Hugo von Hofmannsthal
Der Abenteurer und die Sängerin
Hugo von Hofmannsthal

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Zweiter Aufzug

Großer freundlicher Saal im Hause Venier. Im Hintergrund eine große Tür und zwei große schönvergitterte Fenster auf den Kanal hinaus. Links und rechts Türen. An der Decke und über den Fenstern Fresken im Geschmack des Tiepolo. Im Vordergrund links steht ein kleines Klavier, in der Mitte des Saales ein sehr großer Tisch mit vergoldeten Füßen, auf diesem Blumen in einer großen Vase. – Es ist heller Tag.

Es treten auf: Lorenzo und sein Oheim, der Senator Venier. Der Senator trägt über seinem Kostüm den Überwurf eines dünnen schwarzen Maskenkleides; die schwarze Larve und den Kopfteil hält er in der linken Hand. Mit der Rechten stützt er sich auf einen Stock.

Lorenzo (Er ist blaß und erregt, – spricht im Auftreten; dann bleiben sie in der Mitte stehen)
Ich bitte, Oheim, frag' mich nicht um Gründe
für etwas, das mir so natürlich ist
wie Atmen. Ja, wißt Ihr denn alle nicht,
was sie mir ist? Ich bitte, geh! . . . So bleib!
Ich war kein frohes Kind: Du mußt's doch wissen,
wie leichtlich übermannt von Traurigkeit,
wie schnell zu Tod erstarrt, wenn das Gemeine
mit aufgerissenen Medusenaugen
aus dem Gebüsch des Lebens auf mich sah.
Da fand ich sie. Ich fand das eine Wesen,
aus dessen hohler Hand der Quell des Lebens sprang,
daran ich meine Lippen legen konnte
und Seligkeit des Daseins in mich schlürfen!
O hätte sie nur halb die Fröhlichkeit,
die ihr im Auge quillt, mich lehren können,
so hingest du an meinem Munde jetzt,
so wie die Welt an ihrem Munde hängt,
und dächtest an nichts andres als zu atmen!
Und das verleugnete ein Tropfen nur
von meinem Blut? Es ist das Blut Venier,
und wie der Brunnen in der Fabel wallt
es wütend auf, wenn ein unedler Atem
nur seinem reinen Spiegel nahe kommt,
und hebt sich in den Adern so voll Wut
wie ein gereizter Löw' in seinem Zwinger.
Du mahnst mich recht: es ist das Blut Venier
und hat noch so viel edle Art in sich,
daß es bezahlt, wie Könige bezahlen
– und nicht wie Krämer – einen Augenblick
etwa mit dem zusamm'gerafften Preis
von vielen Jahren, ja, dem letzten Gold,
das aufgesprengte Ahnengräber geben –
ein wenig Lächeln etwa mit sich selbst
und einen Traum etwa mit einem Leben!

Er hat sich bei den letzten Worten, die er mehr für sich spricht, von dem Alten abgewendet und ist einige Schritte nach vorne gegangen. Der Alte hat kopfschüttelnd seine Maske aufgesetzt und ist durch die große Tür im Hintergrund weggegangen.

Lorenzo (wendet sich, sieht sich allein)
Schon fort, Gespenst? Ich will zu ihr.
                                                            Vielleicht,
(Hält an der Tür links still)
daß sie noch schläft! So will ich denn noch warten.
(Kehrt um, setzt sich in der Mitte des Zimmers auf einen Lehnstuhl)
Nun schon' ich ihren Schlaf– und bald vielleicht
ermord' ich ihr den Schlaf von vielen Nächten!
Nun ging es mir ans Herz, als Einer nur
auf ihren Schatten treten wollte – bald
tret ich vielleicht mit Fingern, die gepanzert,
in ihres Herzens Wunden und in meine!

Cesarino (kommt von rückwärts gegangen, legt ihm die Hände auf die Schultern)

Lorenzo (auffahrend, ergreift eine Hand Cesarinos)
Vittoria! (Cesarino tritt neben ihn)
              Besser wär's, wenn eure Hände
sich nicht so ähnlich säh'n!

Cesarino                                   Warum denn besser?

Pause.

