Hans Hoffmann
Iwan der Schreckliche und sein Hund
Hans Hoffmann

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8

Es war schon dunkel geworden, als Alma Gruber an der Tür der Frau Rechnungsrätin Gehrke klingelte. Das öffnende Dienstmädchen gab den Bescheid, das Fräulein sei allein zu Hause, und ließ sie herein.

Als sie das Zimmer betrat, ward sie ein wenig überrascht durch die zierliche Behäbigkeit dieses Raumes und aller Möbel und Geräte; sie hatte eine stille Vorstellung von verschämter Armut mitgebracht und fand sich merkwürdig enttäuscht, nicht zum Vorteil ihres Selbstgefühls. Der Mut, den Bewohnerinnen dieser Hütte als ein Wesen aus höherer Sphäre entgegenzutreten, war ihr plötzlich vergangen.

Auch Helene war sichtlich überrascht, als Alma ihren dichten Schleier zurückstreifte und der Schein der Lampe auf ihr erregtes und befangenes Gesicht fiel.

»Fräulein Gruber?« rief sie. »Wahrhaftig! Sie wünschen mich zu sprechen, in der Tat – oder meine 174 Mutter? Sie ist leider ausgegangen – aber, bitte, nehmen Sie Platz – es ist doch nichts Schlimmes passiert? Sie sehen so ängstlich aus.«

Alma nickte stumm und nahm den angebotenen Platz auf dem Sofa ein. Sie war in der Tat ängstlich. Das hübsche und nette Mädchen machte ihr einen andern Eindruck, als sie erwartet hatte, sie kam ihr so verständig und überlegen vor. Und Helene hatte heute wirklich ihren umfangreichsten Heiligenschein aufgesetzt.

Endlich fand Alma die Sprache wieder.

»Ja,« sagte sie, »es ist etwas Schlimmes passiert, das heißt, es wird passieren, wenn nicht – wenn Sie nicht helfen, Fräulein. Ich komme, Sie darum zu bitten. Es handelt sich um Herrn Doktor Belling und –«

Helene zuckte ein wenig zusammen, und ihr Gesicht nahm einen herben Ausdruck an.

»Freilich wird es sich um etwas Schlimmes für Herrn Doktor Belling handeln, wenn Sie im Spiel sind,« sagte sie bitter.

Alma wurde rot und blickte erschrocken auf.

»Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen,« stotterte sie verlegen.

»So,« sagte Helene kalt, »Sie wissen also vermutlich auch nicht, daß Sie heute zu Ihrem Privatvergnügen die Existenz eines Ehrenmannes zerstört haben? Oder vielleicht rechnen Sie das nicht als etwas besonderes Schlimmes?«

Alma machte ein Gesicht wie ein gescholtenes Kind, das nicht recht weiß, auf welche seiner vielen Unarten es diesmal gemünzt ist.

175 »Ich verstehe wirklich nicht recht,« sagte sie kleinlaut.

»Ich habe heute Ihren Bruder auf unserm Flur abgefaßt,« belehrte sie Helene streng, »und er hat mir alles gestehen müssen. Sie sind es, die ihn und die Klasse aufgehetzt hat zu einer Schändlichkeit –«

»Ah so,« nickte Alma mit einem kleinen Auflug von Trotz; »sie haben ihn herausgetrommelt; aber das ist doch nicht so schlimm –«

»Das bedeutet für diesen Mann die Vernichtung seiner Existenz. Doch das würden Sie kaum verstehen, wenn ich es Ihnen auch erklären wollte. Er ist durch diesen Zwischenfall genötigt, seine Laufbahn als Lehrer für immer aufzugeben, und da er keine pekuniären Hilfsmittel besitzt, so befindet er sich dem unwürdigsten Elend gegenüber. Ich weiß nicht, ob Sie das begreifen. Und das dankt er Ihnen, Ihnen allein – und ich glaube nicht, daß er das gerade von Ihnen erwarten durfte,« setzte sie etwas langsam und lauernd hinzu.

Alma starrte sie mit großen Augen an, die sich allmählich mit Tränen füllten.

»Aber davon hatte ich ja gar keine Ahnung!« rief sie entsetzt. »Ich verstehe auch nicht –«

Helene wurde etwas milder gestimmt. Ihr Heiligenschein ward um mehrere Ringe schmäler. Auf einmal klärten sich Almas Züge auf.

»Wissen Sie was, Fräulein Gehrke?« rief sie mit Freudigkeit. »Dann muß mein Papa ihm helfen! Aber natürlich!«

Helene blickte wieder sehr strenge.

»Ihm ein Zwanzigmarkstück in die Hand drücken, 176 nicht wahr? Als Abschlagszahlung für seine Tochter, deren Koketterie –«

Alma zog die Brauen in die Höhe und sprang hastig auf. »Das geht zu weit!« rief sie empört; ihr kühnes Gesichtchen flammte. Plötzlich besann sie sich, daß sie als eine Hilfesuchende gekommen war, und legte mit einer verzweifelnden Gebärde die Hand an die Stirn.

Helene fühlte, daß ihre Entrüstung sie ungerecht gemacht hatte.

»Seien Sie nicht böse,« sagte sie freundlicher, »und behalten Sie Platz. Ich tat Ihnen unrecht, Sie hatten es diesmal gut gemeint. Aber Sie sind in einem Irrtum befangen. Ich zweifle nicht. daß Ihr Herr Vater, wenn er den Zusammenhang dieser Dinge kennte, den guten Willen haben würde, Herrn Doktor Belling in anständiger und vornehmer Weise über Wasser zu halten, bis er eine seiner würdige Stellung als Universitätslehrer gefunden hätte. Aber wie ich Herrn Doktor Belling kenne, wird er eine solche Hilfe von dieser Seite niemals annehmen. Verstehen Sie ihn recht, nicht aus einem hochmütigen Bettelstolz würde er sie verschmähen – es wäre auch wahrlich gar nichts so Großes, das man ihm gäbe – ich bin überzeugt, er wird ein Darlehen aus der Hand der Freundschaft freudig und dankbar empfangen in dem stolzen Bewußtsein, daß er es seinerzeit zurückzahlen kann, aber aus Ihrer Hand nimmt er es niemals, niemals! Ich will Ihnen auch verraten, daß man bereits Vorsorge zu treffen beginnt, ihm beizuspringen, und ich verbürge mich für ihn, daß er die Hand der 177 Freundschaft annimmt, aber niemals die Hand einer treulos gewordenen – wie kann man überhaupt einer Liebe treulos werden?! Ein edles Herz liebt einmal und nicht wieder!«

Alma war ganz verblüfft und niedergeschlagen.

