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Wie ich zu Albert Langen kam und Björnstjerne Björnson kennen lernte

Wenn ich zurückblicke, erscheint es mir als das bedeutsamste Kuriosum meiner Tage, daß ein sehr komisches Versehen meiner Mutter, ein reiner Zufall also, dazu dienen mußte, mich gerade an den Iden des Märzes 1896 Albert Langen in den Weg zu führen. Da ich dem Langenschen Verlag, der mich am ersten Oktober eben jenes Jahres als Volontär aufnahm, heute seit reichlich sieben Lustren angehöre, könnte man den Zufall wohl auch eine Fügung nennen. Freilich dürften rührigere Leute mitleidig behaupten, ich wäre sicherlich bei jeder Firma, einmal dort eingewöhnt, auf Lebenszeit geblieben. Für eine solche Deutung sprechen allerdings auch andere Belege, von denen ich hier nur den sehr auffälligen erwähnen will, daß ich mich mit einer einzigen Ehe zu begnügen wußte, die jetzt nach mehr als einem Menschenalter noch so gut wie neu ist und, wenn man's erlebt, leicht auch ein weiteres halten kann. Wohl also bin ich seßhaft von Natur, ich glaube aber doch, daß ich in dem Verlag von Albert Langen nicht nur deswegen Wurzeln schlug – o nein, ich fand hier auch den richtigen Platz für mich, eine Aufgabe, der ich freudig meine Kräfte widmen konnte, und Arbeitskameraden, mit denen es sich hausen ließ.

Bevor ich nun berichte, mit welch harmlosem Gesicht sich diese wegweisende Fügung meines Lebens das Kleid eines fast lächerlichen Zufalls lieh, muß ich bis 1890 rückwärtsschweifen, wo ich für mein Teil noch in meiner Vaterstadt, dem alten Riga, als meinen Lehrern wenig teurer Schüler eine Bank des Stadt-Gymnasiums drückte.

Die Ehe meiner Eltern, die unglücklich gewesen und schon, als ich zwölf Jahre zählen mochte, in eine Trennung ausgelaufen war, wurde zu jener Zeit geschieden, weil mein Vater eine andere Frau heiraten wollte. Eine Scheidung aber galt den Spießbürgern am Dünastrand als schweres Ärgernis, und eine, wenn auch schuldlos, geschiedene Frau trug einen Makel aus der Sache fort. Dem «Mitgefühl» der wackeren Rigenser als Zielscheibe zu dienen, lag meiner Mutter nicht, und so ging sie für eine Weile in das «Ausland», wie die Balten jener Zeit die Heimat ihrer Vorfahren zu nennen pflegten.

So kam sie 1890 auch nach München und lebte sich dort so vortrefflich ein, daß aus den Monaten, die sie ihren Landsleuten hatte fernbleiben wollen, Jahre wurden und ich sie erst 1892 wiedersah, als ich selber auch nach Deutschland übersiedelte. War sie dadurch, daß sie von jung auf Verse machte und diese «sogar» drucken ließ, in Riga bei gar vielen in den Geruch höchst alberner Exzentrizität geraten, und hatte ihr der eigne Bruder dort einmal zu Neujahr mit herzlichem Händedruck gewünscht, es möge dieses Jahr nicht wieder schon ein Buch von ihr erscheinen, so diente es ihr bei den Münchner Künstlern und Kunstfreunden vielmehr zur Empfehlung, daß sie dichtete. Ihr, wenn sie wollte, hinreißender Scharm, ihre bei gebotenem Anlaß originell hervorplatzende Naivität und die ihr trotz allem innern Selbstbewußtsein eigene fast kindliche Bescheidenheit in dem Verkehr mit Menschen, die ihr etwas zu bedeuten schienen, taten das übrige, sie bei den neugewonnenen Bekannten beliebt und ihr das Leben unter ihnen angenehm zu machen.

Und diese Freunde nun ermunterten sie immerfort, doch etwas für die Veröffentlichung ihrer «Mutterlieder« zu tun, die, im Laufe langer Zeit entstanden, damals als in sich abgeschlossener Zyklus handschriftlich vorlagen. Auf den Rat erfahrenerer Leute bot sie, die in solchen Dingen völlig unbeholfen war, die Lieder nun zunächst Zeitschriften an und hatte bei mehreren Blättern Glück damit, so auch, wenn ich mich recht erinnere, beim «Daheim», wo eines der Gedichte mit einer Zeichnung von Carl Marr erschien. So lernte sie diesen jungen Deutschamerikaner kennen, der seine künstlerische Schulung in München genossen hatte und hier ansässig geworden war; er schlug ihr vor, eine von ihm illustrierte, wie man damals sagte, Prachtausgabe ihrer Mutterlieder zu veranstalten. Er wußte ihr auch gleich den richtigen Verleger: Theo Stroefer in Nürnberg, mit dem ihn schon von früher her Beziehungen verbanden. Stroefer und meine Mutter stimmten freudig zu; so hätte einem baldigen Erscheinen nichts im Weg gestanden, wäre Carl Marr nicht eben damals ein Haupttreffer in der Lebenslotterie geglückt. Ein figurenreiches Riesenbild von ihm, »Die Flagellanten«, erregte Sensation und machte ihn mit einem Schlag berühmt. Daß Marr es in der Folgezeit zu allen akademischen und offiziellen Ehren brachte, die ein Maler überhaupt erreichen kann, ist ja bekannt. Doch schon sein erster richtiger Erfolg ließ seine Zeit für die Bebilderung von Liedern viel zu kostbar werden. Als ich im Frühling 1895, nur um hier ein Semester lang die Rechte zu studieren, nach München kam und meine Mutter, die inzwischen ein paar Jahre mit mir in Lübeck und Berlin verbracht hatte, mir bald hierher folgte, war es noch genau so ungewiß wie Anno 1891, wann denn Carl Marr nun endlich Pinsel oder Stift für die Prachtausgabe ihrer Mutterlieder in Bewegung setzen würde.

Meine Mutter hatte Geduld gelernt und alles dies schon lange tatenlos dem Glück anheimgestellt; ich aber, der der Abklärung noch sehr entbehrte, schärfte ihr immer wieder lebhaft ein, daß hier etwas geschehen müsse. Ohne die rechte Freudigkeit gab sie mir recht, wollte dabei selbst aber keineswegs mit Hand anlegen, sondern ermächtigte statt dessen mich, Carl Marr das Nötige zu sagen. Dies wiederum ließ mir die Angelegenheit auf einmal gar nicht mehr so vordringlich erscheinen. Es war doch leichter, meiner Mutter mit den größten Tönen darzutun, wie sie das Leben zwingen müsse, als eigenfüßig das Atelier Carl Marrs zu stürmen und diesem sozusagen die Pistole meiner sittlichen Forderung auf eine Brust zu setzen, die durch den Erfolg so fest gepanzert war. Da fand ich denn natürlich immer wieder Gründe, diesen schweren Gang hinauszuschieben; und so kam der Hochsommer heran.

Nun wollte es das Schicksal, daß wir beide Marr auf einem Sonntag-Nachmittagstee bei Frau Josefa Dürck, der jüngsten Tochter Wilhelm Kaulbachs, trafen. Der Künstler zeigte sich von dem Wiedersehn mit meiner Mutter sehr erfreut, und sie stellte mich ihm vor. Ich fühlte mich vom Mute der Verzweiflung angepackt und fragte ihn sofort beim Händeschütteln, ob überhaupt noch Aussicht sei, daß er die »Mutterlieder« illustrieren könnte. Und schon sah ich auch meine Mutter am andern Ende der Gesellschaftsräume eifrig auf irgendeine alte Dame einsprechen. Marr musterte mich überrascht und sagte höflich, ja, die Aufgabe sei nach wie vor von großem Reiz für ihn. Ich neigte dankbar meinen Kopf und mutete ihm zu, er möge sich dann aber doch gefälligst fest verpflichten, seine Zeichnungen bis zu einem bestimmten, nicht zu fernen Tage abzuliefern – meine Mutter, die ja schon jahrelang gewartet hätte, könnte das so ins Blaue hin jetzt nicht mehr tun. Marr gab recht kühl zurück, er könne leider keine Bindung übernehmen, weil seine Zeit durch eilige Arbeit sehr beansprucht sei. Dann allerdings, erklärte ich, würde wohl meine Mutter Stroefer bitten müssen, sich nun nach einem andern Illustrator, der nicht gar so überlastet wäre, umzutun.

«Wenn Ihre Frau Mutter glaubt, daß sie dadurch ihren Interessen dienen kann – oh, bitte sehr!» warf Marr hochmütig hin und wendete sich mit flüchtiger Verbeugung gegen mich einer der Dürckschen Töchter zu.

