er würde über die Logenbrüstung ins Parterre stürzen. Auf der Galerie sagten sie mir, das sei der junge Goethe. Den Alten sieht man nicht mehr im Theater, seitdem das neue Haus steht. Er soll beim Brande des alten ausgerufen haben: »Da stürzen große Erinnerungen in Trümmer!« Hast recht, Meister Wolfgang, bleibe dem neuen fern. Ich erwische dich schon sonst wo. Mein Plan ist gemacht.

Aber der La Roche gehört aufs Burgtheater nach Wien!

 

48.

Ich sitze wie ein Pascha – doch nein, ich rauche nicht und halte auch keinen Harem – in meiner stillen kleinen Stube (bei Licht betrachtet eine Kammer) und lese »Hermann und Dorothea.« Das Fenster geht auf den Hof, im Hofe befindet sich eine ländliche Düngergrube, über welcher sich ein respektabler Mistberg wölbt; auf letzterem krähen, gackern, glucksen und schnattern Hähne, Hennen, Truthühner, Enten. Mir gefällt das. Es liest sich prächtig dabei. Die Dichtung beglückt mich, sie verbreitet himmlisch-wohlthuenden Frieden über meine Einsamkeit; ich kannte sie noch nicht; Schmach und Schande für einen beinahe fünfzigjährigen Deutschen. Dabei fällt mir ein: Wie viel Deutsche von einiger Bildung mögen gelebt haben seit ihrem Erscheinen und gegenwärtig leben, die sie auch noch nicht kennen? Wenn eine Zählung möglich wäre, die Menge würde, glaub' ich, ungeheuer sein! Und doch giebt es kein deutscheres Buch als dieses. Durch »Hermann und Dorothea« ward Goethe der deutscheste aller Dichter, die da waren und sein werden. Und dennoch muß man immer und ewig das Märchen wiederholen hören, er sei ein kalter Hofmann; er habe für sein Volk kein Herz gehabt, deshalb dringe er auch nicht ins Volk! – Wer ist denn das Volk? Gerade so wie wenn ich einst fragte: wer ist das Publikum? Das sind leere Ausdrücke, bei denen sich, jeder etwas anderes denkt; und unter gewissen Umständen könnte man sich ebensogut auf das Volk berufen, welches da unten im Hofe schnattert, gluckst, gackert und kräht; es würde ein so gediegenes Urteil haben wie manches Publikum.

 

49.

Mein schöner Plan! Er ist vortrefflich gewesen und mußte so schändlich scheitern. Wer traute aber auch einem Friseur so viel Festigkeit zu? Hatte mir der Mann nicht hoch und teuer zugesagt, ich sollte statt seiner Goethes Kopf zurecht rücken? Er wollte sich unpaß (er sprach: » unbaß« aus!) melden, und ich, ein durchreisender Haarkünstler, dürfe für ihn eintreten? Hatte ich ihm dafür nicht mein letztes Frankfurter Goldstück versprochen? Hatte er mich nicht einem Examen unterzogen, einem praktischen? Hatte ich nicht darin bestanden? Hatte ich nicht seine Borsten gebrannt und ihm ein Toupet gemacht? Ich war meiner Sache so gewiß! Und heute Morgen, wie ich vor Tage, lange vor Tagesanbruch hinkomme, mir Handwerkszeug und Parole zu holen, zeigte er Reue und nimmt sein Wort zurück. Kein Verlaß mehr in dieser falschen Zeit, auf keinen Menschen; sogar auf einen Friseur nicht. Jetzt muß Zapfe helfen.

 

50.

Auch Zapfe hat mich im Stiche gelassen. Meinen Vorschlag, mich beim nächsten Diner als Lohndiener einzuschwärzen, fand er erst plausibel, später bedenklich, jetzt unausführbar. Gleich am ersten Tage meiner Ankunft, meint er, wär's zu wagen gewesen: ich konnte ja wirklich ein ambulanter Lohndiener sein, meint er. (Und was ist ein Souffleur, ja was ist ein reisender Schauspieler anderes?) Aber jetzt, meint er, wo jedes Kind schon meine Narbe kennt und sich davor fürchtet, darf er sie nicht beim »Geheimrat« ausstellen. Das » reskiert« er nicht, meint er. Ich werde also selbständig handeln, ohne Unterstützung verzagter Weimaraner. Goethe bringt schöne Nachmittage seit etlichen Wochen im Gartenhause zu; manchmal ganz allein. Darauf günd' ich den zweiten Plan, der, will's Gott, besser gelingen soll, denn der erste.

 

51.

Er ist gelungen! Viktoria!

Ich stand in der Laube und wartete. Der Wagen fuhr vor, er stieg aus, der Diener ging und öffnete die Hausthür, dann kam er zurück, holte sich einen Befehl, den ich in meinem Verstecke nicht deutlich hörte, sagte: »In einer Stunde, Excellenz!« setzte sich zum Kutscher, dieser schnalzte... ich war mit Goethe allein im Gärtchen, worin nur noch späteste Herbstblumen blühten. Er ging im schmalen Wege auf und ab, sprach mit sich selbst, unverständlich, betrachtete den Himmel, lächelte, stieß, wenn mich nicht alles täuscht, ein paar mäßige Flüche aus, näherte sich mir, wie wenn er in die Laube eintreten wollte, wich wiederum zurück vor der schattigen Dunkelheit und wendete sich der Sonne zu ... ich aber bildete mir ein, ich wäre ein Monarch, oder ein amerikanischer Astor, oder ein Londoner Rothschild, oder sonst ein Millionär und hielte mir ein Theater für mich ganz allein, und meine Loge wär' eine Laube, und die Bühne dieses Gärtlein, und mein Dekorateur der größte Maler der Welt, und mein Maschinist ein noch größerer Künstler – man betrachte nur, wie ihm die Sonne geriet! Und mein Theaterdichter, Regisseur, zärtlicher Vater ein gewisser Herr J. W. von Goethe, den ich auf Rekommandation des verstorbenen Komödiantenprinzipals Bäcker bei meinem Privat-Hoftheater angestellt, ohne das Geld anzusehen, weil Bäcker mich versichert, der Mann habe vor etwa sechzig Jahren seine Sachen gut gemacht und sei immer noch auf dem Zeuge. Und so bildete ich mir ein, besagter Goethe stelle jetzt ein Monodrama dar, welches ich mir ausdrücklich bei ihm bestellt, und war ausnehmend zufrieden mit seinem stummen Spiel. Weil es mir aber endlich doch zu lange währte, bis der Monolog begann, und weil ich mich erinnerte, daß ich benebst meinem hundertfachen Millionärtum auch ein blutarmer Souffleur sei, so beschloß ich, ihm seine »erste Rede anzuschlagen;« doch wie ich mich überzeugte, daß ich kein Buch besaß und durchaus nicht wußte, was in seinem Parte steht, so mußt' ich mich begnügen, ihm ein Stichwort zu bringen. Ich trat ihm entgegen, verneigte mich und sprach herzhaft:

»Euer Excellenz ...« –

»Wer seid Ihr? Was soll's?«

»Ein alter Komödiant, in der Schlacht verwundet, von den Brettern vertrieben, jetzt Souffleur, auf der Durchreise, kein Bettler. Ich will nichts vom ehemaligen Weimarischen Theaterdirektor, als nur das Handwerk grüßen und nebenbei den Dichter sehen, den ich im Herzen trage, den ich oft ins Leben gerufen. Ich bin kein schlechter Verkündiger Goethescher Dichtung gewesen, habe die Guten befriedigt, und die Besten haben mir's gesagt. Auch Iffland.«

»Sie heißen?«

»Kar nicht. Genannt werden nur die Glücklichen, Vorgezogenen, die in großen Städten sich hervorthun. Wir Hin- und Hergeworfenen »schweben umher in Persephonejas Reiche, massenweis ' Schatten vom Namen getrennt.« Dennoch thaten wir vielleicht mehr für euch und euren Ruhm, ihr großen Dichter, als unsere berühmten Mitbrüder, wie vornehm diese auch auf uns herniederschauen. Denn sie stehen vor euren Lesern, sie sagen ihren Hörern nichts Neues, sie versammeln die gebildete Welt um sich, die ihrer gar nicht bedürfte, um deutsche Poesie zu würdigen. Wir aber ziehen von Ort zu Ort, wo vielleicht niemand von euch wußte, und da wecken wir Geister und Herzen aus dumpfem Drucke, da streuen wir goldene Körner in tragbaren Boden, da bereiten wir dem Schönen und Guten künftige Ernten. Wir gleichen den Pflanzern der Neuen Welt, die mutig weiterbringen, indem sie diel entbehren müssen. Wir gleichen ihnen auch darin, daß allerlei Gesindel mitläuft; doch es hilft auch mit. Ich hab' ein schwer erworbenes Anrecht, den Goethe kennen zu lernen, dem jeder Hofschauspieler sich vorstellen läßt. Ich stelle mich selber vor, weil der Friseur sein Wort brach, und Zapfe ein Feigling ist. Ich thu's unter blauem Himmel, am hellen, reinen Sonnentage, den Goethe liebt.«

»Und das ist brav. Ihr stellt Euch wacker vor, seid ein ganzer Kerl.«

»Ich war's. Bin herunter gekommen. Nur auswendig, Excellenz. Der Kern ist gediegener wie einst. Die Flut der Leidenschaft, sie dringt vergebens ans unbezwungene feste Land; sie wirft poetische Perlen an den Strand – und das ist schon Gewinn des Lebens! Ich sah Goethe, ich las hier zum erstenmal Hermann und Dorothea! Was will ich mehr von Weimar?«

»Nun, nun, das ist ja schön! Ich möcht' Euch gern eine Freundlichkeit erweisen und weiß nicht, was ich mit Euch anfangen soll. Ihr entzieht Euch denn in Eurer eigentümlichen Weise jeglicher gangbaren und herkömmlichen Konvenienz. Wie war's etwa mit einem kleinen Viatikum? ...«

»Nicht doch! Sie werden mich auch ohne dieses los. Nur unbesorgt! Ich gehe heute noch. Was hielte mich jetzt noch in Weimar? Und wären die Straßen hier wirklich mit Jamben gepflastert – sie sind es nicht – ich schiede dennoch. Die mir zu erweisende Freundlichkeit nehm' ich an, nur nicht in Gelde. Diese Hand kann mir mehr darreichen als Gold und Silber, wenn sie sich mir selbst giebt, wenn ich sie halten, drücken, küssen darf. Das ist auch ein Viatikum.«

Er strich mir die Haare aus der Stirn, betrachtete mich gütig, beim Anblick der Verwüstung schauerte er ein wenig, dann blieb er an meinen Augen hängen mit den seinen, berührte sogar die Narbe, und abermals vom Schauer überrieselt sagte er sanft: »Ja, ja, ihr guten Kinder.«

Ich drückte die Hand an meine Lippen, eh' er's verhindern konnte ... und fort war ich.

Lebewohl, Weimar! –

52.

– Und abermals in einer Haupt- und Residenzstadt? ... Wie kam ich hierher? Weiß ich's. Wie die Schnecke, die von Strauch zu Strauch schleicht und endlich doch bis an den großen Baum gelangt. Sie bleibt am Stamme kleben, niedrig genug, daß jedes Kind sie erreichen kann. In die Krone versteigt sie sich nicht. Mehr als ein Jahr ist verflossen, seitdem ich Weimar verließ, und ich konnte mir in dieser Zeit doch so viel zurücklegen, daß ich für den Augenblick nicht zu hungern brauche und mir die Sachen hier ein Weilchen mit ansehen werde. Wer weiß, wie sich's fügt?

Natürlich bin ich wieder zu spät gekommen, nachdem ich einst zu früh kam. Ein Theaterunternehmen, zu welchem noch der erste Stein gelegt werden sollte, konnte keinen Souffleur oder sonstigen Subalternen gebrauchen, folglich auch mich nicht. Und ein Theaterunternehmen, welches seit noch nicht fünf Jahren sich schon der dritten Direktion erfreut, scheint mir wenig geeignet, mir mein ersehntes Ruhe- vielmehr Bleibeplätzchen zu gewähren.

Ach, und welch' eine Direktion!