»Woher glauben Sie . . .« stotterte sie ängstlich.

»Woher ich das weiß, meinen Sie? Nun, gewisse Schulgeschichten ließen mir längst keinen Zweifel mehr, und Herr Doktor Belling ist für den, der ihn einmal durchschaut hat, ein aufgeschlagenes Buch – und ich las viel Glück darin und wachsende Hoffnung – bis heute. Heute aber habe ich ihn noch gar nicht gesehen, statt dessen höre ich nur Schlimmes. Sagen Sie vor allem: Was hat Sie dazu verführt, ihm diesen wahnsinnigen Streich zu spielen? War denn vorher alles Komödie oder –«

Alma seufzte und suchte abzulenken.

»Hören Sie nur, bitte, erst das Neue, das Schlimmste – nachher –« bat sie schüchtern.

»Erst das Alte,« befahl Helene, »wenn ich Sie nicht kenne, kann und mag ich Ihnen nicht helfen – und bis jetzt sind Sie mir ein Rätsel.«

»Ja, sehen Sie, ich mir selbst eigentlich auch!« sagte Alma. »Gestern war alles noch so anders, so ganz anders, und ich wollte ganz bestimmt – ich zweifelte gar nicht – ich hatte es sowohl Papa wie Mama schon angekündigt – und eigentlich hatte ich das ganze Fest zu dem Zweck veranstaltet und mir alles so himmlisch gedacht – und gerade von Herrn von Bodungen wollte ich gar nichts wissen.«

Helene riß die Augen weit auf und errötete stark; 178 sie war froh, daß Alma die Blicke zu tief gesenkt hatte um es zu bemerken.

»Ich hatte mich immer mit ihm gezankt,« fuhr diese fort, »und wir konnten uns deshalb gar nicht mehr leiden, und es ärgerte mich, daß er mir doch immer den Hof machte, und ich ließ ihn gründlich abfallen. Aber vor Herrn Doktor Belling hatte ich so furchtbaren Respekt, daß ich immer ordentlich zitterte, wenn er kam – aber das war so angenehm! Und gestern mit einemmal – nein, Sie glauben nicht, wie dumm er sich da plötzlich anstellte! Wollte mir eine ehrpusselige Schulmeisterrede halten, statt einfach – na, und dann auf einmal kam der ekelhafte, schmutzige Hund dazwischen – mein ganzes Kleid hat er schmutzig gemacht, und wir wollten nachher doch noch tanzen! Und wie ich dann merkte, daß er gar keine Gewalt über das dumme Vieh hatte, da, ich weiß nicht, wie das kam, da hatte ich plötzlich allen Respekt vor ihm verloren und ärgerte mich bloß über ihn und war furchtbar wütend und warf ihn mit Schnee und lief ihm fort, aber bloß um ihn zu ärgern! Und dann kam plötzlich Herr von Bodungen und lief so prachtvoll mit mir und tanzte wie toll, und ich war von der Geschichte mit dem Belling so furchtbar aufgeregt, daß mir ordentlich schwindelte und sich alles mir vor den Augen drehte, und ich glaube, wenn Herr von Bodungen mich nicht immer so fest gehalten hätte – aber das tat er, und das war wieder so angenehm! Ach Gott, ich war aber so verwirrt im Kopf, daß ich wahrhaftig gar nicht mehr wußte, ob es eigentlich Herr von Bodungen wäre oder Herr Belling. Ich 179 glaube, ich hatte auch zu viel Punsch getrunken; nämlich Herr von Bodungen gab mir immerfort zu trinken, und das war das starke Zeug für die Herren, und ich glaube ganz bestimmt, ich hatte einen kleinen Hieb weg. Und nachher war der Belling ganz verschwunden, und das ärgerte mich so wahnsinnig, und dann war es mir wieder ganz lieb, aber ich fand es denn doch etwas sehr komisch von ihm, und überhaupt, ich begriff gar nicht mehr, warum ich eigentlich immer so schreckliche Angst vor ihm gehabt hatte, denn er war nun doch gar nicht so zum Ängstigen – und ich ärgerte mich über mich selbst, daß ich so dumm gewesen war – und da packte mich eine riesige Lust, ihm einen recht tüchtigen Schabernack zu spielen, und da sprach ich mit meinem Bruder; und ich wollte ihn nämlich zugleich ein bißchen auf die Probe stellen, ob er die Jungens auch nicht besser in der Gewalt hätte als den greulichen Hund – und da geschah das Unglück mit den frechen Tertianern; ja, mit denen soll sich einer nur einlassen! Die Bande! Aber Sie können mir glauben, heute schämte ich mich über die Maßen, als ich Herrn Doktor Belling sah auf der Chaussee! Und ich hätte ihn gewiß auch gern um Verzeihung gebeten; aber da war auch der gräßliche Hund, und Herr von Bodungen kam geritten, und der Hund machte sein Pferd scheu, und er wurde abgeworfen, und ich schrie – denn er hätte sich doch gleich das Genick brechen können! Denken Sie doch, wie entsetzlich! Aber er fiel auf die Füße und schoß den ekligen Hund tot, und sie haben keinen Begriff, wie schön er jetzt aussah! Und der Belling nahm den 180 alten Kadaver auf den Arm, und das sah zu dumm aus – wahrhaftig, ich konnte mir nicht helfen, ich fand Herbert von Bodungen zehnmal schöner! Und da wurde Herr Belling auf einmal böse und schimpfte mich ein bißchen – aber nicht so sehr, und ich hatt' es ja auch gewiß verdient; aber Herr von Bodungen wollte das nicht leiden und ging dicht an ihn heran und redete erst laut und dann leise mit ihm – und da wußte ich ganz genau, daß sie sich auf Pistolen gefordert haben! Und das ist nun das Entsetzliche, und darum bin ich hergekommen!«