Heute weiß ich genau, daß es mir da nur aus dem Wald zurückklang, wie ich selbst hineingerufen hatte. Ich war bei dieser kurzen Unterredung sicher nicht so liebenswürdig und respektvoll aufgetreten, wie es ein in zwei Weltteilen berühmter königlicher Professor der Kunstmalerei von einem unbedeutenden Studentlein wohl erwarten durfte, sondern hatte jenes rauhaarige Urburschentum hervorgekehrt, das bei gar vielen meiner jungen Landsleute zu jener Zeit im Schwange war, trotzdem sie doch im Grunde meistens über das verfügten, was man die gute Kinderstube nennt. Erwuchs dieses herb männliche Gebaren bei ihnen meist aus starkem Selbstbewußtsein und einer innigen Durchdrungenheit davon, daß sie als Balten ihren Brüdern aus dem Reiche und der ganzen Welt entschieden überlegen wären, so lag bei mir sein Quell vielmehr in einer Schüchternheit, die äußerst quälend war. Erst viele Jahre später brachte ich es langsam fertig, diese Hemmung auszuschalten, sie wenigstens so täuschend zu maskieren, daß Leute, deren Blick nicht tiefer dringt, es heute lediglich für einen schlechten Witz zu halten pflegen, wenn ich etwas von der mir angebornen Schüchternheit erwähne. Zu jenen Zeiten aber brauchte ich, um über dieses Hindernis hinwegzukommen, stets einen so krampfhaften inneren Anlauf, daß ich leicht auch gleich die Grenze der geziemenden Bescheidenheit mit übersprang.

Heute begreife ich es also gut, daß mir Carl Marr, den ich, nebenbei bemerkt, seit jenem Tage mit Bewußtsein niemals wiedersah, solch eine kühle Abweisung zukommen ließ. Und meine sittliche Entrüstung über seine Saumseligkeit verstehe ich vollends nicht mehr. Ich hatte mich inzwischen als Verleger und als Redakteur so viel mit Künstlern abzugeben, daß ich mir solche Wallungen in meinem eigensten Interesse schon lange nicht mehr in die Tiefe gehen lasse. So ärgert man sich langsam alt und mild ...

Damals aber kaute ich hart an meinem Zorne über die erlittne Kränkung. Und ich gab keine Ruhe, bis meine Mutter an Herrn Stroefer in dem Sinne schrieb, wie ich es dem Professor Marr verheißen hatte. Da ich schon bald darauf eine Ferienreise nach Riga antrat, bekam ich erst dorthin Bericht über die Antwort des Verlegers. Stroefer erklärte kurz und unverblümt, ihn interessiere die Herausgabe der Lieder vor allem wegen der Zeichnungen von Marr; doch wenn Frau Holm auf diese nicht mehr warten wolle, sei er zur Lösung des Vertrags bereit. Ich schrieb an meine Mutter, daß sie sich ihr Werk freigeben lassen solle, und machte mich in meiner Unerfahrenheit anheischig, ihr, sobald ich erst wieder in München wäre, gleich einen anderen Verleger zu besorgen. Da bis dahin noch eine Reihe Wochen vor mir lag, erschien es mir nicht gar so eilig, mich zu fragen, ob ich der rechte Mann sei und die Gaben dazu hätte, mit einem Manuskripte bei Verlegern zu hausieren. Denn daß man durch persönliche Besuche viel eher etwas ausrichte als durch die schönsten Briefe, hatten mir sich wohlerfahren dünkende andre junge Schriftsteller schon öfters mitgeteilt.

Es fügte sich jedoch, daß diese Probe auf meinen Mut und meine diplomatische Gewandtheit mir erspart blieb. Und das kam so: ich kehrte lange vor Semesterbeginn schon in den letzten Tagen des Septembers nach der Isarstadt zurück, weil der in früherer Zeit erwirkte Aufschub abgelaufen war und ich mich vor dem ersten Oktober 1895 zum Einjährigendienste melden mußte. Daß ich genommen werden könnte, glaubte ich nicht einen Augenblick: ein medizinischer Kommilitone, der das Physikum schon hatte und sich offenbar nicht früh genug in falschen Diagnosen üben konnte, war nach sachkundigen Messungen zu dem Resultat gekommen, mein Brustumfang entspräche meiner Körperlänge keineswegs. Ich ging also am letzten Tage des Septembers, ohne nach dem Truppenteile, der dort lag, zu fragen, in die mir am bequemsten liegende Kaserne, und das war jene an der Türkenstraße, wohin seit einiger Zeit das Infanterie-Leibregiment von der scharlachverseuchten Hofgartenkaserne her übergesiedelt war. Der Stabsarzt untersuchte mich, erklärte mich zu meiner Verblüffung für diensttauglich und entließ mich mit der Weisung, am nächsten Morgen schon in aller Frühe meinen Dienst als einjährig-freiwilliger «Leiber» anzutreten.

Das ging mir, ich gesteh es offen, mächtig gegen den Strich. Erst später sollte ich erkennen, daß der Soldatendienst – ob ich gleich nichts weniger war als ein Athlet – nicht das Martyrium zu bedeuten brauchte, als das ihn schriftstellerische Zunftgenossen von mir gar oft empfunden und geschildert haben. Das Jahr im bunten Rocke stählte meinen Körper sehr und brachte mich geborenen Großstadtmenschen, den im Baltenland die andre Sprache und die sozusagen koloniale Ständeschichtung gegen das arbeitende Volk beinah hermetisch abgeschlossen hatten, in zwanglos fröhliche Fühlung mit den Bauern, aus denen sich das Leibregiment ausschließlich rekrutierte. So machte mich mein Jahr beim Militär in München und in Bayern heimisch. Die dünkt mich nicht so wenig, und ich denke gern daran zurück.

In jenen ersten Oktobertagen 1895 freilich erschien es mir als einziger tröstlicher Lichtblick in der Trübe meines Rekrutendaseins, daß ich nun durch die harte Notwendigkeit selber gezwungen war, an meiner Stelle meine Mutter auf die Rundreise zu den Verlegern zu entsenden – welcher Umstand übrigens die Wucht der Argumente verzehnfachte, die ich ins Feld zu führen wußte, um nun die Sache als höchst dringend darzustellen. Aber es brauchte noch Monate, und der Dezember 1895 oder gar – ich weiß das nicht mehr so genau – der Januar 1896 kam heran, bevor sich meine Mutter mit dem Manuskripte auf die Wanderung machte.

Ich hatte ihr die Namen und Adressen von lauter Kunstverlegern aufgeschrieben, weil uns merkwürdigerweise überhaupt nicht der Gedanke kam, die Mutterlieder könnten auch in andrer Form als der des sogenannten Prachtwerkes erscheinen. Die alphabetische Anordnung meines Verzeichnisses war schuld daran, daß sie sich zuerst nach der Kaulbachstraße 51a, begab, wo im Erdgeschosse die Büroräume und in einer Hofbaracke die Druckerei des Kunstverlages Josef Albert lagen, der sich zu jenen Zeiten, nebenbei bemerkt, wohl nur noch mit der Herstellung und der Herausgabe von sogenannten Ansichtspostkarten beschäftigte, also für den Verlag der Mutterlieder überhaupt gar nicht in Frage kam.

Ob sich nun eine Ahnung hiervon meiner Mutter bemächtigte, oder ob ihr die Tür im Erdgeschoß aus einem andern Grunde nicht vertrauenweckend schien – sie musterte sie jedenfalls nur oberflächlich und bemerkte, kurzsichtig, wie sie war, gar nichts davon, daß ihr dort ein riesiges emailliertes Schild den Namen Josef Albert gradezu entgegenschrie, sondern setzte nach kurzem Zögern ihren Fuß entschlossen auf die unterste Stufe der weiter hinaufführenden Treppe und tat damit den Schritt, der über ihres Sohnes Lebenslauf entscheiden sollte.

An der Flurtür im ersten Stock schien es ihr aber doch geraten, ihre Lorgnette vors Gesicht zu halten. Sie stellte mit einem zerstreuten Blicke fest, daß dort auf einem kleinen Messingschilde jedenfalls auch irgendwas wie «Albert» stand, und sprach zu sich: «Ja, hier bin ich am rechten Ort. Wie peinlich das doch ist!» Und es erfaßte sie eine so starke Angst vor dem, was ihr bevorstand, daß sie erst wieder halbwegs zu sich kam, als sie auf einem dämmerigen Flur an eine Zimmertüre klopfte. Drinnen rief eine Männerstimme forsch: «Herein!» und dann noch einmal laut und voller Ungeduld: «Herein!» Sie drückte auf die Klinke, streckte zaghaft ihren Kopf in einen Büroraum, wo vier Leute paarweis einander gegenüber an Stehpulten arbeiteten, und brachte in dem unverfälschten Baltischdeutsch, das ihr bis an ihr Ende treugeblieben ist, die in durchaus verkehrtem Sinne suggestive Frage vor:

«Pardon, Jedichte werden hier wohl nich jenommen?»

