Hans Hoffmann
Ostseemärchen
Hans Hoffmann

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Prinzessin Meinetwegen.

Es war einmal eine Königstochter, die war schön wie ein klarer Sommertag am Meere; sie hatte grosse, süsse, verträumte Augen, und wenn sie gähnte, schimmerten ihre Zähne so weiss wie der Wellenschaum. Sie gähnte aber sehr oft und schlief meist 68 sechzehn Stunden am Tage und träumte nachher noch eine gute Weile weiter.

Es war ihr alles gleichgültig, was mit ihr geschah; wenn man sie nach etwas fragte oder etwas von ihr wünschte, sagte sie »Meinetwegen« und that Alles, was man verlangte, wenn's nur nicht etwa beschwerlich war. Nur wenn sie ein neues Kleid bekam, verrieth sie einige Freude, aber sonst über gar nichts. Doch Kummer und Thränen kannte sie auch nicht; sie war immer wie im Traume.

Die Höflinge nannten sie mit heimlichem Spotte »Prinzessin Meinetwegen«; doch wenn sie auf ihrem Throne einschlief, was häufig geschah, bei Tische oder bei einem Tanzfest, und den rosigen Kopf über dem schneeweissen Halse lieblich zurückbeugte, da drängten sich alle bewundernd um sie her und konnten sich nicht satt sehen: denn so war sie am schönsten.

Dass sie so seltsam geworden, das war aber so gekommen, denn früher war sie ein so munteres Kind wie ein lustiger Springfisch: als sie vierzehn Jahr alt geworden, spielte sie eines Tages allein am 69 Strande und suchte sich Bernstein; da fand sie eine Muschel so gross und schön, wie sie noch nie eine gesehen hatte. Sie legte das Ohr daran und hörte ein Summen ganz leise und lieblich; und je länger sie lauschte, desto lauter ward das Summen und glich immer mehr einem seltsam süssen Singen, ganz deutlich zu vernehmen und doch wie aus weiter, unendlicher Ferne.

Das machte, diese Muschel gehörte den Meerfrauen und hatte deren holdselige Gesänge aufgefangen in ihrer Höhlung und tönte sie so wieder. Seit das Kind diese Töne vernommen hatte, blieb es so träumerisch.

Als sie nun gross war, kamen unzählige Prinzen aus allen fernen Landen an den Hof ihres Vaters und warben um ihre Hand; und allemal wenn ihre Eltern heimlich bei ihr anfragten, ob sie den und den nehmen wollte, antwortete sie verschlafen: »Ja meinetwegen, wenn er mich sonst nur in Ruhe lässt.« Die aber meinten dann beide, es sei doch wohl noch nicht der Rechte und gaben ihm einen Korb in allen Ehren und in aller Freundschaft.

Zuletzt aber, als das Prinzesschen immer 70 und immer bei ihrem Meinetwegen blieb, bekamen sie's doch satt, und der König sprach zornig: »Gut, neunundneunzig Prinzen magst du so abspeisen, aber den hundertsten bekommst Du wirklich, gleichviel ob er Dir von Herzen oder auch nur so meinetwegen gefällt.«

»Meinetwegen,« sagte sie freundlich und nickte theils zur Bestätigung, theils schon im Schlummer.

Es fügte sich aber, dass dieser Hundertste grade ein Prinz war, der sich's auch gern bequem machte und nicht allzu hitzigen Blutes; er schlief vierzehn Stunden des Tages. »Das trifft sich günstig, die werden einander das Leben leicht machen,« sprach der König zufrieden und reichte ihm die Hand. Und »Meinetwegen« nickte die Prinzessin und war nun seine Braut.

Als es nun ans Heirathen gehen sollte, musste sie sich mit dem Bräutigam einschiffen und über das Meer fahren; denn die Hochzeit wollte er erst halten in seinem eigenen Reiche.

Auf dem Schiffe war für sie eine prächtige Hängematte angebracht aus purpurner Seide; 71 in der lag sie den Tag über in köstlicher Ruhe, von einem leichten Seewind gefächelt und von sanften Wellen geschaukelt; ein so anmuthiges Lager hatte sie noch niemals besessen. Ihr Prinz aber sass neben ihr in einem Grossvaterstuhl und bewunderte sie. Und wenn er sie fragte, ob er ihre Hand küssen dürfe, sagte sie »Meinetwegen.« Freilich ehe er damit zu Stande kam, war sie meist schon wieder eingeschlafen. Da blieb ihm nichts übrig, als sie stumm weiter zu bewundern, bis er selbst darüber einschlief.