Man hatte mich schon unterwegs versichert, daß der aus dem Deutschen übertragene Herr Taureau nicht schreiben und ebensowenig lesen erlernt habe, was ich begreiflicherweise nicht begreifen konnte, sondern für eine freche, von Neid und Bosheit ersonnene, noch obenein dumme Lüge hielt. Denn wer hätte für möglich gehalten, daß ein Mensch durch Protektion auf eine solche Stelle gehoben werden könnte, der nicht nur vollkommen unwissend, der auch unfähig ist, sich notdürftig von dem zu unterrichten, was er kennen oder wenigstens zu kennen scheinen muß, weil es den Mittelpunkt der ihm anvertrauten Verwaltung bildet! Man hat wohl Beispiele, daß auch bei strengsten Kriegsmaßregeln ein feindlicher Spion ungehangen blieb, aus Rücksicht für seine schöne Frau. Daß aber einem, der total fremd in dramatischer Litteratur, plump in seinem Betragen, roh und niedrig in der Gesinnung, eben noch in den größten Anstrengungen begriffen ist, um seinen Namen unterzeichnen zu lernen, bloß weil er schöne Töchter besitzt und an gehörigem Orte seinen frechen Übermut in Kriecherei umzuwandeln versteht, die Leitung einer Kunstanstalt übertragen werden mochte ... das ist unglaublich und steht in der deutschen Theatergeschichte allerdings einzig da. Ich reichte sogar mit meinem aus der Pester Epoche mich begleitenden » Nil admirari!« dabei nicht aus.

Einige, wenn auch schmerzliche, Befriedigung gewährte mir die Kunde: Herr Taureau verdanke seine Erhebung demselben durchlauchtig gewaltigen Einflusse, der vor beinahe zwanzig Jahren sich herabgelassen hatte, gegen die meinige zu operieren; dem ich's verdanke, daß ich wurde, was ich bin. Nur diese für mich merkwürdige Kombination machte mir's wünschenswert, mich durch eigene Anschauung von der Wirklichkeit dessen zu überzeugen, was mein bißchen Menschenverstand für unmöglich hielt, und ich beschloß, mich in die Höhle des Ungetüms zu wagen. Er ist mit seinem Oberregisseur unzufrieden, wie er es mit allen ist, die ihn umgeben, und wie jener und alle es mit ihm sind. Das ergriff ich als Vorwand, mich ihm anzutragen, fest entschlossen, mich augenblicklich zurückzuziehen, wenn er vielleicht – denn bei ihm darf man, wie ich höre, auf jeden übereilten und unsinnigen Entschluß gefaßt sein – Ernst machen sollte. Ich überreichte ihm einige Briefe Immermanns als Zeugnisse für meine artistische Befähigung, und wählte eine Stunde, wo ich seine Damen, die Vertrauten sämtlicher Korrespondenz, spazieren fahren gesehen. Er wollte die Papiere zurückbehalten, um sie »bei Muße« zu durchlesen. Ich verweigerte es entschieden mit der Erklärung, sie nicht aus den Händen zu geben. Dadurch gelang es mir, seine Neugier, vom Anblick meiner Verwundung schon erregt, noch zu steigern. Er vergaß sich und rief ins Nebengemach, wo ein Schreiber am Bureau saß.

»Die Dazwischenkunft eines dritten,« sagte ich, »muß ich mir ausdrücklich verbitten: es stehen Dinge darin, die außer uns beiden niemand wissen darf.«

»Deshalb kann mein Sekretär mir's doch vorlesen,« erwiderte er, nach den Blättern greifend; »der Kerl braucht nichts davon zu hören, er soll sich die Ohren zuhalten.«

Das war mehr, als ich zu erleben gehofft. Ich steckte die Briefe wieder ins Portefeuille und sprach: »So ist es denn wirklich wahr, was ich für Verleumdung hielt? Sie können wirklich nicht lesen?«

»Was geht das Sie an, Sie Grobian, der Sie sind?«, schrie er mich an.

»Nicht das geringste,« antwortete ich, »nicht das geringste, was Sie betrifft. Was mich betrifft, doch so viel, daß ich es meiner Ehre zuwider halte, mich mit einem Theater einzulassen, welches von Ihnen geleitet wird. Ich habe viel erlebt, viel gesehen, seitdem ich mich in der Welt umhertreibe; eine ähnliche Schmach, der Schauspielkunst widerfahren, sah ich nirgends. Sie dürfen sich schmeicheln, ein Nagel zum Sarge des deutschen Theaters zu sein.« Er fuhr wütend auf mich zu; pöbelhafte Drohungen und aufgehobene, geballte Fäuste sollten mich erschrecken. Sie waren unnütz verschwendet. Ich drückte ihm pantomimisch meine Geringschätzung aus und ließ ihn stehen.

Da fällt mir ein Buch in die Hände: »Die Ungarn wie sie sind,« oder ähnlich betitelt, von Ellrich. In memoriam des verstorbenen Schauspielers Wulf und seiner Beziehungen zu jenem Lande hab' ich mir's ausgeliehen, mit Teilnahme gelesen und neben manchem Entstellten viel Wahres gefunden. Kein Mensch konnte mir sagen, wer Herr Ellrich sei. »Kein Mensch« – das ist nur eine Redensart! Geh' ich denn mit Menschen um? Die Personen, mit denen ich Verkehre in meinem winzigen Gasthäuselein, scheren sich wenig um neue Bücher und deren Verfasser. Doch mir ließ es keine Ruhe: einige nur für Leute vom Handwerk wahrnehmbare Wendungen verrieten mir im Autor den Schauspieler: andere wiederum deuteten auf einen Offizier; der Ton des Ganzen auf einen Mann in meinen Jahren. Es konnte leicht ein Bekannter sein; ich hatte vielleicht mit ihm gegaukelt? Kurz angebunden begab ich mich ins Comptoir der Verlagshandlung, welche das Buch debitiert. Der Jüngling, welcher daselbst beschäftig war, bedauerte sehr, »die Hülle der Pseudonymität nicht lüften zu dürfen.« Nach langem Fragen rückte er doch damit heraus, daß der Verfasser hier lebe und als Theaterschriftsteller bekannt sei. – Ellrich? Habe nie von ihm vernommen! – Für die Bühne schreibt er unter dem Namen Albini! – Nun hatt' ich's, nun wußt' ich's: Albini – »Kunst und Natur« – »Zu zahm und zu wild« – »Die gefährliche Tante« – Albini schreibt über Ungarn! – Das kann kein anderer sein, das ist Albin Flet; der war Soldat, dann Schauspieler, schriftstellerte schon dazumal... wie kommt der hierher? – Mein Jüngling bereute sichtlich zu viel gesagt zu haben; ich preßte nichts weiter aus ihm heraus.

Meine Forschungen nach einem sichern Herrn Flet blieben vergeblich. Der existierte nicht für die Welt. Doch der Autorname Albini leitete, nach vielen Irrwegen, zuletzt auf einen Sprachlehrer, Herrn von Meddlhammer. Und meiner Treu', der ist's! Meddlhammer ist Flet, Albini, Ellrich und noch ein halbes Dutzend hinterher.

Der Mann ist ein lehrreiches und kalmierendes Exempel für mich und die Widerspenstigkeit, die sich bisweilen noch in mir mausig macht gegen mein Geschick. Er galt für einen guten Provinzschauspieler, glänzte sogar und stand immer auf größeren Bühnen wie ich; trieb sich nie »bei Schmieren« herum. Kam über Breslau, wo er nicht mißfiel, hierher, wo er verhöhnt und ausgezischt wurde. Diese für ihn ganz unerhörte Schmach stürzte ihn in Verzweiflung. Der Schauspieler Flet, dem sie widerfuhr, durfte nicht länger leben! Er schwankte vierundzwanzig Stunden lang zwischen symbolischem und reellem Tode. Entweder sich eine Kugel durch den Kopf jagen... oder seine Existenz als Sprachlehrer suchen. Englisch, Französisch, Italienisch sind ihm geläufig. Er zog die Kugeln aus den alten Reiterpistolen heraus und kaufte sich für seine letzten Thaler drei Sprachlehren, um einen wissenschaftlichen Leitfaden zu haben. Mühselig Leben in großer Stadt, Schüler und Schülerinnen aufzustöbern! Viel Plage für karge Bezahlung. Ohne Theater konnt' er doch nicht sein. Er legte sich aufs Stücke schreiben, und mit einigen ist's ihm geraten. Nebenbei macht er auch andere Bücher, wie jenes über Ungarn, auf Bestellung. Pferdearbeit und Eselsfutter. Meddlhammer (sein Vatername!) war er nur als Lehrer; Albini als Theaterdichter; Ellrich als Ethnograph; allerlei anders als allerlei anderer Autor. Flet als Verstorbener. Ich sage: Wulf ist Tod! Er sagt: Flet ist Herr von Meddlhammer. Dabei geht's ihm kümmerlich, ihm und seiner Frau, trotz allem Plagen, Mühen, Sinnen und fleißig sein. Er spart ängstlich. Um Zeit zu gewinnen für litterarische Arbeiten, die er seinem eigentlichen Broterwerb, dem Lektionen geben, abstehlen muß, steht er auch im harten Winter um fünf Uhr morgens auf. Da ist's aber im Zimmer eiskalt, denn geheizt werden darf erst später, weil die Wärme bis zum Abend vorhalten soll. Wenn ihm aber die Finger starr werden, kann er doch keine lustigen Rollen schreiben für Fräulein Charlotte von Hagn und Fräulein Auguste Sutorius und Herrn Schmelka Vater und Herrn Gern Sohn. Da hat sich der Mann eine eisenblecherne Maschine gekauft – nagelneueste Erfindung – in diese wird Spiritus gefüllt, dieser wird angezündet, die Flamme giebt eine flüchtige Wärme, kaum daß die Tinte nicht in der Feder einfriert, und in der halben Stunde macht er seine ... Lustspiele, welche dem Publikum gefallen, von der Kritik schmählich herunter gerissen, den Theaterkassen gute Einnahmen, ihm elende Honorare bringen und von den berüchtigten Manuskripten-Räubern und Händlern an sämtliche Bühnen versendet werden. Wenn das keine Trauerspiele sind, diese Lustspiele, dann weiß ich nicht mehr, was lustig und traurig ist! Da bin ich lieber Herr Tod, wie Herr von Meddlhammer.

54.

Neulich trieb's mich doch ins Theater, um Richard den Dritten zu sehen. Ich war das den Düsseldorfer Erinnerungen schuldig. Meine Ansicht ist sehr modifiziert worden. Die drastischen Wirkungen überwältigten mich etlichemal, und ich mußte wider Willen nachgeben. Der »große Devrient« verdient diesen Beinamen, das will ich nicht leugnen. Zwar fehlt ihm jetzt und hat ihm, glaub' ich, auch in seiner Blütezeit gefehlt, was für gewisse Partien und namentlich für den mörderischen Kronenräuber Richard geradezu unentbehrlich ist: die Suada, die hinreißende, strömende, unwiderstehliche Beredsamkeit. Sein zerbrochenes Organ, welches nie leicht und gehorsam anschlug, immer gewaltsam gepreßt wurde; – seine Unsicherheit im Memorieren; – die oft störende Ängstlichkeit, stellen sich einigen Scenen in dieser Tragödie geradezu vernichtend entgegen. Die von Gicht gekrümmten Hände versagen auch den Dienst. Gleichwohl ist er und bleibt er auch jetzt, wo er mitunter einem galvanisierten zuckenden Leichname ähnlicher scheint wie einem lebenden Künstler, immer noch das gewaltigste theatralische Genie, und er hatte Momente – vereinzelte, unvermittelte, wie es bei so gänzlicher Desorganisation des Physischen nicht anders möglich – die Blitzen gleich das Dunkel des furchtbarsten aller Trauerspiele erhellten und mich tiefere Blicke in Shakespeares Unergründlichkeit thun ließen, als eignes Studium jemals thun konnte. Das ist der Genius, der den Genius errät, wo er nicht durchdringt; der durch seine Darstellung ersetzt, was in der Dichtung Lücke schien, Ludwig Devrients Augen gaben mir mehr Aufschluß als manche geschwätzige Entwicklungen und Kommentare. Dieser Eindrücke noch übervoll traf ich mit Meddlhammer zusammen und war nicht wenig erstaunt, den sonst verständigen Mann von Devrient sprechen zu hören, wie von einem ganz geringen Schauspieler, der im Tragischen ein manierierter Coulissenreißer sei, fürs Komische aber sich seine Späße aus den Schnapsbuden zusammen suche. Ich geriet in Zorn, es gab eine heftige Debatte, in deren Verlauf ich erst dahinter kam, daß der jetzige Sprachlehrer für den ehemaligen Gastrollenspieler kämpfte. Es ist fixe Idee bei ihm, er sei als Flet nur deshalb durchgefallen, weil er den Grafen Balken in der »Schachmaschine,« eine Devrientsche Rolle, zum ersten Debüt gewählt, und weil dieser Kabale gegen ihn gemacht habe. Darauf lebt und stirbt der Mann, der die in Berlin erlebte Kränkung nie verwinden wird, obgleich er den Schauspieler längst begrub. – Armer Meddlhammer!

