Hans Hoffmann
Iwan der Schreckliche und sein Hund
Hans Hoffmann

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Das Mädchenerziehungsinstitut von Fräulein Leinemann genoß auf Meilenweite des glänzendsten Rufes. Es galt für eine Musteranstalt in Hinsicht auf Sitte und Lehrer. Festere Disziplin, edleren Unterricht für junge Töchter bemittelter Stände gab es nirgends. 46 Es war gleichsam eine chemische Waschanstalt für Mädchencharaktere; die zerknittertsten und verstaubtesten Exemplare kamen aus ihr zurück wie gebadet in Wohlanständigkeit und weiblicher Tugend.

Die Mittel, durch die Fräulein Leinemann solche Wunder vollbrachte, waren die denkbar einfachsten; sie bestanden einzig und allein in sanften Blicken; Strafen kannte sie nicht. Diese Blicke aber übten über ihre Schülerinnen eine fast unwiderstehliche Gewalt, selbst fühllose Gemüter schmolzen vor dieser kondensierten Sanftmut in Reue dahin, und zartere Seelen fürchteten sie wie der Teufel das Weihwasser.

Als denkende Pädagogin wußte sie natürlich die Intensität ihrer Zuchtblicke genau nach der Schwere der Vergehung abzumessen. Für eine gewöhnliche Vergeßlichkeit, einen schlecht geflochtenen Zopf, einen angekauten Federhalter und dergleichen Mittelsünden gab es einen kurz hin huschenden, mit Sanftmut nur leicht imprägnierten Blick, dem Jagdhieb derberer Erzieher zu vergleichen; erheblich verstärkt ward die Gabe schon bei Faulheit oder hartnäckiger Unordnung, hier kam schon der Blick der sterbenden Gazelle in Anwendung; wehe aber der Unseligen, die der gerechte Vorwurf des »direkten Ungehorsams« oder der »Unweiblichkeit erster Klasse« traf! Der Blick, der sie züchtigte, war der Inbegriff und Auszug aller Sanftmut – »spiritus clementiae rectificatissimus« sagte der Chemiker der Anstalt – er war engelhaft entsagend, hilfeflehend, in wollüstigem Schmerz gebrochen, dämonisch verzweifelnd; die Sünderin vergaß ihn nicht mehr bis zu ihrem Totenbette.

47 Um diese Zeit geschah es, daß der reichste Bürger der Stadt, der Kommerzienrat Gruber, von schwerer Strafe für einen unpatriotischen Hochmut ereilt wurde: er hatte nämlich sein einziges Töchterchen Alma mit ungerechter Umgehung des Fräulein Leinemann einem Berliner Institut anvertraut, und die sechzehnjährige Alma kam nun zurück als derselbe hübsche kleine Satan, der sie zuvor gewesen war, völlig ungebessert und ungezähmt, ein Ausbund aller Untugenden, das wahre Modell einer höheren Tochter, wie sie nicht sein soll.

Da ging der Kommerzienrat in sich und bat reuevoll Fräulein Leinemann, die Sünden der weltstädtischen Pädagogik wieder gutzumachen und die milde Hand an seine entartete Tochter zu legen. Das war ein Triumph, wie die einheimische Erziehungskunst noch keinen erlebt hatte, ein öffentlich erteiltes Vertrauensvotum, das Fräulein Leinemann nicht hoch genug schätzen konnte; es war ein Geschenk, das sie sich wie bares Geld rechnen durfte, denn eine wirksamere Reklame ließ sich nicht gut ausdenken. Freilich verbarg sie sich auch nicht die Schwierigkeiten und Fährnisse, die ihr ein solcher Zögling ins Haus brachte, allein der Stolz und der Ehrgeiz siegten, und sie gewährte dem reichen Mann mit ruhigem Lächeln seine Bitte.

Allein nur zu bald zeigte es sich, wie sehr es ein Danaergeschenk gewesen war. Alma Gruber erwies sich als schlechthin unzähmbar.

Fräulein Leinemann verschwendete an dies eine Persönchen so viel sanfte Energie und energische Sanftmut, daß sie damit ganze Kannibalenvölker zu 48 Vegetarianern hätte machen können; von Alma prallte das alles ab wie von einem Panzerturm. Sie blieb ungehorsam, naseweis, trotzig, faul, plauderhaft, unaufmerksam, eitel, hochmütig, vor allem unweiblich, ein Schrecken aller Lehrer und mehr noch aller Lehrerinnen.

Dabei aber blieb sie immer hübsch und graziös; schon begannen die Augen der jüngeren Offiziere gefühlvoller auf ihrer Gestalt zu verweilen, und die oberen Klassen des Gymnasiums huldigten ihr mit einer feurigen Massenliebe, von der zunächst ihr einziger Bruder Hermann seinen Vorteil zog, denn dieser fand stets mit spielender Leichtigkeit Freunde, die Aufsätze und Exerzitien für ihn verfertigten, wofern sie dafür nur einen Fuß über die geweihte Schwelle seines Vaterhauses setzen durften.

Dieser stille Kultus der männlichen Jugend trug jedoch zu ihrer sittlichen Zerknirschung nicht wesentlich bei.

Nun war wieder einmal irgendeine absonderlich schwere Tat geschehen. Fräulein Leinemann fühlte endlich, es galt den Ruf ihrer Anstalt. Dieses fürchterliche Geschöpf mußte gebändigt werden, oder sie selbst entsagte ihrer Tätigkeit und erklärte, ihren Beruf verfehlt zu haben.

Zunächst beschloß sie, als letztes Mittel eine Tortur anzuwenden, die bisher in ihrem Strafgesetzbuch nur der Theorie nach bestanden hatte und die sie die Luftkur nannte. Diese bestand darin, daß die moralische Patientin von ihr so lange schlechthin ignoriert, als Luft betrachtet wurde, bis sie mürbe war und zu Kreuze kroch.

49 Diese Achtserklärung ward jetzt über Alma Gruber ausgesprochen, und zwar in der sehr verschärften Form, daß sämtliche Mitschülerinnen an der Vollstreckung teilzunehmen hatten. Damit war die Geächtete von jedem menschlichen Verkehr ausgeschlossen, gleichsam auf eine wüste Insel versetzt oder völlig in Luft verwandelt. Es galt für unmöglich, daß ein weibliches Gemüt diese Marter auch nur einen Tag lang ertragen könne.

Allein die schreckliche Alma wußte sich auch hier zu helfen.

Zunächst spielte sie eine Zeitlang mit großem Ergötzen die Rolle der teuflischen Versucherin, indem sie ihre Kameradinnen mit der harmlosesten Miene unvermutet anredete und ihnen eine Antwort zu entlocken suchte, die ihnen dann notwendig einen sanften Blick des Fräulein Leinemann zuziehen mußte. Als aber bald ihre bösen Künste an der scharfen Schulung und Tugend der andern scheiterten, verfiel sie auf eine neue Unterhaltung.

Sie besaß unter andern unnützen Talenten auch eine nicht geringe mimische Begabung und verstand es, die Stimmen und Gebärden ihrer Umgebung mit erschreckender Virtuosität nachzuahmen. Diese schöne Kunst begann sie während des gemeinsamen Mittagessens zu verwerten und solcherart mit sich selbst die muntersten Zwiegespräche zu halten.

»Bitte, liebe Alma,« redete sie sich mit der Stimme ihrer Mitschülerin Berta Heding an, »hilf mir doch bei meinem französischen Aufsatz; du weißt, ich bringe ihn nie ohne deine Hilfe zustande.«

50 »Mit Vergnügen, meine süße Berta,« antwortete Almas natürliche Stimme, »ich will sogar wie neulich gern den ganzen Aufsatz für dich machen.«

»Oh, wie gut du bist! Wie liebreich!« sagte die falsche Berta Heding.

»Nicht wahr, Alma,« flötete die fingierte Stimme einer Edith Quade, »du sagst es Fräulein Leinemann nicht wieder, daß ich ihr gestern hinter ihrem Rücken eine lange Nase gemacht habe!«

»Hast du je gehört, daß Alma Gruber petzt?« ließ sich die Stimme eines Fräulein Wadepfuhl vernehmen.

»Aber es war sehr unrecht von dir, teure Edith,« sagte die echte Alma mit mildem Vorwurf, »du weißt doch, wie gut es Fräulein Leinemann mit uns meint und wie sanft sie ist.«

»Ach, Alma, was wären wir ohne dich, du treue Warnerin!« klang begeistert die täuschende Stimme der kleinen Quade.

»Ach, was ist doch der Fähnrich von Dobeneck für ein reizender Mensch!« hörte man Erna von Funk seufzen. »Was er für herrliche Augen und Stiefel hat!«

»Aber, Erna,« rief die echte Alma entrüstet, »es gibt nichts Unpassenderes für ein junges Mädchen, als einen Husaren anzusehen! Besonders aber einen lebendigen!«

In dieser Tonart ging es fort; die Geächtete unterhielt sich in der liebenswürdigsten Unbefangenheit unverdrossen weiter mit ihren selbstgeschaffenen Gesellschafterinnen. Die andern armen Mädchen aber quälten 51 sich jämmerlich, ihr Kichern zu unterdrücken; bald hier, bald dort zischte es plötzlich auf wie eine angezündete Rakete.

Fräulein Leinemann verstopfte ihre Ohren mit Sanftmut und starrte mit so leeren Blicken auf Almas Platz, daß jeder erkennen mußte, sie sah dort Luft und nichts als Luft.

Inzwischen hatte Alma im Geist bereits ihre bisherige Genossenschaft verlassen und sich einem höheren Kreise zugesellt. Sie wagte es, ihre Lehrer selbst zu kopieren. Den Anfang machte sie mit dem deutschen Lehrer und dessen geschmackloser Deklamationsweise. Mit süßlichem und heulendem Ton hob sie an:

»Schon stehn die beiden Sänger im hohen Säulensaal,
Und auf dem Throne sitzen der König und sein Gemahl,
Der König furchtbar prächtig, wie blut'ger Nordlichtschein,
Die Königin süß und milde, als blickte Vollmond drein –«

Bei dem letzten Verse warf sie einen bedeutsamen Blick auf Fräulein Leinemann und schwenkte plötzlich in deren sanften Tonfall über.

Die unglücklichen Mädchen erstickten fast an dem verhaltenen Lachen; die meisten hatten sich die Taschentücher in den Mund gestopft und sahen wahrhaft beängstigend aus mit ihren blutroten Gesichtern und hervorquellenden Augen.

Jetzt war der Augenblick gekommen, wo selbst Fräulein Leinemanns übermenschliche Gelassenheit ins Wanken geriet. Es war offenbar nicht mehr Luft, was ihre Augen an Almas Platze sahen, sondern es war ein Schreckbild, eine junge Teufelin, die ihr Zorn 52 vernichten mußte. Den heute Anwesenden war es vergönnt, Fräulein Leinemanns olympische Stirn von Wetterwolken überschattet zu sehen.

Allein Alma verstand es, ihre Erbitterung noch ein wenig zu vertiefen und ihr doch zugleich die Waffen des Zorns aus der Hand zu spielen:

»Nicht wahr, Fräulein Leinemann,« sagte sie mit einer unnachahmlichen Treuherzigkeit, »Sie nehmen mir den kleinen Scherz doch nicht übel?«

Und während jene erschüttert mit sich selber kämpfte, ob sie das hübsche kleine Ungeheuer nicht einfach aus dem Hause werfen sollte, lenkte dieses schnell ab und rief mit fröhlicher Unbefangenheit:

»Kinder, wißt ihr, wie ich mir diesen ›König, furchtbar prächtig‹ vorstelle? Genau wie Iwan den Schrecklichen vom Gymnasium:

›Denn was er sinnt, ist Schrecken, und was er blickt, ist Wut –‹

»Na, paßt das nicht wie angegossen?«

Eine überraschte Zustimmung malte sich in aller Augen.

Fräulein Leinemann aber hatte in diesem Augenblick eine Offenbarung.

Wenn irgendein Mensch in der Welt, so war dieser allgefürchtete Pädagoge berufen, Alma zu bändigen und die aus den Fugen weichende Disziplin der Musteranstalt einzurenken. Ihm und ihm allein mußte dies Werk gelingen; wenn aber doch nicht, wenn die Unverbesserte auch seiner Kunst trotzte – dann, ja, dann war immerhin Fräulein Leinemanns Ruf gerettet, 53 denn was jener Gewaltige nicht vermochte, das konnte auch von einem schwachen Weibe nicht verlangt werden; dann konnte Alma mit gutem Gewissen als eine verlorene Seele ihrem Vaterhause zurückgegeben werden. Fräulein Leinemann gestand sich, daß sie sich im stillen ein wenig auf den letzteren Ausgang der Sache als den wahrscheinlicheren freute, denn immerhin würde ihr Ehrgeiz die Überlegenheit jenes finstern Mannes nur unter schmerzlichen Zuckungen anerkennen. Welch ein Genuß dagegen mußte es sein, den Helden von zehn Mordduellen vor dieser jungen Äffin die Waffen strecken zu sehen! Wer weiß, vielleicht konnte man noch einmal aus dieser seiner Niederlage Kapital schlagen, wenn er erst Schulrat war!