Ein langer, blonder Mensch, der wohl «der oberste» von den vier Angestellten war, sah prüfend auf die kleine, asketisch schwarz und mit einer Art Trotz gegen die herrschende Mode angezogene Dame und gab obenhin zurück:

«Nein, ich glaub nicht.»

Da erklangen aus dem Zimmer nebenan ganz kurze Schritte, die vor Eile förmlich prasselten; ein mittelgroßer, eleganter junger Mann mit dunkelm Spitzbart und blitzenden Kneifergläsern schoß herein und sagte schnell:

«Warum denn nicht!» Er reichte ihr die Hand, oder in seiner hastigen Art vielmehr bloß seine Fingerspitzen und deutete einladend auf die Türe, durch die er hereingekommen war:

«Treten Sie, bitte, näher, gnädige Frau!» Die Unterredung, die dann folgte, nahm einen durch ihre Rapidität für meine Mutter fast betäubenden Verlauf. Sie war in der Erklärung dessen, was sie wollte, kaum bei der Hälfte angelangt, als schon der junge Herr erklärte, er sei jetzt ganz im Bild, und eine Antwort auf sie niedersprudeln ließ, von der nun wieder sie die Hälfte nur verstand. Unter anderem erzählte er von einer Zeitschrift, die ihm glänzende Beziehungen zu einer Menge der genialsten Zeichner schüfe. Wenn also ihre Lieder, wie er hoffe, meisterhaft zu nennen wären – an ihrer Illustrierung durch den Pinsel eines Meisters würde dann bei ihm gewiß kein Mangel sein.

«Also bitte, lassen Sie Ihr Manuskript nur da!» schloß er und sprang, als er kaum zwei Minuten stillgesessen hatte, wieder auf. «Frau ... wie ...? Pardon! Frau Mia Holm, jawohl. Und wie ist die Adresse? So? Aha! Ja, danke! – Wassermann!» rief er hinüber in ein kleineres Nebenzimmer, wo ein brünetter Jüngling zigarettenrauchend hinter einer Schreibmaschine saß und interessiert herübersah. «Notieren Sie! – Wie? – Nein, Theresienstraße! Ja. – Wir schreiben Ihnen, gnädige Frau. Es war mir ein Vergnügen ... Ja, und hoffentlich: bis bald!»

«Ja, danke», sagte meine Mutter, die gleichzeitig mit ihm aufgestanden war, und erhaschte flüchtig seine wohlgepflegten Fingerspitzen. «Ach, ich weeiß schon, daß Sie es nich nehmen werden.«

«Da wissen Sie mehr über meine künftigen Entschließungen als ich», lächelte er. «Bitte, ich bringe Sie ...» Und er geleitete sie manierlich bis ins Treppenhaus.

Als sie dort langsam wieder zu sich kam, bewunderte sie sich beinah dafür, daß sie so dreist durch diese Tür hineingegangen war. Sie machte sich zwar keine Hoffnung, ihre Lieder könnten Gnade vor den Augen eines Herrn mit so modernem Tempo finden, buchte es aber schon als recht beachtlichen Erfolg, daß sie sie nicht sofort zurückbekommen hatte und also immerhin eine gewisse Zeit verstreichen müsse, bevor ihr zuzumuten wäre, den nächsten sauern Gang von dieser Art zu tun. Am Abend gab sie mir Bericht im gleichen Sinn und hob dabei die Kultiviertheit und das unbedingt gesellschaftsfähige Benehmen des Herrn Albert so erfreut hervor, als müsse einen das an so einem Verleger höchlichst wundernehmen. Mein grüner Optimismus sah darin, daß man die «Mutterlieder» prüfen wollte, beinah schon die Gewähr der Annahme. Ich ahnte ja noch nicht, wieviel Gedichtbuch-Manuskripte abgewiesen werden, bis eines Unterschlupf bei einem mutigen Verlag erlangt.

Doch diesmal sollte die Erfüllung meine kühnste Hoffnung glorreich übertreffen. Denn daß die Antwort mindestens so drei, vier Wochen würde auf sich warten lassen, hatte ich bestimmt geglaubt; und darum war ich sehr erstaunt, als mich am nächsten Abend schon bei meiner Heimkehr aus dem Dienste meine Mutter mit der Mitteilung empfing, es sei ein Brief von dem Verleger Albert eingetroffen: er würde ihre «Mutterlieder» drucken, sie solle ihn recht bald besuchen, um die Einzelheiten mit ihm festzulegen.

«Siehst du! Was hab ich dir gesagt!» rief ich und nahm den Brief. «Ja, da steht aber: Albert Langen drunter?» rief ich dann beim ersten Blick auf das Papier.

«So?» fragte sie verständnislos. Ihr sagte dieser Name nichts. Ich musterte den Briefkopf und fuhr fort:

«Natürlich: Albert Langen! Ja, und Kaulbachstraße 51a, das stimmt. Er hat also im gleichen Haus wie Josef Albert sein Büro.»

«Fui neein, wie dumm!» wehklagte meine Mutter, da sie ihren Irrtum nun begriff. «Dann jing ich also falsch. Nu hab ich mich schon so jefreeut, und nu is wieder nichts.»

Ich mußte über diese Logik lachen und erklärte ihr, daß ihr Versehen höchst wahrscheinlich nicht so unvorteilhaft gewesen wäre. Denn mir sagte dieser Name Albert Langen allerhand.

Ich weiß es noch genau, wodurch und wo und wann der Ende 1893 in Paris gegründete Verlag zum erstenmal mein Interesse auf sich zog. Es war ums Frühjahr 1894 zu Berlin in der damals für sehenswürdig geltenden Passage, die von der Behrenstraße zu den Linden führt. Ich habe diesen Durchgang seit der Zeit trotz häufigen Besuchen in der Reichshauptstadt nie mehr betreten, und es mag wohl sein, daß er sich mittlerweile vorteilhaft verändert hat. Wie er sich damals präsentierte, steht mir gleich einem bösen Traum in der Erinnerung. So etwas von Geschmackverlassenheit wie diese Schaufenster malt sich wohl niemand aus, der sie nicht selbst gesehen hat. Da lockte ein Panoptikum die Leute durch das Wachsbild eines schwerverwundeten Zuaven, dessen Brust ein Uhrwerk krampfhaft wogen ließ und dessen Augendeckel qualvoll langsam auf und nieder klappten. Daneben pries ein findiger Geschäftsmann eine Spezialität unter seinen in knalligem Brustzuckerrosa, giftigem Grün und andern wüsten Farben prangenden Bonbons als «frische Kaiserküsse» an. Wenige Schritte weiter spreizte sich hinter Spiegelscheiben ein so ungeheuerlicher Kitsch von Reiseandenken, daß man fast meinen konnte, in dem feinsten Luxusbadeort zu sein. So ging es munter weiter; es war schlichthin schauderhaft ...

Und hier in der Passage hing dann plötzlich eines Tages irgendwo an einer Wand ein sehr bescheidner, knapp dreiviertel Meter hoher, halb so breiter flacher Schaukasten, der mir sofort ins Auge sprang und mich, weil, was er hinter seiner Scheibe zeigte, alle paar Tage wechselte, von da ab oft gefesselt stehenbleiben hieß. Es waren aber Bücher des Verlages Albert Langen darin ausgestellt, und zwar jeweils sechsmal, drei hoch, zwei breit, das gleiche Buch. So durch die Wiederholung eines Eindrucks ihn verstärken, ist ein Trick, den heute jeder Werbefachmann kennt. Zu jener Zeit war er noch neu. Und neu, für Deutschland wenigstens, war auch das äußere Gewand, das die broschierten Bände in dem Kasten für gewöhnlich trugen: mehrfarbig vom Stein gedruckte Umschläge von Künstlerhand, die kräftige Wirkung in die Ferne übten, und die man wohl plakathaft hätte nennen können, wäre bei uns damals eine Plakatkunst schon am Werk gewesen. Ich habe den Franzosen Jules Chéret, den in Paris seßhaft gewordnen Schweizer Steinlen und den Deutschen Thomas Theodor Heine zuerst in diesem kleinen Schaukasten bewundern lernen. Unvergeßlich bleiben mir die modisch graziöse Colombine in starkem Blau und Gelb, mit der Chéret Marcel Prévosts «Pariserinnen» schmückte, Steinlens durch ausgesparte hellere Figuren auf dunkelm Grund von weitem schon den Blick einfangende Zeichnung zu dem Roman «Asche» von Vandérem und Heines etwas ins Perverse stilisierte Biedermeierphantasie zu Prévosts «Demivierges», die wohl sein schönster Buchumschlag geblieben ist. Es läßt sich denken, daß so gute Kunst bei der scharf kontrastierenden Umgebung, die die Passage für sie lieferte, doppelt ins Auge fiel. Doch ihre Wirkung übten diese Zeichnungen auch sonst und überall. Sie haben sicher viel dazu getan, die Firma Albert Langen, schon bevor sie mit dem «Simplicissimus» hervortrat, schnell bekannt zu machen.