Ich hab' gut reden! Bin ich denn klüger? Hab' ich mich nicht auch verleiten lassen, nachdem Wulf längst begraben war. ihn auszuscharren, ihn schwarz anzustreichen ... requiescat in pace!

55.

Um die Hände nicht ganz müßig in den Schoß zu legen und wenigstens zu thun, wie wenn ich etwas für meine Zukunft thäte, habe ich mich in den zwei Zeitungen, die hier gangbar und allgelesen sind, mit gehöriger Reserve, als Schreiber, Concipist, Vorleser und dergleichen Zeug mehr an- und ausgeboten Mir liegt daran, länger hier verweilen zu können und nicht gleich wieder in irgend einen ambulanten Souffleurkasten kriechen zu müssen, sobald mein kleiner Geldvorrat erschöpft ist. Frag' ich mich aufs Gewissen, was mich festhält, so muß ich mir eingestehen, es sind die Tauern-Kauzburgischen Gräflichkeiten, die ich gern – wie zufällig – noch einmal sehen, denen ich irgendwie und wo begegnen mochte. Die Mutter nicht sowohl ... hauptsächlich der Sohn ist's, nach dessen Anblick ich mich sehne.

Ich stelle mich öfters in einer der beiden Zeitungsexpeditionen ein, deren sehr gefällige Beamtete sich erboten haben, die mir bestimmten Anträge zu übernehmen. Dort habe ich, was ich für ein glückliches Ereignis betrachte, die Bekanntschaft eines Mannes gemacht, der für das eingefleischteste Stück alter Theatergeschichte gelten kann, und der an mir seltsamerweise Gefallen findet. Er sprudelt mir seine Mitteilungen voll gesprächiger Bereitwilligkeit ins Gesicht; denn ohne etwelche Anfeuchtung gelangen seine Äußerungen nicht über die Lippen, was ihm den Spottnamen »Spuckschulz« eingetragen. Im gewöhnlichen Leben heißt er Friedrich Schulz, seines Standes ist er gewesener Gerichtsreferendar, jetziger »Hauspoet« (wie er sich betitelt) des poetischen und poetisierenden geheimen Staatsrats von St... und nebenbei Theaterkritikus für die gelesenste der politischen Zeitungen. Durch diese letztere Thätigkeit ist es ihm gelungen, Goethes Anteil zu gewinnen und von diesem hoch belobt zu werden, worauf er sich mit Recht etwas zu gute thut. Er gehört unter die geistreichen Vielwisser, welche die Welt, oft nicht mit Unrecht, verrückte Genies nennt. Gegen Spuckschulzens geniale Verrücktheit würde ich nichts einwenden; im Gegenteil, sie verleiht allem, was er spricht, eigentümlichen Reiz – nur bis zu jenem Grade der Tollheit, den man Wasserscheu nennt, dürfte sie sich nicht versteigen. Er scheint sich niemals zu waschen – und ist doch immer in schwärmerisch anbetender, nichts für sich begehrender, echt platonischer Liebe befangen. Wie verträgt sich diese mit schmutzigem Cynismus? (Ich meine mit äußerlichem, denn innerlich ist er reinlich und rein!) Wie vertragen sich die zartesten Empfindungen mit ungesäuberten Kleidern und Händen? – Das ist sein Geheimnis! Bei seiner Theatermanie kann der Gegenstand heiligster Flamme, wie sich von selbst versteht, immer nur eine Schauspielerin sein, eine dramatische, recitierende Künstlerin. Den Sängerinnen weicht er möglichst aus. Oper und Ballett haßt er, weil sie das recitierende Drama beeinträchtigen. Das erscheint mir ehrwürdig, und um dieser Konsequenz willen verzeih' ich ihm, daß Henriette Sonntag ihn kalt gelassen, über Fanny Elßler, die ich auch gesehen, bin ich mit ihm in Streit geraten. Er nannte sie »eine Tänzerin;« ich vertrat ihre Rechte als Schauspielerin und nannte sie die größte, die ich gesehen! Da wurde er ganz Spuckschulz und brillantierte mich förmlich mit dem Sprühregen seines Eifers und – Geifers. Denn er nahm diese Behauptung für einen Seitenhieb auf die Gottheit, der er gegenwärtig dient. Einen schlechten Geschmack verrät sein Kultus nie. Es war stets die erste, anerkannteste Aktrice, welcher die Huldigungen des bescheidensten Anbeters galten. Er ist ein alter Mann, und die Geschichte seiner verschiedenen Lieben (der Ausdruck: »seiner verschiedenen Liebesgeschichten« wäre viel zu prosaisch) reicht weit zurück. Als die außerordentliche, immer noch unvergessene Unzelmann, spätere Bethmann bei ihm an der Reihe war, hatte sich Herr Schulz noch nicht gänzlich seiner Ansprüche als Weltmann entäußert und führte noch nicht sein jetziges Eremitendasein. Er soll, versichert man, Madame Bethmann befragt haben, welche Maske sie ihm für die nächste Redoute anrate, damit er gewiß nicht erkannt werde. »Waschen Sie sich!« erwiderte sie ihm. Also damals schon! ... Ich suchte ihn neulich in seiner Wohnung auf, um ein Buch abzuholen, das er mir versprochen. Ein Mensch, der gleich mir sein Leben bei reisenden Schauspielertruppen zubrachte, hat gewiß Gelegenheit gehabt, Spelunken jeder Gattung zu durchschnüffeln, und Augen wie Nase sind abgehärtet. Was ich hier fand, übertraf doch die kühnsten Erwartungen. Er war im Begriff, »Toilette zu machen.« Nur ein vatermörderischer Halskragen stand ihm noch zu Gebote, und auch dieser hatte schon garstige Kniffe und Büge. Schulz faßte sich kurz; er besprengte die Zier seines Halses mit einigen Tropfen Wassers aus dem daneben stehenden Glase, ergriff einen in Schweinsleder gebundenen Folianten und benützte denselben als Plätteisen. Für diese außergewöhnliche auf seinen Putz verwendete Sorgfalt glaubte sich der wackere Mann bei mir entschuldigen zu müssen. Er hätte ausnahmsweise, versicherte er, eine Einladung für den Abend angenommen – bei ihr.

Seine Kritiken sind seltsam, oft einseitig und parteiisch, manchmal verbissen (letzteres nur wenn sie sehr berühmte Künstlerinnen betreffen, die ihm würdig erscheinen, in der Gunst des Publikums zu rivalisieren mit ihr! – wie zum Beispiel Amalie Haizinger-Neumann und Sophie Müller!), sonst im allgemeinen mild, wohlwollend und reich an Kenntnis der Sache, an Geist, an treffenden Bemerkungen. Sie lesen sich höchst angenehm – im Drucke nämlich. In der Handschrift sind sie unlesbar. Man zeigte mir kürzlich in der Zeitungsexpedition einen solchen Aufsatz, der aus sieben schmalen, befleckten, beklecksten, von fremdartigen Chiffern überfüllten Papierstreifen bestand. Nicht eine Zeile hätte ich herausbuchstabiert, wäre die Folter mit allen Martern darauf gestanden. In der Druckerei giebt es nur einen Setzer, der daraus klug wird. Geht der mit Tode ab, so kann Spuckschulz nicht fürder kritisieren.

Mir ist er unschätzbar. Er ist mir eine theatralische Encyklopädie, in der ich nachschlage, was ich wissen will. Auch hat er vor mir die Scheu abgelegt, die er vor den meisten Menschen hegt. Ich glaube, mein verunstaltet Angesicht hat mich ihm näher gebracht. Und Wohl auch die Hinweisungen auf meine Vergangenheit, die mir bisweilen entschlüpfen. Er liebt und erkennt in mir den alten Komödianten, die vergangene Zeit erwacht ihm; die Gespräche mit mir machen ihn jung. Er wird bisweilen geschwätzig und bringt dann die lustigsten Schwänke vor. Gestern traf ich ihn vor dem Schauspielhause, wie er dreimal ansetzte, um über einen Rinnstein zu schreiten und immer wieder umkehrte. Das ist eine von seinen Schrullen. Ich half ihm hinüber und fragte, damit er nicht Zeit gewinnen möge, empfindlich zu werden, nach näheren Umständen über den Brand des vorigen Theaters vom Jahre 1818 wenn ich nicht irre, der fürchterlich gewesen sein muß. Er sprudelte sogleich eine Menge ernsthafter wie komischer Anekdoten heraus, die er mit seinem plastischen Darstellungstalent, unbekümmert um einige Gaffer, ausstattete. Ich schauderte und lachte abwechselnd. Als er mir aber schilderte, wie die jedermänniglich bekannte Perücke, die der alte Unzelmann ein Menschenalter hindurch als »Lux im Dorfbarbier« getragen, sich aus dem Flammenmeer erhob, einem feurigen fliegenden Drachen gleich lange in der Luft schwebte und sich endlich mit majestätischem Fluge auf das Dach des Seehandlungsgebäudes niederließ, da malte er so lebendig, daß ich ihn für die Perücke hielt. »Sie sind ja ein kompletter Schauspieler,« rief ich ihn an. »Das will ich meinen,« erwiderte er; »wenn ich sonst wollte, ich würde besser spielen, wie all' die Kerls! Aber das ist man ebensoviel!«

56.

Mein Wunsch ist erfüllt: ich habe beide gesehen, Mutter und Sohn. Ludmilla hat auch mich wahrgenommen, und zu ihrer Ehre sei's gesagt, sie hat Anstalten getroffen, meiner habhaft zu werden, in der guten Absicht, mir Hilfe und Beistand aufzudrängen. Doch sie, oder vielmehr ihr Bote – wahrscheinlich in der Besorgnis, Graf Constantin könne Argwohn schöpfen – haben die Nachforschungen so vorsichtig betrieben, daß sie mir vor lauter Vorsicht und Behutsamkeit die Polizei auf den Hals zogen. Man hat sich unter anderem bei Herrn Taureau nach mir erkundigt, dieser hat mich als ein »höchst gefährliches Subjekt« geschildert; die Recherchen, nach einem sicheren Wulf angestellt, die auf einen unsicheren Tod leiteten, haben die Echtheit meiner Legitimationen und mich selbst verdächtigt; und so wurde Ludmillas beste Meinung Ursache, daß man mich, wenn auch nicht geradezu aus der Stadt verwies, doch ziemlich derb aufforderte, mich anderswo nach einem Unterkommen umzuthun, wofern ich nicht nachweisen könnte, daß ich mit Subsistenzmitteln mindestens für ein Jahr versehen sei. Das konnte ich aus eigenem Vorrat unmöglich, und Ludmillas Unterstützung wollte ich nicht. Aber um eine Zusammenkunft ließ ich sie bitten. Mir ward die Antwort gebracht: Sobald der Herr Graf auf die Güter gereist sein würde (Soldat ist er nicht mehr); jetzt sei's nicht »ratsam.«

Das verdroß mich. Nun werd' ich gehen, ohne sie gesprochen zuhaben. Wozu auch? – – –

Der wortkarge Bote ist noch einmal gekommen, wahrend ich meinen Koffer packte. Was er wollte, sprach er nicht bestimmt aus, doch schien er nur auf eine Andeutung zu warten, daß ich Reisegeld brauche! Nach vergeblichem Warten verlor er sich.

Und so berg' ich abermals diese Blätter in die blecherne Kapsel, die ich wie ein Botaniker überall mit mir herumtrug. Ob sie noch einmal herausgenommen werden? Ob ich noch Lust, Muße, Kraft finden werde, die losen Bruchstücke fortzusetzen? Ob ich vielleicht gar auf die eitle Idee gerate, ein Büchlein daraus zu machen? ...