Doch nach etlichen Tagen verwandelte sich das Wetter. Schwarze Wolken stiegen herauf, und ein erschrecklicher Sturmwind fuhr über das Wasser. Immer höher wälzten sich die Wogen mit Zischen und Heulen und leckten an den Wänden des Schiffes hinauf, als schnappten sie gierig nach einer Beute. Und das Schiff bäumte sich und warf sich auf den Wellen umher wie in wahnsinnigen Angstsprüngen.

Das Schiffsvolk lief unruhig auf Deck hin und her und arbeitete mit furchtbarer Anstrengung an den Pumpen. Der Capitän 72 machte sorgenvolle Augen, und der Prinz versuchte seine Braut zu beruhigen und zu trösten. Sie aber lag noch ziemlich vergnügt in ihrer Hängematte, öffnete nur blinzelnd ein klein wenig die Lider und sprach mit müder Stimme: »Es schaukelt jetzt aber doch reichlich stark.«

Das dauerte so einige Stunden: da gab es auf einmal einen schweren Krach, das Schiff erzitterte in allen seinen Planken, und wer auf den Füssen stand, stürzte jählings zu Boden. Nur die Prinzessin blieb hängen in ihrer Matte und fragte erwachend: »Was ist das gewesen? Es hat etwas geknackt.«

Als Antwort erscholl von allen Seiten ein klägliches Geschrei wie aus einem Munde: »Wir sitzen auf einem Riff! Wir sind alle verloren.«

Der Capitän trat mit bleichem Antlitz zu ihr heran und sagte trostlos: »Gnädigste Prinzessin, thut Euer Gebet. Es giebt keine Rettung mehr.«

»Ach, das ist aber schade,« erwiderte sie, »da lohnt es sich wohl garnicht, aus der Hängematte zu steigen.«

73 Kaum hatte sie ausgeredet, so barst das Schiff auseinander, und Alles, was lebend war, versank nach kurzem Ringen und Zappeln in die schwarze Tiefe. Die Königstochter allein blieb oben: sie fiel aus der Matte gemächlich ins Wasser, und weil sie auch jetzt noch ganz ruhig lag, ward sie von den Wogen gehoben und getragen und kam nicht zum Sinken. Ja, so gross war ihre Ruhe, dass bald auch die Wellen rings in ihrer Nähe sich glätteten, wie wenn man Oel darauf giesst, und nur leise noch wallten. Und als sie einmal gähnte, erscholl ein Ton in der Runde, als ob hundert Geschöpfe gleichfalls laut gähnten: und das konnte Niemand gewesen sein, als die Wellen selber; denn die Fische sind stumm. Auch wurde es nun noch viel stiller ringsum, selbst der Wind vergass zu blasen und schnob nur noch ein paarmal, als ob er gern gähnen möchte und nicht recht könnte; und dann verstummte er ganz.

So lag eine herrliche Stille auf den weiten Wassern; in süsser Müdigkeit hingen die lauen Lüfte darüber.

So ward die Prinzessin immer weiter 74 getragen und meinte im Stillen, so wunderweich gebettet sei sie wohl noch niemals gewesen, und sie hätte gern immer so liegen bleiben mögen. Und es schien ihr an der Zeit, auf den Schreck nun ein richtiges Schläfchen zu machen.

Als sie ganz eingeschlummert war, floss sie an einer Sandbank vorüber; darauf sass ein junger Meermann und kämmte sich mit einem Haifischgebiss die Muscheln aus dem Barte. Der sah die holdselige Schläferin, wie die blonden Haare sich weit um ihr Haupt breiteten gleich einem schimmernden Strahlenkranz; er merkte auch alsbald, dass sie schlief und nicht todt war, that vor Entzücken mit der breiten Tatze einen Platsch ins Wasser, dass es mächtig spritzte, und rief voll Freude: »Ei, Du allerliebstes Püppchen, so ein hübsches Spielzeug wie Du bist, haben wir lange nicht gehabt. Da muss man dafür sorgen, dass Du so bald nicht wieder aufwachst und uns durch die Maschen schlüpfst. Wart', wir wollen Dich schon festlegen.«

Er that einen Pfiff, und allsogleich tauchte ein Häuflein Meermädchen mit den 75 Köpfen aus dem Wasser und fragte neugierig, was der Herr befehle.

