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Venedig durch die Lupe

Unter der ‹Lupe› will ich hier ein Instrument verstanden wissen, durch das einer begierig sucht, was an der Stelle, die er sich betrachtet, nicht vorhanden ist und nicht gefunden werden kann. Das Leben wäre reicher, wollte man bei jedem Ding das Gute und das Schöne, das es hat, mit offnem Sinn und Herzen dankbar schätzen, statt zu vermissen, was nach unserer dummen Meinung daran fehlt. Daß mir Venedig zum Beweise dafür dienen muß, wie fern solch unbefangene Aufnahmefähigkeit den meisten Menschen liegt, hat seinen Grund in dem Besonderen dieser Stadt, das jedermann zur Stellungnahme reizt, und in Zufällen des persönlichen Erlebens. Denn all die sonderbaren Äußerungen, den ich hier verzeichnen werde, hab ich mit eignem Ohr gehört; und man wird sehen, daß es wenig sagt, ob einer eine Weltberühmtheit ist oder ein namenloser Durchschnittsmensch – im Mißbrauch ihrer inneren Lupe geben sie einander gar nichts nach.

Als junger Ehemann wollte ich Pfingsten 1900 meiner Frau Venedig zeigen, das ich selbst von früher her schon kannte. Kaum dort angekommen, trafen wir auf dem Markusplatz den damals äußerst populären berliner Journalisten Alfred Holzbock, einen besonderen Liebling August Scherls sowie der Leser des «Lokalanzeigers». Er reiste für sein Blatt viel in der Welt herum; wo etwas los und wo es schön war, traf man ihn und konnte später seine, wie er selber fand, «urwüchsigen» Berichte darüber lesen, die sich, von Sachkenntnis ganz ungetrübt, als sogenannte Stimmungsbilder gaben. Weil er bei unserer Begrüßung darauf hinwies, daß er bereits zum elften Male in Venedig sei, versah ich mich von ihm ganz raffinierter Winke für die Besichtigung der Stadt. Er aber wußte dafür ein Rezept, das jedenfalls den Vorzug großer Kürze hatte:

«Gnädige Frau sind hier zum erstenmal? Dann darf ich Ihnen vielleicht einen Rat erteilen: Nur ja nicht zuviel ansehn! Wer den Dogenpalast von innen und die Markuskirche von außen kennt, der kennt Venedig ganz. Von innen, da enttäuscht die Markuskirche.» Das ist nun heute gut ein Menschenalter her, und immer noch zerbreche ich mir ganz umsonst den Kopf darüber, was sich Alfred Holzbock von dem Inneren der Markuskirche eigentlich versprochen haben mag. Die andern Leute, deren Äußerungen ich hier wiedergeben will, gaben mir Gott sei Dank nicht solche schweren Rätsel auf.

So sagte mir der namentlich als Maler von bewegtem Wasser hochgeschätzte Norweger Fritz Thaulow einmal in Venedig, es könnte ihn schon reizen, hier etwas zu malen; aber nur bei Regenwetter. Denn die ewige Bläue, in der Meer und Himmel hier erstrahlten, irritiere ihn.

Ein völlig davon abweichendes Urteil fällte meine gute Tante Lina aus dem Baltenlande, die nach ihrer ersten Italienfahrt in München zu mir kam.

«Und wie gefiel dir denn Venedig?» fragte ich.

«Weei, davon war ich wohl entteeuscht», erklärte sie mit einiger Bitterkeit, «es is ja nich mal halb so blau, wie man sich vorstellte!» Sie hatte sich ihr Wunschbild der Lagunenstadt nach Öldrucken und Ansichtskarten koloriert.

Und eine Geistesgröße wie Frank Wedekind mißbilligte Venedig nach seinem ersten Aufenthalte dort, weil es so «ungepflegte» Häuser hätte und kein so bewegtes Straßenleben wie Paris.

Den schönsten Ausspruch aber von der Art verdanke ich einer mir sonst ganz unbekannten Sächsin, die bei einer Dampferfahrt über den Gardasee durch Zufall ganz in meiner Nähe stand. Wir machten eben in Gardone halt, da sagte sie zu ihrem zweckmäßig in Lodenstoff gehüllten, rucksackbeschwerten Mann:

«Du, hier gefällt es mir viel besser als wie in Vened'ch: man sieht doch etwas Grienes.» Und dabei trug diese Dame außer der unsichtbaren Lupe eine grüne Sonnenbrille im Gesicht!

Könnte Venedig noch Venedig sein, wenn alle Wünsche seiner kritischen Besucher sich erfüllten?


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