Ich kann's nicht leugnen, Freund Flet-Meddlhammer-Albini-Ellrich etc. hat mir durch sein litterarisches Treiben derlei Gelüste erweckt.

Und weshalb dürft' ich nicht sogar mein Glück' mit einer Komödie versuchen? Meine Kenntnis der Bretterwelt wie der Weltbretter berechtigt mich einigermaßen dazu. – Aber nein, ich thu's nicht. Ich würde Rollen schreiben, die niemand sprechen könnte außer mir! Sie sprechen überhaupt nicht mehr; sie deklamieren! Und das hat allerdings der größte dramatische Dichter Deutschlands verschuldet, indem er pathetischen, lyrischen, rhetorischen Schönheiten glorreiche Bahn machte. Wär' er selbst Komödiant gewesen, er würde mehr auf charakteristische Menschendarstellung hingearbeitet haben; und wär' er nicht ein so großer Dichter gewesen, er hätte dem Theater wenig geschadet. Vater Bäcker wußte wohl, was er sagte, wenn er behauptete: Das Verderben geht von demselben Weimar aus, von wo die poetische Herrlichkeit kommt.

Und dabei fällt mir ein, daß der liebenswürdigste Schüler dieser verderblichen Herrlichkeit sich dort sein Grab gesucht hat. Pius Alexander Wolff ist in Weimar gestorben; leider war ich nicht mehr dort, um seiner Leiche zu folgen.

Nun genug gekritzelt. Ich rolle euch zusammen, dünne Blätter. Hinein mit euch in die grüne Büchse des Pflanzensammlers! Wenige welke Rosenknospen, viele Vergißmeinnicht, noch mehr Rosmarin und Totenblumen ... ach und Nesseln, Dornen, Giftgewächse ... unzählige. Tods Flora!

*   *   *

Der Biograph tritt jetzt wieder ein und beginnt sein Amt als Erzähler.

Er macht, wie er früher schon gethan, einen kühnen Sprung über eine ganze Reihe von Jahren fort. Er läßt seinen Helden ziehen, ohne ihm auf jedem Schritte zu folgen. Im Gebiete des gewöhnlichsten Schlendrians umherziehender Truppen giebt es für Wulf nur noch Leiden und Entbehrungen, giebt es für uns kein Ergötzen mehr. Wir haben hinreichend genossen von der alltäglichen Kost, Neues wüßten wir nicht mehr aufzutragen und zu lernen ist für uns nichts aus Wiederholungen. Was er daraus erlernt, was er gewinnt, indem er entbehrt; wie ihn reinigt und veredelt, daß er leidet, mag uns zu statten kommen, wenn wir ihn wiederfinden. Denn wir dürfen uns freuen, dem Menschen zu begegnen, der sich in tiefer Erniedrigung und bei schwerstem Verluste doch nicht selbst verlor, und lernen kann ein jeder von jedem, durch jeden, der gelebt hat.

Der Weg unseres Wulf war ein dunkler, steiniger, beschwerlicher. Wir lauern den ersten Lichtpunkt ab ... und flugs begeben wir uns zu ihm. Alt- wie Neubayern hatte er nach allen Richtungen durchgemacht, große und mittlere und kleine Städte ausgekostet, und zog nun einer Gegend mitten in Deutschland zu, wo unter günstigen Auspicien (wenigstens allem Anscheine nach) der jüngst konzessionierte Schauspielunternehmer Hoffnur ihn erwartete. Dieser ziemlich wohlhabende Mann, der vom Theater fern gelebt und wahrscheinlich deshalb eine kindliche Liebhaberei dafür gewonnen hatte, wollte seiner Vaterstadt und einem benachbarten Badeort eine »anständige Bühne« widmen. Er verpachtete die Brauerei, deren Betrieb er sein Vermögen dankte, und beschloß nur der Kunst zu leben. Ein Herr von Wald, ein »Hofschauspieler« ohne Engagement, hatte sich ihm angebiedert und, nachdem er sich in sein Vertrauen getrunken, zum »technischen Direktor« und Führer des Geschäfts aufgeworfen. Beide hatten, um brauchbare Mitglieder zu gewinnen, eine große Reise unternommen, waren in Baireuth mit Herrn Tod zusammengetroffen, der daselbst gerade als Inspicient fungierte, und Herr von Wald, faule und bequeme Pflege seines wohlgenährten Leibes über alles stellend, hatte auf den ersten Blick erkannt, daß besagter Schmarren-Tod (so nannten sie unsern Freund bei der Bande) das Theater nicht nur durch und durch kenne, sondern auch noch immer liebe, wie sehr zu hassen er's vorgäbe; daß er mit unermüdlichem Eifer dafür arbeite; daß er ein schätzbares factotum und besonders geeignet sei, sich demütig aufbürden zu lassen, was der Herr »Geschäftsführer« von eigenen Schultern abzustreifen wünschte.

Schmarren-Tod zog also dem Orte seiner neuen Bestimmung zu, ohne auch nur einen Moment sich zu täuschen über die Gefahren, welchen der arme Hoffnur entgegen ging. Hoffe nur, sagte er, du bist auf gefährlichen Holzwegen. Der Wald ist dein Untergang, wenn dich der Tod nicht rettet. Ich will das Meinige thun. Aber Tänze wird es setzen, denn Herr von Wald sind unus ex illis!

Gleich am ersten Tage nach seiner Ankunft übersah Wulf die Verhältnisse und entwarf einen Verhaltungsplan für sich. Dieser lautete kürzlich so: Alles anwenden, was in meinen Kräften steht, die Geschichte zusammenzuhalten! Und alles vermeiden, wodurch ich in den Vordergrund treten könnte. Herr Hoffnur und Herr von Wald sind die Gebieter und spielen die Herren; ich bleibe der Inspektor, der nichts unternimmt, ohne Befehle einzuholen, der in Ordnung bringt, was jene verwirren, der nachhilft, wo es stockt, der aber niemals einen Willen hat, sondern immer nur zu gehorchen scheint. So kann's ein Weilchen gehen, und so sagt es meinem Geschmack am besten zu! Der eine versteht nichts, der andere ist ein gewissenloser Schlemmer, dem es gleichgültig ist, ob er den Brauer zu Gründe richtet, wenn er nur vollauf hat. Meines Amtes wird es sein, die Welt glauben zu machen, die beiden Herren seien ganze Kerls und ich ihr gehorsamer Diener, von dem zu reden niemand der Mühe wert hält. Besser kann sich's Tod kaum wünschen; nicht wahr, alter Wulf?

Daß er bei diesen Aussichten aus undankbares Packeseltum keine Lebensfreuden erwartete noch erstrebte, darüber sind wir einig. Dennoch erblühte ihm eine, wo er sie am wenigsten erwartet hätte. Aus der ersten Probe, die Herr von Wald, aus der Bühne neben dem Souffleurkasten sitzend, abzuhalten vorgab, die aber Tod, mit seinem Inspicientenbuche in der Hand, hinter den Coulissen leitete – bei jeder von ihm getroffenen Anordnung Verhaltungsmaßregeln scheinbar einholend – vernahm er eine Stimme, die ihm bekannt schien, weniger dem Klange als vielmehr Accente nach, der etwas Fremdartiges, Ausländisches hatte. Er suchte sich den Sprecher auf der mit Personen angefüllten Scene (das Rütli) heraus und erblickte einen hoch aufgewachsenen Mann von gefälligem Aussehen, wie ein sehr wohlerhaltener Fünfziger es etwa haben mag. Herr von Wald hatte es nicht für nötig gefunden, den schon versammelten Mitgliedern der neu gegründeten Truppe ihren vorgestern erst angelangten Inspektor und Inspicienten vorzustellen oder die Mitglieder diesem, folglich lernte Wulf die einzelnen erst jetzt der Figur, dem Namen und ihrer Verwendbarkeit nach kennen. Er trat ans Pult, suchte im Besetzungsbuche nach und las: Stauffacher – Herr Böhm. Hab' ich nie und nirgends angetroffen ... gleichwohl ist mir ... Wetter, an wen erinnert mich der Mensch?

Gegen Schluß des Auftrittes hin fing Herr Böhm »loszulegen an,« wie es in der Kunstsprache heißt. Tod näherte sich Herrn von Wald und flüsterte diesem etwas zu. Bald darauf erhob Wald gebieterisch seine Stimme: Böhm, Sie dürfen nicht so viel brüllen und rasen; Stauffacher mahnt zur Geduld, zur Ruhe, zum Abwarten. Sprechen Sie milder und gestikulieren Sie nicht so herausfordernd. Noch einmal die Scene!

Es war leicht zu erraten, daß der Herr Oberregisseur nur nachredete, was ihm der ehemalige Souffleur eingeblasen. So verstand's auch Böhm. Nach Beendigung der Probe trat er auf Tod zu und sagte leise: »Sie haben, scheint mir, viel mit zu sprechen hier; wollen Sie mir künftig den Tadel nicht lieber direkt zukommen lassen? Ich nehme jede Belehrung willig an. Der Herr von Wald hat keine hübsche Manier!«

»Ja, wie ist mir denn,« rief der Inspektor: »da finden sich ein paar alte Bekannte, ›scheint mir, hör' ich?‹ Heißen Sie nicht Wenzel?«

»Jesus Maria, war's möglich ... aber nein ... aber doch! Das Gesicht ist's nimmermehr, doch die Sprache ist's und die Augen sind's ... Herr von Wulf.«

»Still! Keine Silbe von Wulf! Wulf ist tot. Ich bin Herr Tod, und als solchen kennen Sie mich! Heute giebt's zu viel zu thun. Morgen werden wir ein Stündchen finden, wo wir uns aussprechen können! Ich freue mich, Sie so wieder zu sehen. Sie sind ein brauchbarer Schauspieler geworden.«

»Aber Sie, Herr Wu.., Herr Tod wollt' ich sagen; was ist's mit Ihnen? Haben Sie noch den Fluch auf sich? Und wer hat Sie denn so grauslich zugerichtet? Umgebracht haben Sie doch keinen Menschen?«

»Wenzel, Sie sind unklug! Das nennt man doch nicht umbringen, wenn man sich in der Schlacht seiner Haut wehrt? Ein braver Soldat ist kein Mörder. Und war der auch keiner, der mich zugerichtet, wie Sie sehen.«

»Wer spricht von der Schlacht? Ich meine vordem, ehe Sie zu Karpe kamen; ehe wir uns bei Jungzwirns trafen. Sie redeten von einem Fluche auf Ihrem Haupte! Der hat mich zurückgeschreckt, sonst wär' ich nachgelaufen, mochten Sie's erlauben oder nicht.«

»Der Fluch, guter Wenzel, von dem ich sprach, verfolgte mich nicht, weil ich mörderisch den Tod gegeben; er fiel auf mich, als mir das Leben gegeben wurde. Dabei stellt Euch zufrieden, langer Stauffacher ... und das Weitere morgen!«