»Großer Gott im Himmel!« rief Helene erbleichend aus und sprang von ihrem Stuhl auf. »Ja, das ist wirklich entsetzlich!«

»Nicht wahr,« sagte Alma weinerlich, »der Belling wird ihn im Duell ja ohne Zweifel erschießen, er macht sich sicher gar nichts draus, er hat ja schon so viele auf dem Gewissen! Aber das darf nicht sein, und Sie müssen mir helfen, wir müssen beide mit Herrn Doktor Belling reden und ihn versöhnen.«

Helene blickte ihr mit fast unheimlicher Starrheit ins Gesicht. Plötzlich lachte sie seltsam auf.

»O Sie Kind,« sagte sie tonlos, »der Bodungen, meinen Sie, sei in Gefahr? Wenn es so läge –«

Sie schrak jäh zusammen, sank auf ihren Stuhl zurück und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. Alma sah sie erstaunt an.

Nach einem langen Schweigen sagte Helene mit einem sonderbaren Blick gen Himmel:

»Was habe ich zu Ihnen gesagt – ich begriffe nicht, wie man einer Liebe treulos werden könne? 181 O ich Armselige! Verzeihen Sie mir das, ich habe Ihnen unrecht getan; Sie waren nicht wankelmütiger als – andre. Doch Sie haben recht, vor allem müssen wir handeln. Das Duell darf nicht stattfinden, unter keinen Umständen. Sie sind also sicher, daß Herr Belling es wirklich angenommen hat?«

»Oh, es ist gar kein Zweifel. Und er sah so ungeheuer grimmig aus – o Gott, o Gott, er schießt ihn gleich durch und durch!«

»Das ist ja Selbstmord,« rief Helene, »ausgesprochener Selbstmord!« Und leise, wie zu sich selber redend, fügte sie hinzu: »Und dann ist's auch bewußtloser Selbstmord. Oh, ich verstehe ihn – er hat ja jede Hoffnung verloren!«

Hastig ergriff sie Almas Hand und sagte:

»Kommen Sie, wir müssen mit Herrn von Bodungen reden.«

»Ach Gott, das nützt ja nichts,« seufzte Alma, »der kann nicht anders. Mit Herrn Doktor Belling eben wollte ich reden.«

»Der will nicht anders,« versetzte Helene bestimmt. »Bei einem Menschen, der zu diesem Äußersten entschlossen ist, wäre jede Überredung verschwendet. Glauben Sie mir, Herr von Bodungen allein kann helfen – und wird auch helfen, wenn ich mit ihm rede, ich hoffe es zuversichtlich. Wenn nicht, müßte ich ihn verachten. Nur – wo finden wir ihn?«

Alma machte ein sehr verwundertes Gesicht.

»Um sechs Uhr,« sagte sie nachdenkend, »soll er immer ins Kasino gehen. Als ich eben bei seinem Hause vorüberkam, war Licht in seinem Zimmer; jetzt 182 ist er also zu Hause, aber nicht mehr lange. Aber wir können doch unmöglich zu ihm gehen, zu einem Offizier – um Gottes willen, das würde sich nicht schicken!«

»Freilich nicht,« sagte Helene; »und doch, liebes Fräulein, ich glaube, wenn es sich um ein Menschenleben handelt, dann schickt sich alles. Bei schweren Krankheiten und Operationen geschieht auch viel, was sich nicht schickt. Und was sollen wir tun?«

»Wenn wir ihn vielleicht bitten ließen, hierherzukommen? Oder ihn auch nur auf die Straße herabrufen ließen?« fragte Alma.

»Das würde die Sache nur noch schlimmer machen. Denn schließlich handelt es sich nur um das Gerede der Leute, und das vermeiden wir leichter, wenn wir keine Dienstboten in die Sache mengen. Ich könnte ihm ja auch schreiben – aber nein, es hat Eile, entsetzliche Eile; wenn erst andre Offiziere um die Absicht wissen – wir müssen sofort gehen. Aber, o Gott, warum ist meine Mutter nicht hier!«

Sie war schon aufgesprungen und suchte in aufgeregter Eile ihre Sachen hervor.

»Könnten Sie Ihre Mutter nicht irgendwo finden?« fragte Alma zaghaft.

»Vielleicht ja, vielleicht auch nicht. Und wir verlieren Zeit. Und wir haben keine Zeit zu verlieren. Aber wissen Sie auch, was für mich das Allerschlimmste ist? Daß ich Herrn von Bodungen allein sprechen muß, ganz allein – auch ohne Sie!«

»Ach,« sagte Alma erstaunt.

»Ja; ich muß ihm ein Geheimnis des Herrn 183 Belling ausliefern, das nur er wissen soll und kein andrer, auch Sie nicht. Darum muß ich allein zu ihm. O Gott, wenn doch meine Mutter käme!«

Alma machte ein ganz erfreutes Gesicht.

»Ach ja,« rief sie, »tun Sie's! Ich hätte mich so entsetzlich geängstigt! Ich hätte es gar nicht fertig gekriegt. Auf seine eigne Bude!«

Und sie blickte auf Helene mit dem Ausdruck stiller Bewunderung.

*

Herbert von Bodungen lag in seinem unordentlichen Junggesellenzimmer sehr gemütlich auf dem Sofa und paffte eine Zigarette, als der Bursche hereintrat mit der Meldung:

»Eine Dame ist da, Herr Leutnant.«

»Eine Dame? Bin nicht zu sprechen! Jung natürlich?«

»Zu Befehl, Herr Leutnant, ich glaube; sie hat einen Schleier.«

»Nicht zu sprechen!« rief Bodungen barsch noch einmal. »Wenn man im Begriff steht, sich zu verloben,« murmelte er in sich hinein, »kann man doch anständigerweise nicht – übrigens recht dreist; es kann doch nicht die Kleine von neulich sein?«

Der Bursche war gegangen und kam nach einigen Minuten wieder.