Ihr Entschluß war gefaßt, Doktor Belling für einige Unterrichtsstunden zu engagieren, selbstverständlich für einen sehr hohen Gehalt; das konnte die Musteranstalt sich in solchen Fällen leisten.

Nur wie war ein Mathematiker an der Mädchenschule zu verwerten? Als gemeiner Rechenlehrer – das war unmöglich!

Mit großer Geistesgegenwart erkannte sie, daß die mathematischen Wissenschaften zwar im allgemeinen in ihrer abstrakten Herbheit für Mädchenköpfe wenig geeignet sind, in ihren Anfangsgründen jedoch für gereiftere Schülerinnen von erklecklichem Nutzen sein könnten. Klagt man doch allerorten so viel über die Eigenartigkeit weiblicher Logik; warum sollte man nicht einmal versuchen, von hier aus die bessernde Hand anzulegen?

In dieser rasch eroberten Erkenntnis schrieb sie 54 Herrn Doktor Belling einen sehr schmeichelhaften Brief, in dem sie ihm ihre Bitte vorlegte, einige besonders begabte junge Damen ihrer Anstalt in seiner schönen Wissenschaft zu unterrichten.

Mit Alma Gruber schloß sie inzwischen einen heuchlerischen Waffenstillstand.

*

Seit jenem ersten Kaffeebesuch in der Gartenlaube hatte Gotthold Belling die Gewohnheit angenommen, alle Dinge von Wichtigkeit, die in sein stilles Leben fielen, mit Fräulein Helene Gehrke zu besprechen; er fand, daß solche Aussprache in wunderbarer Weise seine Gedanken klärte und seine Entschlüsse festigte. Und es war merkwürdig, wie sich die Zahl der wichtigen Dinge im Lauf der Woche mehrte; bald gab es kaum noch Vorfälle, die unbedeutend genug waren, um nicht dringend einer Erörterung zu bedürfen. Und wenn er ging, sie in der Laube oder in dem behaglichen Hinterstübchen aufzusuchen, hatten seine düsteren Augen einen warmen Glanz, und wenn er zurückkam, einen noch wärmeren.

Ihr Verkehr war ein sehr offenherziger und zwangloser, wie unter guten Kameraden; eine sanfte Kühle wehte zwischen ihnen hin und her, eine freundliche Klarheit, die jede schwüle Stimmung ausschloß.

Helene war stolz darauf, daß sie durch ihre kluge Ehrlichkeit diesen erquickenden Umgangston ermöglicht hatte; lagen doch seither ihrer beider Herzen offen voreinander wie zwei schön gedruckte Bücher. Sie konnte friedlich ruhen in seiner edeln Freundschaft wie 55 in einem sommerlichen Kornfeld, und sie konnte ungestört den versunkenen Blumengarten der süßen Leidenschaft im sicheren Herzen verwahren. Sie wußte, sie hatte nichts von dem Freunde, nichts für den Freund zu fürchten; sie sah, seine Augen ruhten mit maßvoller Wärme auf ihr, und sein Händedruck verriet niemals einen schnelleren Pulsschlag.

Und er, er gestand sich, daß er noch niemals eine gleich glückliche Zeit durchlebt habe; er war mit sich und der Welt zufrieden; die täglichen Angststunden vor der Klasse waren schnell überstanden; weitere Wünsche hatte er nicht, als täglich ein halbes Stündchen lang in Helenens große graue Augen zu sehen und mit ihr ein vernünftiges Gespräch zu führen. Daß ihr Herz versagt war, wußte er ja; so kam ihm auch nicht einmal der Gedanke, ob es vielleicht ein noch reizvolleres Verhältnis zwischen zwei jungen Leuten ungleichen Geschlechts geben könne. Auch erfüllte ihn die hohe Idealität ihrer Auffassung mit so großer Hochachtung, daß er es für schändlich gehalten hätte, die Haltbarkeit derselben auch nur auf die Probe zu stellen, denn er war von der Einzigkeit einer wahren Liebe genau so fest überzeugt wie sie.

Als Gotthold das überraschende Schreiben des Fräulein Leinemann empfing, eilte er natürlich auf der Stelle, den Rat seiner guten Freundin einzuholen.

»Was gedenken Sie zu antworten?« fragte Helene, als sie den Brief gelesen hatte.

»Ich hätte Lust, den Antrag anzunehmen,« sagte er, »vornehmlich des mir gebotenen schönen 56 Extrahonorars wegen; wenn ich dasselbe regelmäßig zurücklege, so kann ich vielleicht schon in zwanzig Jahren so viel beisammen haben, um mich als Privatdozent habilitieren und ganz meiner Wissenschaft leben zu können. Ich bin dann eben erst fünfzig Jahre alt und habe noch eine reiche Zukunft vor mir –«

»Spätestens mit siebzig Jahren werden Sie dann schon Professor,« lachte Helene, »mit neunzig bekommen Sie den Charakter als Geheimrat, mit hundert bis hundertundzehn den Orden Pour le mérite für Kunst und Wissenschaft, mit hundertundzwanzig den Ehrendoktor der Universität Jokohama – welche glänzenden Aussichten! Und das alles werden Sie im letzten Grund einem ungezogenen kleinen Backfischchen verdanken.«

»Wie meinen Sie das?« fragte er verwundert.

»Ganz einfach. Fräulein Leinemann bedarf Ihrer pädagogischen Faust zur Zähmung einer Widerspenstigen – nebenbei bemerkt, des reichsten und hübschesten Mädchens der Stadt, Fräulein Alma Gruber –«

»Da ist sie freilich sehr an den Unrechten gekommen – obgleich – wer weiß – vielleicht werde ich mit den Mädchen von vornherein besser fertig als mit den Jungen, auch mit einem freundlicheren Gesicht – sie sind von Natur zarter, feinfühliger, schmiegsamer –«

»Um Gottes willen, wo denken Sie hin? Nur feinspitziger, boshafter, listiger und übermütiger sind wir – natürlich nur, solange wir Schulmädchen sind –, ich rate Ihnen ernstlich, lieber dort die Hand aus dem Spiele zu lassen, wenigstens solange Alma Gruber die Schule besucht, und nachher wird Fräulein Leinemann Sie ohnehin entbehren können.«

57 »Ist denn dieses Kind ein so unerhörter Ausbund von Gefährlichkeit?«

»Allerdings, und für Sie doppelt gefährlich, denn Ihr Nimbus darf nicht den kleinsten Riß bekommen. Sie mag sonst nicht bösartig von Natur sein, aber sie kennt weder Respekt noch Furcht; nur wenn Sie wirklich so wären, wie Sie manchmal aussehen, dann könnten Sie den Versuch wagen, die junge Löwin zu zähmen. So aber – denken Sie doch, sie versagt Ihnen den Gehorsam, sie trotzt Ihren grimmigen Blicken und lacht Sie aus – ich traue ihr das zu, sie ist verzweifelt klug – was wollen Sie machen? Prügeln können Sie sie doch nicht, sich mit ihr schießen auch nicht, Sie müssen Ihre Niederlage hinnehmen; Alma wird dann zwar aus der Anstalt entfernt werden und fortan auf anderm Gebiete gegen andre Männer zu Felde ziehen, aber was nutzt das Ihnen? Am nächsten Tag kennt die ganze Stadt den Schiffbruch Ihrer Autorität, nicht am letzten Ihre Tertianer, und dann –«

»Sie haben recht, liebe Freundin, dann werden sie es auf der Stelle auch versuchen, und ich bin verloren. Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre treue Warnung. Es ist entschieden, ich werde mich nicht aufs Eis locken lassen.«

»Gott sei Dank! Ich war schon ernstlich in Sorge um Sie. Übrigens ist diese Alma kein Kind, sondern ein sechzehnjähriges Fräulein. Ich werde Ihnen nachher einige von ihren Streichen erzählen, die ich durch ihre Mitschülerin Berta Heding weiß, und Sie werden erschrecken, an welchem Abgrund Sie gestanden haben. 58 Gegen diese Künste wären Sie waffenlos wie ein Kind gewesen.«

»Sonderbar! Ich hätte mir alle Mädchen gedacht ungefähr wie Sie –«

»Das wäre auch schon gerade schlimm genug,« lachte Helene. »Ohne mich zu rühmen, aber ich war als Schülerin eine der Ausgelassensten und Unbändigsten; wenn ich jetzt etwas ernster geworden bin, so danke ich das allein – nun aber gehen Sie und schreiben Sie Ihren Absagebrief; ich bin nicht ruhig, ehe ich ihn unterwegs weiß. Schicken Sie ihn durch die Post, eingeschrieben, das ist am feierlichsten.«

Belling gehorchte, schrieb den Brief mit einer sehr höflichen, aber bestimmten Ablehnung – Grund: Arbeitsüberhäufung – und ging, ihn sogleich auf die Post zu tragen. Unterwegs erinnerte ihn die Form des Briefumschlags an ein mathematisches Problem, in dem der Kreuzpunkt der Diagonalen eines Parallelogramms eine gewisse Rolle spielte, und er versenkte seinen Geist alsbald so tief in diese Untersuchung, daß er den Zweck seines Ausgangs völlig vergaß und mit dem Brief in der Hand die städtische Promenade entlang brütete.

Fast hatte er schon den Faden der endgültigen Lösung sicher in der Hand, als er plötzlich aufgestört wurde durch den Anblick zweier dicht vor ihm spazierenden Damen, in deren einer er mit einem kleinen Schreck Fräulein Leinemann erkannte. Er mäßigte sofort seine Schritte und gedachte bei dem ersten Querweg seitwärts abzubiegen, als sein Auge durch die Gestalt und das Gebaren ihrer Begleiterin gefesselt 59 wurde. Es war eine kleine, feste Gestalt voll jugendlicher Geschmeidigkeit, mit einer eignen kecken Grazie des Ganges. Sie drehte ihr bewegliches Hälschen nach rechts und links herum, und dabei gab sie gelegentlich ihr Profil zur Ansicht, das durch eine vornehme Kühnheit des Schnittes ausgezeichnet war. Flotte Löckchen kräuselten sich über dem Nacken auf und hüpften leicht wie in heiterem Übermut. Selbst die streng geometrisch geschulte Seele Iwans des Schrecklichen konnte sich ein männliches Wohlgefallen an dem regellosen Reiz dieser Erscheinung nicht verhehlen.

Bald darauf fiel ihm an Fräulein Leinemanns hagerer Hochgestalt etwas Sonderbares ins Auge; es hatte den Anschein, als fiele ihr ein langer, prächtiger Zopf frei über den Rücken. Das schien doch eine recht auffallende Frisur für eine Pädagogin vom Rang und Lebensalter dieser Dame; übrigens hatte der Zopf eine sehr ungewöhnliche, stark ins Grünliche spielende Färbung. Da streckte sich plötzlich die rechte Hand der jungen Dame ganz leise hinter den Rücken der älteren und machte sich in geheimnisvoller Weise etwas an jenem Zopf zu schaffen. Jetzt erkannte er die wahre Natur desselben: er bestand aus einer langen Reihe von Kletten, die, in zierlicher Regelmäßigkeit aneinander gefügt, von dem Mantelkragen herabhingen.

Gleichzeitig vernahm er nun auch die Stimme der berühmten Lehrerin, die vernehmlich sagte:

»Wirklich, liebe Alma, Sie glauben nicht, wie sehr es mich freut, daß Sie mir endlich einmal aus freien Stücken Ihre aufrichtige Reue zu erkennen geben; 60 ich muß Ihnen gestehen, daß ich im Begriff stand, völlig an der inneren Weiblichkeit Ihres Gemütslebens zu verzweifeln, und doch, liebes Kind, ist nichts so häßlich an einer Jungfrau, nichts so unangenehm vor Gott und den Menschen, als ein unweibliches Wesen. Es wäre mir ein wahrhaft tröstlicher Gedanke, wenn ich den heutigen Tag mit heiligem Ernst als Ihren Tag von Damaskus bezeichnen könnte –«

Die junge Dame tat einen lauten Seufzer, der von tiefer Zerknirschung sprach, und fügte gleichzeitig mit der geschickten Rechten eine neue Klette an den Zopf.

Doktor Belling entsetzte sich und dachte: ›Gott sei Dank, daß der Balg nicht in meiner Tertia sitzt!‹

In diesem Augenblick mochte Fräulein Leinemann ein Zupfen in ihrem Rücken verspüren; sie wandte den Kopf plötzlich herum und ward des nicht allzu weit hinter ihr schreitenden Mathematikers gewahr. Sogleich blieb sie stehen und erwartete mit einem liebenswürdigen Lächeln sein Herannahen.