*   *   *

Infolge dieses Zwiegespräches, wo Wulf dem Wenzel von sich mitteilte, was letzterem zu wissen frommte, damit er rücksichtsvoll und vorsichtig in seinem Betragen vor anderen bleibe, und wo Wenzel seinerseits wiederum die vieljährige Prüfungszeit treulichst schilderte, aus der endlich doch ein verwendbarer Akteur geringeren Ranges hervorgegangen war, hielten die zwei alten Menschen fest zusammen. Beide mieden gern den Verkehr mit andern und wichen jeder geräuschvollen Zusammenkunft aus. Beide erfüllten gewissenhaft ihre Obliegenheiten, lebten sparsam, hatten wenig Bedürfnisse und legten kleine Überschüsse zurück. Wenzel Böhm ordnete sich in jeder Beziehung willig unter, schon deshalb, wie er äußerte, weil Herr Tod eine Respektsperson und ihm an Jahren überlegen sei (was wenig betrug); dann aber, weil er »kurios viel wisse,« und weil jedes Wort aus seinem Munde gute, nutzbare Lehre enthalte. In der That lernte Wenzel mit dem allen Tschechen eigenen ausdauernden Fleiße unendlich viel in diesem Umgange. Wulf ging alle Rollen mit ihm durch, säuberte auch die Aussprache von mancherlei Provinzialismen und wurde nicht müde, am früh ergrauenden Schüler zu drechseln und zu feilen. Dafür war denn auch Wenzel der dankbare Diener, that ungeheißen, was er dem Genossen an den Augen absehen konnte, und hing mit wahrhaft rührender Treue an ihm, jeden Auftrag zu erfüllen bereit. Der einzige Luxus, welchen sich Inspektor Tod gestattete, bestand in einem Doppelabonnement bei der E-schen, reich versorgten Leihbibliothek; derjenige, den Böhm trieb, war für ein Mitglied nicht stabiler Bühne fast noch größer, denn dieser echte Sohn seiner Heimat, dieser Wenzel Böhm oder böhmische Wenzel ließ sich ein Prager Wochenblatt durch die Post senden, mochte er sich aufhalten wo er wollte, seitdem er so viel regelmäßige Gage erwarb, daß er die Pränumerationssumme erschwang. Länger als drei Jahre hatte diese Summe mehr als ein Vierteil seiner fixen Einnahme betragen, und er gehungert, um nur ja immer zu wissen, was »bei ihm zu Hause« vorging. Jetzt freilich war er ein anständig bezahlter Mann geworden. Dennoch fühlte er sich nicht zufrieden, und er gestand Wulfen ein, daß er nicht ruhig sterben werde, wenn es ihm nicht gelänge, ein Engagement beim Theater in der Hauptstadt seines Vaterlandes zu erreichen und vor seinem Tode » böhmische Komödie« mit zu spielen, an deren Hochgenüsse er voll Seligkeit zurückdenke, als an die herrlichsten Erinnerungen seiner Knabenzeit. »Schauen's Herr von Wu.. Tod wollt' ich sagen, Sie und ich, wir haben doch gewiß schon recht brave Komiker gesehen, und ich mach' doch auch mitunter meinen Spaß, und Sie selber haben mich gelobt und versichert, daß ich kein schlechter Komiker bin ... aber das ist alles nix gegen unsern Swoboda! Was ist das für ein Komiker gewesen! Die Natur, die Ruhe, die lustigen Einfälle, keine Übertreibung, und wie schön sich die tschechische Sprache auf dem Theater ausnimmt! Da ist ja die Deutsche nicht zum Anhören dagegen ....«

»Dann muß ich mich wirklich wundern, lieber Böhm, daß Sie deutscher Schauspieler zu werden sich lange Jahre hindurch so sauer werden ließen. Weshalb sind Sie nicht Ihrer Muttersprache treugeblieben?«

Wenzel kratzte sich im Kopfe. »Schauen's Herr von Wu .. Herr Tod, wollt' ich sagen, das ist halt sehr schwer, weil es so wenig Städte giebt, wo tschechische Truppen existieren. Wird ja doch in Prag nur Sonntag nachmittag eine tschechische Vorstellung gegeben; und in dieser sind fast lauter Schauspieler beschäftigt, die auch in deutschen Stücken mitmachen. Verstanden? In Deutschland haben Sie halt vielerlei Städte und vielerlei stehende und fahrende Gesellschaften. Die Auswahl ist größer für einen Anfänger. Und im Anfang hat's mich auch gefreut, Deutsch zu lernen, und hab' ich gar keine Sehnsucht gehabt nach meiner Muttersprache. Erst seitdem ich über die Vierziger weg bin, hat's angefangen, und jetzt, je älter ich werde, desto mehr zieht's mich, und ich möcht' halt' für meine Seele gern ....«

»Das begreif' ich vollkommen,« unterbrach ihn Wulf. »Und weiß dies Gefühl auch zu schätzen. Wir befinden uns ja nicht weit von Eurer Grenze. Wie wär's, wenn wir einen Brief aufsetzten, wir beide miteinander, denn ich weiß, schreiben ist Eure Stärke nicht, an den Pächter des Prager Theaters, den Herrn ....«

»Herrn von Stöger, bitt' ich!«

»Es wird mir schwer fallen, Sie zu verlieren; doch der Mensch muß nicht allein an sich denken! Lassen Sie mich Ihre Prager Zeitschrift manchmal sehen. Sie berichtet gewiß auch übers Theater, und auf diese Art erfahren wir wohl, wie wir unsern Antrag aufs beste zu stellen haben.«

Wenzel zog gleich eine Handvoll Blätter aus der Tasche und legte sie vor. Wulf suchte darin herum ... plötzlich entfärbte er sich ... verblich ... die Narbe glühte rot im aschgrauen Antlitz ... dann lehnte er sich zurück, hielt die Hände vor die Augen und versank in schweigendes Nachsinnen.

Während solcher Zustände, das wußte der aufmerksame Gefährte bereits, war mit Wulf nichts anzufangen; er bedurfte dann der Einsamkeit, um sich wieder zu sammeln.

Doch was konnte ihn mitten im heitern Gespräch so gewaltig ergriffen haben? Wenzel schlich auf den Zehen näher zu, raffte seine Journale zusammen und verließ den stumm gewordenen Gönner. Draußen las er nach und fand die Nachricht vom Tode eines zu seiner Zeit sehr berühmten Schauspielers, der schon lange ins Privatleben zurückgezogen kürzlich mit Tode abgegangen sei; er hatte das Alter von siebenundsiebzig Jahren erreicht!

Wird ein seiniger Freund gewesen sein, der alte Kampel! meinte Wenzel und beruhigte sich bei dieser Annahme.

*   *   *

Wir, die wir wissen, in welcher Beziehung unser Held zu dem Verstorbenen gestanden, werden uns nicht wundern, daß er jener ihn nahe berührenden Todeskunde eine länger währende ernste Stimmung gewidmet, als Wenzel erwartet hätte. Wulf blieb eine Woche lang verschlossen, teilnahmlos, niedergeschlagen. Weshalb eigentlich? Wer mag's erklären? Wir haben's alle selbst erlebt, daß wir Leute, denen wir einst vertraut, von denen wir dann lange getrennt waren, um die wir uns gar nicht mehr bekümmerten, förmlich betrauerten, da wir hörten: sie sind begraben; als ob wir gar nicht von ihnen gelassen hätten! Der Tod ist ein seltsamer Kumpan; er löst nicht nur, er bindet auch; sein Hauch erkältet und erwärmt zugleich. Er bringt uns Freunde wieder, die das Leben uns genommen hatte. Und nun gar ein Vater, sei's immer ein nicht geliebter, nicht gekannter, nicht geachteter! ... Der Ideengang, der sich daraus entwickelte, konnte nicht anders als vom verstorbenen Vater auf die lebenden Kinder führen. Der Sohn, der reiche Graf, der hochmütige Kavalier – wie er ihn bei flüchtiger Begegnung erblickt – nahm sein Gefühl wenig in Anspruch. Zwischen ihnen stand Ludmilla, die keine Annäherung dulden durfte, deren Bestreben darauf gerichtet bleiben mußte, jedwede mögliche Entdeckung zu verhindern. Aber die Tochter, von welcher ihm der Professor gesagt! Julia hätte sich gewiß nicht zwischen ihre Tochter und deren Vater gestellt. Sie nicht! ... Ihr galt er ja für tot. Und wenn sie das Kind gelehrt, eines längst abgeschiedenen Vaters zu denken, den Niegesehenen zu lieben, so gehörte er ja auch für seine Tochter unter die längst Vermoderten.

»Zwanzig Jahre wird sie bald zählen! – Ob sie schön sein mag? – Gut ist sie gewiß! – Ob sie bei ihrer Mutter weilt? – Ob sie schon verheiratet ist? – Ob ich etwa gar schon Großvater sein könnte? – Oder ob sie allein in der Welt ...? Wenn Julia heimgegangen wäre ... wenn das Mädchen ... ach mein Gott, ich weiß nicht einmal, wie sie getauft ist?«

Zu solchen und ähnlichen Gedankensprüngen trieb es ihn und weiter, immer weiter bis zu der Frage: ob es denn kein Mittel gebe, die Ersehnte auszuforschen, sich ihr zu nähern, sie wenigstens zu sehen? Kein Mittel? ... doch, einen Vermittler: den Professor ... Nein, auch diesen nicht mehr; der stand mit einem Fuße schon im Grabe; der ist längst hingegangen quo pius Aeneas! Kein Mittel; keinen Vermittler. –

Er that was seine Pflicht erheische, ohne Lust daran. Das letzte Fünkchen Komödiantentum schien erloschen in ihm, als ob es von der Erde bedeckt und erstickt wäre, die sie seinem Vater, dem Urkomödianten aus vorigem Jahrhundert, dem wilden und wüsten Vertreter einer ungezügelten, leidenschaftlichen Kunst und Lebensrichtung auf den Sarg gestreut.

Deshalb zeigte er auch nicht die geringste Teilnahme, als Herr von Wald ihm anzeigte, es werde nun endlich der seit Eröffnung der Bühne erwartete Zuwachs fürs höhere Drama in Person eines jugendlichen Liebhabers eintreffen. Und wie der junge Mann wirklich anlangte, wie er durch seine Persönlichkeit, sein fein geselliges Benehmen die besten Erwartungen erweckte; wie Wenzel nach der Probe von Romeo und Julia den musterhaften Vortrag des Debütanten rühmte, da zuckte Wulf nur verächtlich die Achseln und sprach geringschätzend: »Hohle Deklamation! Keine Spur von dramatischer Wahrheit!«

Wenzel verstummte sogleich, und Ernst Balde, so hieß der Neuling, ward nicht mehr genannt.

Wenn auch das Urteil zu hart, zu schroff sein mochte, war es doch nicht unbegründet. Balde, erst seit einem Jahre beim Theater, brachte zwar alles mit, was von einem Darsteller jugendlicher Helden und Liebhaber an äußern Gaben verlangt werden kann. Aber es erging ihm wie den meisten jungen Männern von Wissen und Bildung, welche die Fähigkeit, in sich aufzunehmen und innerlich poetisch zu verarbeiten, mit dem Talent verwechseln, nach Außen zu gestalten. Er sprach richtig, gefühlvoll, bewegte sich anständig, gab selten Gelegenheit, ihn störender Fehler zu zeihen; ... doch er blieb eben Rhetoriker, sagte eine wohleinstudierte Lektion befriedigend her und wurde nie der Mensch, den er darstellen sollte. Was von Darstellungskraft in ihm verborgen lag, war noch nicht zum Durchbruch gekommen. Bisweilen schien es, als wollten sich Natur und Wahrheit Bahn brechen, doch jedesmal gewann die moderne Schule wieder das Übergewicht, und die belebende Wärme erlosch im Wohlklang gebundener Rede. Balde gab sich nicht als er selbst; er schien der fleißige Nachahmer eines in diesem Fache sehr beliebten Akteurs. Gewiß hätt' es nur des praktischen und eingreifenden Rates von seiten Wulfs bedurft, um ihn auf den richtigen Pfad zu leiten. Wulf aber wich dem »Schönredner« aus so weit er konnte, und Balde verriet eine förmliche Scheu vor des verdrießlichen und verdrossenen Inspektors Anblick. Wenzel ging ihm, aus Respekt vor Wulfs Abneigung, ebenfalls aus dem Wege. Eine Annäherung ließ sich also nicht erwarten, wie sehr auch die beiden Menschen füreinander gepaßt, wie nötig beide sich gehabt hätten, der eine, um lernend vorzuschreiten und sich zu entwickeln, der andere, um lehrend sich an den Fortschritten eines edlen dankbaren Schülers zu erfrischen und gewissermaßen noch einmal in ihm aufzuleben. Keiner ahnte, wie nahe ihm sein Glück stehe.