Das erste aber von den Büchern des Verlags, das ich erstand und las, trug kein in edeln Farben prunkendes, von Künstlerhand entworfnes Kleid, sondern einen schlicht blaugrauen Umschlag mit ganz herkömmlich und also gar nicht schön gesetzter Schrift. Ich weiß nicht, ob tatsächlich meine gute Nase mich nach diesem Band eines mir sonst ganz unbekannten Skandinaven greifen ließ, oder ob dabei die Empfehlung eines Kritikers mit in die Waage fiel – eins ist gewiß, die Wahl war gut und traf gerade auf das Werk, das Albert Langen eigentlich den Anstoß zur Begründung des Verlags gegeben hatte: Hamsuns «Mysterien».

Mein Gott, mehr als drei Dutzend Jahre sind dahingegangen, seit ich diese Geschichte von dem sonderbaren Fremden Johan Nilsen Nagel zum erstenmal mit heißen Backen in einer fieberisch durchwachten Nacht verschlang! Wie jung war ich damals, wie alt geworden bin ich seit der Zeit! Und er, Hamsun, der starke Zauberer aus dem Norden, der schon mit fünfzig Jahren voll Melancholie von seiner «letzten Freude» schrieb, wie jung und schöpferisch geht er den Achtzigern entgegen, wie groß und schlackenrein gehämmert sind die Eisen noch, die er zum Glühen bringt!

Man wird mir glauben, daß ich auf den Eindruck der «Mysterien» hin die Tätigkeit des Langenschen Verlags schon deshalb fest im Auge hielt, weil ich kein neues Buch Knut Hamsuns übersehen wollte. In dem Jahr, das hinging, bis der Zufall meine Mutter ins Büro von Langen führte, hatte ich noch sehr gefesselt «Neue Erde», ein mehr zeitbedingtes Werk, das deshalb altern mußte, und mit Begeisterung die ewige Dichtung «Pan» und darin Hamsuns eigentlichen, tief an die Natur gebundnen Helden kennen lernen, zu dem der Johan Nilsen Nagel der «Mysterien» nur die Vorstudie gewesen war.

Ich las zu jener Zeit unendlich viel, und es wird sicher noch so manches Werk aus dem Verlag von mir verschlungen worden sein, bevor ich in persönliche Berührung mit ihm kam – geblieben ist mir nichts davon. Deutlich erinnern aber kann ich mich an allerlei Notizen, die schon vom Herbste 1895 ab des öftern in der Zeitung standen und dem Publikum die Kunde einzubläuen strebten, daß der erst jüngst in München ansässig gewordne Langensche Verlag eine ganz moderne, bunt illustrierte Wochenschrift als populäres Zehnpfennigblatt herauszubringen plane. Anfangs war dessen erste Nummer für das Neujahr 1896 angekündigt, später hieß es, daß das Blatt der umfangreichen Vorarbeiten wegen, die es nötig mache, erst zum April ins Leben treten könne. Ich weiß es nicht genau, doch scheint mir die Wahrscheinlichkeit dafür zu sprechen, daß pekuniäre Gründe von sehr wenig komplizierter Art die Schuld an der Verschiebung trugen. Sonst hätte wohl der gleiche Tag der Welt die Münchner «Jugend» und den «Simplicissimus» geschenkt; so aber kam der Doktor Georg Hirth mit seinem Blatte Albert Langen um ein Vierteljahr zuvor.

Doch konnte ich an jenem Winterabend, da ich zum erstenmal ein Schreiben des mir nachher so nah getretenen Verlages in den Händen hielt, es meiner Mutter noch in das Gedächtnis rufen, daß wir beide von dem Inhaber dieser jungen Firma ja schon früher hatten reden hören, und zwar vor einem guten halben Jahr bei einem Abendessen in dem schönen und gastfreien Hause des Mathematikprofessors Alfred Pringsheim. Ernst von Wolzogen hatte uns dort etwa dies erzählt:

«Ja, denken Sie sich, was man doch erleben kann! Ich schreibe meine Sachen nie mit eigner Hand, sondern diktiere sie gleich in die Schreibmaschine. Kürzlich meldet sich nun auf ein Inserat, mit dem ich jemand dafür suche, ein blutjunger Mensch aus Fürth, dem es ersichtlich schlecht geht, und der einen äußerst reduzierten Eindruck macht. Ich engagiere ihn, und er kommt wochenlang und tippt geduldig, was ich ihm diktiere. Eines Tages aber rückt er damit heraus, daß er auch selber schreibt. Er hätte hier das Manuskript eines Romanes ‹Melusine›; ob ich den nicht lesen und ihm sagen wollte, was ich davon hielte. Nun, der arme Bursche tat mir leid, und ich versprach es ihm, obwohl ich nicht gerade viel erwartete. Als ich dann aber anfing, ließ mich diese Geschichte einer Liebe nicht mehr los, bis ich am Ende war. Ein echter Dichter sprach daraus. Ich fühlte mich beschämt und fast bedrückt, daß mir ein Mann als Schreiber hatte dienen müssen, der selber literarisch etwas so viel Stärkeres geben kann als die bescheidene Erzählung, die ich ihm diktierte. Merken Sie sich den Namen: Jakob Wassermann! Er wird berühmt. Und ist er es, dann denken Sie daran, daß ich es Ihnen heute sagte!»

Dieser Bericht erregte bei der Tafelrunde auf der Pringsheimschen Veranda lebhaftes Interesse, und man wollte wissen, ob es dem jungen Wassermann denn immer noch so elend ginge. Wolzogen sagte nein; er hätte seinen Schützling dem Verleger Albert Langen vorgestellt und dem die «Melusine» warm empfohlen. Langen sei von dem Roman entzückt und bringe ihn demnächst heraus. Er habe Wassermann auch gleich als ständigen Mitarbeiter für seine künftige Zeitschrift angeworben, so daß der junge Dichter jetzt doch wohl von seiner Feder zu leben in der Lage sei.

Auch nach diesem Verleger Albert Langen fragte irgendwer. Wolzogen gab sehr gern Bescheid und wußte über ihn gleichfalls das Beste zu berichten. Er sei noch ziemlich jung, klug, liebenswürdig, voll Temperament und Unternehmungsgeist und hätte als ein Sohn aus reicher rheinischer Familie sicherlich die Mittel, seine interessanten Pläne auch erfolgreich durchzuführen. In Paris, wo der Verlag gegründet worden sei, hätte er viel gelernt, was ihm in Deutschland wohl zustatten kommen würde. Ganz besonders das geplante Blatt verspreche allerhand. Kurzum, es sei erfreulich, daß sich hier in München ein so frisches und modernes Unternehmen seßhaft mache, das bestimmt viel »Leben in die Bude« bringen werde.

Dies alles, was sie seinerzeit ja selber aus dem Munde Wolzogens vernommen hatte, fiel meiner Mutter wieder ein, als ich sie jetzt daran erinnerte. Ich konnte ihr aber noch mehr vom Hörensagen über Langen mitteilen, weil ich inzwischen Jakob Wassermann – wann und wo, weiß ich nicht mehr – persönlich hatte kennen lernen. Auch er, der kürzlich wohlbestallter Redakteur für die geplante Zeitschrift »Simplicissimus« geworden war, sang seines Brotherrn Lob, begründete es hauptsächlich damit, wie enthusiastisch Langen sein Talent zu schätzen wisse, und ernannte ihn, von dessen günstigen Verhältnissen schon Wolzogen geredet hatte, zum mehrfachen Millionär, welche sicher gutgläubige Umkehrung der Wirklichkeit man Wassermann wohl um so weniger verübeln darf, als es ihm selbst noch kurz vorher sehr schlecht gegangen war und auch im Augenblick kaum so besonders glänzend ging. Denn eigne Armut zeigt der Phantasie die Mittel anderer zu gern durch ein Vergrößerungsglas.