»Ihr sollt ein Schlummerlied singen,« erklärte er schnell, »aber so ein ganz gediegenes, das solchem Erdenwürmchen hurtig ins Herz dringt, dass es überhaupt nicht wieder aufwacht, wenn nicht etwa ein Gegenzauber stark genug ist. Seht es euch nur an, das reizende Thierchen; das lohnt sich doch wohl der Mühe. Was soll so etwas auf dem plumpen Lande?«

Da sammelten sich die Nixchen und begannen ein Lied anzustimmen so zart und lieblich, wie es für Menschenohren nicht einmal die Wellen singen, wenn sie am Sommerabend schlaftrunken an den Strand fallen. Und sie sangen allgemach immer zarter noch und leiser, weil sie von der Süssigkeit ihres Gesanges eine nach der andern selbst in den Schlaf fielen. Nur der Nixenmeister blieb wach; freilich schläferte es auch ihn: doch die Schönheit des Menschenbildes liess ihn nicht zur Ruhe kommen; er schwamm immer darum her und bewunderte es.

So schwebte denn die Königstochter den ganzen Sommer hindurch in ihrem 76 Zauberschlaf auf dem Wasser, und die Nixen behüteten sie sorgsam, dass sie kein Wasser schluckte und auch sonst keinen Schaden nahm.

Und weil ihre Kleider mit der Zeit vom Wasser verdorben wurden, woben sie ihr ein neues aus schimmernder grüner Seide und zogen ihr das an, ein herrliches Schleppkleid, und darüber spannen sie einen wallenden Spitzenschleier, der so zart und fein war, dass er von jedem Lüftchen sich blähte und aufsprühte wie lockerer Wellenschaum, nach dessen Muster sie ihn gemacht hatten. Und sie besetzten das Kleid mit bunten Muscheln und Bernsteinstückchen, und mit ähnlichem Zierrath durchflochten sie ihr das Haupthaar. Und als sie das vollbracht hatten, sahen sie mit Vergnügen, wie ein sonniges Lächeln die Züge der also Geschmückten überflog, als ob sie sich freute mitten in ihrem Schlummer.

Der Meermann selbst aber kämmte sie täglich; das wollte er sich nicht nehmen lassen. So hatten sie alle erst recht ihre Freude an dem reizenden Spielzeug.

Es geschah aber gegen den Herbst, dass 77 ein junger Seekönig auszog mit seiner Flotte, sich ein Reich zu erobern, denn er hatte noch keins und brauchte es doch so sehr nöthig für den Winter. Und wie er durch das Meer zog und so hinspähte über die Wellen, da ward er des schönen Menschenbildes gewahr, das so seltsam daherschwamm. Anfangs glaubte er wohl eher, das sei eine Ertrunkene, doch mit seinen scharfen Raubkönigsaugen bemerkte er bald die süsse Röthe ihrer Wangen und des zarten Busens athmende Regung. Den Nixenmeister und seine guten Mädchen hingegen entdeckte er nicht; denn die kann man nur sehen, wenn sie es selbst wollen.

Die Seeleute setzten nun ein Boot aus, um die Jungfrau zu bergen. Der Nix machte ein schreckliches Rumoren im Wasser, dass es aussah, als wenn es kochte, und die Leute wurden scheu, denn sie witterten etwas Verfängliches. Einzig der junge König liess sich doch nicht abschrecken, sondern griff heldenmässig zu und hob die Holde mit seinen eigenen starken Armen frisch in das Boot und weiter auf sein Staatsschiff. Die Nixen im Wasser sangen 78 ein Klagelied über ihren Verlust; doch darum kümmerte er sich nicht und hörte es wohl auch kaum in seinem feurigen Eifer.

Er legte die Jungfrau auf ein weiches Lager und versuchte sie zu wecken durch Zurufen, Rütteln und Reiben; doch bald musste er erkennen, dass sie viel zu fest schlief: nur dass sie nicht todt war, spürte er an ihrer Wärme. Da schüttelte er den Kopf und wusste sich's nicht zu deuten; doch ahnte er einen Zauber.

»Gut,« sprach er, »so will ich zuerst mir mein Reich erobern: dort finde ich gewisslich Aerzte oder Zauberer, die sie erlösen. Und dann soll sie meine Königin werden auf dem neuen Thron, denn so etwas Schönes wie sie gibt's ja gar nicht wieder.«

Also liess er sie schlafen und fuhr auf das nächste Königreich zu und eroberte das durch eine herrliche Seeschlacht, in der er die Feinde gänzlich aufs Haupt schlug. Und nachdem er dann das Land in Besitz genommen hatte, liess er die Schläferin auf sein Königsschloss tragen und köstlich aufbetten unter Rosen und Wohlgerüchen.