Wir Menschen sind leider oft genug unsere eigenen Feinde, dann vielleicht am meisten, wenn wir uns feindselig gegen andere anstellen und uns absichtlich verhärten wider mildere Empfindungen. Wie viele gute Tage haben wir uns durch die üble Stimmung einer bösen Stunde geraubt! Wer das recht genau wüßte und zu durchschauen vermöchte, müßte verzweifeln. Der ewigen Macht, die mit unserer Kurzsichtigkeit Erbarmen hat, verdanken wir zuzeiten eine günstigere Wendung. Es begiebt sich dann irgend etwas, dem Anscheine nach Unbedeutendes, und wir werden, um einen recht gemeinen, doch passenden Ausdruck zu gebrauchen: mit der Nase darauf gestoßen, daß wir uns selbst im Lichte gestanden haben. Wir nennen das in unserer gotteslästerlichen Undankbarkeit »glückliche Zufälle!«

Ein solcher brachte Wulf mit Ernst Balde in Verbindung. Der Briefträger kam sich beim Herrn Inspektor nach der Wohnung des neuen Mitgliedes zu erkundigen und zeigte die Adresse vor. Die Schriftzüge derselben machten auf Wulf die Wirkung eines elektrischen Schlages. Er hatte wahrend seines Verhältnisses mit Julia nur wenige Zuschriften von ihr empfangen, und jene Blätter waren dazumal, ihrem Wunsche gemäß, gleich vernichtet worden. Sie standen aber Zug für Zug fest in seinem Gedächtnis, und er sah sie stets vor Augen, als ob er sie in Händen hielte. Die Lettern, welche Ernst Baldes Namen bildeten, die Form des Briefes, mehr noch die Devise des Siegels » For ever,« die einst um seinetwillen erwählt worden war, ließen ihm keinen Zweifel, daß Julia die Schreiberin sei. Zitternd entriß er dem Postboten dies teure Dokument, welches unwiderleglich bewies, daß sie noch lebe, und versprach es persönlich demjenigen zu übergeben, an den es gerichtet sei. Er verfuhr dabei ohne bestimmte Absicht. Unklar schwebte ihm die Idee vor, das Siegel zu lösen und den Inhalt des Schreibens heimlich zu lesen. Erst wie er allein war, trat die Schlechtigkeit solcher Handlung ihm deutlich ins Bewußtsein. Und nun begann der furchtbare Kampf zwischen dem Abscheu, den der Mann von Ehre und Rechtlichkeit gegen Verletzung des Briefgeheimnisses empfindet, und der kaum zu besiegenden, verzeihlichen Begier, zu erfahren, was Julia und den jungen Schauspieler miteinander verbinde. Ein Gemisch der widersprechendsten Gefühle!

Um dieser Pein zu entfliehen, und weil er sich selbst nicht hinreichende Kraft zu längerem Widerstande zutraute, mußte der Gegenstand der Verführung entfernt werden. »Ich werde diesen Brief seinem Eigentümer bringen, so wahr mir Gott helfe!« Dies ausgerufen stürzte er fort, und hinterließ seinen Wirtsleuten den Bescheid: Wenn jemand vom Theater nach ihm frage, möge man ihn warten heißen; er habe einen notwendigen Gang zu Herrn Balde gemacht und kehre gleich zurück!

Unterdessen hatte Balde den Briefträger begegnet, und auf seine Anfrage, ob nichts für ihn gekommen sei, die Antwort erhatten, sein Brief liege beim Inspektor.

Kaum war Wulf in eine Seitengasse zur Linken eingebogen, fand sich Balde von der andern, zur Rechten gelegen, in dessen Wohnung ein. Dort vernahm er, daß der Inspektor Tod ihn suche, und weil zu vermuten stand, daß dieser, wenn er ihn nicht auffinde, bald wieder heimkehren werde, so dünkte ihm das Sicherste hier zu harren. Man öffnete ihm das Zimmer. Darin lagen auf mehreren Tischen allerlei Papiere und Schriften. Baldes Blick fiel auf ein Konvolut, welches den Titel trug: »Theatralisches Wörterbuch.« Das klang wie für die Öffentlichkeit bestimmt. Er schlug den ersten Bogen um, las, und noch ehe die Besorgnis, eine Indiskretion zu begehen, ihn abhielt, hatte er schon weiter geblättert und voll Erstaunen, daß der von ihm unbeachtete, für einen Inspicienten gewöhnlichen Schlages gehaltene, häßliche Mann sich mit dergleichen Arbeiten im stillen beschäftige, fand er sich von den hier niedergelegten Bemerkungen angezogen, so daß er aufmerksam weiter las.

Teilen wir seine Aufmerksamkeit und lesen wir mit ihm einige einzelne Beiträge zur näheren Kenntnis unseres Freundes Wulf.

Abgang. – Ich lese und höre häufig scharfen Tadel wider die Schauspieler, welche auf wirksame Abgänge hinarbeiten; kann's nicht so strafbar finden, besonders in Deutschland, wo die Leute zähe sind und eigentlich immer erst durch den Akteur aufgemuntert werden wollen zu Beifallsspenden, durch welche sie billigerweise den Akteur aufmuntern sollten. Es wünschen doch jeder und jede hörbaren Applaus zu genießen. Wer mag's ihnen verübeln, daß sie die Abgänge dazu benützen? Sie streichen ja dann nur im ganzen ein, was sie im Laufe der Scene sich einzeln verdient haben. Und werden sie nicht von den Dichtern darauf hingewiesen? Sogar Shakespeare bringt, regelmäßig ehe eine Hauptperson die Bühne verlassen wird, etwelche Reime an, die als Schlagwort fürs Auditorium gelten und sagen wollen: Jetzt krempelt euch die Ärmel auf, ihr Herren da oben und unten, jetzt geht's los! Und Schiller hat's Shakespeare redlich nachgethan. Wenn die Herren Poeten unsere Abgänge reimen, damit es klinge... weshalb dürften wir nicht ein bißchen loslegen, damit es widerklinge? Seid doch nicht so ungerecht, ihr Rigoristen!

Alternieren. – Davon steht häufig in Kontrakten bei größeren Bühnen, kommt aber selten zur Ausübung. Gewisse Stücke giebt's, wo wegen der Weiberrollen überall der Teufel auf einem Fiedelbogen reitet. Jungfrau will jede sein, Agnes Sorel keine. Da heißt's denn »alternieren;« für den ersten Abend entscheidet das Los. Thut niemals gut. Bringt Parteien auf die Beine, pro et contra; endet gewöhnlich mit Zischen und Pfeifen.

Ich hab's erlebt, daß eine, die recht versessen auf die Jungfrau war, beim Losen Durchsteckereien trieb und der Rivalin die Sorel zuspielte. Meine Sorel wurde krank und legte sich nieder. Der Theaterarzt, der ihr ein Weniges den Hof machte, ließ sich verführen, ein Attest auszustellen. »Auf die Länge geht es doch nicht,« sagte er nach einigen Tagen; »Sie sind ja so gesund in Ihren Federn wie der Fisch im Wasser.« – »Ach,« erwiderte sie, »halten wir's nur so lange hin, Doktorchen, bis die andere Jungfrau entbindet; dann kann mir niemand die meinige nehmen!«

Mit seiner Königin in der Griseldis hat Halm den Direktionen auch eine Laus in den Pelz gesetzt; die will auch keine spielen; alle wollen sie die geprüfte Dulderin sein, und da heißt's wieder: alternieren! und wird wieder nichts draus.

Hätt' ich bei Safthütl ausgehalten, so dürft' ich mit Mulak im Othello alternieren, schon um den schwarzen Anstrich zu sparen. Denn wenn ich den Jago gab, konnten wir beide bleiben, wie Gott uns geschaffen.

Ballett. – Ein Tänzchen als erheiterndes Nachspiel war an und für sich gar nicht übel, und den meisten unserer jetzigen aufgeblasenen Bühnenkünstler und Hofmimen, vorzüglich den jungen Brillenträgern, die über ihre eigenen Füße fallen, wär's ganz gesund gewesen, wenn ein Ballettmeister sie gehörig kuranzt hätte. Es soll einem gewissen Ludwig Schröder gar nicht geschadet haben, daß er erst Tänzer war, bevor er ins recitierende Schauspiel übertrat. Er hat seine Streiche deshalb noch immer ganz erträglich gemacht, wie man versichert. Jetzt freilich, wo die großen Bühnen mit schlechtem Exempel vorangehen, und wo die Ansprüche bei kleinen und kleinsten in allem, was Außenwerk heißt, sich so unsinnig steigern, ginge das nicht mehr, wie es noch zu meiner Kindheit ging. Der jetzige Tanz kommt weder dem Drama zu gute, noch spürt man im modernen Tanze etwas von dramatischer Kunst. Es läuft eben nur auf Beine renken und schwenken hinaus. Die Fanny Elßler steht mitten darin, wie vom Olymp herabgestiegen. Aber die übrigen nehmen sich kein Beispiel an ihr und treiben das Unwesen fort. Bei vielen Theatern halten sie nur eine Flucht wilder Mädel, deren eine Hälfte in Beinkleidern herumspringt, wie tollgewordene fleischfarbige Blutwürste. Das ist modern.

Censoren. – Ich beneide sie nicht. Theatercensoren haben mein inniges Mitleid. Wem können Sie's recht machen? Streichen sie zu viel, so empören sich die Autoren; streichen sie zu wenig, so kriegen sie ellenlange Nasen. Und ohne Theatercensur geht es doch bei der unbedingtesten Preßfreiheit nicht. Sogar in England haben sie eine. Es muß wenigstens eine Sittencensur geben, weil ohne Beaufsichtigung gemeiner Skribler im Bunde mit habgierigen Unternehmern die Bühne vollends zum Tummelplatze offenkundiger Greuel machen würden. Nun aber ist eine Censur aus sittlichen Prinzipien für den Dichter noch viel unerträglicher, viel willkürlicher als die politische, weil sie sich, individuellen Ansichten entspringend, weder an Regeln noch an Vorschriften binden läßt und dennoch tiefer ins Lebendigste der Dichtung schneidet wie die politische Schere. Wo fängt die Unsittlichkeit, die nicht geduldet werden darf, an? Wo hört die Geduld für lascive Schilderungen auf? Wer entscheidet darüber? Was würde heutzutage ein gewissenhafter Censor beginnen, wenn ihm ein Autor den Text zum Don Juan, ganz wie Mozart ihn komponierte, vorzulegen wagte? Müßte er nach gegenwärtig gültigen, allgemein anerkannten Begriffen von sittlichem Anstande entscheiden, so bliebe ihm nur übrig veto zu rufen; das Finale des ersten Aktes ginge entschieden in die Brüche. Und wo bliebe dann das größte Meisterwerk der dramatischen Musik?

Chor. – »Chor« ist ein Verein von Manns- und Frauenspersonen, die vielleicht auch einmal jung waren, die sich in großen Opern heiser und alt schreien, schlecht bezahlt werden, zu wenig zum leben, zu viel zum sterben. Manche von ihnen, besonders von den männlichen Teilnehmern, sind mit der Hoffnung eingetreten, sich daneben fürs Schauspiel heranbilden zu dürfen. Man wirft ihnen, wenn Not am Mann ist, magere Brocken zu: Anmelderöllchen, Herolde, feige Soldaten, oder etwa Liebhaber, wie die Familie Thibaut d'Arc deren drei zählt. Gewöhnlich werden sie ausgelacht. Auf dem Zettel bezeichnet man sie durch die verhängnisvollen Buchstaben »a. d. C.« (aus dem Chore). Die meisten bleiben solche A d C-Schüler bis an ihr seliges Ende. Sie führen ein mühselig Leben, mit Proben bis aufs Blut gequält. Bald Bauern, bald Ritter, bald Gefolge, bald Feind und Freund an einem Abend, bald Räuber, bald Hofherren, bald Priester, bald Teufel ... Durst haben sie immer.

Der Chor soll die Handlung beleben, soll teilnehmen an den Vorgängen auf der Bühne. Durchschnittlich gelingt es ihm schlecht.

Das ist der Vorteil der kleineren Unternehmungen, wo sämtliche Mitglieder des recitierenden Dramas verpflichtet sind, in Opern den Chor bilden zu helfen. Auch ich habe häufig mitgethan. C.M. von Weber und Rossini müssen mich im Freischütz und im Tancred gehört haben auf mehr denn hundert Meilen weit! Ich sang schlecht und agierte gut. Die Aktion gewinnt beträchtlich, wenn wirkliche Schauspieler die Chöre machen. Und was den Gesang betrifft ... leider singen Komiker und Tragiker und alle miteinander nicht viel falscher als die Solisten. So gleicht sich's aus.