Belling war peinlich betroffen; ein Fluchtversuch war durch die Umstände ausgeschlossen; auch der Gedanke, ihr den Brief zu überreichen und sich aus dem Staub zu machen, schien ihm nicht ausführbar; so ergab er sich denn und trat heran, sie zu begrüßen.

Indem er nun gleichzeitig einen etwas scheuen und finsteren Seitenblick auf die hübsche junge Übeltäterin warf, machte er eine ganz überraschende Entdeckung. Dieselbe stand da in der äußersten Verwirrung und Beschämung, von flammendem Rot übergossen, die Augen regungslos zu Boden gerichtet.

61 In dieser Verfassung hatte noch kein Sterblicher Alma Gruber gesehen, und es steht fest: so hatte sie auch noch kein Sterblicher in ihrem anmutigsten Reiz gesehen.

Auf Belling übte dieser Anblick eine Wirkung, die fast einer leichten Betäubung oder einem angenehmen Schwindel gleichkam. Nur wie aus einer gewissen Ferne und mit eigentümlicher Gleichgültigkeit hörte er die reich fließenden Worte der Institutsvorsteherin, die in verbindlichster Form ihre Bitte wiederholte, viel von dem idealen Wert der reinen Mathematik redete, von der bildenden Kraft abgezogener Vorstellungen, von der nahen Verwandtschaft mit der Logik und der Metaphysik, von dem Einfluß der praktischen Trigonometrie auf die Charakterentwicklung, von der Vertiefung des weiblichen Gemütslebens durch klare, stereometrische Anschauungen und vielen ähnlichen pädagogischen Wundern – er stand stumm mit seinem Absagebrief in der Hand, und als er zur Besinnung kam und von ihr freigelassen war, hatte er ja gesagt und alles war verabredet und geordnet.

Mit einem Gefühl tiefen Unbehagens kehrte er nach Hause zurück; den unbenützten Brief legte er zu den Personalakten und den Papieren, die die wichtigsten Abschnitte seines Lebens bezeichneten, Prüfungszeugnisse, Anstellungsdekrete und dergleichen.

»Wir haben uns überrumpeln lassen, Molly,« sagte er, »wir sind im Begriff, etwas gegen unsre Überzeugung zu tun, unsre ganze Existenz mutwillig aufs Spiel zu setzen!«

62 Molly gab einige sanft heulende Töne von sich, wie immer, wenn er ins Gespräch gezogen wurde.

»Ist das nicht halber Wahnsinn? Wie war es nur möglich, sich in einer flüchtigen Verwirrung so widerstandslos gefangen zu geben? Ist es wirklich eine so merkwürdig reizvolle Aufgabe, die Kindereien eines verzogenen Backfisches zu bekämpfen?«

Er war entschieden nicht dieser Ansicht; aber es gab in einem Winkel seiner Seele eine Stimme, die dreist behauptete: Ja, es ist eine merkwürdig reizvolle Aufgabe.

Was ihn zunächst am meisten verdroß und mit einer wahren Angst erfüllte, war die Notwendigkeit, Helene von seinem tollen Wankelmut in Kenntnis zu setzen; auch rang er den ganzen Abend hindurch vergebens mit diesem Entschluß und verbrachte infolgedessen eine schlaflose Nacht; er hätte ebenso gern ein zweites Oberlehrerexamen bestanden.

Am nächsten Tag aber legte er ihr die schwere Beichte ab und berichtete mit ziemlich erheblicher Wahrheitsliebe die näheren Umstände seines Stimmungswechsels.

Helene sah ihn durchdringend an, ward dann auffallend blaß und sagte nur:

»Gott gebe, daß es Ihnen zum Glück ausschlage!«

Sie blieb auch schweigsam und er verstimmt, und die Frau Rechnungsrätin gab sich vergebliche Mühe, beide durch Hoffnung heiter zu stimmen.

»Mit so einer Gans sollten Sie nicht fertig werden, verehrter Herr Doktor,« rief sie, »ich bitte Sie! Meine Helene war doch auch ein wildes Pflänzchen und ist es im Grunde noch jetzt – Sie kennen sie 63 nicht – aber vor Ihnen hat sie einen Heidenrespekt, Sie wissen gar nicht, was für einen! Und nun so eine dumme kleine Pute!«

Und als er gegangen war, sagte sie zu ihrer Tochter:

»Ich weiß wirklich nicht, warum du dich so gefürchtet hast, Lenchen; und wenn er sie wirklich nicht zur Vernunft bringt, ist das Unglück auch noch nicht so groß. Seine Tertianer sind schon viel zu gut gezogen, die revoltieren nicht mehr. Sie haben zu großen Respekt vor seinem Schießen.«

»Ach, wenn es nur das wäre!« sagte Helene geheimnisvoll und trocknete heimlich eine Träne. Dann ging sie hinaus auf den Hof und vollführte eine Kanonade, als ob es der Stadt eine gewonnene Schlacht zu verkünden gälte.

*

»Kinder, wißt ihr das Neueste?« Mit diesem lauten Ruf stürmte Alma nach jenem verhängnisvollen Spaziergang unter ihre Kameradinnen. »Wir kriegen einen Tierbändiger, ratet mal, wen?«

Alle horchten staunend auf. Einige Minuten lang weidete sie ihr Herz an der ängstlichen Erwartung der andern; endlich hielt sie es selbst nicht mehr aus und offenbarte:

»Iwan den Schrecklichen!«

»Aaah!

»Na, wer's glaubt!«

»Alma lügt, wie gewöhnlich!«

»Der! Was soll der bei uns? Der schießt ja!«

»Alma, rede doch nicht so dummes Zeug!«

»So wahr ich hier stehe,« triumphierte Alma, »er 64 kommt: ›Ein König, furchtbar prächtig, wie blut'ger Nordlichtschein!‹ Kinder, ihr glaubt gar nicht, wie ich mich darauf freue!«

»Aber was soll er uns denn für Stunden geben?« fragte Lisbeth Wippermann. »Bei den Bengeln hat er doch Mathematik!«

»Und bei uns soll er das Gemütsleben vertiefen,« sagte Alma weise, »nämlich auch mit Mathematik – aber natürlich nur bei uns Reiferen!« setzte sie mit stolz erhobenem Kopf hinzu.

»Na, dann kenne ich das Tier, das er bändigen soll!« sagte Gretchen Ingenohl, die als Tugendspiegel bekannt und verachtet war.

Alma rümpfte höhnisch die Nase.

»Natürlich, tugendsame Gänschen brauchen sich nicht erst bändigen zu lassen, die kriechen vor Angst immer von selbst in den richtigen Stall.«

»Wißt ihr auch, was der Hauptspaß bei der ganzen Geschichte wird?« rief der Tugendspiegel. »Wenn Alma zu Kreuze kriecht! Das wird für Fräulein Leinemann der schönste Tag ihres Lebens!«

»Ich?!« schrie Alma empört.

»Oh, du wirst dich schon ducken! Mit dem nimmst du's doch nicht auf! Ich sehe dich schon, wie du rot wirst und die Augen niederschlägst. Der wird dich zähmen wie ein Hündchen, Iwan der Schreckliche.«

Almas Augen funkelten. Die armen Mädchen entsetzten sich ordentlich über die Wut, die aus ihren Zügen und geballten Fäusten sprach. Sie begriffen nicht, wie die kleine Neckerei sie so maßlos aufregen konnte.

65 Alma aber begriff es. Erröten! Augen niederschlagen! Welch ein Glück, daß niemand die Schmach gesehen hatte, die sie auf offener Promenade schon erlitten! Sie tat in ihrem Herzen den fürchterlichsten Racheschwur.

»Wenn ihr wüßtet, wie ich den Menschen hasse!« schrie sie außer sich. »Oh, der soll mich kennen lernen!«

Noch ehe der neue Unterricht begonnen hatte, erwachte in Alma ein rätselhaftes Interesse für die strenge Wissenschaft der Mathematik. Bei einem Besuch im Elternhause ließ sie sich von ihrem Bruder in die ersten Geheimnisse derselben einweihen und stahl ihm ein Lehrbuch, das sie, obgleich es längst nicht mehr sehr appetitreizend aussah, mit hingebendem Eifer studierte, nicht nur in ihren Mußestunden, sondern unter dem Tisch auch in denjenigen Zeitabschnitten, die durchaus weder für die Muße noch für die Mathematik bestimmt waren. Bald zeichnete sie mit großer Geschicklichkeit die saubersten Dreieckchen, Quadrätchen und Parallelogrämmchen; aber auch der geraden Linie an sich wußte sie Geschmack abzugewinnen, nur pflegte sie einer solchen zuletzt ein paar Widerhaken anzusetzen, um sie als Lanze zu kennzeichnen, die sie dann in Gedanken dem verhaßten Unterdrücker freier Mädchenseelen ins Herz bohrte; mit gleicher Kunst verstand sie aus jedem Kreise durch Anwendung eines konzentrischen Hilfskreises einen Mühlstein zu gestalten, den ihre Phantasie dem Feind um den Hals hängte, um ihn mit dieser Bürde ins Meer zu werfen, wo es am tiefsten ist.

Über diesen Studien und Mordplänen kam der 66 Tag der ersten Mathematikstunde heran. Fräulein Leinemann hatte sieben Schülerinnen der Ehre gewürdigt, in diese männliche Wissenschaft eingeweiht zu werden, und zwar hatte sie Sorge getragen, nicht so sehr die begabtesten als die sittlich reifsten auszuwählen, von deren bewährtem Tugendsinn Almas Frevelmut keinerlei Rückendeckung zu erwarten hatte.

Wohlgerüstet saß diese auf ihrem Platz; sie erwartete ihren Feind, richtiger ihr Opfer, mit vollkommener Siegesgewißheit. Sie hatte ihren Schlachtplan mit aller Umsicht entworfen. Sie würde am Anfang der Stunde still mit gefalteten Händen wie ein leibhaftiger Gottesengel dasitzen; zu diesem Zweck hatte sie sich eine sonderbare Madonnenfrisur angelegt, einen ganz glatten, streng pomadisierten Scheitel, der sich zu ihrem kecken Gesicht unendlich komisch ausnahm, so daß selbst die erlesene Tugend alle Mühe hatte, sich des Lachens zu erwehren. Wenn dann zufällig der Herr Lehrer sich an dem Tischrand, der zufällig dick mit Kreide beschmiert war, einen weißen Strich über den Bauch malte, was ging sie das an? Und wenn dann zufällig aus einer Schachtel in ihrer Kleidertasche ein Dutzend Maikäfer hervorschwirrte, wer konnte ihr die Schuld auf den Kopf zusagen?

Nach solchen harmlosen Vorpostengefechten freilich würde sie mutvoll zum offenen Angriff vorgehen; wenn sie jenem, der dann offenbar schon eingeschüchtert war, statt seiner philiströsen Quadrate und Dreiecke ganz gemütlich ein fröhliches Schweinchen, mathematisch stilisiert, präsentierte und ihn dazu treuherzig anlächelte, wie konnte er da seine Fassung behalten? Und wenn 67 sie zuletzt auf seine Frage oder Drohung ihm unvermutet mit der nicht zu verkennenden Fistelstimme seines eignen Gymnasialdirektors in die Parade führe, mußte er da nicht notwendig ein so dummes Gesicht machen, daß sie selbst diese sechs Tugendpinselchen als willenlose Lacher auf ihrer Seite hätte? Wahrlich, sie konnte mit Seelenruhe dem Kampf entgegensehen.

Im Nebenzimmer ging Doktor Belling mit unruhigen Schritten auf und ab, große Schweißtropfen auf der Stirn. Seine Stimmung war trostlos; er fühlte sich verurteilt, in einen bodenlosen Strudel zu tauchen, aus dem es keine Wiederkehr gab; er kam sich vor wie ein Betrüger, der heute öffentlich entlarvt werden sollte. Heute würde er den Mädchen und morgen den Knaben zum Gespött werden und übermorgen als ein geschlagener, unbrauchbarer Mann ohne Heimat und Nahrung seines Weges ziehen. Und er selbst war es, der dies Geschick sich in frevelhaftem Leichtsinn heraufbeschworen!

Fräulein Leinemann trat ein und begrüßte ihn: die Priesterin, die den Stier zum Altar geleiten sollte. Er folgte ihr fast willenlos in die ihm bestimmte Folterkammer, wo die eiserne Jungfrau Alma seiner harrte.

Fräulein Leinemann stellte ihn vor und setzte sich dann in eine Ecke, um dort der Stunde beizuwohnen; sie gedachte von der Methode des bewunderten Pädagogen etwas zu profitieren.