79 Darauf liess er zuerst seine Schlachtmusik in dem Saale sich sammeln und feurig drauf los schmettern. Damit hoffte er sie zu erwecken, denn diese Leute verstanden Posaunen, Pauken und Trommeln über die Massen trefflich zu spielen und hatten mit ihren Tönen schon einmal in einer Schlacht den Feind ohne Schwertstreich in die Flucht getrieben. Und jetzt paukten und bliesen sie noch etwas besser, weil der Anblick der Schönsten auch ihre armen Musikantenseelen kräftig befeuerte.

Bei diesen Tönen geschah es, dass auf dem nahen Friedhof die Todten aus ihren Gräbern stiegen, mit klappernden Gebeinen herbeiliefen und fragten, was es gebe. Und die Fische im Schlossteich kehrten ihre Bäuche nach oben und waren todt, und auch im Walde fand man nachher so manches Häschen verendet. Allein die Jungfrau erwachte nicht; sie zuckte nicht einmal mit den langen Wimpern.

Drauf kamen zahllose Aerzte und Zauberer und versuchten ihre Kunst: aber sie schlief nur noch fester.

Nun wurde der junge König von Herzen 80 betrübt und sass Tage lang seufzend neben ihrem Lager, und je länger er sie ansah, nur desto betrübter.

Zuletzt kamen ihm sogar die Thränen; und weil sich dies für einen Seekönig nicht schickt, ging er schnell an den Strand in die einsamen Dünen, wo kaum ein Gras wächst, und weinte in der Stille.

Da sah er auf einmal im dürren Sande ein Wühlen und Strudeln von innen heraus, und es bildete sich ein Trichter, und aus dem Loche streckte sich ein winziger Menschenkopf heraus mit langem, fahlem Barte und sagte wispernd: »Wenn du mir nichts thust, will ich Dir etwas sagen.«

»Warum sollte ich Dir etwas thun?« versetzte der König, »Du bist ja so klein.«

»Du bist ein guter Kerl,« sprach freundlich der Zwerg und kroch etwas weiter aus seinem Sandloche heraus, »und ich weiss wohl, was Dir das Herz abdrückt, und ich könnte Dir auch sagen, wie Du die schöne Prinzessin aus dem Zauberschlaf wecken kannst.«

»Das wäre!« rief der König mit Freuden aufhorchend, »so sprich es nur schnell aus, 81 und an meinem Danke soll Dir's nicht fehlen.«

»Du lieber Gott,« sprach grinsend der Kleine, »auf Lohn bin ich nicht aus, denn von all dem, was ihr Schätze und Reichthümer nennt, habe ich übergenug im Innern meiner Düne. Aber eins möchte ich einmal geniessen, was ich noch nicht kenne: ich habe noch niemals auf einem Throne gesessen. Ich habe mir sagen lassen, dass auf einem Throne die kleinsten Wichte ganz gross aussehen; und das muss doch zu schön sein. Ich habe mich immer meiner Winzigkeit geschämt, und dass ich im Aeussern so wenig vorstelle. Also versprich mir nur dies, dass ich bei deiner Hochzeit ein Stündchen auf dem Throne sitzen darf; ich bin zu neugierig, wie ich mich da ausnehme.«

»Höchst stattlich ohne Zweifel und sogar grossartig,« bemerkte der König, »wie Jeder auf einem Throne. Da hast Du richtig gehört; man braucht nur die Höflinge zu fragen, die beschwören es alle. Also hier meine Hand darauf! Aber nun rede auch endlich.«

»Die schöne Prinzessin,« so berichtete 82 der Zwerg, »fühlt sich nämlich so wohl in dem träumenden Zauberschlaf, dass sie um alles nicht aufwachen mag. Denn sie schläft ja nicht so, dass sie ohne Besinnung wäre, sondern nur etwa so, wie eine Frau ohnmächtig ist, wenn ihr Mann ihr einen Wunsch versagt oder wenn ein Anderer sie küssen will: das will sagen, sie hört in ihrem Traume sehr deutlich Alles, was um sie her gesprochen wird, und merkt auch genau, was sonst mit ihr vorgeht. Das mache Dir zu Nutze; es kommt darauf an, ein Wort zu sprechen, das ihr ganz tief ans Herz greift; dann wird sie schon aufwachen. Ist sie aber erst einmal wach, so kann es einem Manne, wie Du bist, nicht schwer fallen, sie auch wach zu erhalten. Das ist mein Rath. Befolge ihn mit Klugheit, und er wird sich bewähren.«