Lorenzo Sag', du hast deine Mutter nie gekannt?

Cesarino Wie, unsre Mutter?

Lorenzo                                 Deine.

Cesarino                                             Sie war doch
Vittorias Mutter auch.

Lorenzo                             Jawohl, jawohl.
(Er versucht, Cesarino mit dem Bild auf der Dose zu vergleichen, die er halbverdeckt in der linken Hand hält)

Cesarino (geht nach rückwärts)

Lorenzo Wo gehst du hin?

Cesarino                             Ich seh, ob jemand kommt.
(Er geht durch die Tür rechts rückwärts ab)

Lorenzo (hinter ihm her, die Dose in der Hand)
Ein Bild! ein Bild! ein und dasselbe Bild!
(Er bleibt stehen, den Kopf zu Boden gesenkt)

Vittoria (von links, geht leise auf ihn zu. Er tritt zurück, sieht sie traurig an. Sie nimmt seinen Kopf zwischen ihre Hände. Er tritt wiederum zurück)

Pause.

Vittoria Du siehst nicht fröhlich aus.

Lorenzo                                             Ich bin nicht fröhlich.

Pause.

Lorenzo Vittoria, wie hast du heut geschlafen?
(Ohne die Antwort abzuwarten)
Weißt du, ich wachte einmal morgens auf,
indessen du noch schliefest. Über dich
war ich gebeugt und haßte deine Augen,
ich haßte deine süßen Augenlider:
denn irgendwie verstand ich, daß darunter
ein Traum war, angefüllt mit Leben, dran
ich keinen Anteil hatte, keinen Anteil,
nicht eines Schattens Anteil!

Vittoria                                         Ja, mein Lieber.
Doch war dies, weil ich schlief. Nun bin ich wach.

Lorenzo Nein! dies ist, weil du wach bist! Aber dann
müßt' ich die Lider nicht, ich müßte ja
die wachen Augen hassen und die Lippen
und diese süße, helle Stirn und alles!

Vittoria Ich weiß nicht, was das ist, wovon du redest!

Pause.

Lorenzo Sag' mir, was bin ich dir?

Vittoria                                             Du bist mein Mann.

Lorenzo So bist du meine Frau, und Mann und Frau,
sagt man, sind eins. Mich dünkt, dies ist nicht so.

Vittoria Du bist ein Ganzes und auch ich bin ganz:
und kann mich nur als Ganzes geben, nicht
den Kranz auflösen, der mein Wesen ist.
Was quälst du dich und mich mit solchen Worten?

Lorenzo Nicht genug deutlich? Nun, hier ist ein Bild!
(Hält ihr die Dose hin)
Und der mir's gab – so hat Natur noch nie
mit lautem Mund geschrien, ist der Vater
des Burschen, den du deinen Bruder nennst!
und nicht dein Vater, dir ist er nicht ähnlich,
o, nicht dein Vater, er ist wohl zu jung!
(Fast atemlos)
Des Burschen Hände aber wieder sind
den deinen allzu ähnlich, als daß nicht
ein fürchterlich verwirrender Verdacht
sich wie ein Brand ganz durch mein Denken fräße,
von hundert dunklen Dingen noch genährt:
denn der mir's gab, das ist derselbe Mensch,
dess' Anblick gestern in der Oper dich
unter der Schminke so erbleichen ließ,
als schlüg' ein weißer Blitz durch deinen Leib –
(Er hält inne)

Vittoria (den Blick auf ihn geheftet, ruhig)
Daß ich erschrak, kann sein. Ich hab' ihn lange,
so lange nicht gesehen, daß mir war,
als müßt' nun meine Mutter hinter ihm
aus ihrem Grabe aufgestanden kommen,
zuhören, wie ich singe. Ich hab' ihn
als Kind sehr oft gesehn, bis zu dem Tag,
da meine Mutter starb und mich zurückließ
und meinen neugebornen Bruder.
(Nach einer kleinen Pause)         Meine
und meines Bruders Hände gleichen, glaub' ich,
den Händen unsrer Mutter. Ich war damals
zehn Jahre, und mein Vater lange tot.