»Sie will nicht gehen, Herr Leutnant. Sie sagt, es wär' ernst.«

»O verdammt!« fuhr Bodungen auf und brummte: »Dann ist's die kleine Below; das wäre eine verfluchte Geschichte, wenn's wahr wäre! Gerade jetzt! Geht nicht, kann sie nicht sprechen!«

184 »Zu Befehl, Herr Leutnant, aber die Below'n ist's nicht!«

»Kerl, was haben Sie zuzuhören, wenn ich nicht mit Ihnen rede? Die Below ist's nicht? Ja dann begreife ich nicht – ich weiß doch von keiner andern – seit zwei Monaten –«

»Sie verzeihen, Herr Leutnant, diese sieht furchtbar anständig aus. Und sie läßt nicht locker.«

»Mensch, Sie verstehen einen neugierig zu machen! Nun, in Gottes Namen herein, wenn keine Rettung möglich ist!«

»Zu Befehl, Herr Leutnant!«

Bodungen sprang auf, knöpfte den Rock zu und erwartete in vornehmer Haltung den Gast.

Eine hochgewachsene junge Dame stand in der Tür – ›unzweifelhaft anständig,‹ rekognoszierte er sogleich nach Kleidung und Auftreten, ›sehr merkwürdig in der Tat!‹

Sie schlug den Schleier zurück, und er erkannte Fräulein Helene Gehrke.

»Gnädiges Fräulein, ah!« rief er ganz verblüfft und fast verlegen mit einer tiefen Verbeugung. »Bitte gütigst Platz zu nehmen – bin entzückt – was verschafft mir die Ehre? Aber bitte doch gütigst, Sie sehen, ich bin im Besitz eines veritabeln Sofas – oder wenn Sie ein Fauteuil vorziehen –«

»Bitte, Herr von Bodungen, ich bleibe hier!« sagte Helene energisch, indem sie neben der Tür stehen blieb und die Klinke in der Hand behielt.

»Ah so,« sagte er gemütlich, »in diesem Fall gestatten Sie mir, daß ich mich hier in die Ecke hinter 185 die Sofalehne zurückziehe – so – und jetzt schiebe ich noch die Kommode davor, nun kann ich Ihnen doch auf keine Weise gefährlich werden. Denn daß ich nach Ihnen schieße oder mit Steinen werfe, werden Sie mir doch nicht zutrauen.«

Trotz ihrer ängstlichen Aufregung mußte sie lächeln über die raschen Veranstaltungen und trat einen Schritt weiter vor, ohne sich jedoch zu setzen. Der Offizier blieb in seiner Ecke stehen.

»Herr von Bodungen,« sagte sie ohne weitere Einleitung, »Sie dürfen sich mit Doktor Belling nicht schießen.«

»Ei der Tausend,« rief er überrascht, »hat der tapfere Herr geschwatzt? Das ist allerdings neu, junge Damen als Vermittlerinnen in Duellsachen zu schicken! Gnädiges Fräulein, ich glaube. Sie haben den Zweck Ihrer Mission bereits erreicht, denn nach dieser Probe kann ich den sehr ehrenwerten Herrn allerdings nicht mehr für satisfaktionsfähig halten.«

Helene war heftig errötet.

»Mein Herr,« rief sie entrüstet, »ich weiß nicht, ob es nach Ihren Satzungen ritterlich ist, einen offenen Gegner und eine Dame zugleich zu beleidigen, ohne vorher nach den Tatsachen zu fragen. Mir werden Sie jedenfalls gestatten müssen, meine eignen Gedanken darüber zu haben. Auf meine Ehre, Herr Doktor Belling hat weder mir noch sonst einem sterblichen Menschen ein Wort von diesem Ehrenhandel verraten und würde einer solchen Kläglichkeit niemals fähig sein, ebensowenig wie ich mich als seine Botin gebrauchen lassen würde. Ich stehe zu dem Herrn 186 auch in keiner näheren Beziehung als etwa zu Ihnen, Herr Oberleutnant – ich bitte auch das zu beachten.«

Bodungen verbeugte sich etwas betroffen und sagte:

»Ja, dann begreife ich aber wirklich nicht, wer –«

»Wer mich zu diesem schweren und peinlichen Gang veranlaßt hat, ist vielmehr ein junges Mädchen, das für Ihr Leben bangt, Herr von Bodungen – denn sie weiß, daß Herr Belling, genannt Iwan der Schreckliche, ein gewaltiger Schütze ist –«

»Alma!« stammelte er überrascht und leicht errötend.

»Ich habe nichts gesagt,« bemerkte sie mit einem Anflug von Schelmerei, »doch, wer es auch sein mag, ich wiederhole noch einmal: Sie dürfen sich mit diesem Herrn nicht schießen!«

»Und warum nicht, wenn ich fragen darf? Ich gestehe offen: der Wunsch junger Damen ist zwar im allgemeinen für mich Befehl, indessen gibt es doch Fälle –«

»Weil es eine feige Handlungsweise sein würde, deren ich Sie nicht für fähig halte.«

»Gnädiges Fräulein, da muß ich um nähere Erklärung bitten. Mit einem gefürchteten Schützen auf die Mensur zu gehen, pflegt man sonst nicht für Feigheit zu halten.«

»Die Erklärung soll Ihnen werden – vorläufig unter dem Siegel der Verschwiegenheit, wie ich dringend bitten muß, da ich von dem Herrn nicht zu dieser Aussage ermächtigt bin. Ich habe hierin volles Vertrauen zu Ihnen. Also auf mein Wort: Herr Doktor 187 Belling hat in seinem Leben noch keine Pistole in der Hand gehabt.«

»Sie scherzen, mein Fräulein.«

»Ich sage auf mein Wort und auf meine Ehre! Es wäre also mindestens unhöflich, von Scherzen zu reden. Es ist die volle, einfache Wahrheit.«