Dieser stand einsam vor den sieben Jungfrauen, grüßte finster, setzte sich. Almas Blicke maßen gespannt den trennenden Raum zwischen dem Tischende und 68 seinem Rock; doch er saß steif aufgerichtet und berührte ihn nicht. Er sah grimmiger aus als je, ganz Iwan der Schreckliche. Alle vierzehn Mädchenaugen senkten sich, und selbst Almas Lippen hauchten unhörbar: »Ein König, furchtbar prächtig, wie blut'ger Nordlichtschein!«

Jetzt ließ er einen scheuen Blick über das regungslose Häuflein schweifen; er entdeckte die abscheuliche Frisur Almas und wußte mit schauerlicher Sicherheit: dies bedeutete etwas. Er entfärbte sich und zitterte leise. Doch wie der einsame Mensch, der in baumloser Wüste plötzlich einem Löwen gegenübersteht, das Ungetüm mit starren Blicken festhält und zu bannen sucht, so haftete sein schwarzes Auge unbewegt an dem Scheitel des gefährlichen Mädchens.

Nie hatte er so dämonisch fürchterlich ausgesehen als in diesen Sekunden seiner äußersten Angst.

Und Alma – Alma errötete über und über, bohrte die verwirrten Blicke in den Tisch und zitterte.

Sie hatte die Empfindung, daß zwei scharfe Brenngläser unausgesetzt auf ihre Stirn gerichtet wären und dort erbarmungslos sengten und sengten; sie wäre in diesem Augenblick bereit gewesen, ihren schönsten Zopf zu opfern, wenn sie sich des entsetzlichen Madonnenscheitels hätte entledigen können. Umsonst versuchte sie sich zu trösten: ›Er merkt den Hohn ja gar nicht! Er weiß ja nicht, wie du sonst die Haare trägst!‹ Was half dieser Trost? Auf jeden Fall stand ihr die Frisur abscheulich schlecht.

Tränen ohnmächtiger Wut füllten ihre Augen, eine hastige Rachsucht trotzte in ihr auf gegen den Menschen, 69 der sich herausnahm, sie häßlich zu finden, und sie tastete leise unter dem Tisch nach dem lebenwimmelnden Kästchen in ihrer Tasche. Mit nervösen Fingern hielt sie es umklammert, auf einen günstigen Moment lauernd, den Deckel zu öffnen. Aber – die entsetzlichen zwei Brenngläser sengten auch diese verborgene Hand; erschrocken zog sie dieselbe wieder heraus und legte sie in all ihrer unschuldigen Weiße offen auf den Tisch. In der Tat, diese Hand wenigstens war unzweifelhaft hübsch, rund, zart und reizend gegliedert. Hier taten die Brenngläser nicht mehr weh. ›Ich warte lieber noch eine Viertelstunde!‹ dachte sie. ›Er muß erst noch sicherer gemacht werden! Und ich bin selbst noch ein bißchen zu aufgeregt!‹

Allein diese Viertelstunde ging herum und noch eine dazu – kein Maikäfer flog auf. Der Lehrer hatte sich längst in die Erklärung der schlichten Grundsätze der Geometrie vertieft und ließ erläuternde Zeichnungen anfertigen. Alma malte kein einziges Schweinchen, keine Lanze und keinen Mühlstein, sondern die allergesetzmäßigsten Linien, Quadrate und Kreise. Am allerwenigsten beging sie die Pietätlosigkeit, die eigenartige Klangfarbe einer Gymnasialdirektorstimme zu kopieren.

Immer demütiger, immer trauriger ward ihr kühnes Gesichtchen; sie kam fast einer Ohnmacht nahe, wenn sie an die verhängnisvolle Kreide auf dem Tischrand dachte. Zum Glück war Doktor Bellings Bauch nicht von zu beträchtlichen Ausmessungen; doch so oft er sich im Eifer des Beweisens ein wenig vorbeugte, richtete sie einen angstvoll flehenden Blick auf ihn, als 70 ob es gälte, ihn von einem Abgrund zurückzureißen. Sein Antlitz aber wandelte sich nicht; sein Auge hing an Almas verängstigten Zügen mit unentwegter, düsterer Strenge.

So ging diese denkwürdige Stunde herum und schloß mit einem unbezweifelten Sieg Iwans des Schrecklichen.

Fräulein Leinemann trat auf ihn zu, drückte ihm die Hand und sagte leise:

»Ich bewundere Sie, Herr Doktor!«

Der Herr Doktor empfand in seinem Gewissen, daß dieser Lobspruch eigentlich ein unverdienter sei, und fühlte doch zugleich, daß sein Herz ihn nur um so mehr mit einem gesteigerten Wohlwollen gegen die Lobende beantwortete.

Die Betrachtung dieser eignen Gefühle gab ihm einen genialen Gedanken ein. Er verneigte sich leicht vor Alma und sagte ernsthaft:

»Fräulein Alma, ich bewundere Sie!«

Sie antwortete heiß errötend mit einem Blick, in dem beschämtes Dankgefühl zugleich mit dem stillen Bekenntnis all ihrer geplanten Sünden und rückhaltlose Unterwerfung lag. Dann hielt sie ihren Abgang, stolz, hochaufgerichtet, mit einem verächtlichen Blick auf ihre Gefährtinnen; auf ihrer Stirn thronte der volle Triumph: »Seht, dieser Mann bewundert mich!«

Jetzt war sein Sieg vollständig. Almas Tag von Damaskus war gekommen.

Als sie in ihr Kämmerlein trat, zog sie die fatale Schachtel aus der Tasche, hob den Deckel ein wenig in die Höhe und betrachtete das krabbelnde Gewimmel. 71 Ein Haß ergriff sie gegen diese mutlosen Geschöpfe, die ihrer Pflicht so wenig genügt hatten, und sie verurteilte dieselben ohne Umstände samt und sonders zum Tode. Etwas vom Geist Iwan des Schrecklichen war über sie gekommen. Und zwar war ihnen der Tod durch das Fallbeil bestimmt.

Auf dem Tisch stand ein sinnvoller Apparat zum Zigarrenabschneiden, den sie vermittelst einer hinzugefügten Stickerei als Geburtstagsgeschenk für ihren Vater verarbeitete; derselbe wies drei runde Löcher und darüber ein bewegliches Messer auf. Durch diese Löcher steckte sie hurtig die Köpfe von drei Maikäfern und guillotinierte sie mit der Präzision eines geprüften Nachrichters.

»Oh, wenn das doch die Köpfe von Fräulein Stübbe, Fräulein Kahlemann und Mademoiselle Picard wären!« seufzte sie mit einem wonnevollen Schauder, die Namen ihrer bestgehaßten Lehrerinnen aufzählend.

»Na, gut,« fügte sie hinzu, »und jetzt kommen Herr Hoppmeyer, Herr Fonsky und Herr Dehnel an die Reihe!« Auch diese drei wackeren Erzieher wurden in effigie um einen Kopf kürzer gemacht.

So ging die Blutarbeit fort, bis nur noch zwei besonders schöne und fette Exemplare übrig waren. Von diesen schien sich das eine für ihr phantasievolles Auge durch einen besonders sanften, seelischen Blick auszuzeichnen: das war natürlich Fräulein Leinemann. Diese wurde für sich allein mit solcher Leidenschaft hingerichtet, daß der Kopf weithin in das Zimmer flog. Ein Ausdruck wilder Befriedigung lag auf ihren Lippen, sie glich der Kriemhild, da sie den grimmen Hagen erschlug.

72 Jetzt packte sie den letzten Überlebenden. Der hatte etwas merkwürdig Finsteres, Despotisches im Ausdruck, wie ein gefangener Krieger. Gut, das war also Iwan der Schreckliche; der sollte nicht eines so ordinären Todes sterben, sondern mit der edeln, kriegerischen Lanze durchbohrt werden. Sie zog eine Nadel aus dem Kleid und setzte die Spitze mordbereit auf seine Brust.

Da überlief sie ein Grauen. Ihr Opfer hatte so dämonische Augen, die mit überlegenem Hohn ihr entgegenstarrten und sie nicht loslassen wollten. Da warf sie es hastig in großem Schwung aus dem offenen Fenster. Und siehe da, stolz wie ein Adler flog es der Sonne zu.

Alma blickte ihm schwärmerisch nach und sprach feierlich: »Ein König, furchtbar prächtig, wie blut'ger Nordlichtschein!« Hierauf brach sie in heftige Tränen aus. Doch wenn man sie gefoltert hätte, sie würde nicht haben sagen können, worüber sie weinte. Über die ermordeten Maikäfer doch schwerlich.

*

Gotthold Belling kehrte in äußerst gehobener Stimmung nach Hause zurück. Es war gut, daß keiner seiner Schüler den munteren Ausdruck seiner Züge sah; wer weiß, ob nicht der Respekt darunter gelitten hätte! Nicht gerade Fräulein Leinemanns glänzende Anerkennung war es, was ihn so heiter durchwärmte, nicht der pädagogische Triumph – o ja, freilich, das war etwas recht Schönes, noch mehr, ein wahres, großes Glück, eine rechte Rettung aus dringendster Gefahr, 73 und doch, und doch – auch dieses erhebende Bewußtsein kam nicht auf gegen die Erinnerung an den unbeschreiblich rührenden Blick jenes bildhübschen Geschöpfchens. Welcher Blick! Welcher Blick! Und wie wundervolle schwarze Augen!

Als er zu Hause angekommen war, empfand er es als seine erste Pflicht, der guten Freundin Mitteilung zu machen von dem glücklichen Ausgang des gefürchteten Abenteuers. Gewiß, es war Pflicht; freilich war er nie im Leben so wenig gestimmt gewesen, Pflichten zu erfüllen. Es muß doch auch Stunden geben, da man, vom Druck aller Pflichten gelöst, ganz sich selbst, ganz dem Genuß des eignen Empfindens leben kann! Pflicht und immer nur Pflicht! Welcher Mensch könnte beständig solchen Druck ertragen! Auch Stunden reiner Freiheit braucht der Geist nach ernstem Zwang – auch die Freiheit, von schönen schwarzen Augen und rührenden Blicken zu träumen.

Einige Stunden lang machte er Gebrauch von dieser selbstgeschenkten Freiheit; dann überkam ihn doch eine Empfindung wie Reue. Es war doch nicht schön, der liebenswürdigsten Freundschaft ihr Recht zu schmälern. Er ging, den Frauen seinen Besuch zu machen.

Helene schaute ihm mit einem bangen Blick entgegen.

»Ihre Sorge war unnötig,« sagte er etwas gezwungen, »Fräulein Alma Gruber ist, wie es scheint, verleumdet worden. Sie ist nach meiner Erfahrung die Bescheidenheit und Sanftmut selbst.«

»Sie sind ein Tausendkünstler!« rief die Frau Rechnungsrätin. »Aber Sie glauben nicht, wie mich 74 das freut, verehrter Herr Doktor, daß Sie auch diesen unartigen Backfisch in Respekt setzen konnten; ich hätte es wirklich kaum gehofft –«

Es mußte irgend etwas in den Worten der harmlosen Dame sein, das ihm nicht behagte; er machte ein verlegenes Gesicht. – Helene bemerkte es und sagte mit leichtem Spott:

»Also wieder ein Diamant, der nur des rechten Schleifers harrte! Wenn ich aber nur erst ganz sicher wäre, daß der glückliche Schliff wirkliche Dauer hätte! Verzeihen Sie mir den Zweifel – ich kenne die junge Dame von früher – auch ihre Eltern – übrigens in der Tat ein sehr hübsches Mädchen!«

»Die liebenswürdige Gesinnung, die Fräulein Gruber mir zeigte, wird von Dauer sein, ich weiß es,« sagte Belling bestimmt, beinahe scharf. »Wenn Sie den rührenden Blick gesehen hätten! Sie ist offenbar falsch behandelt worden – sie ist von Hause aus eine schöne Natur – ich möchte sie eine anmutige Seele nennen.«

Es klang eine mühsam gedämpfte Begeisterung durch seine Worte. Helene sah ihm scheu ins Gesicht, senkte den Blick und sagte ganz leise:

»Es wird wohl so sein.«

Dann ward sie auffallend schweigsam. Die Frau Rechnungsrätin redete an ihrer Statt zwar ziemlich viel, doch es erschien dem Mathematiker recht reizlos und gleichgültig. Er hatte zum erstenmal das Gefühl, von diesen beiden Frauen nicht verstanden zu werden.

›Es ist wohl ein unbewußtes und leicht 75 verzeihliches Gefühl des Neides gegen jenes bevorzugte Wesen!‹ dachte er. ›Wie könnten sie sonst so kühl und ungerecht urteilen?‹

Der Gedanke schien jedoch sogleich ihm sonderbar. Was hatte Helene denn eigentlich an jenem kleinen »Backfisch« zu beneiden? Richtig, das Wort Backfisch im Munde der alten Dame hatte ihn geärgert. Das war es. Warum nur gleich?