Lorenzo Wie, deine Mutter war zweimal vermählt?

Vittoria Das nicht. Ich war ein Kind, das viel verstand.
Begreifst du, was mir's war, nach siebzehn Jahren
den Menschen wiederum zu sehn? Er ist
die Schuld, daß meine Mutter starb und daß
mein Bruder lebt. Jetzt schweigen wir! Die kommen.

Cesarino und Marfisa nähern sich. Lorenzo geht ihnen einige Schritte entgegen. Sie entfernen sich wieder.

(In der Mitte allein)

Ich lüge wie ein Grabstein, und ich bin's
ja auch allein, drin wie in einem Grab
dies sonst vergeßne Abenteuer wohnt.

Lorenzo (tritt wieder zu ihr)

Vittoria (ohne sich umzuwenden) Hast du sie wieder fortgeschickt?

Lorenzo (hart bei ihr) Vittoria, mach, daß ich dir glauben kann!

Vittoria (sieht ihn mit offenen Augen an) Lorenzo, was bin ich dir, wenn du's vermagst, jetzt zu zweifeln?

Lorenzo Alles bist du mir, alles – so oder so, zum Guten oder zum Schlimmen. Das einzige Geschenk, das mein Leben je mir zuwarf, eines aber, das alle andern in sich schließt . . .

Vittoria, ich habe Angst, an dir zu zweifeln und Angst an dich zu glauben. Was immer du redest, hab' ich Angst, daß das Leben mich überlistet.

Vittoria O, es überlistet uns alle, mein Freund!

Lorenzo (dringender) Vittoria, mach, daß ich dir glauben kann! – Bedenk, wie du in mein Leben hineintratest, beladen mit Geheimnissen –

Vittoria Es gab eine Zeit, da du mich um dieser Dinge willen mehr liebtest. Du selbst verglichest mein Wesen mit einem festgeflochtenen Kranz. Ja, ich bin nicht dein Geschöpf, ich bin das Geschöpf des Lebens und beladen mit dem Abglanz überwundener Schmerzen; behängt mit dem Gold erstarrter Tränen, trat ich in dein Leben hinein. Denk daran, wie es anfing, Lorenzo. Hab' ich gelogen? versprach ich zuviel?

Lorenzo Ich denk daran, Vittoria. Dein Reden hat niemals etwas versprochen, dein Schweigen – auch nicht, dünkt mich. Es war nur dein Wesen, das Unaussprechliches versprach – und hielt, Vittoria, ja, o mehr als hielt! – – Ich war wohl nicht der unglücklichste Mensch auf der Welt, aber vielleicht der wenigst Glückliche – da fand ich dich. Welch ein Geschenk war das! Ich, der ich an einer Welt und ihrer Sonne nicht Lust gefunden hatte, lernte ein Öllämpchen lieben, weil es dich beleuchtete! Du warst die einzige Wirklichkeit in meinem Leben, die Veste, auf der ich meine Welt aufbaute – du, beladen mit Geheimnissen, du, das Geschöpf eines Lebens, von dem ich nichts wußte! Ich lernte dich zu sehr lieben, mit einer Liebe, die mein Wesen durchschütterte und in mir zuweilen Abgründe der Ermattung aufriß, wie ein ungeheurer Zorn!
Doch wenn in deinem Reden, deinem Schweigen
so wie in einem Nest und einem Abgrund,
wie Kröten, Lüge neben Lüge wohnt –
vom Anfang an, und immer – immer fort
– wie's möglich ist, entsetzlich möglich ist! –
was bleibt uns dann, Vittoria, daß wir beide
fortleben können? sag, was bleibt Vittoria?

Vittoria (In ihrem Gesicht scheint ein Entschluß mit Heftigkeit zu arbeiten. Sie geht zum Tisch und läutet mit einer kleinen Glocke)

Lorenzo Was willst du tun?

Vittoria Das Einzige, was dich ruhig machen kann! Ich wollte es vermeiden, um jeden Preis vermeiden! Aber jetzt muß es sein. Wir müssen zu ihm gehn. Du mußt dabei sein, wenn ich ihn wiedersehe und wenn er mich wiedersieht. Dann wirst du mir vielleicht glauben können. Oder er muß hierher kommen. (Läutet nochmals)

Lorenzo (erregt) Vittoria, was du willst, das ist schon geschehn. Er wird herkommen.