Ich hatte damals keinen Anlaß, Langen für weniger glänzend situiert zu halten, als Wassermann behauptete. Nun ja: zu allem anderen noch märchenhafter Reichtum und die Fähigkeit, sich auch für bisher unbekannte Dichter maßlos zu begeistern – das sind Eigenschaften, die selbst ein den Geschäften völlig fremder Autor an dem Mann begrüßen muß, der sein Verleger werden soll. Und darum sagte ich zu meiner Mutter, dieser Zufall, der sie irrtümlich eine Treppe höher hatte steigen lassen, als vorgesehen war, sei ein besonderer Glücksfall; und sie freute sich mit mir, wenn ihr auch dieses jungen Mannes Tempo immer noch unheimlich blieb, und ließ sich gern von Zukunftshoffnungen umgaukeln.

Am nächsten Tag ging sie zu Langen, der ihr hohes Lob für ihre Lieder spendete. Dann hatten sie in fünf Minuten alles festgemacht. Vereinbart wurde, daß die Buchausgabe ihres Werkes, durch den jungen Maler Adolf Münzer illustriert, erst kurz vor Weihnachten erscheinen solle. Vorher aber wollte Langen die Gedichte einzeln oder, je nachdem, zyklisch zu mehreren vereint in seiner neuen Zeitschrift drucken; er bat sie ferner, ihm doch für sein Blatt zu bringen, was sie sonst Geeignetes in Versen oder Prosa hätte. Und so machte sich's, daß sie nun öfter im Verlag erschien, um weitere Manuskripte von sich anzubieten. Da nun zu jener Zeit ich ebenfalls sehr produktiv in lyrischen Gedichten war – als «Sohn der Mutterlieder» hatte ich mir das so eingewöhnt –, und da besagte Reimereien wenigstens mir selbst und meiner Mutter recht bemerkenswert erschienen, wird es wohl niemand wundern, daß sie eines schönen Tages ihrem freundlichen Verleger auch ein Päckchen meiner Verse auf den Schreibtisch schob. Verwunderlicher scheint mir heute ihr Erfolg damit: daß ungefähr die Hälfte dieser Jugendsünden von der Redaktion erworben wurde. Sechs Gedichte auf einmal, und gegen Honorar – was das für einen bisher kaum gedruckten, keineswegs je honorierten, ruhmerpichten jungen Strophendrechsler zu bedeuten hat, sieht ohne weiteres jeder ein. Auch daß ich Langen jetzt für einen Riesen an Verstand und Urteil ansah, wird mir niemand übelnehmen, dem schon ein Schriftsteller in diesem kaulquappigen Stadium in den Wurf gekommen ist.

Kurze Zeit nach diesem mich höchst wichtig dünkenden Ereignis traf ein Brief an meine Mutter ein, der sie ersuchte, tags darauf in den Verlag zu kommen und sich Münzers erste Zeichnungen zu ihren Liedern anzusehn. Ob's nun ehrlicher Zufall war, oder ob Langen ihm ein wenig nachgeholfen hatte, jedenfalls traf sie ihn diesmal nicht allein an, sondern in Gesellschaft eines schlanken, sehr graziösen rothaarigen jungen Mädchens, das ihr als die Braut ihres Verlegers und das jüngste Kind des großen Norwegers Björnstjerne Björnson vorgestellt wurde. Der helle Stolz auf seine Braut und den berühmten Schwiegervater strahlte Langen vom Gesicht. Und meine Mutter fühlte ihm das nach, zumal ja schon die eigne Abstammung in ihr besondere Sympathie für alles weckte, was da skandinavisch hieß. Ihr Vater zwar, Heinrich von Hedenström, hatte sich schon ganz deutsch gefühlt und war in Riga deutscher Prediger gewesen, die Grabsteine seiner Eltern aber auf dem rigischen Jakobikirchhof trugen den Familiennamen in der Fassung «af Hedenström» und überhaupt schwedische Inschriften. Es hätte aber dieser Blutverbundenheit mit Skandinavien kaum bedurft, ihr sehr begeisterungswilliges Gemüt für die norwegischen Dichter jener Tage zu entflammen – schaute doch die ganze Welt, und namentlich die deutsche, voll Begeisterung auf diese Männer hin. Bei ihrem ersten Münchner Aufenthalt war meine Mutter, der Zudringlichkeit sonst wirklich fern lag, bis in Henrik Ibsens Wohnung vorgedrungen, weil sie es ihm einfach sagen mußte, wie sie ihn verehrte. Zu begreifen ist wohl, daß ihr Herz beinah noch wärmer für Björnstjerne Björnson schlagen mußte, den keineswegs bedeutenderen, aber entschieden dichterischeren der zwei skandinavischen Rivalen. Darüber nun sprach sie sich vor der Tochter des Bewunderten so lebhaft aus, daß Langen sie auf einmal fragte:

«Möchten Sie Björnstjerne Björnson nicht persönlich kennenlernen?»

«Weei, das wär schön!» rief sie.

«Nun, dafür könnte Rat geschaffen werden.» Er verneigte sich und deutete auf seine Braut. «Wir heiraten in ein paar Tagen; meine Schwiegereltern werden nach der Hochzeit eine Zeitlang bei uns wohnen. Und da laden wir Sie bald einmal zum Abendessen ein.»

«Herzlichen Dank!» Sie drückte beiden warm die Hand, fügte dann aber unschlüssig hinzu: «Das heeißt ... Ich weeiß nich, ob ...» Und plötzlich fuhr es ihr heraus: «Meein Sohn würde Herrn Björnson sicher auch sehr jerne kennen lernen.»

«Also ...!» lachte Langen. «Bringen Sie ihn ruhig mit! Wir machen ihn schon auch noch satt.»

«Dann komm ich», sagte sie, gleichsam beruhigend. Ja, sie verstand es doch bei aller Bescheidenheit recht gut, da, wo es ihr der Mühe wert schien, ihren Willen durchzusetzen.

Ich freute mich natürlich sehr, als meine Mutter mir verkündete, welch hohe Ehre mir in Aussicht stand – war Björnstjerne Björnson doch die erste Weltberühmtheit, der ich persönlich vor die Augen treten sollte. Freilich haben es zwei damals noch sehr junge Dichter, die ich schon vor Björnson kannte, später auch so weit gebracht; ihr Weltruf aber lag zu jener Zeit doch erst, wenn ich so sagen darf, als hoffnungsvoller Säugling in den Windeln. Diese beiden Dichter waren der bereits erwähnte Jakob Wassermann und Thomas Mann, mit dem ich Anno 1892 auf dem lübecker Gymnasium, das er in den Buddenbrooks nachher so lieblos porträtieren sollte, erstmals in Berührung trat. Und es ist wohl das einzige, was mir Unsterblichkeit verbürgt, daß ich – sein Vorturner gewesen bin. Nun glaube aber niemand, ich erzählte dies, um mich als ungewöhnlich talentierten Nacheiferer des alten Vater Jahn herauszustreichen. Nein, ich bleibe bei der Wahrheit und gestehe: jedem der Primaner wurde eine Riege aus den andern Oberklassen zugeteilt; und daß ich eben die bekam, der Thomas Mann, nicht seinem eignen Trieb gehorchend, angehörte, wirft kein sehr vorteilhaftes Licht auf mein gymnastisches Talent. Denn Thomas Mann als Turner war, was Können und Wollen anbetrifft, ein Fall für sich: er übte diesem Unfug gegenüber souverän passive Resistenz, er faßte Reck und Barren nur gleichsam symbolisch mit den Fingerspitzen an und streifte dieses seiner unwürdige Gerät mit einem vor Verachtung förmlich blinden Blick, der schon den künftigen Olympier ahnen ließ.

Nun, einen künftigen Olympier ahnen ist schon was, doch einen ausgewachsenen und reellen sehen bleibt trotzdem das größere Erlebnis, wenigstens solange man in dieser Hinsicht noch ein Neuling ist. Denn heute könnten Größen aller Art gleich rudelweise aufmarschieren, ohne daß ich mich, wenn ich nicht muß, dadurch nur einen Schritt aus meiner Klause locken ließe. Damals aber schaute ich lebhaft gespannt der zugesagten Einladung entgegen und war, als sie dann eintraf, sehr betrübt, daß ich ihr nicht in dem erwünschten Zustand geistiger Frische würde folgen können, weil ich mit meiner Kompanie am Tag vorher auf Wache kam, wo mich das harte Pritschenlager und die schauderhafte Luft nie auch nur einen Augenblick des Schlafes finden ließen.