Donnerwetter – ein gutes, solides bildet einen integrierenden Teil vieler wirksamen Schauspiele. Wenn es herzhaft blitzt, kräftig kracht, der Regen rauschend strömt, wie wird den Zuschauern so wohl, die im Trocknen sitzen und behaglich dem Unwetter lauschen! Es ist gar nicht so leicht, dergleichen Sachen täuschend nachzuahmen, damit sie nicht Lachen erregen, wo sie Schauder hervorbringen sollen. Auch a tempo müssen sie eintreffen. Oft hängt vom Donnerschlage im rechten Augenblicke das Schicksal des ganzen Aktes ab. Deshalb war Direktor S. (Schröders Nachfolger in Hamburg) außer sich, da im vierten Aufzuge der Jungfrau, wo er als strenger und erzürnter Vater seine Tochter Johanna nach der Rheimser Krönung ins Gebet nimmt, der obligate Donner stumm blieb. »Antworte bei dem Gott, der droben donnert!« hat er ihr zugerufen ... ach, und es donnerte niemand, und er mußte doch sprechen, und die Hamburger lachten. Wie nun der Vorhang siel, stürzte er sich auf den verzweifelnden Theatermeister, den er zu erwürgen entschlossen war. »Herr Direktor,« ächzte der biedere ›Direktor der Natur‹ (siehe Goethes Mieding!), »verzeihen Sie mir! Ich habe das Schlagwort überhört, es geschah mir sonst nie; ich versäumte bis heute noch keinen einzigen Donner!« – »Mein Lieber,« sprach S., »wenn mir dieser Donner fehlt, dann *** ich auf alle übrigen Donner im ganzen Jahre!«

Dolch. – Ein Theaterdolch, besonders wenn er schon lange Dienste thut, ist ein erbärmliches Instrument. Die stumpfe Klinge wackelt an der lebensmüden Stahlfeder hin und her wie ein losegewordener Zahn, und die Feder rasselt im hohlen Griffe. Wer an die Tödlichkeit dieser Mordwaffe glauben soll, muß voll Andacht fürs Komödienspiel und sehr naiv sein. Ich hatte verschiedene Dolchgeschichten, selbst erlebte, in potto; mag sie doch nicht niederschreiben, weil mich die Erinnerung an jenen wirklichen Dolch zurückhält, den sich jene Unglückliche in die Brust stieß, deren Mörder dann mein Vater geworden ist. Ich sehe die Blutstecken vor mir, die meine Mutter so lange von ihm abschreckten, und die endlich doch nicht verhindern konnten, daß ich dies Dasein empfing.

Dramaturgen, – die jetzt bei manchen Theatern kreiert werden, verhalten sich zur Geschäftsführung der sogenannten Kunstanstalten nicht viel anders wie der Ratgeber in Tiecks »Blaubart« zu seiner hochritterlichen Herrschaft. Die Ritter haben diesen Mann ihrem Burgpersonale beigelegt, weil er »einen vortrefflichen Rat« giebt, aber sie werden gewöhnlich durch die Umstände verhindert, seinen Rat zu befolgen.

Episode, – gehört zu den unter Schauspielern widersinnig angewendeten, doch gebräuchlichen Ausdrücken. Anstatt zu sagen: Dieser oder jener sind für Nebenrollen engagiert, versichern sie, er » spiele Episoden;« als ob »Episoden« eine besondere Menschengattung wären. Ich hab' ein niedlich Mädchen klagen hören, daß sie es nicht weiter bringe wie zu stummen Pagen. »Wenn ich nur endlich einmal Episode würde,« seufzte sie.

Examen. – Es giebt keinen Beruf, keinen irgend aus öffentliches Leben einfließenden Lebenserwerb, für welchen derjenige, der ihn ergreifen und unter dem Schütze der Gesetze ausüben will, in einem wohlorganisierten Staate nicht ein Examen notwendig hätte. Gerichts- und Regierungsbeamtete bis in die subalternsten Fächer hinab, Ärzte, Chirurgen, Apotheker, Soldaten, Buchhändler haben Prüfungen abzulegen. Der Lehrjunge beim Kaufmann, beim Handwerker wird examiniert, und ehe sich einer Geselle nennen darf, hat er sein Probestück zu leisten. Ja der arme Leutnant C. mußte ein Examen überdauern, bevor man ihn für fähig erklärte, Chaussee-Zolleinnehmer zu sein. Nur die Konzessionen zu Theaterunternehmungen werden erteilt, ohne daß man die Kompetenten einer Fachprüfung unterwirft. Theaterdirektoren brauchen kein Zeugnis ihrer geistigen Fähigkeiten beizubringen. Man verlangt nur Moralitäts- und Sittenzeugnisse – was wie Spott klingt. Und wäre eine strenge Prüfung nicht gerade da zehnfach notwendig und wichtig? Wer übt entschiedeneren, unmittelbareren Einstuß auf die Menge aus, als die Unternehmer kleiner Bühnen? Und diese nun eben an Orten, wo die Mittel gewöhnlich fehlen, auf andere Weise gut zu machen, was die Theaterprinzipale auf ihre Weise verderben, indem sie Geschmack und Urteil ruinieren! Sollten die Regierungen nicht endlich einmal daran denken? Ei, warum denn! Wozu gebildete und unterrichtete Theaterdirektoren für kleine Städte, wenn in großen Residenzen Menschen befördert und unterstützt werden, die nicht lesen noch schreiben können?«

Darauf kommt's nicht an, wird versichert; »kann er doch rechnen!«

Familienstücke! – Da glauben sie Wunder, was für einen Trumpf sie ausgespielt haben, die Herren Kunstrichter, wenn sie dem armen bürgerlichen Drama einen Klecks anhängen und mit Verachtung vom Familienschauspiel reden. Vorzüglich über den armen Iffland geht es her, und die Erbschaft, welche die Schlegel, Bernhardt. Ludwig Tieck und andere seiner (nicht immer unparteiischen) Gegner als verworrene Masse unserer Zeit hinterließen, wird von tausend berufenen und unberufenen Legatarien cum beneficio legis et inventarii ausgebeutet. 's hilft euch nichts, ihr Herren! All' eure Vornehmthuerei wird nicht hindern, daß diese von euch verschrieenen Schilderungen die eigentliche Basis eines deutschen Volks- und Nationaltheaters bilden, auf die wir, was charakteristische Wahrheit, natürliche Handlung, warme, herzliche Empfindung betrifft, immer wieder zurückkommen müssen. Ich weiß es ohne euch, Iffland ist kein Dichter gewesen wie Schiller; doch das hindert nicht, daß sie miteinander begonnen haben, daß sie von einem Punkte ausgingen, daß beide in ihrer Art ihre Zeit und deren Forderungen an die Bühne vertraten. Den einen trugen gewaltige Schwingen ins Reich des Ideales; der andere, als Schauspieler an die trockenen, staubigen Bretter gebunden, blieb in den Grenzen der Realität, der spießbürgerlichen Wirklichkeit und hat innerhalb dieser Grenzen ebenfalls bedeutende Werke geschaffen. Seid nicht undankbar gegen, ihn! Er hat viel gethan. Es dürfte späterhin Bühnenschriftstellern ungleich leichter geworden sein, durch oberflächliche Nachahmung Schillerscher Formen täuschend zu blenden und marklose Figuren in zierliche Verse gehüllt für wirkliche Menschen anzubringen, als nach Ifflands strenger und energischer Weise lebensfähige Individualitäten hinzustellen. Lernen läßt sich, das schwör' ich jedem angehenden dramatischen Dichter zu, mehr aus Iffland wie aus Schiller! ... Denn was den echten Schiller macht, das läßt sich ja überhaupt nicht erlernen. Deshalb zählen wir auch immer zwanzig hochtrabende neue Tragödien auf ein schlichtes, solides Familienstück.

Garderobe – heißt beim deutschen Theater das Gemach, in welchem die Akteurs sich ankleiden. Dieser Ausdruck ist um so unpassender, weil die eigentlichen Kleidervorräte sich gewöhnlich in andern Räumen befinden, und nur die jedesmaligen Bedürfnisse des Abends herbeigeschleppt werden. Welch' schädlichen Einfluß die Enge, Unsauberkeit, Unordnung, unreine Luft dieser Lokalitäten auf künstlerische Stimmung hervorbringen, ist noch lange nicht genug gewürdigt worden. Arme reisende Prinzipale können nichts daran ändern. Reicher dotierte Direktionen sollten zum Vorteile der guten Sache mehr dafür thun. als bisher geschah. Mit wenig Ausnahmen dürfte das undeutsche Wort leicht durch ein deutsches ersetzt werden, wenn man statt Garderobe Schweinestall sagte. Ich empfehle letzteres unseren Sprachreinigern zu gefälliger Anwendung.

Gastrollen – waren einstmals eine schöne Sache. Sie erfrischten, regten an, förderten die Teilnahme im Publikum, die Fortschritte auf der Bühne. Sie waren selten und wurden deshalb, von Meistern gegeben, zu Festen. Jetzt...!

Hervorrufen – oder wie man's im Jargon nennt: rausrufen, galt sonst für eine Auszeichnung, geschah nur ausnahmsweise und hatte wenigstens den Wert, daß ein Darsteller oder eine Darstellerin ihr Publikum wirklich entzückt haben mußten, wenn es sich dermaßen in Bewegung setzen sollte. Die Beifallsspenden gingen vom Stehparterre aus, in welchem gebildete Theaterfreunde aller Stände sich zu versammeln pflegten. Jetzt haben sich diese überall zurückgezogen, das Parterre (hinter die langweiligen Sperrsitze verwiesen) giebt kaum mehr den Ton an; auf den oberen Rängen toben ungebärdige Rangen, und ihr Klatschen, Jauchzen, Rausbrüllen ist zu einer sie belustigenden Hetze geworden, die am widrigsten stört, wenn schreilustiges Gesindel bei offener Scene sie anstellt. Dann sagen eitle Laffen und alberne Gänse: »Ich bin siebenmal gerufen worden!«... Lumpenvolk!

Eckhoff, Schröder, Fleck wurden nie gerufen; der Unfug war noch nicht eingerissen.

Ich meinesteils darf mir nachrühmen, daß ich mir aus dieser »Ehre« niemals eine Ehre machte: daß sie mir lästig war; ja daß ich mich oft geschämt habe, mich vor einem Haufen dummer Jungen dankend zu verneigen.

Nur ein Hervorruf ist mir grandios, beneidenswert erschienen, wie Zeugen ihn mir schilderten. Das ist gewesen, wie Ludwig Devrient in Breslau (1811/12?) nach einer Todeskrankheit zum erstenmal wieder auftreten sollte, und die große Versammlung seine erste Scene nicht abwarten mochte, sondern gleich beim Erheben des Vorhangs so lange nach ihm rief, bis er, noch nicht völlig kostümiert, sich zeigte. Erst nachdem sie ihn leibhaftig gesehen und begrüßt, gaben sie sich zur Ruhe und ließen das Stück beginnen. Solches Rausrufen bedeutet etwas.

Wie es jetzt getrieben wird, beleidigt es den wahren Künstler. Und dies ist auch ein Vorzug des Wiener Burgtheaters, daß es dessen Mitgliedern untersagt bleibt, sich hervorrufen zu lassen.

Juden. – In Holland sollen vor etwa fünfzig Jahren Schauspielergesellschaften bestanden haben, die ganz aus Juden zusammengesetzt waren. In Deutschland waren sie zu meiner Zeit als Theatermitglieder nicht häufig und leicht zu überzählen. Jetzt wimmelt es von ihnen bei großen und kleinen Truppen. Ich sah ein Personenverzeichnis, welches zur Hälfte aus Juden und zur anderen Hälfte aus lauter Adeligen bestand. Billigerweise hätte dies das Personale von Raupachs »Zeitgeist« sein müssen. Das war's aber nicht.

Kothurn – Κοϑορνος – soll entweder an beide Füße gepaßt haben oder vor- und rückwärts zu gebrauchen gewesen sein. Plutarch deutet daher die Bezeichnung »auf dem Kothurn gehen« wie auf Menschen, von denen wir heutzutage sagen würden: sie tragen den Mantel nach dem Winde. – Das paßt wirklich auf einige mir bekannte tragische Helden, die falsch, feig, heuchlerisch im Leben, recht eigentlich nach jedem Sinne auf dem Kothurne einherschreiten. Exempla sunt odiosa.

Kritik. – »Die Blumen waren früher da als die Botanik.«

Balzac.