Vittoria (tonlos) Er wird herkommen!

Lorenzo Ich habe das getan, was du tun willst.

Vittoria Du hast es getan, du hast es schon getan! (zu dem Diener, der an der Tür rechts vorne erscheint) Geh' wieder, es ist nicht mehr nötig. (Diener ab) Du hast ihn herbestellt – – um mich zu prüfen?

Lorenzo (mit bebender Stimme) Ich weiß es nicht – es kam so – es fügte sich so. Da du es aber nun so willst, Vittoria . . . . . Du selbst es willst – dann ist ja alles gut, Vittoria!

Kleine Pause.

Was macht dich jetzt traurig?

Vittoria (sehr ernst)
An eines nur hast du gar nicht gedacht.
Wenn er jetzt kommt, und sieht mich, und sieht den,
und nimmt ihn mir? Lorenzo, nimmt ihn mir!

Lorenzo Wie, kennt er denn sein Kind?

Vittoria (schüttelt den Kopf)

Lorenzo                                                   Erkennt er dich?

Vittoria Kann sein. Und dann? was dann, er ist der Vater
ich nicht die Mutter; welche Kraft hab ich,
die Schwester, wenn er sein Kind haben will?
(Sie richtet ihre Augen auf ihn)

Lorenzo (ganz verstört)
O weh mir, daß ich immer wehtun muß,
mir selbst und andern!

Vittoria (indem sie ihn mit den Händen leise berührt)
                                      Es ist besser so:
wenn du mir dann nur glauben kannst, mein Lieber,
und glauben, daß ich dein bin.

Lorenzo (schmerzlich)                     Mein! Doch wie?

Vittoria So völlig, als ich kann! Nun still, die kommen.

Lorenzo Sieh mich noch einmal an!

Vittoria                                             Da!
(Sie reicht ihm einen Blick wie einen Kuß)

Lorenzo                                                   Liebe! Liebe!

(Marfisa und Cesarino kommen plaudernd näher, Lorenzo geht ihnen entgegen)

Vittoria (in der Mitte allein, spricht sanft vor sich hin)
Ich kann nicht sehn, wie sein Gesicht so blaß ist
und so beladen mit verhaltnen Schmerzen.
(Indem sie weiter spricht, nimmt ihr Gesicht einen völlig veränderten Ausdruck von Aufmerksamkeit, beinahe von Strenge an)
Um seinetwillen lüg' ich bis ans Ende.
Nun bin ich Eine, die auf Dächern wandelt,
wo kein Vernünftiger den Fuß hinsetzt:
wer mich beim Namen anruft, bringt mich um.
Doch wenn der Andre ähnlich wär' mit dem,
so fiele dies Gebäude schnell zusammen!
Nun muß ich warten, ruhig, was auch kommt:
doch wenn ich Einen falsch berechnet hab',
so grub ich meinem ganzen Glück sein Grab.
(Sie tritt ans Klavier und schlägt stehend ein paar Akkorde an)

Cesarino (zu ihr tretend)
Laßt mich doch nicht dabei sein, wenn ihr euch
mit diesem fürchterlichen Alten abgebt.

Lorenzo Wen meint er denn?

Vittoria                                   Den alten Passionei.
Der kommt dann her. Du siehst, auch ich hab' Gäste.

Cesarino Ich wollte grad' so gern mein offnes Grab
anschaun, als solch ein wandelnd Grauen. Ich denk' mir immer,
wenn ich ihn essen seh' und eine Beere
abfällt, bald fällt vielleicht der Finger mit!
Verzeih' mir's Gott, ich freu' mich manchesmal,
daß ich die Mutter nie gesehen hab'
Und nun nicht zusehn muß, wie sie zerfiele!
Du bist mir statt der Mutter und bist jung!
Laßt mich mit der . . .

Vittoria                             Nein, bleibt nur da, ihr beiden.