So war ich also schon seit vierzig Stunden ohne Unterbrechung wach und hatte ein Gefühl, als sei mein Hirn vor Abgespanntheit durchsichtig geworden, als ich an jenem für mich folgenreich gewordenen Märzabend mit meiner Mutter vor die Tür von Langens Wohnung trat und nach einem beklommenen Zögern tapfer auf den Knopf der Klingel drückte. Langens Einrichtung war dazu angetan, den Ruf des Millionärs, in dem er stand, zu stärken: an den Wänden auf dem Vorplatz echte Gobelins und in den Zimmern alte Ölgemälde, die so dicht gedrängt wie Pflastersteine saßen; auf Simsen, Tischchen, Postamenten Bronzestatuetten, Porzellane und Fayencen, unter letzteren sehr schöne lebensgroße farbige Büsten; das Mobiliar, ein wenig bunt gemischt, aus allen Perioden von der Renaissance bis zum Empire ... Das Ganze hatte trotz einer gewissen Überfülltheit etwas Behagliches und sah dabei sehr prächtig aus. Ich, der in solchen Dingen noch ein blutiger Laie heißen durfte, erkannte doch, daß hierin eine Menge Geld zu stecken schien.

Wir waren, wenn ich mich richtig erinnere, an jenem Abend nur zu sieben: Langen und Frau, Björnson und Frau, eine aus Mecklenburg gebürtige, nicht mehr ganz junge Münchner Malerin, meine Mutter und ich. Den Mittelpunkt für das Interesse aller gab natürlich Björnson ab, dem diese prunkerfüllten Räume bestens zu Gesichte standen. Ich weiß es aber noch, wie es mich anfangs recht enttäuschte, daß er keineswegs als Hüne wirkte, wie ich es mir nach seinen Brustbildern erwartet hatte. Er war statt dessen bloß gut mittelgroß, trug ein gewölbtes Bäuchlein vor sich her und dünkte mich für einen Wikinger, den man sich über jede Eitelkeit erhaben ausmalt, gar zu wohlgepflegt, ja, in verschiednen Einzelheiten seiner Kleidung fast kokett, so in der dunkelseidenen geblümten Weste, den desgleichen buntgeblümten Seidensocken und den ausgeschnittenen Lackschuhen, sogenannten Pumps, die er beim Gehen zierlich auswärts stellte. Aber als er dann, das Kinn emporgereckt, bei Tische saß, da dachte ich an diese Kleinigkeiten überhaupt nicht mehr, sondern fühlte mich ganz im Banne seines kühn umrissenen, wahrhaft königlichen Kopfes, seiner vor Eindringlichkeit geradezu federnden Redeweise und der knappen Gesten seiner schöngeformten großen Hände, die einem seine Sätze gleichsam in den Sinn zu hämmern trachteten.

Er sprach beinah allein, die andern, seine Tochter und der Schwiegersohn, die Malerin und meine Mutter, brachten ihm sozusagen nur die Stichworte und ließen hie und da Ausbrüche der Bewunderung hören. Völlig stumm verhielten sich Björnsons in jenen Jahren schon fast taube Frau und ich, doch übte unser Schweigen sicher sehr verschiedne Wirkung aus. Denn sie, Frau Caroline, eine schöne alte Dame von genau so fürstlicher Erscheinung wie ihr Mann, hielt immerfort ihr Hörrohr gleichsam hungrig gegen diesen hin, und ihre Augen strahlten vor lebhaftem Interesse, ob sie auch von diesem schwierigen Deutsch, das ihr Björnstjerne heute sprach, kein Wort verstand. Ich wiederum schien wohl vor Übernächtigkeit blasierter, als ich war; und wenn das unterdrückte Gähnen meine Nüstern auch bestimmt in einem fort erbleichen ließ, so hörte ich doch aufmerksam und ohne eine Silbe zu verlieren zu. Björnson schien hiervon aber nicht recht überzeugt zu sein – er schaute mich des öfteren kopfschüttelnd an und sagte endlich mitleidig:

«Der arme junge Mann! Nein, wie er müde ist!»

«Ach», rief ich und wand mich heimlich unter all den Augen, die sich prüfend in mich bohrten, «das ist nur, weil ich auf Wache war und darum heute nacht nicht schlafen konnte.»

«Ja, dieser preußische Militarismus ist was Schreckliches!» Der große Björnson nickte würdevoll.

«Oh, skrecklich!» fiel Frau Caroline ein, strahlend vor Stolz, weil sie jetzt endlich doch etwas verstanden hatte.

«Ja, aber ...? Preußisch ...?» wendete ich zaghaft ein.

«Ich weiß, daß wir in Bayern sind», gab er zurück, «aber dies Preußen steckt mit seine harte Art ganz Deutschland an.»

Ich öffnete den Mund zu einer Antwort, schloß ihn aber wieder, jäh von meiner Schüchternheit gehemmt. Und Björnson, der mich abwartend gemustert hatte, lenkte, da ich schwieg, die Rede auf ein andres Thema hin.

Ich weiß nicht mehr, wer bald darnach die alte und in der Konversation von je beliebte Frage aufwarf, welche unter den modernen Sprachen sich des größten Wohllauts rühmen dürfe.

«Deutsch!» erklärte Björnson fest und schaute sich herausfordernd im Kreise um. – Wer wagt daran zu tippen! fragte dieser Blick.

Aber wir Nicht-Skandinaven an der Tafel hätten ja wohl keine Deutschen sein dürfen, wenn sich jetzt nicht trotz allem heiligen Respekt vor dem berühmten Mann lebhafter Widerspruch erhoben hätte. Meine Mutter und die Malerin verteidigten den edeln Klang des Italienischen, Langen erkannte dem Französischen die Palme zu, und ich hielt es für meine Schuldigkeit, ein gut gesprochenes Russisch für die schönste aller Sprachen auszugeben, wenn ich auch damals schon bestimmt nicht weniger gut als heute wußte, daß unser angeblich so rauhes Deutsch unter den Händen eines Dichters, etwa eines Goethe oder Storm, so schmelzend süß und voll wie eine Stradivarigeige singen kann.

«Ich habe es doch selbst gehört!» antwortete uns Björnson unbeirrt. «Es war in Rom, und mehr wie dreißig Jahre sind es her. In Rom, da gibt es am Pfingstsonntag jedes Jahr ein Kirchenfest, was zur Erinnerung davon gefeiert wird, wie die Aposteln in Jerusalem zu Pfingsten seinerzeit in Zungen redeten. Da treten abgesandte Geistlichen aus alle Ländern auf, wo Katholiken sind, und jeder lobt in seine Muttersprache Gott und huldigt Rom und seinen Papst. Und das ist eine großartige Demonstraschon von des Katholizismus Ausbreitung. Dies hörte ich im Jahre fünfundsechzig zu, in eine Zeit, als ich, das soll Gott wissen, nicht parteiisch for die Deutschen, sondern rasend auf das mächtige Deutschland war, weil es das arme kleine Dänemark so ohne Großmut vergewaltigt und verstümmlet hatte. Und ich weiß die Zahl von Sprachen es da gab nicht mehr. So fünfzig, sechzig waren es vielleicht. Das aber weiß ich noch: die schönst klingende Sprache ich in diese Kirche hörte, das war Deutsch. Und da hilft nichts: was wahr ist, das bleibt wahr!» Bekräftigend ließ Björnson die geballte Faust schwer auf das Tischtuch sinken und sah uns triumphierend an, als ob er fragen wolle: Nun, was sagt ihr jetzt! Wenn ich auch eure Fehler sehe und das harte Preußentum nicht liebe – bin ich nicht gerecht! Fühlt ihr euch nicht, fühlt nicht ganz Deutschland sich beschenkt dadurch, daß es in manchen Punkten meine Anerkennung hat! Ist das nicht eures Dankes wert!

Nun, wenn ein Dank mit solcher Sicherheit erwartet wird, zwingt er sich einem auf. Wir Deutschen rings im Kreise freuten uns des Lobes, das der große Ausländer dem deutschen Worte zollte, und glitten über seine abfällige Kritik an deutscher Tat hinweg. Nichts wirkt so suggestiv wie starkes Selbstbewußtsein. Und daß es Björnson hieran nicht gebrach, dafür blieb seine römische Erzählung nebst der stummen Folgerung, die er daraus gezogen hatte, an dem Abend nicht das letzte Dokument.

Um jene Zeit beschäftigte der Spiritismus meine Mutter sehr. Kein Wunder, daß sie gleich die erste Pause im Gespräch benutzte, ihren berühmten Tischnachbarn zu fragen, wie sich denn er zu den okkulten Dingen stelle. Seine Antwort war verblüffend björnsonisch.

«Das gibt es nicht», erklärte er, «daß Tote wiederkommen und sich uns als Geister offenbaren können. Davon hab ich absolütt den sicheren Beweis. Denn hätte er gekonnt, dann wäre mir mein Vater nach dem Tod bestimmt erschienen und hätte mich – um Verzeihung gebeten. Ja!» Und wieder sank seine geballte Faust bekräftigend auf den Tisch. «Erbarmung!» sagte meine Mutter ganz entsetzt. Doch Björnson gab nicht acht darauf und wiederholte:

«Ja! Ich war for ihm doch immer so ein guter Sohn, und er war einmal kurz vor seinem Tode gegen mich so ungerecht.»