»Nun, das verstehe ein andrer! Man behauptet doch allgemein –«

»Halten sie sich wirklich für verpflichtet, jeden Unsinn zu glauben? Ich versichere Sie und ich verlange von Ihnen vollkommenen Glauben: alles, was in der Stadt von Duellen jenes Herrn oder sonst von abenteuerlichen Geschichten aus seiner Vergangenheit geredet wird, sind nichtige, völlig grundlose Klatschereien, die einem Damencafé ihren Ursprung verdanken –«

»Das erklärt allerdings sehr vieles,« lachte Bodungen, »und ich würde nicht wagen, an einer so bestimmten Aussage Ihrerseits zu zweifeln. Ich gestehe auch, daß mich diese Entdeckung recht peinlich berührt. Ein Duell mit einem so ungleichen Gegner wäre wirklich ein schlechter Ruhm.«

»Es wäre ein Mord,« sagte Helene eifrig, »oder richtiger im vorliegenden Fall die wissentliche Unterstützung eines Selbstmords.«

»Das bedarf freilich wieder einer Erklärung.«

»Die zu geben ich nicht befugt bin. Sie müssen auch hierin meinem Wort glauben. Sie werden zugeben, ein Duell kann unter Umständen für einen Waffenunkundigen eine anständige Form des Selbstmords sein.«

»Sehr wohl! Das ist denkbar. Wenn ich nur 188 wüßte, was ich tun sollte. Ich bin der Beleidigte – und zwar in einer Dame beleidigt – und ich bin Offizier –«

»Vergeben Sie ihm.«

»Nach dem Duell mit Vergnügen. Vorher wäre solches Christentum gegen die Ehre, wenn er sich nicht zu einem förmlichen Widerruf entschließt.«

»Das wird er nicht. Aber sagen Sie: worin bestand denn eigentlich die Beleidigung?«

Herr von Bodungen besann sich:

»Hm – hm – da müßten Sie eigentlich Fräulein Alma selber fragen – ich glaube, sie fühlte sich in ihrem ganzen Geschlecht beleidigt. Jener Herr behauptete, daß manche Damen ihre Haartracht zuweilen wechselten –«

»Das kommt wirklich vor, glaub' ich.«

»Aber auch ihren Geliebten –«

»Nun, das kann doch auf jeden Fall Fräulein Alma nicht treffen?« sagte Helene mit leichter Schelmerei; »überhaupt das ganze weibliche Geschlecht nicht, wenigstens nicht das weibliche allein, denn dergleichen kommt gewiß auch beim männlichen gelegentlich einmal vor –«

Bodungen drehte in einigem Unbehagen an seinem Schnurrbart.

»Jedenfalls,« fuhr sie lächelnd fort, »ist die Beleidigung keine allzu blutige, und Fräulein Alma wäre, wie ich bezeugen kann, im jetzigen Augenblick bereit, zehn von dieser Sorte zu vergeben. Von der Seite her können Sie also Ihr Ehrengewissen entlasten. Und im übrigen, sollte wirklich die Ehre eines Offiziers es ihm ganz 189 unmöglich machen, ein vernünftiger Mensch zu sein? Wenn ich mich aber als vernünftiger Mensch in ihrer sonderbaren Lage befände, wissen Sie, was ich täte? Ich ginge statt meines Kartellträgers oder Sekundanten oder wie das heißt, einfach selbst zu meinem Gegner und sagte: ›Lieber Freund‹ und so weiter, und so weiter. Sie als der Überlegene können das; daß er es nicht kann, ohne sich den Vorwurf der Feigheit zuzuziehen, müssen Sie einsehen. Ich bin aber überzeugt, er wird vernünftig sein, wenn Sie vernünftig mit ihm reden. So, Herr von Bodungen, jetzt habe ich Ihnen einen Rat gegeben; einen Rat in Fräulein Almas Namen, bitte ich zu beachten, auf ihre Veranlassung und in ihrem Auftrag. Wie hoch Sie Fräulein Almas Wünsche und wie hoch Sie meine Ansichten über Ritterlichkeit schätzen wollen, muß ich Ihnen überlassen. Auf jeden Fall aber, wie auch Ihr Entschluß ausfallen mag, fordere ich von Ihnen das Versprechen, meinen Namen als einer Mitwisserin und Mithandelnden nicht zu nennen – ich verlasse mich ganz auf ihre Diskretion.«

Herr von Bodungen besann sich und lächelte.

»Ihr Name soll nicht genannt werden, ich verspreche es hiermit feierlich – wenn ich mich wirklich zu diesem höchst seltsamen Schritt entschließen sollte. Aber noch um eine Auskunft bitte ich, mein gnädiges Fräulein. Sie versichern, jener Herr habe noch nie eine Pistole in der Hand gehabt. Fern sei es mir, an der Aufrichtigkeit Ihrer Überzeugung zu zweifeln. Aber wäre die Möglichkeit ausgeschlossen, daß Sie sich in einem Irrtum befänden? Oder wie wollen Sie 190 es erklären, daß man in oder hinter dem Hause, in dem nur Frau Rechnungsrätin Gehrke und Herr Doktor Belling wohnen, häufige Detonationen vernommen haben will von sehr erheblicher Schallstärke? Hat der Herr etwa statt auf Pistolen sich lieber auf Kanonen eingeschossen?«

Helene errötete stark und suchte verlegen nach Worten.

»Und wenn jener nun seinerseits mich auf Kanonen fordert,« fuhr Herr von Bodungen übermütig fort, »dann bin ich der Geklatschte – oder werden Sie dann auch zu meinen Gunsten die Vermittlerin spielen und seine Ritterlichkeit anrufen? Sie dürfen ihm in der Tat mit gutem Gewissen sagen, ich habe noch nie eine Kanone in der Hand gehabt!«

»Ach Gott,« stotterte Helene, »wissen Sie, das Knallen, das war eine Kinderei von mir – ich wollte die Leute in ihrem dummen Glauben an Herrn Bellings fürchterliche Schießwut bestärken – aus reinem Übermut, müssen Sie wissen – und da machte ich immer den Lärm mit dem Ausgußdeckel –«

Bodungen lachte laut auf. Helene aber ließ hastig ihren Schleier fallen, grüßte mit einer flüchtigen Verbeugung und schlüpfte hinaus.