Zum erstenmal unterzog er Helenens Erscheinung einer bewußten Musterung. Und zum erstenmal fiel es ihm auf, daß sie wirklich schön zu nennen war. Ihr Profil, das sie ihm eben zugewendet hielt, war so ebenmäßig vornehm wie ihre hohe Gestalt; nirgends an ihrer ganzen Person machte sich irgendeine Einzelheit hervorstechend bemerkbar; es gingen alle Teile so edel und rein zusammen, daß ihre Schönheit dadurch alles Blendende verlor und für ein unachtsames Auge auch wohl gar nicht zum Bewußtsein drang, sondern nur in der Stille mild erfreuend wirkte wie ein verschämter Wohltäter, dessen Taten jeder sieht, dessen Name verborgen bleibt.

Es ist wahr, daß Gotthold Belling sich dieses Geständnis fast unwillig machte und den Wert desselben sogleich durch die mathematisierende Behauptung einschränkte, diese Art Schönheit habe etwas Negatives an sich, es sei gewissermaßen nur eine Nichthäßlichkeit, eines positiven starken Reizes doch eigentlich ermangelnd, während – nun ja, er wußte, wo solcher Reiz zu finden war.

Die gute Stimmung wollte nicht wiederkommen. Auch als er gegangen war, blieben die beiden Frauen 76 schweigsam. Plötzlich, nach einem sehr langen Nachdenken, seufzte Helene:

»Es gibt nichts Süßeres, als ganz in dem Glück andrer aufzugehen!«

»Aber, Helene, was redest du wieder für Zeug!« rief die Mutter entrüstet; so wenig will uns oft eine anerkannte Lebenswahrheit in ihrer besonderen Anwendung gefallen.

Von da an blieb die Freundschaft leise abgekühlt, die Brücke des vollen Vertrauens war abgebrochen, Gotthold fühlte keinen inneren Beruf mehr, Helene von rührenden Blicken einer andern jungen Dame oder sonstigen pädagogischen Triumphen zu erzählen.

Diese Triumphe aber erlitten keine Einbuße; Almas Umkehr war eine vollständige. Zwischen ihr und dem gesamten Lehrerpersonal herrschte fortan unumwölkter Friede; seit der symbolischen Hinrichtung desselben war ihr Groll geschwunden, denn ein edler Mensch haßt nicht über das Grab hinaus. Sie sah vor allem mit Verachtung auf ihre vorigen Kindereien herab, denn der Tag von Damaskus hatte ihr als reifste Frucht die stille Einsicht gebracht, daß sie kein Kind mehr sei, daß es also auch kein ausfüllender Lebenszweck mehr für sie sein könne, ihre Lehrer zu ärgern, sondern daß sie vielmehr allen Ernstes darauf zu denken habe, durch schöne Gewänder und Haartrachten sowie auch durch gesittete Gebärden die Herzen der andern Zeitgenossen zu erfreuen. Nur durch eine Untugend setzte sie noch zuweilen ihre Umgebung in Schrecken: durch ihre Leidenschaft, die Mathematik in alle andern Wissenschaften einzumischen und über alle zu erhöhen. 77 So kränkte sie den Historiker durch die Erfindung eines Herrn Cosinus von Medici, rechnete das Quadrat der Hypotenuse zu den christlichen Symbolen des pythagoräischen Konzils, sprach in der Literaturstunde nur von Goethe plus Schiller und machte sogar einen Versuch, die Kurve der Herderschen Parabeln zu berechnen. In der Zeichenstunde dagegen wurden ihre geradlinigen Figuren besonders rühmend hervorgehoben.

Alle diese kleinen Verstöße hinderten jedoch nicht, ihr die Qualifikation vollkommener sittlicher Reife zu erteilen, und so ward sie denn am Ende des Sommers sauber konfirmiert, mit den wärmsten Segenswünschen für ihr ferneres Leben aus der Schule entlassen, erhielt ihr neues Herbstkleid noch um einige Zentimeter länger, so daß nun auch nicht mehr der Sohlenrand der Stiefel zu sehen blieb, und empfing durch Anfügung einer angemessenen Turnüre den letzten Stempel der vollen Jungfräulichkeit. So gerüstet trat sie in die gesellschaftliche Winterkampagne ein.

 

4

Es war Winter geworden. Das Haus des Kommerzienrats Gruber rüstete sich zu der ersten Tanzgesellschaft dieses Jahres.

Alma saß in Festkleidung erwartungsvoll allein in dem großen Saal. Der Armleuchter war schon angezündet, das Gas zischte leise, sonst wehte ein feierliches Schweigen der Erwartung durch den stattlichen Raum. Der Parkettfußboden glänzte spiegelblank, und über die prächtigen Plüschmöbel glitten 78 schimmernde Lichter. Der Flügel war tatenlustig geöffnet, Tische und Stühle beiseitegerückt, eine Menge Tassen und Gläser standen darauf verteilt; alles war in musterhafter Ordnung, die Gäste konnten kommen.

Es war aber auch Zeit, daß sie kamen! Almas Herz schlug mit jeder Minute unruhiger.

»Mama könnte auch schon fertig sein,« murmelte sie ärgerlich; »daß sich Papa verspätet, ist freilich selbstverständlich!«

Sie wanderte ein paarmal den großen Saal auf und ab; ihr Herz schlug wahrhaftig ganz aufgeregt! War es denn möglich, daß sie Lampenfieber hatte, sie, Alma Gruber, die ihre ersten Schritte schon auf dem Parkett gemacht und ihre ersten Worte in großer Gesellschaft gelallt hatte? Nein, wahrlich nicht, das konnte ihr nimmermehr passieren; es war nur so eigen, daß sie Fräulein Leinemann und Herrn Doktor Belling heute zum erstenmal als vollendete Dame entgegentreten solle, nicht mehr als Schülerin. Das war es, das machte ihr Sorge, sie war sich noch nicht recht klar darüber, in welcher Art sie sich vor ihnen benehmen mußte. Zwar Fräulein Leinemann – du lieber Gott, nein, die machte ihr wirklich keinen Kummer, die Sache war zu einfach und natürlich. So war's denn also wahrhaftig nur Doktor Belling, nur dieser Iwan der Schreckliche! Ja, wenn er ein alter Mann gewesen wäre, dann war alles einfach – aber so! Sie konnte doch einem jungen Herrn, einem veritabeln jungen Herrn der Gesellschaft nicht öffentlich die Ehrfurcht bezeigen, die sie vor ihm fühlte! Sie durfte ihm ja nicht einmal mehr den Stuhl 79 zurechtrücken oder sonst eine kleine Dienstleistung erweisen – vielmehr war all so etwas jetzt seine Sache ihr gegenüber als einer Dame. Aber dieses auf den Kopf gestellte und unnatürliche Verhältnis festzuhalten und durchzuführen, da lag eben die Schwierigkeit! Wie war es möglich, sich ihm gelassen als gleichberechtigt an die Seite zu stellen, wo man sich doch so gar nicht gleichberechtigt fühlte? Wie war das durchzuführen ohne Erröten, Erschrecken, Stottern und Sichverwirren? Und welch ein Gaudium das für die übrige Gesellschaft, sie, Alma Gruber, als verlegenen Backfisch zu erblicken!

Ihre innere Unruhe wuchs. Sie machte den Versuch, ihre Gleichberechtigung sich selbst zu beweisen. Warum brauchte sie jenen denn anders zu empfangen als beispielsweise alle jüngeren Offiziere, mit denen sie unbefangen und sogar, wie sie sich gestehen konnte, eher ein wenig von oben herab verkehrte? Wenigstens, was sich der Herr von Bodungen zum Beispiel von ihr gefallen ließ! Oder gar der kleine Mellenthin! War ein Mathematiklehrer denn mehr als ein Husarenoffizier? Kein Gedanke daran – im Gegenteil! Und die Tochter eines Kommerzienrats sollte nicht . . . Ihr Vater war ungeheuer reich! Und sie sollte jenem nicht ebenbürtig sein? Natürlich, selbstverständlich, mehr als das . . . Ja, aber . . .

Ihre Unruhe war noch nicht beschwichtigt. Da tat sie einen verzweifelten Blick in den Spiegel, um sich jene unglückliche, verlegene, unebenbürtige Alma Gruber zu betrachten; und sie betrachtete sich. Immerhin stand ihr das rote Seidenkleid vortrefflich zu dem 80 dunkeln Haar, und die Frisur selbst – etwas auffallend konnte sie ja auf den ersten Blick scheinen, aber doch nur auf den ersten Blick, und dann sehr originell und so passend zu ihrem ganzen Gesicht, so flott und kühn – Herrgott, wenn sie an den Madonnenscheitel in der ersten Mathematikstunde dachte! Wirklich, sie konnte sich sehen lassen, sie sah nach etwas aus – o ja, Alma Gruber war ihm doch ebenbürtig!

Die Ruhe war in ihr Herz zurückgekehrt, sie wäre bereit gewesen, ohne Vorübung einen König zu empfangen.

Wenn jetzt nur erst die Gäste da wären! Inzwischen trat ihre Mutter im Festschmuck herein, eine noch jugendliche Dame, ihrem Anzug nach sogar noch sehr jugendlich.

»Hier ist noch etwas für dich,« sagte sie, ihrer Tochter einen großen Strauß auserlesener Rosen überreichend. »Wahrhaftig, wie ausgesucht zu deinem Kleid,« fügte sie hinzu, die reizende Gestalt mit Befriedigung musternd; »eine von den Rosen kannst du noch ins Haar stecken – Herr von Bodungen schickt sie mit der Bitte, ihm den Kotillon zu reservieren, er könne leider erst später kommen.«

Alma nahm den Strauß etwas langsam und sagte kühl: »Paßt mir nicht! Wenn er etwas will, kann er zur rechten Zeit kommen.«

»Aber, Kind, er ist dienstlich verhindert; sonst kennst du ihn doch zur Genüge, um zu wissen –«

»Ist mir ganz gleich. Meinen Kotillon habe ich versagt.«

81 »Nicht möglich! Aber an wen denn? Du hast doch niemand gesprochen!«

»Ist meine Sache! Ich bin kein Kind mehr, Mama.«

»Nur zu sehr, fürchte ich fast. Sag mir doch, was denkst du dir eigentlich dabei, Herrn von Bodungen so kurz zu behandeln? Ich habe das schon öfter mit Bedauern beobachtet. Noch neulich auf der Promenade – den schneidigsten und beliebtesten Offizier des Regiments –«

»Warum ist er so zudringlich? Er kann mir ja den Hof machen, natürlich, wie die andern, aber nicht so! Er läßt mich ja gar nicht los.«

»Ich vermute also, daß er es ernst meint. Und du solltest auch erwachsen genug sein, es ernst aufzufassen.«

»Tue ich. Darum behandle ich ihn kurz. Ich mag ihn nicht.«

»Aber, Alma, du wirst mir unbegreiflich. Was hast du gegen diesen Mann einzuwenden?«

»Nichts. Er ist forsch und ein famoser Tänzer.«

»Alma! Nicht diese Studentenausdrücke!«

»Na, wenn mir doch keine besseren einfallen! Forsch ist er, gerade forsch, und darum nenne ich ihn so.«

»So sage doch kräftig, energisch, männlich – schneidig, wenn du willst, nur nicht das burschikose Wort!«

»Das paßt alles nicht so gut wie forsch. Aber trotzdem kann ich ihn nun einmal nicht leiden. Er ist mir greulich, ganz verhaßt. Er ist so unverschämt. Er spielt den Überlegenen, wie kommt er dazu? Er 82 ist mir noch lange nicht überlegen! Im Gegenteil, dumm ist er. Denke dir, neulich wußte er nicht einmal mehr den pythagoreischen Lehrsatz! Na, und so einen soll man ernst nehmen!«

Die Frau Kommerzienrätin sah ihrer Tochter prüfend ins Gesicht.

»Liebe Alma,« sagte sie langsam, »ich will doch nicht hoffen – die Einladung für diesen Herrn Belling –«

»Herrn Doktor Belling, Mama!«

»Lag dir so auffallend um Herzen, obgleich er gar nicht Visite gemacht hatte – ich will doch nicht hoffen, daß du den Kotillon für diesen Herrn reserviert hast?«

Alma wurde rot.

»So?« rief sie trotzig. »Und warum willst du das nicht hoffen? Wenn es mir nun zufällig so paßt?«

»Dann würdest du zeigen, daß du noch ein rechtes Kind bist. Zunächst würde Herr von Bodungen sehr verletzt sein –«

»Ist mir gerade recht!«

»Vielleicht sich ganz zurückziehen –«

»Soll er tun, in Gottes Namen!«

Die Frau Kommerzienrätin wurde ärgerlich.

»Du bist nicht recht gescheit!« sagte sie scharf. »Dann möchte ich doch nur eins wissen: sage mal, willst du diesen Herrn Schulmeister etwa heiraten?«

Alma machte ein vollkommen verblüfftes Gesicht. »Mama!« rief sie erschrocken. Dann stieg ihr das Blut heiß in die Schläfen. Dann schwieg sie und starrte verwirrt zu Boden.