Cesarino Ich bleib' nicht da und will,
daß sie mit mir geht. Und willst du es wehren,
so schrei' ich so, daß der dort an der Decke
vor Schrecken den gemalten Blumenkranz
aus den gemalten Händen fallen läßt!

Vittoria Marfisa, bitte, geh: vor meinem Spiegel
sind aufgeschlagne Noten, bring' mir die.

(Marfisa geht links ab, Lorenzo in den Hintergrund)

Vittoria (küßt Cesarino heftig auf die Stirn)

Cesarino Was hast du, Schwester? Du bist nicht wie sonst!
nein, lüg' nicht, du hast eine Angst in dir!
Was ist es, Schwester, liebe Schwester, was?

Vittoria Geh zur Marfisa, gib nicht acht auf mich!

Cesarino Nicht von der Stelle, eh' du anders bist,
du! du!

Vittoria       Nein, geh, mein Kind. Du bist doch da,
du und mein Mann. Wovor sollt' ich mich fürchten?

Cesarino Ich weiß nicht, was es ist, allein ich fühl',
es ist etwas. Du bist nichts als ein Schwindeln,
in einen dünnen Schleier eingewickelt.

Vittoria Mein Freund, das ist nur, was wir alle sind.
Merk' auf, ich geh' den Gästen jetzt entgegen,
und später sing' ich was von der Musik,
die er geschrieben.

Cesarino                       Wer?

Vittoria                                   Der Passionei,
der alte Mann, vor dem es dir so graut.

Cesarino Merk' auf, er weiß nicht, daß die Melodien
von ihm sind und schläft ein, indes du singst.

Vittoria (nickt ihm zu, gebt nach rückwärts)

Cesarino (steht rechts, sieht ihr nach)
Sie geht nicht so wie sonst. Ich bin nicht ruhig,
eh' ich sie singen hör'. Doch fürcht' ich sehr,
sie singt heut nicht. O weh, was sind mir nun
die Lippen der Marfisa! Liebe Schwester,
die schwächste Angst um dich haucht auf die Welt
und macht sie trüb' wie angelaufne Klingen!

(Marfisa kommt von links, legt die Noten aufs Klavier, geht zu Cesarino nach rechts)

Lorenzo (tritt von links rückwärts wieder herein, winkt Vittoria zu sich und führt sie an der linken Seite der Bühne einige Schritte nach vorne)
Vittoria, noch ein Wort!

Vittoria (tritt zu ihm)

Lorenzo (spricht hastig)
Wenn er sein Kind nicht kennt – und dich, wie's sein kann –
auch nicht erkennt – so bitt' ich: sag' ihm nichts !

Vittoria (sieht ihn groß an)
Wie?

Lorenzo   Denn nun hab' ich Kraft, dir so zu glauben!

Vittoria (sanft)
Wie du es willst, wie du es wirklich willst.

Lorenzo (hastig)
Ich will, daß du für Cesarino nicht
zu fürchten hast – um meiner Schwäche willen!

Vittoria (schnell)
O schmäh dich nicht!

Lorenzo                           Sei still, die Gäste kommen.

(Sie wenden sich nach rückwärts.)

Rückwärts, als wie aus Gondeln und über Stufen heraufsteigend, die Folgenden, von Lorenzo und Vittoria begrüßt: der Abbate, der alte Komponist, geführt von seiner alten Dienerin und der Redegonda. Hinter diesen Salaino, der deutsche Graf und drei Musiker mit ihren Instrumenten

Der Abbate (indem er sich vor Vittoria auf ein Knie niederläßt)
O schönste Eurydike! die mit Orpheus
die Rollen tauscht, und sie ruft ihn zurück
und führt ihn aufwärts aus dem Reich der Schatten!

(Die Dienerin nimmt dem Alten den großen Mantel von den Schultern und eine große Halsbinde vom Hals)

Vittoria Wen meint ihr, Gamba?

Abbate                                         Euch und diesen hier!

Vittoria (sieht Passionei an)
Solch eine Kraft hat Zeit, und ist doch nichts,
schlägt nicht auf uns, gießt uns kein Gift ins Ohr
und solche Wirkung!

(Der Alte flüstert mit seiner Dienerin.)