Da dankte der junge König und kehrte voll neuer Hoffnung auf sein Schloss zurück. Hier überlegte er sorgsam, was er wohl sagen und thun müsse, dass es der Holdseligen recht mächtig ans Herz greife. Endlich fand er die Auskunft: »Ich will so zu ihr reden, wie mir selber ums Herz ist.«

83 So trat er an das Lager, wo sie in ihrem schimmernden Nixenkleide unter den Rosen und Wohlgerüchen ruhte, und hub an, ihr in den feurigsten Worten von seiner Liebe zu sprechen, und dass er's schon garnicht mehr aushalte vor Sehnsucht, sie wachend und blickend in seinen Armen zu halten.

Sie wachte nicht auf und rührte sich auch nicht; jedoch eine feine Röthe entzündete sich heimlich auf ihren Wangen, und einmal glaubte er flüchtig zu sehen, dass auch ihre Augenlider ein klein wenig zwinkerten.

Das mochte zwar ein Irrthum sein; ihn aber ergriff ein so hitziger Jubel, dass er sich schnell über sie neigte und einen Kuss auf ihre Lippen drückte, und damit meinte er sie gewisslich zu wecken, wie das vor Zeiten mit Dornröschen geschehen war.

Jedennoch war's hier anders: ein sehr zartes Lächeln zwar spielte um ihre Lippen, und die schwellten sich ein wenig, und ein weicher Schauer ging über all ihren Leib; aber das war auch Alles; von einem weiteren Erwachen war nichts zu entdecken. Auch als er den Versuch noch sehr oft 84 wiederholte, blieb Alles beim Alten und geschah nichts darüber.

Da ging er zu seiner Mutter und klagte der sein Leid und sprach voll Trauer: Was kann an ihr Herz greifen, wenn es die Liebe nicht thut? Denn dass ich ihr nicht zuwider bin, kann ich doch immerhin erkennen.«

Die Königinmutter rückte an ihrer Brille und überlegte ein Weilchen. Und endlich sprach sie: »Lass mich nur machen; ich denke, ich zwinge es. Wir wollen vor ihren Ohren so reden, als seiest Du es müde, auf ihr Erwachen zu harren, und wollest eine andere Prinzessin heimführen. Gieb Acht, das wird sie packen; die Eifersucht macht Todte lebendig und Lebende todt; die wird auch den Zauber brechen. Und damit ihr die Sache recht leibhaft auch vor Augen stehe, wollen wir mein Kammerkätzchen mitnehmen und wollen so thun, als sei das die neue Prinzessin, und Du musst ihr einen Kuss geben, so sauer Dir das auch werden mag, weil es eigentlich nicht standesgemäss ist. Sie ist zum Glück übrigens sehr niedlich: das wird die 85 Eifersucht stärken und Dir das schwere Werk erleichtern.«

Dieser Rath schien ihm sehr weise, und er setzte ihn genau so, wie sie gesagt hatte, ins Werk. Als er nun das hübsche Kammerkätzchen küsste mit einem recht hörbaren Schmatz und dabei aufmerksam seitwärts nach der geliebten Schläferin schielte, die er in Wahrheit noch viel lieber geküsst hätte: da sah er ganz deutlich, wie all ihre Glieder zuckten und ruckten und auch ihre Mienen sich seltsam verzogen; und die Königinmutter sah das auch durch ihre Brille, so dass hieran kein Zweifel war.

Allein dabei blieb es, und sie kam nicht zum Erwachen.

Da deckte der junge König beide Hände über die Augen und weinte ganz bitterlich, denn jetzt hatte er keine Hoffnung mehr. Und er schämte sich obendrein, dass er die Kammerkatze geküsst hatte. Auch die Königinmutter zuckte verdriesslich die Achseln. »Die muss Fischblut haben, da ist nichts zu machen,« sprach sie verwundert und niedergeschlagen.

Indem trat aber das Kätzchen an den 86 König heran und sagte demüthig: »Es war mir eine grosse Ehre und Freude, von des Königs Majestät geküsst zu werden; dafür will ich mich doch dankbar zeigen. Ich habe noch eine Hoffnung, die Prinzessin zu erwecken. Darf ich mein Mittel versuchen?«

»Thu immer, was Du willst, nur thu ihr kein Leides,« gab er zur Antwort mit sehr geringem Vertrauen, nur wie ein Ertrinkender nach einem Strohhälmchen greift.