»Donnerwetter,« murmelte er, als sie verschwunden war, »ein famoses Frauenzimmer ist sie doch. Kluges Köpfchen und brillant gewachsen! Schade, schade, daß ihr seliger Vater seinen Beruf so schnöde verfehlt hat und nicht Kommerzienrat geworden ist! Freilich, allerliebst ist die kleine Alma auch. Hm, man wird den beiden guten Dingern den Gefallen schon tun müssen, 191 obgleich es eigentlich eine unverschämte Zumutung ist. Da indessen seine Ansprüche auf Almas Herz erloschen zu sein scheinen, so kann man schon allenfalls ein übriges tun. Und eine gute Gelegenheit ist es, diesem verrückten Schulmeister zu sagen: ›Mensch, wenn ein Mädchen wie diese Helene für mich mit Kanonen schösse und einem übelberufenen Leutnant drohend auf die Bude rückte, dann wüßte ich, was ich täte!‹ Und ich denke, er wird es auch merken, was er zu tun hat, und dann sind wir ihn los, und Alma ist mein ohne Widerrede – und man kriegt endlich Ruhe vor den verfluchten Manichäern!«

Nach dieser Klarstellung seiner Gedanken arbeitete er sich aus seiner verschanzten Ecke hervor und rüstete sich zum Ausgehen.

In derselben Minute aber schüttelte Helene über sich selbst den Kopf. Daß ihr das Ideal ihrer Jugend heute so ganz nur den Eindruck eines gewöhnlichen Sterblichen gemacht hatte und sie ihn so ganz ohne eifersüchtigen Gram einer andern abzutreten vermochte, das konnte sie sich nicht verzeihen. »Gotthold wird ewig dieser seiner ersten Liebe treu bleiben,« seufzte sie, »und ich bin seiner unwert geworden!«

*

Einige Stunden später schritt über den dunkeln Hofraum der Frau Rechnungsrätin Gehrke eine schwarze Gestalt, eine brennende Laterne und mehrere andre Gegenstände tragend.

»Herr des Himmels,« rief erschrocken die Rätin, die zufällig aus dem Küchenfenster sah. »Helene, 192 wer schleicht da bei Nacht und Nebel über unsern Hof? Das ist mir doch sehr ängstlich. Überhaupt ist heute ein so unheimlicher Tag, ich weiß gar nicht, wie mir ist, und du bist auch so sonderbar, Lenchen, und machst ein Gesicht, als wenn die Katze donnern hört, und bei Herrn Belling ist auch etwas nicht in Ordnung; er kramt und wirtschaftet so wunderlich herum, und dann hat er einen Besuch, der wie ein Leutnant schnarrte, und dann ist's ganz still bei ihm und auch kein Licht, und zu Hause ist er doch, denn ich hab' ihn mehrmals laut stöhnen und seufzen hören, wenn ich das Ohr an die Zwischentür legte, und es soll ihm in der Schule etwas passiert sein, und sehen lassen tut er sich gar nicht. Das ist alles so unheimlich, so unheimlich! Und nun dieser Mensch mit der Blendlaterne – er trug etwas auf dem Arm, weißt du, etwas Unheimliches, wahrhaftig, o mein Gott, Helene, es sah wie eine Kinderleiche aus! Wenn er die in unserm Garten verscharren will – und nachher – die Polizei – o Kind, Kind, fühle nur, wie ich zittere! Aber Herr Doktor Belling muß uns zu Hilfe kommen, er muß, er ist ein Mann, wenn auch nur ein Mathematiker, und wir zwei wehrlose Weiber!«

»Ja, ja, Mutter,« rief Helene kurz, »ich rufe ihn schon!« Und sie warf ein Tuch um und eilte hinaus über den Hof, dem nächtlichen Wanderer nach.

Im Garten erreichte sie ihn. Er hatte die Laterne an einen Baum gehängt und hielt einen Spaten in der Hand. Das grelle Licht fiel mit seltsamem Schein in sein finsteres Gesicht.

»Was treiben Sie hier, Herr Doktor,« fragte sie 193 schüchtern, »in dunkler Nacht? Mutter hat sich so erschreckt! Kann ich Ihnen nicht helfen? Und warum sind Sie heute noch nicht bei uns gewesen, gerade heute nicht?«

»Ich will meinen Hund begraben!« erwiderte Gotthold kurz.

»Also ist er wirklich tot?« sagte sie. »Ich hörte schon, daß Herr von Bodungen ihn erschossen hat. Es tut mir aufrichtig leid; man gewöhnt sich an so ein Tier, und ich hatte es wirklich gern, es war treu und anhänglich trotz all seiner Ungebärdigkeit; ein guter Kerl war's! Und Ihnen muß es noch schmerzlicher sein. Es war eine Roheit von dem Offizier!«

»Er war durchaus in seinem Recht,« versetzte Gotthold düster, »nur hätte er ihn gleich zu Tode schießen müssen. Es war gräßlich, wie das Tier mich noch ansah. Herr von Bodungen konnte nicht wissen, daß er meinen letzten Freund erschoß.«

»Ihren letzten?« fragte Helene leise. »Wirklich Ihren letzten?«

Er warf einen hastigen Blick auf ihr hell beschienenes Gesicht; sie war ihm noch nie so hübsch vorgekommen. rosig und reizend blickte es aus dem dunkeln Tuch hervor, das sie über den Kopf geschlagen hatte. Von einem Heiligenschein war nichts zu bemerken – wenn der nicht unter dem Tuch verborgen war – er sah nur freundliche Teilnahme und einen flüchtig aufblitzenden Funken kluger Schalkheit.

Er seufzte leise und fing dann kräftig an zu graben. Die hartgefrorene Erde machte ihm die Arbeit schwer genug.