Möchten sich das die H. H. Recensenten doch zu Gemüte führen und bedenken, daß dramatische Dichtungen und dramatische Darsteller möglich sind ohne gedruckte Kritik, daß jedoch keine Kritik möglich ist ohne Gegenstand ihrer Besprechung. Erst im Jahre siebzehnhundert etliche siebenzig sollen in Leipzig die Theater-Recensionen begonnen haben. – Gute Nacht, du Restchen von friedlicher Ruhe im Dasein des Schauspielers! Nun sind jeglichem Unheil Thür und Thor geöffnet! Da haben sie denn ihre Federn gespitzt, jene lieben Leute, die sich deshalb für geborene »Litteraten« halten, weil sie untauglich sind zu jeder anderen Profession, und die Kritiken machen, weil sie sonst nichts machen können. Nicht bloß Gallapfels auch Galle und Gift rühren sie in ihre Tinte, erweisen sich aber im Umgange desto verbindlicher. Je freundlicher ins Gesicht, desto boshafter hinterm Rücken. Dabei predigen sie »Gerechtigkeit!« Sie mahnen mich an jene indianischen und arabischen Stämme, die in ihren Hütten alle Reisenden gastlich empfangen, ihnen aber hinterher Genossen nachsenden, welche die »Gastfreunde« berauben und nach Umständen totschlagen. – Nichts wider das heilige Gastrecht! Nichts Wider die Gerechtigkeit!

Lokalposse – war sonst gleichbedeutend mit »Zauberposse,« und wenn man »Lokalposse« sagte, so verstand man bei sämtlichen deutschen Bühnen die Wiener Posse darunter. Diese bewahrte, bis zu Herrn Nestroy hin, das märchenhafte Element, und gewiß mit vollem Rechte, weil solches, mag es bisweilen noch so dürftig und albern damit verwebt sein, ihr über viele Anstöße niedrigster Gemeinheit hinweg hilft. Eins der frühesten Nestroyschen Stücke (und für uns sein bestes) trägt noch die Spuren der Zauberepoche, ohne welche Schuster Knieriem unendlich viel tiefer stünde, als er jetzt durch die Wette der verehrlichen Geisterversammlung im Vorspiel vor uns erscheint. In allem Wunderbaren weht einmal ein poetischer Hauch, und er kam den ehemaligen Lokalpossen immer zu gute. Die Verklärung dieses Genres erschien in Ferdinand Raimund. Er hat die sinnigste Verbindung zwischen Volksleben, übermütiger Lustigkeit, behaglichem Scherze, humoristischem Witze mit höheren Elementen – und mit tieferen – getroffen. Er hat, wie ich es damals, wo ich ihn in Wien kennen lernte, vorher geahnt und niedergeschrieben: er hat das Höchste darin erreicht, weil er ein wirklicher Dichter war. Aber er hat die Gattung zugleich auf eine Spitze getrieben, wohin kein anderer ihm nachzufolgen vermag. Etliche, die es versuchen, werden den Hals brechen, und die übrigen werden, ohne Flügel der Zauberwelt, im Sumpfe wandeln. Er verhält sich zur Wiener Lokalposse wie Schiller zur deutschen Tragödie. Indem er sie idealisierte, symbolisierte, erhob, verallgemeinerte, entrückte er sie ihrem ursprünglichen Gebiete, und so wurde er ihr Schöpfer und zugleich ihr Vernichter, weil seine Nachahmer nicht er sein können.

Quandt. – Es giebt verschiedentliche Wege, auf denen eines Mannes Name der Vergessenheit entgeht und unsterblich wird, ohne daß sein Besitzer eine Ahnung davon hatte, er werde im Munde späterer Geschlechter leben. So ist's dem reisenden Theaterprinzipal Quandt ergangen, der nach allem, was ihn betreffend bis an uns gedrungen, Inhaber einer »Schmiere,« eines sogenannten »Meerschweinchens« gewesen sein muß. Vielleicht war es gerade die – Anspruchslosigkeit seiner Bühnenführung, vielleicht auch der Ruf seiner komischen Würde, vielleicht beides, was ihn zu einer Theatercelebrität machte. Der Ausdruck: »Quandt hat geschrieben« ertönt allüberall, wo deutsche Komödianten ihr Wesen treiben. Er wird angewendet als trostreiche Versicherung, daß auch die beschwerlichsten Stunden verrinnen, daß alle Unannehmlichkeiten ihr Ende erreichen. Wenn die kalt aufgenommene Darstellung eines matten Stückes die Schauspieler langweilt; wenn einer Besorgnis hegt, wie er sich durchschlagen wird; da hört man das beruhigende Wort: »Ach was, Quandt hat geschrieben, um zehn Uhr ist's doch aus!«

Regisseur – sprich aus: »Resischör.« Es ist unglaublich, aber wahr, daß die Mehrzahl der zum Theater Gehörigen, auch der sonst mit Recht schreibung Vertrauten, so sagen. Weshalb? Wer kann's enträtseln? – Der Regisseur ist ein geplagtes Tier. Ich weih es am besten. Dennoch hab' ich's hier viel leichter denn jene, die neben diesem Amte auch ihre Schuldigkeit als vielbeschäftigte Schauspieler thun sollen. Zwei solche Lasten erdrücken jeden, der nicht Riesenkräfte besitzt. Bei großen Hofbühnen werden sie dann freilich unter mehrere verteilt. Ich notiere mir hier ein Geschichtchen, welches ich in M. vernahm, und welches die drei dortigen Herren »Resischöre« auf eine hübsche Weise malt.

Es war ein neuer Intendant berufen worden. Die drei Herren, welche mit Recht befürchteten, daß dieser ihnen die bisher unbestrittene Herrschaft über die Bühne entreißen und thatkräftig eingreifen werde, weihten dem täglich zu Erwartenden schon im voraus ihren ganzen Haß, und da die vielseitig angelegten Kabälchen gegen seine Berufung am festen Willen des Fürsten gescheitert waren, so beschlossen sie, wenigstens ihrerseits, dem Eindringling starren Trotz entgegen zu stellen. Sie verbanden sich durch gegenseitig abgelegten Eidschwur, ihm persönlich fremd zu bleiben, in keinerlei freundschaftliche Beziehung sich mit ihm einzulassen und nur dasjenige mit ihm zu verhandeln, was durch den Geschäftsgang geboten sei. Ihm ihre Aufwartung zu machen, ihn als ihren Vorgesetzten zu begrüßen ... schon der Gedanke an solche Erniedrigung würde, deutscher Männer und Künstler unwürdig, höhnisch verlacht.

Der Intendant traf ein und stieg einstweilen im Gasthofe ab.

Es dämmerte. Der Abend hüllte die schmale Gasse in diskrete Dunkelheit. Herr H., der sich schon beim feierlichen Abschlüsse des Schutz- und Trutzbündnisses vorgenommen, seine Kollegen zu überlisten, schlich nun, den Laternen möglichst ausweichend, in seinen Mantel vermummt, dem Hotel vorsichtig zu, welches den Todfeind barg. Wenn ich der einzige bin, der ihn willkommen heißt, dachte er, und wenn ich mich seiner Huld empfehle? werd' ich sein Günstling, und die andern beiden haben das Nachsehen. Seine Schlauheit froh belächelnd, wollte er rasch in das Hausthor einbiegen, rannte an einen gleichfalls Vermummten an und sah ... Ah, Kollege B.? – Ah, Kollege H.? – Leugnen war vergebens. Sie gestanden sich ein, was sie hierher geführt. Sie machten gemeinschaftliche Sache, da es nicht anders ging, und wähnten nun wenigstens den Sieg über ihren dritten Kollegen errungen zu haben. Sie stiegen die Treppen hinauf ... o Schrecken! Oben auf, dem Flure begegnete ihnen, recht auf dem »Kothurn« einherschreitend, Herr E.! Der hatte bereits ein Stündchen beim Herrn Intendanten zugebracht und konnte ihn gar nicht genug loben.

Nichtsdestoweniger haben sie späterhin gethan, was in ihren Kräften stand, dem Chef das Leben sauer zu machen und ihn dreistimmig zu verleumden.

Sommertheater. – Ein solches soll das allererste gewesen sein! Möglich. Aller Anfang ist schwer. Die Nürnberger Meistersänger haben es redlich gemeint. Aber abscheulich ist's und bleibt's. Ich las dieser Tage in einem Buche der französischen Schriftstellerin, die unter dem Namen George Sand schreibt, wo sie von einer italienischen Stadt spricht, folgende Zeilen: »In einem öffentlichen Garten befindet sich ein Tagestheater, gebaut wie alle übrigen Schauspielhäuser, bis auf den Plafond, der mangelte, und dessen Abwesenheit der Sonne gestattete, Scene und Publikum mit ihrem Lichte zu bestrahlen. Die getünchten Dekorationen, die geschminkten Angesichter unter blauem Himmel sind das Widrigste, was man sich denken kann!« Ich gebe der geistreichen Frau vollkommen recht. In Italien mögen sie meinethalben machen, was sie wollen! Gott bewahre Deutschland, daß dieser Greuel nicht weiter um sich greife! Armer Wulf; wenn du noch lebtest! ...

Theater. – Es ist nur aufgefallen, daß innerhalb Österreich, hauptsächlich in Wien, unter »Theater« nicht bloß das Ganze zu dieser Kunstrichtung gehörige Wesen und Sein in ästhetischem – nicht bloß das für diese Zwecke aufgerichtete Gebäude im gewöhnlichen und herkömmlichen Sinne – sondern auch speciell eine dramatische Dichtung verstanden wird. »Ich habe gestern das neue Theater von Grillparzer gelesen!« »Ich habe in meiner Jugend selbst einmal ein Theater geschrieben!« Dergleichen Äußerungen hört man von ganz gebildeten Leuten. Während meines letzten Aufenthaltes daselbst siel mir eine Anzeige in die Hände, des Inhaltes: » Sämtliche deutsche Theater sind zu verkaufen beim Antiquar so und so. Einzelne à 30 Kr. Alle zusammen mit bedeutender Herabminderung des Preises.« Ob sich wohl ein Käufer für »alle deutsche Theater« fände? Es müßte ein unternehmender Kopf sein!

*   *   *

Ernst blätterte noch hin und her, da stürzte Wulf ins Zimmer, ganz erhitzt von den vielen vergeblichen Gängen, die er gethan, um nur endlich den verführerischen Brief los zu werden. »So hätt' ich lange herumlaufen und suchen können!« rief er aus, als er Ernst erblickte, und reichte ihm das Corpus delicti eiligst hin, voll Erwartung, ob der Anblick der Handschrift sich in des jungen Mannes Gesichtszügen freudig wiederspiegeln werde. Ein Lächeln der Befriedigung zeigte sich wohl: »Darauf wartete ich schon lange; haben Sie schönen Dank für Ihre Bemühung!« – Dies gesagt, schob er den Brief in die Brusttasche. Wulf hatte darauf gerechnet, jener werde ihn rasch ausreißen, hastig durchlesen, und er werde das beobachten können. Er war also keineswegs zufrieden mit Ernsts diskreter Geduld. Doch sollte er auf frischer That entschädigt werden, denn sein Gast hob an: »Lieber Herr Tod, ich bin sehr unartig gewesen; ich habe in Ihre Papiere geguckt, was wider alle Gesetze der Schicklichkeit läuft. Der erste Blick war ein unbewußter, unwillkürlicher, den ich in der Zerstreuung wagte. Ich dachte wirklich nur an den erwarteten Brief. Nachdem ich aber etliche Zeilen gelesen, überwand ich jede Rücksicht und las immer weiter, voll Erstaunen, daß ein Mann, der so denkt und schreibt, in meiner Nähe lebt und waltet, daß ich ihm bisher fremd geblieben bin, daß ich nicht längst einen innern Antrieb empfunden habe, mich ihm zu nähern. Sie hätten wohl einen Schritt thun können; ein Wort hätte genügt, mir zu eröffnen, wer, was Sie sind; wie viel ich von Ihnen zu lernen vermöchte. Daß Sie dieses Wort nicht sprachen, daß Sie mich nicht würdig hielten, sich mir zu zeigen, wie diese Blätter Sie mir zeigten, beweist mir leider, wie wenig Sie von meinem Talent halten; und eigentlich stehe ich jetzt als ein recht Aufdringlicher vor Ihnen mit meinen Bekenntnissen. Nicht so?«

»Sie stehen vor mir,« erwiderte Wulf, »wie ein edler junger Mann, den ich von ganzer Seele liebe, dem ich Herz und Hand darbiete, dessen Freund und Führer ich sein will mit bestem redlichstem Vertrauen auf seinen Wert. Was hier geschrieben steht, sind unklare nur hingeworfene Bemerkungen. Was in meinem Kopfe steht, gründet sich auf lange Erfahrung und wird Ihnen Nutzen bringen. Was ich weiß, was ich kann, was ich gelernt habe, ist Ihr Eigentum. Verfügen Sie über mich!«


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