83 »Ein köstlicher Gedanke!« lachte die Mama. »Du – und ein armer Schulmeister!«

Jetzt stampfte Alma heftig mit dem Fuß auf, warf ihrer Mutter einen wütenden Blick zu und schrie:

»Und nun gerade! Ja, ja, heiraten will ich ihn! Gerade heiraten! Dir zum Ärger erst recht! Und nachher wird er Schulrat, und wir lachen dich aus! Ein Schulrat ist doch viel mehr als so ein lumpiger Kommerzienrat, der bloß Geld hat und weiter gar nichts!«

Die Mutter rang fassungslos die Hände.

»Alma, du beleidigst deinen Vater!« stöhnte sie. »Übrigens würde Papa natürlich nie seine Einwilligung geben.«

»Papa?« lachte Alma spöttisch. »Als ob der etwas zu sagen hätte! Hast du ihn denn je gefragt, wenn dir etwas paßte?«

»Kind! Und so sprichst du von deinem gütigen Vater!?«

»Warum ist er auch bloß gütig und weiter nichts? Warum ist er nicht ein bißchen forscher? Und du machst es gerade so mit ihm!«

»Ich bin seine Frau –«

»Und ich bin seine Tochter und will Schulrätin werden! Es paßt mir nun einmal so.«

Jetzt stampfte die Kommerzienrätin geradeso mit dem Fuß auf wie vorher ihre Tochter und rief:

»Närrisch bist du, närrisch, komplett närrisch. Einen hungrigen Schulmeister!«

»Na, weißt du, hungrig sieht er wahrhaftig nicht 84 aus! Wenn dein Mann nur so aussähe und so wäre! Er ist noch viel forscher als der Bodungen. Denke doch nur an seine Duelle! Und dann noch die Integralrechnung – die ist nämlich furchtbar schwer. Die würde nicht einmal Herr von Bodungen kapieren und Papa schon gar nicht.«

»Alma, schone deinen Vater!«

»Na ja, aber – und Differentialrechnung! Denke dir doch, Papa und Differentialrechnung!«

»Ach was, das sind brotlose Künste! Papa verdient zehnmal mehr mit bloßem Addieren und Multiplizieren. Ich nehme an, daß du mit deinen Kindereien jetzt zu Ende bist und Vernunft annehmen wirst. Ich denke auch, der Herr Schullehrer wird schon selbst verständiger sein als du. Was sollte er auch mit einem so dummen Ding, wie du bist, anfangen?«

Mit diesen Worten rauschte sie, sich kurz umwendend, hinaus, und Alma blieb nochmals allein in dem großen Saal. Jetzt trampelte sie mit beiden hübschen Füßchen auf dem kostbaren Parkettboden herum und rief: »Und ich heirat' ihn doch! Ich heirat' ihn doch! Ich heirat' ihn doch!«

Da klingelte es draußen. Der erste Gast war da. Es war Herr von Bodungen. Ein schöner, hochgewachsener Offizier von sicherem Auftreten und eleganten Bewegungen. Sein Gesicht hatte etwas Herrisches, aus seinen Augen sprach zuweilen ein trotziges Begehren. Die Kommerzienrätin führte ihn herein.

»Ich bin so glücklich, gnädiges Fräulein, früher 85 zu kommen, als ich gehofft hatte; ich kann also meine Bitte um den Kotillon persönlich wiederholen.«

»Bedaure, Herr Oberleutnant, bin schon versagt.«

»Oh, abscheulich – also doch schon zu spät gekommen! Darf man fragen, wer der glückliche Gewinner des großen Loses ist?«

»Fragen dürfen Sie,« sagte sie schnippisch, »ob Sie aber eine Antwort bekommen, steht auf einem andern Blatt.«

Die Mutter warf ihr einen mild verweisenden, halb bittenden Blick zu.

»Ich verdiente die Strafe, gnädige Frau,« sagte Herr von Bodungen lächelnd. »Wie kann man auch so naseweis fragen? Gnädiges Fräulein ist in ihrem Recht! Gnädiges Fräulein, welchen Tanz bewilligen Sie mir als Zeichen Ihrer Vergebung?

»Welchen Sie wollen – mir ganz gleichgültig.«

»Mir auch. Jeder Tanz mit Ihnen ist gleich schön. Darf ich Quadrille bitten?«

»Meinetwegen.«

Sie reichte ihm die Tanzkarte. Er sah, daß für den Kotillon noch kein Name notiert war.

»Bedauerte gestern unendlich,« sagte er, »nicht bei Schünemanns sein zu können – war beim Oberst – wußte, daß Sie dort waren – oder nicht?«

»Natürlich. Also Sie waren nicht da?«

»Meines Wissens nicht! Gnädiges Fräulein sind heute mehr boshaft als wahrheitsliebend.«

»Und Sie mehr wahrheitsliebend als boshaft. Aber Sie unterschätzen sich: daß sich auch Ihre Abwesenheit mir so bemerkbar machen sollte als Ihre 86 Anwesenheit – nein, so schlimm sind Sie wirklich doch nicht!«

»Alma! Alma!« rief die Frau Kommerzienrätin entsetzt. Herr von Bodungen machte ein verblüfftes Gesicht; diese Grobheit ging denn doch über allen Spaß.

»Unter diesen Umständen verzichte ich freilich wohl besser auf meine Quadrille,« sagte er, sich verbeugend.

»Schade!« lachte Alma.

»Sie spotten! Warum schade?«

»Sie tanzen so gut.«

»Wie gnädig, an mir eine gute Eigenschaft anzuerkennen!«

»Nun, irgend etwas Gutes findet sich am Ende bei jedem.«

»Danke verbindlichst! Und irgend etwas Böses, scheint es, auch bei der reizendsten jungen Dame.«

»Sie tun also jedenfalls klüger, mich nicht aus zu großer Nähe kennen lernen zu wollen; bei nicht so naher Bekanntschaft bin ich liebenswürdiger, ich verspreche es Ihnen.«

»Diesmal sind Sie, fürchte ich, so wahrheitsliebend als boshaft – auf eigne Kosten. Ein Glück aber, daß sie selbst diese Äußerung machten, nicht ein andrer über Sie; er bekäme es mit mir zu tun.«

»Ach, wirklich, würden Sie ihm eine Grobheit sagen?«

»Allerdings – eine einzige. Und die würde genügen.«

»Sie würden ihn fordern?«

»Jeden, der Ihnen jemals zu nahetreten sollte, mein gnädiges Fräulein.«

87 »Dann schießen Sie sich nur zuerst mit meiner Mama; die macht mitunter Versuche, mir widerwärtige Dinge zuzumuten; so noch vor einer Viertelstunde! Fragen Sie sie nur!«

»Lassen Sie das ungezogene Kind, lieber Herr von Bodungen,« fiel die Kommerzienrätin verlegen und hastig ein, »sie ist heute völlig ungenießbar, wie Sie sehen. Uebrigens habe ich ihr zur Strafe heute einen Schulmeister bestellt, der sie zur Raison bringen soll; Sie werden sich vortrefflich amüsieren, zu sehen, wie gehorsam und demütig sie dann sein kann.«

Almas Augen schossen Blitze.

»Ein Schullehrer, ein gewisser Herr Belling,« erläuterte die Mutter.

»Ah, Iwan der Schreckliche!« rief der Oberleutnant. »Bin begierig, den Herrn kennen zu lernen, habe viel von ihm gehört, soll ein merkwürdiger Mensch sein, höchst schneidig, brillanter Schütze, wütender Draufgänger – wird aber hoffentlich gegen gnädiges Fräulein nicht mehr den Schulmeister herauszukehren wagen, sonst –«

»Werde ich mich selbst zu schützen wissen,« sagte Alma kühl. Als sie sein herausforderndes und hochmütiges Gesicht sah, erschrak sie einen Augenblick; dann aber drehte sie sich ruhig ab und murmelte: »Herr Doktor Belling schießt ja viel besser!«

Nun kamen auch andre Gäste, und der Saal füllte sich langsam mit buntfarbigen Kleidern, wehenden Locken und Frackschößen, weißen Schultern und Armen, blitzenden Diamanten und Uniformknöpfen, mit Schärpen, Sträußen, Handschuhen, Batisttaschentüchern, 88 Fächern, Riechfläschchen, Orden und Ordensbändern, weißen Krawatten, Haarbürsten, Handspiegeln, Brillen und Kneifern, Lackstiefeln und Klapphüten, blitzenden Augen und Busennadeln, mit Schleppen, Einschnürungen und Auswüchsen und vielen andern Zeichen menschlicher Fröhlichkeit.

Alma war nun vollauf beschäftigt, alles zu empfangen und zu begrüßen.

Endlich trat auch Doktor Gotthold Belling herein. Er sah »furchtbar prächtig« aus. Sein Haar und Bart wallten feierlich wie eine Amtstracht, seine große, knochige Gestalt überragte alle andern und hob sich von den buntjackigen, leichthüpfigen Husarenoffizieren in düsterer Würde ab.

Alma näherte sich ihm jetzt langsam und ängstlich. Er sah sie noch nicht, er war von dem Glanz geblendet und etwas verwirrt. Der eigentümliche Ballduft, der schon den Saal zu durchwehen begann, gemischt aus zahllos verschiedenen Wohlgerüchen und Halbwohlgerüchen, betäubte seine ungewohnten Sinne und erregte in ihm eine unbehagliche Beklemmung. Dies ängstliche Gefühl ließ ihn sehr grimmig aussehen, am grimmigsten, als er Alma erblickte. Denn ihre zierlich feste Gestalt, die sich in dem verwirrenden Menschengewühl so frei und sicher bewegte, hierhin und dorthin lächelte und nickte, den Fächer graziös auf- und zuklappte, übermütig tänzelte und wippte, diese entzückende Lichtgestalt mit den festlich aufgeregten Augen im reichen Ballschmuck, mit entblößten Schultern und flatternden Locken, die erschien ihm so fremdartig schön wie ein jäh aufgeflammtes 89 Nordlicht, verführerisch anziehend zugleich und in glänzender Unnahbarkeit.

In dem heiteren Selbstbewußtsein, das ihr der Spiegel eingehaucht hatte, trat sie auf ihn zu. Doch als sie seine finstere Miene erblickte, erschrak sie und ward wieder ganz klein und schüchtern wie ein Schulmädchen. Unwillkürlich tastete sie mit der Hand nach dem Kopf.

›O weh,‹ dachte sie, ›meine Frisur gefällt ihm nicht. Wie schändlich! Und ich fand sie so hübsch!‹

Er begrüßte sie mit steifer Herablassung, um so steifer, als es ihn unnatürlich dünkte, sich körperlich zu der hinabbeugen zu müssen, die wie ein Stern über ihm hätte stehen müssen.

So ängstigten sie sich beide und fanden wenig Worte. Alma hielt ihm ihre Tanzkarte lockend vor die Augen, doch er schien nichts zu sehen.

»Wollen Sie nicht mit mir tanzen?« fragte sie endlich verlegen.

»Wenn Sie gestatten, Fräulein Al–, Fräulein Kommerz–, gnädiges Fräulein, sehr gern.«

Sie reichte ihm die Tanzkarte, die er umständlich studierte, als wenn sie ein noch nie gelöstes arithmetisches Problem enthielte.

»Sie haben nur noch den Kotillon frei,« brachte er endlich als Resultat seiner Berechnungen heraus und wollte ihr das Kärtchen zurückgeben.

»Nun ja,« sagte sie zaghaft, »wollen Sie den nicht mit mir tanzen?«

»Ich?« fragte er ganz erstaunt, als wenn sie ihm ein Ministerportefeuille angeboten hätte.

90 Sie erschrak. ›Himmel,‹ dachte sie, ›er will gar nicht! Ich bin ihm zu jung! Oho, dann wird er wohl Fräulein Leinemann zum Kotillon führen wollen!‹ trotzte sie in sich selbst.

»Das heißt,« stotterte sie, »wenn Sie keine Lust haben, natürlich nicht; wenn ich Ihnen zu unbedeutend bin – Herr Premierleutnant von Bodungen bat sehr um den Kotillon – aber ich hoffte –«

Jetzt endlich begriff er.

»Oh, oh, oh,« rief er, »aber ich bitte Sie – wenn ich darf – wenn Sie erlauben – ich konnte nicht denken, daß ich gerade – ich tanze aber nur schlecht –«

Er sah in seiner Verlegenheit so wütend aus, daß Alma abermals betrübt ihre Frisur betrachtete und sich unendlich geehrt fühlte, den Kotillon doch noch von ihm bewilligt zu bekommen.