194 »Ich wollte Ihnen helfen,« sagte sie, nachdem sie eine kurze Weile zugesehen hatte, »wir haben noch einen Spaten dort in dem Verschlag, ich hole ihn.«

»Bitte, nein,« sagte er, »es ist zu anstrengend für Sie; ich bin auch bald fertig.«

»Oho,« rief sie, »zu anstrengend? Da sollen Sie mich kennen lernen!«

Und sie lief und kam mit einem tüchtigen Spaten zurück.

»Ich habe auch ein Recht darauf, an dem kleinen Grabe mitzuarbeiten,« sagte sie, »der Hund betrachtete mich als seine zweite Herrin, er war mir fast gehorsamer als Ihnen selbst. Gestern freilich war er ganz außer Rand und Band und gar nicht zu halten. Es war ordentlich, als wenn er ein Unglück für Sie fürchtete, so unruhig war er; ich begreife nur nicht, wie er Sie auf dem Eise hat finden können.«

»Vielleicht,« sagte Gotthold trübe, »vielleicht hat er auch ein Unglück von mir abgewandt, es ist möglich; doch ich verstehe mich selbst noch nicht. Jedenfalls hat er mir zunächst ein andres Unglück dafür gebracht.«

Er schwieg und schaufelte gewaltig weiter. Auch Helene machte sich ans Werk, und so gruben sie tapfer miteinander.

Zuweilen blickte Gotthold schüchtern auf, und dann sah er mit frohem Erstaunen die Anmut ihrer gelenkigen Kraft und die Schlankheit ihrer Glieder.

Plötzlich stieß sie den Spaten kräftig auf die Erde, stützte ihre Hände darauf und sagte energisch:

»Herr Doktor, mit Ihnen geht etwas vor. Ich 195 will es wissen. Sie haben schwarze Gedanken. Sie sind in Verzweiflung. Das ist Ihrer nicht würdig. Ich weiß, was Ihnen gestern und heute Schlimmes widerfahren ist, alles weiß ich und kenne auch die Folgen für Sie. Und ich bin entschlossen, Ihnen zu helfen – nicht bloß beim Begraben des Hundes. Sagen Sie mir nur eins: was haben Sie vor einer Stunde mit Herrn von Bodungen ausgemacht? Ich weiß es, daß er bei Ihnen war.«

Er sah ihr überrascht ins Gesicht. Wie wunderbar diese grauen Augen glänzen konnten!

»Herr von Bodungen,« sagte er dann, »hat sich als ein vornehm denkender Ehrenmann und ein liebenswürdiger Mensch erwiesen. Ich bin völlig mit ihm ausgesöhnt und gönne ihm sein nahes Glück von ganzem Herzen und mit Freuden und nicht aus christlicher Entsagungslust, denn ich verliere nicht, wo er gewinnt. Das ist alles, was ich hierüber zu sagen habe. Der Rest ist freilich, daß ich diese Stadt sobald als möglich verlassen werde. Meine Rolle als Lehrer ist ein für allemal ausgespielt!«

»Ihre Rolle als Schullehrer – ja; Sie werden dafür die Lehrtätigkeit an einer Universität eintauschen.«

»O Fräulein Helene, ich kann nicht glauben, daß Sie mich verhöhnen wollen, aber ich selbst habe Ihnen meine Aussichten auf diesem Wege klargelegt –«

»Und ich habe es gut verstanden und behalten. Sie brauchen ein wenig Geld und weiter nichts. Mit tausend Talern etwa würden Sie bei Ihrer Bescheidenheit schon zwei Jahre auskommen können, mit 196 zweitausend Talern vier Jahre, und das ist die längste Zeit, die Sie brauchen, um eine Professur zu erlangen. Und dann können Sie mit Bequemlichkeit in wenigen Jahren ein Darlehen von ein- bis zweitausend Talern samt allen Zinsen zurückzahlen. Sie wünschen also ein unkündbares Darlehen in der bezeichneten Höhe.«

Der Mathematiker hatte ebenfalls seine Arbeit eingestellt und starrte sie an, ganz außer Fassung gebracht durch den gleichmütigen Geschäftston ihrer Rede.

»Ein solches kann ich Ihnen,« fuhr sie fort, »gegen mäßige Zinsen verschaffen. Ich besitze eine Tante, eine sogenannte Erbtante, die aber so jung ist, daß sie sich selbst deswegen vor ihren Nichten schämt und ihnen als Abschlagszahlung für die weit aussehende Erbschaft gar zu gern von Zeit zu Zeit ein Sümmchen im voraus zufließen läßt. Sie hat sich jedoch mit meinem Vater zeit seines Lebens nicht gut gestanden, weil er meine Mutter, ohne ihren Rat vorher einzuholen, geheiratet hatte; und deshalb haben wir ihre hochmütigen Wohltaten beharrlich verschmäht. Das ist aber doch für Sie kein Grund, das Anerbieten auszuschlagen, das sie Ihnen auf meinen Antrag voraussichtlich in den nächsten Tagen machen wird.«

»Fräulein Helene,« rief Gotthold mit tief erregter Stimme, die fast einen zornigen Klang hatte, »hören Sie auf! Ich kann und will und darf von Ihnen keine Wohltat annehmen!«

»Geehrter Herr Doktor,« sagte sie ruhig, »wer spricht von einer Wohltat? Meine Tante wünscht zweitausend Taler sicher zu plazieren gegen leidliche 197 Zinsen; das liebste wäre ihr eine Hypothek auf ein sicheres Gebäude oder Grundstück. Gut, ich bezeichne Ihre Kenntnisse, Ihren Fleiß, Ihre Begabung ihr als sicheres Grundstück, das sich in wenigen Jahren nach aller menschlichen Voraussicht brillant rentieren wird – nun also, warum wollen Sie der armen Frau die solide Kapitalanlage mißgönnen? Wollen Sie die Unglückliche gewaltsam zwingen, ihr bißchen Vermögen in wackeligen Industriepapieren zu verspekulieren? Ich sehe wahrhaftig nicht ein, warum man einen reellen deutschen Gelehrten nicht mit einer Hypothek belasten soll! Aber zur ersten Stelle, das versteht sich, anders tut es meine Tante nicht. Sicherheit ist ihr die Hauptsache; sonst würde sie lieber auf Husarenleutnants spekulieren.«