Vittoria Ich bitt' euch, Freunde, wißt ihr, was er will?

Redegonda Er fürchtet sich vor jeder kühlen Luft.

Vittoria So führt ihn hierher, hier ist er geschützt.
(Indem alle nach vorne gehen.)
Mit solchem Schauspiel kürzt das Leben uns
die Zeit, da wir nun einmal seine Gäste.
Lebendige läßt es wie die Sodomsäpfel
vor uns zu Staub zerfallen, schneller als
ihr blühend Bild in unserm Aug' erlischt,
Verschwundne schickt's zurück, erweckt die Züge
Vergessener im ahnungslosen Antlitz
von Kindern, legt es auf Verwirrung an,
schickt Jedem Doppelgänger übern Weg,
und läßt die Samen aufgehn, wann es will!

(Sie setzen den Alten in einen Lehnstuhl vor dem großen Tisch. Die Dienerin bleibt neben ihm. Er flüstert mit ihr.)

Lorenzo Was will er nun, ich bitt' euch, Freunde, seht!

Der Graf Nun ängstigt ihn die Sonne.

Vittoria                                                 Auch die Sonne!
Auch vor der Sonne hat er Furcht! So arm –

Es wird an einem der rückwärtigen Fenster ein grüner Vorhang herabgelassen.

Salaino setzt sich ans Klavier, die Musiker halten ihre Instrumente bereit: Violine, Cello und Flöte. Vittoria geht, nachdem sie dem Alten einen Polster gegeben, nach links, nimmt ihre Noten in die Hand. Sie stimmen.

Vittoria Dies ist ein Mensch, von dem einst Freude ausging
und hier, wo jetzt der öde Trübsinn brütet
und zweite Kindlichkeit, das grauenvolle
Gespenst der ersten, hier saß einst Musik,
so süß, wie in der Brust von jungen Lerchen,
die überladen mit Triumph aufsteigen
und manchmal tot vor Lust zur Erde fallen.
Er selbst sitzt nun nicht hier, nur seine Hülse:
sein bessres Teil schläft da und da und da!
(Sie zeigt auf die Instrumente)
Das Leben spinnt das Beste unsrer Seele
aus uns hinaus und spinnt es still hinüber
auf andere unschuldig're Geschöpfe
wie Bäume, Blumen, solche Instrumente,
in denen lebt es dann und altert nicht.
Wahrhaftig, wo wir lieben, schaffen wir
solch eine unsichtbare Zauberinsel,
die schwebt, mit selig unbeschwerten Gärten,
schwebenden Abgründen: die gleitet dann
im Traum des Abends einmal spät vielleicht
in goldner Luft hin über unserm Haupt,
und wenn die Augen sie noch matt erkennen,
die Hände heben wir umsonst empor!
So lassen wir vor diesem alten Mann
sein ihm entwandtes Reich nach oben fluten,
vielleicht, daß er noch drüber weinen kann
und schmelzen bei des eignen Feuers Gluten!

Sie fangen an zu spielen, Salaino am Klavier, Vittoria zählt die Takte, bis die Singstimme einsetzt. Rückwärts rechts tragen Diener verdeckte Silberschüsseln auf. Der Alte dreht sich nach ihnen um. Die Dienerin will ihn abhalten. Der Alte schlägt nach ihr und scheint stärker nach einer der Schüsseln zu verlangen. Vittoria legt ihre Noten aus der Hand, geht zu dem Alten hinüber. Die Musiker halten inne.

Vittoria Schaut: er will von den Speisen! Davon? nein?
doch davon? Das ist süß. So nimm von dem.

(Sie haben ihm von der süßen Speise gegeben, er ißt gierig)

Vittoria (sich von ihm abwendend)
Sieh mich nicht dankbar an, das ist zu bitter,
daß du für dieses dankst und nicht für jenes.
(Geht wieder zu den Musikern hinüber)
So laßt ihn denn, und spielen wir's für uns!
Denn wirklich: was einst Feuer war in ihm,
ist Feuer nun in uns und diesen Geigen:
als er noch jung war, gab ihm das ein Gott:
er horchte auf den leisen, süßen Laut,
mit dem das Blut in den entblößten Adern
des Lebens läuft und fing den Klang davon
in seinem Ohr und hauchte ihn in Flöten:
wir haben die Musik, die er erschuf,
nun ist sein Atem nimmermehr vonnöten!