»Ich habe übrigens Ihre verehrten Eltern noch nicht begrüßt,« sagte er. »Ihren Herrn Vater konnte ich nicht finden, und Ihre Frau Mama sah mich nicht, obgleich ich – sie war so sehr in Anspruch genommen –«

»Ach, kümmern Sie sich um Mama nicht,« entgegnete sie eifrig; »die hat ihre kurzsichtigen Stunden – ihre Mucken meine ich – Launen meine ich – wenn man sich darum scheren wollte, hätte man viel zu tun. Und Papa – Gott, Papa ist bei solchen Gelegenheiten überhaupt das fünfte Rad am Wagen. Ach, sehen Sie, aber da ist Fräulein Leinemann gekommen, die gute alte Schraube, was wird die heute wieder für Sanftmut flöten –«

Der Doktor blickte sie ernstlich erstaunt an. Sie 91 fuhr ein wenig zusammen. ›Au,‹ dachte sie, ›da hab' ich mich mal wieder verplappert!‹

»Seien Sie nicht böse,« sagte sie demütig, »wenn ich so rede. Man gewöhnt sich so etwas von den vielen Leutnants an. Ja, und was kann ich schließlich dafür, wenn ich vor jemand keinen Respekt habe!« platzte sie auf einmal halb trotzig heraus.

»Ich bitte Sie, Fräulein Alma,« sagte er in stark schulmeisterlichem Ton, »eine so hochverdiente Dame wie Fräulein Leinemann, die bei jedermann der höchsten Achtung genießt –«

»Ach ja, ich weiß schon,« unterbrach sie ihn kleinlaut, »die genießt Papa auch – natürlich, bei mir auch – aber Achtung, Achtung, das klingt so langweilig – und ich wickle mir ihn darum doch um den Finger – was hilft das alles? Furcht habe ich noch nie vor ihm gehabt.«

»Muß man denn fürchten, um Respekt zu haben?« fragte er mit etwas unsicherem Ton.

»Ich weiß nicht,« versetzte sie, leicht errötend, »aber ich glaube fast – ich wenigstens – man kann sogar, glaube ich, jemand erst richtig lieben, wenn man Furcht vor ihm hat.«

Er schwieg etwas betroffen. Sie wich scheu seinem Blick aus. Da wandelte Fräulein Leinemann heran und begrüßte die beiden. Sie war entzückt, ihren Lehrer und ihre einstige Schülerin so miteinander fraternisieren zu sehen.

Alma aber benutzte die Gelegenheit, um zu entschlüpfen; auf die Länge ward ihr das Gespräch mit dem künftigen Schulrat zu streng und beängstigend; 92 doch warf sie im Abgehen auf ihn einen Blick voll furchtsamer Verehrung, der ihn mit einem merkwürdig angenehmen Schauder überrieselte.

Fräulein Leinemann hängte sich mit sanfter Energie an seinen Arm und ließ ihn nicht mehr los, sondern führte ihn im Triumph im Saal auf und nieder, stolz umherblickend, als wollte sie aller Welt zurufen: ›Seht, das ist mein Lehrer!‹

So mußte er lange Zeit hindurch Leid und Lust der Geselligkeit mit ihr gemeinsam tragen. Doch war ihm das am Anfang nicht unlieb, denn seine Beklommenheit war nicht geringer geworden, er bedurfte einer Stütze. Noch war die ungemütliche Periode jeder deutschen Hausgesellschaft nicht vorüber, wo man sich mit Teetassen in den behandschuhten Händen unklar hin und her schiebt, von Zeit zu Zeit ein Küchelchen knabbernd, um damit wieder über einige Minuten hinwegzukommen, und wo die Hauptunterhaltung darin besteht, daß die Damen ihre Fächer und die Herren ihre Klapphüte oder Kneifer allerhand abenteuerliche wippende und kreisende Bewegungen ausführen lassen und dabei mit dem Brustton der Überzeugung unermüdlich den denkwürdigen Satz repetieren, das Wetter sei in diesem Jahr vollkommen abnorm.

An der Seite Fräulein Leinemanns aber konnte er diesen Trübsalen leidlich trotzen. Auch gewann er den Vorteil, daß verschiedene Herren höheren Alters und Ranges, die er sonst hätte aufsuchen müssen, sich ihm von selbst präsentierten.

Auch der Oberleutnant von Bodungen stellte sich ihm vor. Bodungen? Bodungen? Wo hatte er den 93 Namen schon gehört? Der junge Offizier musterte ihn ein wenig auffällig, zeigte sich aber im übrigen von einer ritterlichen, etwas nachlässigen Liebenswürdigkeit. Er begann sehr unvermittelt eine Unterhaltung über studentische Formen des Duells, und als der andre sich wortkarg zeigte, weil er herzlich wenig davon wußte, ging er auf etliche technische Fragen bezüglich der Konstruktion einer neuen Pistole über, wobei ihm Belling noch viel weniger Rede stand. So kam es, daß die beiden gleichmäßig übereinander die Köpfe schüttelten und sich im Herzen gegenseitig für wunderliche Käuze erklärten.

»Sie schießen doch gern, Herr Doktor?« versuchte der Leutnant noch einmal anzuknüpfen. »Natürlich zum Vergnügen, nur zum Vergnügen,« fügte er mit einem Seitenblick auf Fräulein Leinemann hinzu. Und als jener ihn verwundert mit seinen düsteren Blicken anstarrte, sagte er mit gedämpfter Stimme: »Ich verstehe – darf nicht laut werden der Herren Vorgesetzten wegen – warne Sie also, Herr Doktor. Man hört von der Straße her deutlich Ihre Uebungen im Hof oder Garten – also Vorsicht!«

Damit empfahl er sich.

›Was?‹ dachte Doktor Belling. ›Also man schießt auf dem Hof? Daher dies störende Knallen! Wer kann das sein? Die Rechnungsrätin oder Helene dürften doch kaum solchem Sport huldigen; wenn es Fräulein Alma wäre, könnte man schon eher auf den Verdacht eines derartigen Unfugs kommen –‹

Plötzlich kam ihm die Erinnerung, daß er den Namen Bodungen gerade von seinen Hausdamen 94 irgendwie hatte nennen hören. Er fragte Fräulein Leinemann nach den Lebensumständen des Mannes.

»Er ist ein nicht ganz vorwurfsfreier Charakter,« sagte diese sanft, »leider! Soll zwar ein tüchtiger Offizier sein, ein berühmter Reiter, aber nicht fleckenlos in seinem Privatleben. Nicht wahr, Sie muten mir nicht zu, etwas Näheres zu wissen? Das Mildeste ist, daß er unsern jungen Damen allzu lebhaft und allzu flatterhaft den Hof macht; ich fürchte, er hat manche Mädchenträne auf dem Gewissen – ich glaube, Sie brauchten in Ihrem eignen Hause nicht weit zu suchen – ich entsinne mich wenigstens, daß vor zwei oder drei Jahren von einer bevorstehenden Verlobung viel die Rede war, bis der Herr Leutnant zufällig in Erfahrung brachte, daß eine dort vorhandene Erbtante erst fünfunddreißig Jahre alt und von eiserner Gesundheit sei, zudem noch gar kein Testament gemacht habe und für wohltätige Anstalten schwärme, so daß nach dieser Hinsicht das Schlimmste zu befürchten sei. Da war es denn mit der Liebe zu Ende.«

Gotthold Belling wurde auf einmal sehr nachdenklich und schweigsam. »Dann hat er mehr verloren als sie,« sagte er nur noch kurz, und gerade diese flüchtige Bemerkung klang ihm immerfort vor den Ohren nach. Es stand plötzlich aus unbekanntem Grunde in ihm die Überzeugung felsenfest, daß ein Mann, der jenes Mädchen besitzen könne und es verschmähe, ganz unermeßlich töricht sein müsse. In diesem Augenblick glaubte er zu bemerken, daß Fräulein Leinemann, in das Gewühl der Gäste blickend, ein wenig spöttisch lächelte, und obgleich er sich selbst 95 sagen mußte, daß dies zappelige Knicksen, Dienern, Tänzeln, Gliederrenken, Halsverdrehen und Bachstelzeln so vieler Menschen für den unbefangenen Beobachter überreichen Stoff zum Lachen gab, so konnte er doch das Gefühl nicht loswerden, als ob er selbst der Gegenstand ihres Spottes sei und sie ihn aus irgendeinem Grund ganz unermeßlich töricht finde.

Doch das war nur eine sekundenlange Vision, ein zweiter Seitenblick überzeugte ihn von Fräulein Leinemanns unanfechtbarer Harmlosigkeit. Sein Auge suchte den ungetreuen Offizier. ›Ein schöner Mensch,‹ dachte er, ›feurig und stolz! Wohl begreiflich, daß er das bleibende Ideal eines edeln Herzens sein kann!‹

Aber trotz dieser gerechten Anerkennung ergriff ihn doch ein stiller Haß gegen jenen, nicht gerade wegen seiner Untreue, dafür war er ja durch ihren Verlust schon bestraft genug, sondern vielmehr darum, daß er sich herausnahm, ein bleibendes Ideal zu sein für – nun, für irgend jemand!

Er begriff sich selbst nicht, woher ihm plötzlich so ein häßliches Gefühl gemeinen Neides kam, und er bemühte sich ehrlich, dies zu unterdrücken, wenn auch vorerst ohne ganzen Erfolg.

Inzwischen hatte ihn Fräulein Leinemann schon wieder weitergeschleppt und stand plötzlich mit ihm vor dem Hausherrn, in dem er einen kleinen, trippelndem bartlosen Herrn mit großen Brillengläsern und sehr vielen Runzeln kennen lernte, der überaus gutmütig und unschuldig aussah und ihm wie seiner Führerin die wortreichsten Komplimente über ihre wunderbaren pädagogischen Erfolge bei seiner Tochter machte.

96 »Sie glauben gar nicht,« rief er entzückt, »wie das Kind jetzt für Mathematik schwärmt! Beachten Sie, Herr Doktor, sie hat sogar das Ende ihrer Schärpe in Form eines pythagoreischen Dreiecks mit den Quadraten zugeschnitten – und früher konnte sie nichts als mathematische Schweinchen machen, fröhliche, traurige und gleichgültige! Mein Sohn in der Untertertia ist auch ein ganz andrer geworden, seit er in Ihrer Zucht steht; ich habe es immer gesagt, ein Erzieher kann nicht streng genug sein.«

»Jedoch mit Maßen,« bemerkte Fräulein Leinemann, »auch die Sanftmut hat ihre pädagogischen Erfolge.«

»Versteht sich, versteht sich, verehrtes Fräulein,« rief der kleine Herr, ihre beiden Hände zärtlich drückend, »oh, versteht sich, die Sanftmut! Nichts geht über die Sanftmut in der Erziehung!« Damit schlüpfte er vorüber, um den nächsten Gast zu irgendeinem Erfolg zu beglückwünschen.

Jetzt setzte die Musik rauschend ein und rief zur Polonäse. Gotthold Belling schlang diesen ehrbaren Reigen mit Fräulein Leinemann, dann ward er sie endlich los und folgte nun eine Zeitlang ungestört dem Wirbel der Tanzenden, ohne selbst mitzutun.

Der selten genossene Anblick hatte etwas Berauschendes für ihn. Die rhythmische Bewegung, die Auge und Ohr zugleich gefangennahm, regte seine Sinne mächtig auf, und die feinen Wellen der Wohlgerüche bezauberten ihn. Er kam sich vor wie entrückt in eine heitere Welt olympischer Götterwesen, die nur die schwebende Seligkeit des Lebens kannten und nichts 97 von der ewig hemmenden, an den Boden fesselnden Mühsal wußten.

Immer wieder tauchte in den wirbelnden Reihen Almas zierliche Gnomengestalt auf in dem leuchtenden Kleid mit den lang nachflatternden Haaren; er folgte ihr mit entzückten Blicken und ließ sie nur manchmal auf eine Weile los, um sich inzwischen heimlich auf das Wiedersehen zu freuen. Er fand sie unglaublich schön heute.

Und er wußte, daß auch sie ihn sah und seinen wechselnden Stellungen folgte. Ihr Blick streifte ihn oft selbst während des schnellsten Tanzes, und immer war es ein seltsamer Blick scheuer Bewunderung und Verehrung, der ihm einging wie süßer, schwerer Wein.

»Sie tanzen nicht, Herr Doktor?« fragte der Hausherr, zu ihm tretend.

»Ich tanze mangelhaft, und es macht mir mehr Vergnügen, zuzusehen,« erwiderte er.

»Versteht sich, versteht sich, mir auch, oh, versteht sich! Aber wie wäre es mit einem Zigarettchen? Habe ein ganz geheimes Rauchzimmer eingerichtet; soll eigentlich erst nach dem Essen betreten werden, indessen Sie schweigen ja darüber, versteht sich – nebenbei, habe dort ein Pröbchen griechischen Weins, Kephalonia, alte Beziehung zum Vizekonsul in Argostoli; wirklich feines Weinchen, versteht sich.«

Gotthold folgte dem liebenswürdigen kleinen Herrn und betrat mit ihm das abgelegene Rauchzimmer. Es war ein überaus gemütlicher Raum, durch eine Hängelampe ruhig beleuchtet und teppichwarm, mit Polsterstühlen besetzt, wie gemacht für eine stille Erholungspause.