Er sah das schalkhafte Blitzen ihrer großen Augen, legte die Hand über die Augen und rief noch einmal wie verzweifelnd:

»Ich kann es nicht, Helene, von Ihnen kann ich es nicht annehmen, von Ihnen nicht! Nur von Ihnen nicht!«

»Lieber Freund,« sagte sie mit ganz verändertem, sehr weichem Ton, »und doch müssen Sie es, wenn Sie mein feierliches Wort, meine gegebene Bürgschaft nicht bloßstellen wollen. Ich habe vor einer Stunde bei Fräulein Alma Gruber für Sie gutgesagt, daß Sie aus meiner Hand, aus der Hand der Freundschaft eine Hilfeleistung ohne kleinlichen Stolz mit Freuden annehmen würden, während Sie eine solche aus der Hand eines Mädchens, das Sie lieben, als eine Demütigung empfinden müßten. Sehen Sie, 198 lieber Freund, diese Bürgschaft habe ich für Sie übernommen, und aus diesem Grunde das gutgemeinte Ansinnen jener jungen Dame in Ihrem Namen zurückweisen zu dürfen geglaubt.«

»Ich danke Ihnen, Helene,« sagte er tief erschüttert, »daß Sie mich richtig verstanden haben. Ihre Bürgschaft war zuverlässig und wohl erwogen, und eben darum kann ich aus Ihrer, gerade aus Ihrer Hand keine Wohltat annehmen, auch nicht die kleinste, auch nicht den Schein einer Wohltat.«

»Hierin verstehe ich Sie denn nun freilich nicht,« sagte sie leise, und ihr heißes Erröten strafte sie Lügen.

»Weil ich Sie liebe, Helene,« stieß er leidenschaftlich heraus, »Sie allein wahrhaft, von ganzem Herzen liebe!«

»Mich,« fragte sie zitternd, »mich?«

»Ja, Sie,« sagte er zaghaft, »und das ist nun mein traurigstes Schicksal, daß ich mich dieser Liebe vor Ihnen schämen muß, niemals auf Erhörung hoffen darf, daß Sie mich mit Recht für einen Unwürdigen halten werden. Habe ich nicht selbst vor wenigen Stunden noch einem armen jungen Mädchen den gleichen Wankelmut zum bittersten Vorwurf gemacht? Und mir, einem gereiften Mann, sollte ich die gleiche Charakterschwäche verzeihen? Ja, es ist so; gestern noch liebte ich in fieberhaftem Seelentaumel eine andre, oder wäre es nicht ein dürftiger Sophismus, zu sagen: Das war keine echte Liebe, das war nur ein Rausch der Eitelkeit, der geblendeten Sinne? Es ist wahr, diese Leidenschaft wurde allmählich, künstlich, durch keckes Entgegenkommen, durch äußeren Glanz in mir 199 entfacht, es war eine selbstbetrügende, gemachte Liebe, während vor Ihnen ich gleich beim ersten Sehen beinahe dasselbe empfand wie heute, eine volle, freie Sympathie, ein ganzes Vertrauen, eine rückhaltlose Hingebung, ein Gefühl, das nur zu tief und zu rein war, um es sogleich als die feste Wurzel einer innerlich treibenden Leidenschaft zu erkennen. Und ein Gefühl, das überdies in seinem natürlichen Wachstum gehemmt und gewaltsam zurückgepreßt wurde durch Ihr freimütiges Bekenntnis, Helene, daß Sie einen andern geliebt hätten und daß Sie es einer edeln Seele für unwürdig hielten, sich jemals einer zweiten Liebe zu öffnen. Und nun, Helene, nun sehen Sie in mir, der ich Ihnen einst beistimmte, einen solchen Unwürdigen!«

Helene stand mit überströmenden Augen da und schwieg. Sie starrte grübelnd hinab in die dunkle Grube, die sie zwischen sich geöffnet hatten.

»Wissen Sie, was wir tun wollen, Herr Doktor?« rief sie plötzlich mit frischer Stimme. »Legen wir jetzt den guten Hund hier hinein, das Grab ist tief genug, und dann legen Sie Ihre lustige Kotillonliebe, die der wütende Leutnant mit ihm zugleich totgeschossen hat, dazu und weinen ihr eine letzte Träne nach. Und damit sie sich nicht einsam fühlt, gebe ich ihr eine Gesellschafterin, die auch irgendwo zu Schaden gekommen ist, mit auf den Weg in die Ewigkeit, nämlich meine törichte Backfischliebe zu einem königlich preußischen Husarenoffizier, und dann tun wir noch ein paar jugendlich närrische Überschwenglichkeiten und Gefühlstänzeleien als Totenopfer dazu, und dann –«

Und dann strauchelte sie plötzlich und fiel 200 vornüber in die Grube, die sie sich selbst hatte graben helfen, und Gotthold Belling konnte nicht umhin, sie mit seinen Armen aufzufangen. Und dann machte er es ihr mehrere Minuten lang auf irgendeine Weise unmöglich, weiter zu Wort zu kommen, obgleich sie noch etwas Notwendiges zu sagen hatte. Und sobald sie nur irgend Luft schöpfen konnte, rief sie fröhlich:

»Und die Tante nimmt eine absolut unkündbare Hypothek auf unser gemeinsames Glück!«

»Und die Zinsen,« fügte er hinzu, »werden mittels einer geheimnisvollen Integralrechnung meiner lieben Frau in Coupons von Treue und Dankbarkeit ausbezahlt.«

Solcher Art lautete der Segen, der über dem Grab des Hundes Iwans des Schrecklichen gesprochen wurde.

Noch am selben Abend schickte Alma Gruber ihren Bruder, den Tertianer, an Helene mit der Nachricht, daß sie sich soeben noch schnell verlobt habe, »gegen den Oberleutnant von Bodungen,« sagte der Schlingel.

 


 


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