Ich, der in einem Alter stand, das solche kühle Objektivität den eigenen Erzeugern gegenüber im Prinzip stets billigen wird, hatte mein schmunzelndes Vergnügen sowohl an des alten Björnson merkwürdiger Abführung des Spiritismus als auch an der Trauermiene meiner Mutter, die sich in ihrer Elterneigenschaft verletzt fühlte und mich wohl auch zu jung fand, so von jeder Kindespietät verlassene Worte ohne Schaden für die Seele anzuhören. Und so groß auch ihr Respekt vor Björnson war, ganz unterdrücken konnte sie den Vorwurf, den sie ihm zu machen hatte, nicht. Sie fragte zaghaft tastend:

«Guter Sohn? Heeißt guter Sohn nich – liebevoller Sohn?»

Hoho! Da mußte aber Björnson wirklich lachen! Nein, da kannte man ihn falsch, wenn man sein Herz in Zweifel zog, das doch viel eher zu empfindsam und dadurch schmerzhaft verletzlich war. Ja, konnte man denn überhaupt ein Dichter sein wie er, wenn man nicht alle Leiden dieser Welt als seine eignen Leiden mitempfand! Und er erzählte, uns das recht sinnfällig zu belegen, was ihm vor Jahren einmal in Tirol geschehen war. Er hatte mit den Seinen mehrere Sommer in dem Städtchen Schwaz verbracht. Da war, wie man das ja bei Bauersleuten manchmal findet, ein gewisser Ort mit lauter Holzschnittbildern aus Zeitschriften tapeziert gewesen. Eines nun davon, das ihm beim Sitzen ganz genau in Augenhöhe gegenüberhing, hatte ein Nest mit jungen Hasen dargestellt, die ahnungslos im Kornfeld saßen, während hinter ihnen schon ein Fuchs die Zähne fletschte, drauf und dran, die Ärmsten zu verschlingen. Diese fürchterliche Szene hatte Björnsons weiches Herz so sehr bedrückt, daß er schon aus gesundheitlichen Gründen eine Vorkehrung dagegen treffen mußte. Denn das Bild so einfach von der Wand zu reißen, ging nicht an, weil das die Wirtsleute beleidigt hätte. Was war da zu tun! Er dachte lange nach, und eines Morgens kam ihm die Erleuchtung – er zog seinen Bleistift aus der Tasche und schrieb auf den Rand des Holzschnitts die drei Worte: «Sie werden gerettet!» Damit war der Bann gelöst.

Die Tafelrunde hatte dem Bericht des großen Mannes atemlos gelauscht. Sein zartbesaitetes Gemüt fand allgemein, besonders bei den Damen, lebhafte Bewunderung. Nur ich, der innerlich nicht ganz so schüchtern als mit Worten war, blieb stumm und dachte mir mein Teil. War denn an der Geschichte eigentlich nicht nur der Bleistift als so eine Art von Morphiumspritze gegen Mitleidweh originell? Pflegten im übrigen nicht auch viel weniger berühmte Leute ihr zu weiches Herz bei fremder Not in eben dieser Art zu trösten, ja sogar die soziale Frage für ihr Teil nach dem System zu lösen? Wer sich hierin vollkommen schuldlos fühlt, werfe getrost den ersten Stein auf die, die solches tun!

Ich habe nun erzählt, was mir aus Björnsons Tischgesprächen jenes Abends in Erinnerung geblieben ist. Natürlich hat sich mir da das Kurioseste besonders eingeprägt. Man glaube deshalb aber nicht, er hätte nur dergleichen vorgebracht, und ich respektverlassener junger Bursche hätte immerzu über naive Explosionen seines Selbstbewußtseins innerlich gelacht. Oh, weit gefehlt: er hatte viel erlebt mit offenem Sinn und Herzen, und er redete voll Temperament, Klugheit und Geist davon, er wirkte als ein ganzer Kerl mit allem Zauber, den Persönlichkeit verleiht, und imponierte mir – was etwas heißen will – genau so sehr wie sich.

Gegen den alten Björnson traten alle andern Leute, die ich an jenem Tage kennenlernte, in den Hintergrund, auch Albert Langen, der mir übrigens sehr gut gefiel. Anders als Ludwig Thoma, der zwei Jahre später nicht sogleich die Brücke zu ihm fand, weil Langen ihm bei einer ersten flüchtigen Begegnung lediglich als übereleganter, etwas hochnäsiger, geschäftlich äußerst smarter Herr erschien, sah ich in ihm zunächst nur einen netten jungen Mann, der alles, was ihm durch den Kopf schoß, ohne einen Schatten weder von Befangenheit noch von Berechnung kindlich frisch hervorzusprudeln liebte. Man sieht, auch ich beurteilte ihn anfangs falsch, weil einseitig. Hätte in ihm nicht außer dem, was ich so an der Oberfläche spürte, ziemlich viel gesteckt – wie hätte er damals mit fünfundzwanzig Jahren sein können, was er doch war, trotzdem die Welt noch nichts von seinem «Simplicissimus» gesehen hatte.

Übrigens war dessen erste Nummer, die nachher Anfang April so eine Menge Staub aufwirbeln und zum Teil Begeisterung, zum Teil lebhaften Widerspruch entfachen sollte, an dem Märzabend, über den ich hier berichte, schon gedruckt, und zwar in einer Auflage, die des Verlegers tapfrer Zuversicht viel Ehre machte, deren Höhe aber künftighin das Blatt auch zu den besten Zeiten niemals wieder zu erklettern in der Lage war. Da Langen uns nun diese Nummer gleich nach Tisch, strahlend von Vaterfreude, präsentierte, lernte ich den «Simplicissimus» noch sozusagen in den Windeln kennen, bevor er seine ersten Schritte tat. Auch hier schon an dem Beispiel der Familie Holm erwies es sich, daß man sehr, sehr verschieden, aber anscheinend nicht gleichgültig lauwarm von der jungen Zeitschrift denken konnte. Meine Mutter nahm recht starkes Ärgernis an manchem, was sich ihr da bot, und fühlte sich bedrückt, weil sie auch ihren eignen Namen unter einem kleinen Prosabeitrag las; ich aber fand die Nummer wundervoll, und wenn ich doch etwas darin vermißte, war es höchstens – ein Gedicht von mir.

Am nächsten Tag ging ich zur Buchhandlung von Rieger am Odeonsplatz und abonnierte mir die Luxusausgabe des «Simplicissimus» gleich auf ein Jahr, wohl als der erste Abonnent, den sie gefunden hat. Es fiel mir jedenfalls recht schwer, die Riegersche Gehilfenschaft davon zu überzeugen, daß eine Luxusausgabe dieses neuen Blattes überhaupt in Aussicht stand.

Die Zeit verrann. Anfang April erschien die Nummer eins des «Simplicissimus», und jeden Dienstag, wenn ich mich des Tages recht erinnre, folgte ihr von da ab eine neue nach. Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, mit welcher Spannung sie erwartet wurden, nicht zuletzt von mir. Auch meine Mutter, der die Zeitschrift nach wie vor nicht sehr sympathisch war, gewöhnte sich daran, in ihr gedruckt zu werden, was ja in der ersten Zeit beinah allwöchentlich geschah. Mir wurde dieser Vorzug nicht so oft zuteil, doch oft genug, daß ich mich dem heftig umstrittenen Blatte zugehörig fühlen durfte. So kam mir der Gedanke nah, mich ihm noch zugehöriger zu machen, zumal ich in dem Studium der Rechte längst ein Haar gefunden hatte. Und darum bat ich meine Mutter, als sie wieder einmal in Geschäften auf die Redaktion zu Langen ging, sie möchte diesen fragen, ob er mich nicht von dem Ende meiner Dienstzeit ab zunächst als Volontär bei sich beschäftigen wolle. Langen zeigte sich dem Plan geneigt und ließ mich bitten, ihn gelegentlich zu mündlicher Besprechung aufzusuchen.