Sie fangen wieder an, das gleiche Musikstück zu spielen. Indessen führt ein Diener durch die Türe rechts vorne den Baron herein. Dieser winkt dem Diener, nicht zu stören und bleibt abseits stehen. Vittoria bemerkt ihn und senkt mit ruhigem Lächeln ihr Notenblatt. Die Musik hält inne.

Vittoria (sehr gelassen zu Lorenzo, der dem Eintretenden den Rücken kehrt)
Lorenzo, du hast einen Gast gar nicht gesehn.

Lorenzo (wendet sich, begrüßt den Baron)
Ah, Weidenstamm! ich freue mich von Herzen!
(Leise)
Nichts, wenn ich bitten darf, von heute Nacht:
das ist vorbei und nicht mehr wahr, wie Träume!
(Er wendet sich zu Vittoria, führt sie an der Hand einen Schritt vor)
Vittoria! – Baron Weidenstamm aus Holland!

Vittoria (zum Baron, lächelnd, kühl)
Und mir nicht völlig fremd, wenn ich nicht irre.

Lorenzo (rechts zur Seite tretend, für sich)
So grüßt sie nicht, wenn der geheime Inhalt
all ihrer Träume aus dem Nichts hervor
auf einmal spränge. Ah, sie grüßt ihn so,
als wär' es Einer, den sie gestern abend
noch sah und sprach. O ja, nun kann ich atmen.

Vittoria scheint durch eine Bewegung den Baron auf ihre Gäste hinzuweisen. Der Baron tritt auf Marfisa zu, die mit dem Abbate und Cesarino rechts steht. Cesarino und der Abbate treten zur Seite. Vittoria sieht unverwandt auf den Baron, dessen Blick nur einmal flüchtig über Cesarino hinstreift. Rechts ganz vorne steht Lorenzo und beobachtet auch die Gruppe mit Aufmerksamkeit. Plötzlich fährt er mit der Hand wie unwillkürlich nach der Dose, die er zu sich gesteckt hat. Er besinnt sich sogleich, tritt zu Vittoria und spricht.

Lorenzo (hastig)
Du mußt ihm alles sagen. Cesarino
steht dort, als atmete dasselbe Bild,
das hier auf meiner Dose – ja, mich dünkt,
er muß es jetzt schon wissen.

Vittoria (leise)                               Wie du willst.

Lorenzo (ebenso)
Wir müssen, Liebe, Mut!

Vittoria                                   Wenn du denn willst!

Der Baron verbeugt sich lächelnd vor Marfisa und tritt wieder zu Vittoria vor.

Vittoria winkt Cesarino zu sich. Marfisa und der Abbate gehen zu den Musikern hinüber, die ihre Instrumente bei Seite gelegt haben.

Vittoria (Cesarino dem Baron vorstellend)
Dies ist mein Bruder und zu sehr mein Stolz.
Die Sonne von Neapel war das Erste,
zu dem er »Kukuk« sagte, wenn sie abends
im Meer versank, und später wollt' er sie
anrühren, weil er sie für einen Ball
von Gold hielt, und seither ist er verliebt –
ich glaub', seitdem – in Gold und Edelsteine
wie eine Elster, und ich fürcht', das macht:
er hat ein zu begierig Aug' für Schönheit.
Das Lesen und das Schreiben lehrten ihn
die guten Väter auf dem heiligen Berg,
der die Karthause von Siena trägt;
ich glaube, wenn er lachte, waren sie
so froh, als wäre ihrem Klosterschatz
ein Stück vom heiligen Rock zuteil geworden,
und aus dem Holz ehrwürdiger Zypressen
auf ihren Ruhestätten schnitzten sie
ihm eine Armbrust und auch gleich den Vogel,
da der von Gott geschaffne nicht so still hielt.
Ich schwätz' zu viel. Es haben ihn fünf Städte
und eine Schwester, die nichts kann als singen,
so schlecht erzogen, daß er voll der Fehler
der Jugend steckt, und leider voll des Zaubers,
der für zu günstige Augen sie verhüllt.
Je mehr ich von ihm rede, merk' ich, kommt
nicht er, nur meine Torheit an den Tag.
Geh' zu den Andern, geh' zu der Marfisa.