Da trat sie an die Schlummernde, besah und befühlte eine Zeit lang ihr Kleid und ihren Schleier mit prüfendem Kennerblick und sagte dann gelassen: »Sehr modern sind die Sachen nicht mehr. Auch die Frisur ist etwas altfränkisch.«

Kaum war dies ausgesprochen, so ging ein Bäumen und Heben durch die zarte Gestalt, und ein vernehmlicher Seufzer entquoll ihrem Munde. Das war der erste Laut, den man von ihr noch gehört hatte.

Das Kammerkätzchen aber war indessen hurtig zur Thür hinausgesprungen; draussen zog sie nun kräftig an der Klingelschnur, und nach kurzem Warten klopfte sie an 87 die Zimmerthür, öffnete die mit einem mässigen Spalt und rief laut in die Halle: »Gnädigste Prinzessin, die Schneiderin ist da.«

Und siehe die Allerschönste riss unverzüglich die Augen weit auf, sprang von dem Lager und stand hoch und herrlich.

Und »Meinetwegen soll sie hereinkommen,« rief sie hastig zurück.

Doch da hatte der König sie schon ergriffen und umfangen und küsste sie mit aller Inbrunst, ehe sie sich wehren konnte: aber das wollte sie auch gar nicht. Und er nahm sie und hub an mit ihr hastig durch den Saal zu tanzen, dass sie nicht wieder einschlafen könnte; und das Kätzchen sah das von draussen durch den Thürspalt und zog an der Klingelschnur, dass dies Läuten ihnen den Takt gab, solange bis die Königinmutter hinlief und die richtige Musik holte.

Und jetzt spielte diese die herrlichsten Weisen auf, und das schöne junge Paar tanzte eine Stunde um die andere, immer Walzer und Galopp mit kräftigem Stampfen. Davon ward aber die Braut immer munterer und fröhlicher, und als er sie fragte, ob sie auch nicht etwa müde wäre, antwortete sie 88 lachend: »Meinetwegen können wir weiter tanzen.«

Und als er ihr zum Dank dafür einen Kuss gab und fragte, ob sie darüber bös wäre, schüttelte sie den Kopf und flüsterte schelmisch: »Meinetwegen können wir weiter –«

Weiter kam sie aber nicht, denn er küsste sie schon wieder. Und sie war so wach und that ihm desgleichen.

Von da an blieb sie so leichtfüssig und aufgeweckt, wie sie als kleines Kind gewesen war, ehe sie das Singen der Muschel gehört hatte. Und so blieb es bis zum Tage der Hochzeit: und nachher erst recht. Manchmal sprang sie gar Nachts aus dem Bette und tanzte ein wenig in der Stube herum vor lauter Vergnügen, dass sie schon wieder wach war: so gut gefiel ihr dieser Zustand.

Das Kammerkätzchen bekam zum Lohn seiner Klugheit einen jungen Prinzen aus einer mässig verarmten Nebenlinie zum Gemahl.

Und der weise Sandzwerg sass bei den beiden Hochzeiten stolz auf dem Throne. 89 Und er legte den Finger nachdenklich an die Nase und sprach zu sich selber: »Es hat wirklich seine Richtigkeit. Und das Sonderbarste ist, dass ich mir selbst hier so gross vorkomme wie ein Menschenkönig aus altem Geschlecht; von den Bücklingen 90 dieser Hofschranzen schon garnicht zu reden. Wer weiss? Wer weiss? Vielleicht ist mancher wirkliche König auf uraltem Throne eigentlich auch nur ein Wichtelmännchen.«

Und als die junge Königin ein Kind bekam, ward ihr Schlaf so leicht, dass schon das Knistern einer Flaumfeder in der Wiege sie weckte. Nur ihre grossen, verträumten Augen behielt sie ihr Leben lang: und die blieben ihre allerlieblichste Schönheit.

Und manchmal sprach zu ihr jubelnd ihr Herr Gemahl: »Deinetwegen würde ich gern vom Throne steigen und ein Bettelmann werden, so lieb habe ich Dich.«

»Ach Gott, meinetwegen?« erwiderte sie dann schalkhaft, aber sehr glückselig. »Aber, weisst Du was? Ich würde gern alle meine schönsten Kleider dahingeben – Deinetwegen.«

 


 


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