Ende Mai, an einem sonnenhellen Samstagnachmittag, begab ich mich zum erstenmal auf das Büro meines zukünftigen Prinzipals. Und Langen führte mich sogleich, damit wir ohne Zeugen unterhandeln könnten, in ein ziemlich großes Zimmer, das der Arbeitsraum des damaligen Lektors für den Buchverlag, Sven Lange, war und öde und sehr ungemütlich wirkte, weil in ihm nichts stand als ein mit Manuskripten überhäufter schmaler Tisch sowie ein sogenannter Wiener Stuhl. Auf diesen wurde ich genötigt, während Langen selbst sich eine Tischecke zum Sitz erwählte. Doch wir hatten kaum die einleitenden Sätze ausgetauscht, da klopfte es, und Jakob Wassermann schaute herein und meldete, Herr Heine wäre da. Langen sprang von seinem Sitz und rief mit der ihm eignen Hast:

«Ach, einen Augenblick, Herr Holm! Sehr wichtige Konferenz! Gedulden Sie sich fünf Minuten! Dann ... Ach ja ...!» Er lief hinaus und kam gleich wieder angestürzt. «Hier, bitte, sehn Sie sich so lange mal die nächste Nummer an.» Und draußen war er schon.

Es ist die Nummer neun des «Simplicissimus» gewesen, die ich da in Händen hielt, das kann ich heute noch ganz sicher feststellen, weil ich Gelegenheit bekam, sie in der größten Muße auswendig zu lernen. Ich las sie Wort für Wort mit allen Inseraten durch und fing von vorn an, wenn ich fertig war, ich rauchte eine Zigarette nach der anderen und wartete und wartete. Kein Langen zeigte sich, und meine Schüchternheit verbot es mir die längste Zeit, mich selbst zu melden. Endlich riß mir die Geduld, das heißt: bis sieben wollte ich noch aushalten, dann aber ...! Nun, auch sieben wurde es, und niemand rührte sich; selbst eine Schreibmaschine, die ich hatte klappern hören, war verstummt. Da öffnete ich denn, noch immer etwas scheu, die Tür und fand im Nebenzimmer Jakob Wassermann schon mit dem Hute auf dem Kopf.

«Ja, Himmel ...!» sagte er verblüfft. «Sie sind noch da?»

«Aber ... Herr Langen bat mich doch, auf ihn zu warten? »

«Langen?» Und er schüttelte den Kopf. «Der ist mit Heine fort, vor einer guten Stunde schon. Gut, daß Sie mich noch grad erwischten. Denn ich wollte eben gehn und zusperren. Und dann ... Die Putzfrau kommt, glaub ich, erst Montag früh um sechs.»

Meine Erregung über diese harmlose Geschichte war viel größer, als man sich denken kann. Ich hatte nämlich, jung und leicht verletzlich, wie ich war, die seltsame, mir heute selber unbegreiflich scheinende Idee, daß Langen mir mit Absicht durchgegangen sei. Ich stürmte also in das Café Stephanie, bestellte Schreibzeug und Papier und schrieb, bevor mein erster Zorn erkaltete, an Langen einen Brief, den ich damals schlagend ironisch fand und heute sicher ganz, ganz anders nennen würde. Ich sagte ihm darin, es sei sein gutes Recht, mich trotz der Zusage an meine Mutter, wenn es ihm so besser schiene, abzuweisen, aber mutiger gewesen wäre es, mir das aufrichtig Aug in Auge zu bekennen, statt sich so heimlich seitwärts ins Gebüsch zu drücken. In diesem Tone ging es fort. Als dann mein Schreiben in den Kasten plumpste, stand es bei mir fest, daß nun das Tischtuch zwischen mir und Langen endgültig zerschnitten sei.

Aber ich hatte diesen unterschätzt. Ich sollte hier zum erstenmal eine besondre Tugend von ihm kennenlernen, die ich späterhin noch oft an ihm bewundern durfte: daß er nicht empfindlich war. Dies sprach von einer ruhigen innern Überlegenheit des äußerlich so zappeligen jungen Herrn. Sein Antwortbrief behandelte die Sache elegant und nett, glitt über meine Schnödigkeiten schlank hinweg und bat mich, ihm zu glauben, daß nicht eine Spur von böser Absicht mit im Spiel gewesen sei. Natürlich tue es ihm leid, daß ich so stundenlang umsonst auf ihn gewartet hätte, aber zu besprechen sei ja eigentlich nichts mehr. Er nehme an, wir wären uns doch nach wie vor darüber einig, daß ich gleich nach der Beendigung meiner Militärzeit bei ihm einträte.

Da fiel mir freilich ein gewaltiger Stein vom Herzen. Und so kam es denn, daß ich am ersten Oktober 1896 nach meiner Entlassung aus der Kompanie geradeswegs zum Langenschen Verlage ging; und da bin ich nach jetzt bald sechsunddreißig Jahren heute noch. Was ich nun dort erlebte und, besonders in der ersten Zeit, an Lehrgeld zahlen mußte, steht auf einem andern Blatt.

Nur soviel sei hier noch gesagt: ich stellte mich nicht gar zu töricht an und leistete schon bald etwas. Das erste Zeugnis, wodurch mir etwa zwei Monate nach meinem Eintritt dies bestätigt wurde, kam aus des alten Björnson Mund. Wenn ich nun aber diese Anekdote noch erzähle, so geschieht es nicht, um mich an seinem Lob zu sonnen, dessen Licht ja übrigens auch einen kohlpechrabenschwarzen Tadelschatten warf, sondern weil dabei der große Norweger besonders scharf umrissen in Erscheinung tritt.

Es war Ende November, schätze ich, als Albert Langen eines Morgens schnell wie immer ins Büro geschossen kam und lebhaft einen Aufsatz Björnsons über die Neutralität der kleinen Staaten pries, der in der neuen Nummer der «Frankfurter Zeitung» stand. Ich müsse ihn gleich lesen, sagte er und warf ihn mir aufs Pult. Ehrlich gesprochen, überflog ich diese vier, fünf Spalten unterm Strich sehr flüchtig nur, weil ich viel Arbeit hatte, weil der Dichter Björnson mir stets lieber war als der Politiker, und weil ich nicht so richtig daran glauben konnte, daß eine Neutralisierung aller kleinen Staaten ganz von selbst den ewigen Frieden im Gefolge haben müsse. Also machte ich mich schleunigst wieder an die Korrektur des nächsten «Simplicissimus», worüber ich den Aufsatz Björnsons bald vergaß. Nun wollte es das Schicksal, daß mich Langen, wie in meinen Junggesellenzeiten oft, an diesem Tag aufforderte, ich möge doch bei ihm zu Mittag essen, und daß ich dort auch seine Schwiegereltern traf. Björnson hatte mich noch kaum begrüßt, da fragte er mich schon:

«Nun, Holm, was sagen Sie zu mein Artikel in die Frankfurter?»

Ich fuhr zusammen, weil mir das höchst überraschend kam, und stammelte verwirrt:

«O ja ... sehr nett!»

«Sehr nett, sagt er von das!» Björnson schoß einen Feuerblick nach mir. Nachher, beim Essen, sah er mich in einem fort mitleidig zungenschnalzend und kopfschüttelnd an und wiederholte hie und da halblaut: «Sehr nett ... sehr nett ...»

Nach Tische feilte ich mit Langens Frau noch eine kleine Stunde lang an einer Übersetzung aus dem Norwegischen, die ein wenig holprig war, und dann begab ich mich zu meiner Mutter, wo ich täglich Kaffee trank, bevor ich wieder an die Arbeit ging, Sie machte heute ein bekümmertes Gesicht und fuhr gleich mit der Frage auf mich los:

«Erbarm dich, Korfiz, was hast du denn mit dem alten Björnson vorjehabt?»

«Ich? Vorgehabt? Wieso? – Gar nichts«, gab ich zurück, »ich war vor einer Stunde noch mit ihm beisammen und ...»

«Neein, er is doch eben hierjewesen», seufzte sie, «und was er von dir sagte, macht mich so betrübt ...!»

«Von mir?» rief ich. «Ja, was zum Kuckuck hat er denn gesagt?»

Doch meine Mutter scheute sich, das Fürchterliche auszusprechen, und es brauchte lange Zeit, bis ich das harte Wort erfuhr, das über mich gefallen war:

«Liebe Frau Holm, Ihr Sohn, er ist so ein begabter Mensch, ein anständiger, tüchtiger, geschickter Mensch, und ich bin froh, daß ihn der Albert hat, aber er hat – die Begeisterung nicht.»

Man wird mir glauben, daß ich über dieses Urteil und die Trübsal meiner Mutter damals nur von Herzen lachen konnte. Heute aber scheint mir doch, daß da auf irgendeine Art ins Ziel getroffen war. Vielleicht liegt hier der Grund, warum aus mir nicht recht etwas Besonderes geworden ist, während es Björnson zu den höchsten Ehren brachte, die ein Schriftsteller auf sich versammeln kann: zum Nobelpreis, zu einem Denkmal noch bei Lebzeiten, und nach dem Tod zu einem Ehrengrab auf Kosten der Nation – er hatte die Begeisterung, mit der ein Mann praktischerweise selbst das gute Beispiel geben muß, wenn ihm daran gelegen ist, daß sich die Welt für ihn begeistere.


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