(Cesarino tritt zu der Gruppe beim Klavier)

Vittoria Er meint, daß ihm die Welt gehört. Wenn er
zu Wagen oder Schiff in einer Stadt
ankommt, so rollt er seinen Blick umher,
ganz wie der Söldnerführer, der die Stadt
erobert hat und die Brandschatzung abhält
und mit den Augen, stärker als Magnete,
versteckte Frauen und vergrabne Schätze
aus allen Winkeln an sich ziehen will.

Während dieser Erzählung suchen Vittorias Augen den Blick des Barons, und sie scheint mit dem Blick ihm mehr sagen zu wollen, als ihre Worte sagen. Der Ablate steht aber nahe. Auch Lorenzo steht rechts vorne in ihrer Nähe.

Vittoria (fortfahrend)
Sein Reden, wenn er sah, was ihm gefällt,
ist wie Auflodern halberstickter Flammen.
Er ist noch halb ein Kind, und seine Zunge
ist wie der Speer des Halbgotts, dessen Spitze
die tiefsten Wunden schlug und wieder heilte.
Sein Blick dringt durch und durch, er sieht die nackt,
die sich verstellen, und ich fürchte, Scham
hält ihn nicht auf, doch weiß ich: Liebe kann's –

Cesarino (tritt wieder zu ihr)
Sprichst du ihm immer noch von mir, du Gute?

Vittoria Mein Bruder, sprich mit ihm, er stand sehr nah
zu deiner Mutter.

Cesarino                     Tatet ihr das, Herr?
Ich habe meine Mutter nie gekannt.
Sie sagen, »Mutter« ist das schönste Wort
im Leben, mit dem tiefsten süßen Klang
beladen, doch für mich ist »Schwester« dies.
Und wenn ich »Mutter« sag', so denk' ich Eine,
die mit dem einen Fuß im Grab, auf mich
aus fremden Augen schaut, und schaudre fast.

Baron Da tut ihr Unrecht.
(führt ihn plaudernd nach rückwärts)

Vittoria (allein stehen bleibend, da auch Lorenzo nach rückwärts gegangen, der Abbate zu der Gruppe am Klavier zurückgetreten ist)
                                  Schmäht er seine Mutter,
um mir zu schmeicheln? Und mich schmerzt's beinah!
So steh' ich selber mir im Licht und muß
zwiesäftige Früchte essen, deren Fleisch
halb süß, halb bitter schmeckt. Wie gleicht dies Träumen!

Lorenzo (zu ihr zurückkommend)
Vergißt du ganz den Alten?

Vittoria                                       Nein, mein Freund.
Verzeih', ich bin heut' nicht die beste Hausfrau!

Lorenzo Verzeih' mir du. Ich seh', du bist bewegt.

Vittoria Ja, ja, ich bin's. Bedenk', wie viel er mir
wegnehmen könnte, dieser Augenblick:
mein Schicksal tanzt auf eines Messers Schneide –
verstehst du mich?

Lorenzo                         O wohl.

Vittoria (indessen Lorenzo sich wegwendet und einem Diener etwas aufträgt; für sich)
                                              Das hoff' ich nicht!
(wieder zu Lorenzo)
Sei ohne Sorgen, ich vergesse nicht.
Wo ist der Alte? ich vergesse nicht.

Lorenzo Auch mich nicht ganz?

Vittoria                                       Heut weniger als je:
mir ist, ich seh' mein Leben durch und durch
und deine Liebe drinnen.

Lorenzo                                 Wie die Mücke
im Bernstein?

Vittoria                   Nein. So wie den Edelstein
im Bergkristall, der eine Heilkraft hat
und den verstümmelten Kristall von innen
nachwachsen macht, wie ein lebendiges Ding!

Lorenzo geht nach rückwärts, wo die Redegonda, die Dienerin und der Graf den Alten hereinführen.


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