98 Der Kommerzienrat bot ihm eine Zigarette, schenkte ihm und sich von dem Kephalonier ein, der stark und würzig schmeckte, und lief plaudernd umher wie ein Wiesel.

Nach kurzer Zeit bat er um Entschuldigung für einen Augenblick. »Nur noch einmal revidieren im Eßsaal. Bin gleich wieder da, versteht sich.«

Aber er kam nicht so bald zurück, und Gotthold sehnte sich nicht nach ihm. Er fühlte sich äußerst behaglich in der Einsamkeit. Die ganz gedämpfte, wie aus weiter Ferne leise heranschwellende Musik, der kräftig feine Duft des türkischen Tabaks, der feurige Wein, die ganze wohlige Atmosphäre gesättigten Reichtums um ihn her, das alles stimmte ihn zu wonnig träumendem Ausruhen. Er empfand einmal ernstlich, daß es seine Vorzüge hat, sehr reich zu sein.

Inzwischen wurden im Saale Polkas, Walzer, Galopps, Mazurkas und Quadrillen abgetanzt; Alma begann mitten im Strudel eigner Bewegung ihren stillen Zuschauer zu vermissen.

»Papa, hast du den Herrn Doktor Belling nicht gesehen?« sagte sie im Vorübergehen.

»Versteht sich,« entgegnete er, »ist wohl aufgehoben im Hintergrund. Ein tüchtiger Mann das, sehr tüchtig! Wenn er um eine Kleinigkeit weniger hochmütig aussähe, wollte ich es ihm hoch anrechnen, um eine Kleinigkeit, versteht sich. Aber freilich, solch ein Mann! Wenn du ihn zum Tanzen haben willst, Almchen, mußt du ihn weit suchen, aber vielleicht findest du ihn.«

Alma wußte sogleich Bescheid. Aha, im Rauchzimmer.

99 »Ist er allein?« fragte sie.

»Versteht sich!«

Ein Gedanke schoß ihr durch den Kopf. Schnell malte sie auf die Rückseite ihrer Tanzkarte einige Zahlen und Buchstaben und schlüpfte durch die Reihe der menschenleeren Gemächer bis zum Rauchzimmer.

So trat sie plötzlich wie eine Lichterscheinung vor Bellings Blick, mit einem Rosenstrauß in der Hand, vom Tanz reizend gerötet, mit anmutig aufgelockertem Haar.

»Ach Gott, verzeihen Sie, ich dachte –« stotterte sie, als ob sie von seiner Anwesenheit völlig überrascht wäre, »ich wollte – ich habe hier eine Gleichung, die ich schnell auflösen wollte – sie ist so schwierig – aber gewiß helfen Sie mir; sehen Sie nur:

y²+7·y(7x+y)²-x·y=297+...«

Sie trat zu dem Stillverwunderten, der sich hastig erhoben hatte, und legte ihm ihre Gleichung vor.

»Mit Vergnügen,« sagte er und nahm ernsthaft das bekritzelte Blatt. Beide setzten sich nebeneinander an den Tisch. Er schien sich in die Gleichung zu vertiefen, aber er sah in Wahrheit nichts, gar nichts, es schwirrte ihm vor den Augen, die beiden Unbekannten x und y tanzten miteinander unzählige Kotillontouren mit labyrinthischen Verschlingungen und machten nicht die geringste Anstalt, sich zu demaskieren – 7 Tänzer und eine Tänzerin gemeinsam ins Quadrat erhoben und mit 7 Tänzerinnen multipliziert – welcher Wirrwarr! – das gab schon allein 49 Tänzer in zweiter Potenz und 14 weitere mit ebenso vielen Tänzerinnen, und die dufteten so wunderbar nach Rosen und 100 jugendlichem Haar; aber sie blieben Unbekannte, sie versäumten durchaus, sich vorzustellen.

»Müssen wir nicht zuerst die Klammer auflösen?« fragte sie schüchtern.

»Natürlich, das müssen wir!« seufzte er und machte nun wirklich den Versuch.

»343x²·y+98x·y²+y³...« Aber er schauderte. Der Lockenduft von 343 potenzierten Tänzerinnen schien ihm ins Gehirn zu dringen; er kam nicht weiter.

Alma zerpflückte indessen, ihn unverwandt anblickend, ihren kostbaren Rosenstrauß, daß der Duft sich immer betäubender verbreitete.

Endlich kam sie ihm zu Hilfe. Sie neigte sich ihm noch näher und versuchte mit ihrer Hand unter den widerspenstigen x und y Ordnung zu schaffen. Dabei lehnte sich ihr kleiner Finger neben den seinigen und blieb dort fest liegen, indes ihr Zeigefinger leise hin und her tippte. Es war eine erstaunlich hübsche Hand, aber die Hilfe, die sie leistete, war äußerst gering. Im Gegenteil, der gequälte Mathematiker schloß verzweifelnd die Augen, als ob es in seinem Innern auch eine Gleichung zu lösen gäbe. Er fühlte, wie der festgewurzelte kleine Finger da neben seiner Hand leise zu zittern begann, und dies Gefühl durchschauerte ihn süß bis ins Mark. Er fühlte auch, daß sie jetzt immerfort ihn ansah und kein x noch y, und er hatte plötzlich den sonderbaren Gedanken: ›So ungefähr muß es einer Zahl zumute sein, wenn sie mit einer andern zusammen in Klammern geschlossen und ins Quadrat erhoben wird!‹ Vielleicht war es auch schon die dritte Potenz der Glückseligkeit.

101 »y³...« murmelte er verzückt und öffnete die Augen ein wenig; vor seinen Blicken taumelten hundert zerzupfte Rosenblätter und darüber eine große, herrliche, glühend rote und durchaus unzerzupfte Rose.

»Finden Sie meine Frisur wirklich so abscheulich?« fragte diese Rose auf einmal kleinlaut, »das wollte ich eigentlich bloß wissen.«

Er riß die Augen weit auf und starrte die wehende Fülle ihrer dunkeln Locken an.

»Entzückend!« stammelte er. »Aber die Gleichung scheint mir inkommensurabel.«

»Ach, wirklich?« rief sie froh mit reizendem Erröten und fügte schelmisch hinzu: »Also besser als der Madonnenscheitel gefällt sie Ihnen – und ich habe mich so darum geängstigt!«

»Aber, ich bitte Sie! So etwas ist doch nicht der Rede wert!« sagte er beruhigend und doch selbst verwundert, denn er begriff nicht, was ein Madonnenscheitel für ein Ding sei, und was er mit der Gleichung zu tun habe.

»So?« rief sie verdutzt und etwas gekränkt. »Sie mögen es freilich nicht der Rede wert finden, aber für mich – wir Mädchen sind nun einmal so kindisch! Aber alle, alle! Sie hätten mich darum vorhin nicht so böse anzusehen brauchen, Herr Doktor!«

»Das ist völlig ohne Absicht geschehen, glauben Sie mir!« beteuerte er ziemlich bestürzt; »wie sollte ich denn auch böse sein um eine Gleichung, die doch eben inkommensurabel ist! Das wäre doch geradezu unvernünftig.«

Sie blickte ihn starr an. ›Herrgott, der redet 102 immer noch von der langweiligen Gleichung!‹ dachte sie staunend. Und dann ging etwas Sonderbares in ihr vor, etwas ihr selbst Unverstandenes und Unbegreifliches. Eine ungeheure Kühnheit kam über sie, ein Übermut der Verzweiflung. Sie raffte mit beiden Händen so viele Rosen vom Tisch auf, als sie fassen konnte, und warf sie ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Darauf sprang sie entsetzt auf und rannte aus der Tür.

Als sie dieselbe hastig zugeschlagen hatte, blieb sie stehen und lauschte. Sie vernahm keinen Laut.

›Na, daß er sich das gefallen läßt, ist aber komisch!‹ dachte sie.

Sie guckte durchs Schlüsselloch. Er saß ihr gerade gegenüber regungslos, ganz mit Rosenblättern bestreut, wie im Traum.

»Herrgott, was er für ein Gesicht macht!« flüsterte sie. »Ganz – ganz – inkommensurabel!«

Da machte er eine leichte Handbewegung; sie entfloh, wie von Erinnyen gejagt, und barg sich im Saal in dem Gewühl der Tanzenden. Sie sah hier ihre Mutter im Gespräch mit Herrn von Bodungen.

›Etsch, Mama,‹ dachte sie, ›ich heirat' ihn doch! Wir werden die Gleichung schon lösen!‹

Inzwischen hatte Gotthold Belling seine Gleichung schon lange gelöst und fand sie überraschend kommensurabel.

Jetzt begriff er, welcher geheimen Kraft er seine pädagogischen Siege über dies wilde Kind zu verdanken hatte. Aber er begriff auch noch mehr; vor allem, daß er selbst leidenschaftlich in das entzückende 103 Wesen verliebt war und daß er sich unerhört tölpelhaft benommen hatte. Sie in solchem Augenblick entschlüpfen zu lassen! Ihr nicht zu Füßen zu fallen! Sie nicht an sich zu pressen und festzuhalten für alle Ewigkeit! Es war einfach unglaublich! Er schlug sich vor die Stirn und murmelte:

»Ich bin ein Frosch! Ein Frosch in Klammern zum Quadrat!«

Nach dieser harten Selbstkritik ward er etwas ruhiger und überlegte, wie er das Versäumte nachholen könne. Daß die Entflohene wiederkäme, war schwerlich zu hoffen – kein entschwundenes Glück kehrt zum zweitenmal von selbst wieder! Er mußte sie also suchen – dort im Saal – richtig, beim Kotillon hatte er sie ja für sich, da konnte er ihr mitten im Gewühl so vieler Menschen unbemerkt seine Gefühle offenbaren.

Und doch sträubte sich etwas in ihm dagegen. Ein heiliger Treueschwur mitten im leichtsinnigen Festjubel, unter Lachen und Schwatzen und übermütiger Tanzmusik – nein, das war seiner nicht würdig, das war nicht die rechte Art für einen ernsten Mann. Im Grund war es auch das Richtige gewesen, daß er nicht im heißen Taumel der ersten auflodernden Leidenschaft sie an sich gerissen hatte. Mit voller Besonnenheit und klarem Bewußtsein den größten Schritt des Lebens zu tun, war das allein Geziemende. Heute war nicht der Tag für eine weihevolle Entscheidung, der Rausch des Festes mußte erst verklingen, Vertiefung und Sammlung die Leidenschaft klären. Überdies, was war durch den Aufschub zu verlieren? Seiner Liebe war er sicher, und an der 104 ihrigen zweifeln, hieße sie einer häßlichen Koketterie beschuldigen. Hier war alles wie bei einer mathematischen Aufgabe: ist das Prinzip der Lösung einmal entdeckt, so ist alles durchsichtig, einfach und unumstößlich.

Er beschloß, das Fest möglichst unbemerkt zu verlassen und sich in seine stille Behausung zurückzuziehen.

Als er den Saal betrat, entdeckte er mit einigem Schrecken, daß der Kotillon schon im Gang war; er hatte also seine Tänzerpflicht versäumt! Sein Auge suchte unruhig Alma; er sah, daß sie sich getröstet hatte. Der Oberleutnant von Bodungen saß an ihrer Seite und wandte sichtlich all seine Liebenswürdigkeit auf, sie zu unterhalten.

In Gottholds Brust wollte die Eifersucht aufkochen; doch er bemerkte bald, daß sie den Eifer ihres Tänzers schlecht belohnte; sie erschien verstimmt und hielt den Kopf trotzig in den Nacken geworfen. Er weidete lange seine Augen an ihrem Reiz. bis auch sie ihn zufällig entdeckte und ihm einen Blick demütiger Abbitte zuwarf. Da fühlte er sich getröstet und schob sich langsam aus dem Saal.

Als er im Eingangsflur seinen Klapphut öffnete und aufsetzte, ergoß sich aus demselben ein Regen von Veilchen und Vergißmeinnicht über seinen Kopf. Er lachte still in sich hinein und schwankte einen Augenblick, ob er nicht doch wieder umkehren und sein Glück noch heute mit keckem Wagemut ergreifen sollte. Wer weiß, ob morgen die Welt noch am gleichen Platze steht! Eine Stunde des Glücks verträumt, ist unendliches versäumt! Auch der Rausch der Leidenschaft 105 hat sein Recht im Leben, auch er kann heilig sein, was braucht er nach der Zufälligkeit seiner Umgebung zu fragen? Vorwärts mit dreistem Manneswort – das ist's, was sie verlangt, keine Schulmeisterehrbarkeit.

Sein Blut geriet in heiße Wallung, und der Kopf schwindelte ihm in süßem Taumel. Er wandte sich heftig zurück, dem Tanzsaal zu.

Da klang von drinnen die überlustige Weise:

»Vorwärts mit frischem Mut!
Lieb' ist mein Panier!«

»Nein,« sagte er entschlossen, »Operettenliebe ist mein Fall nicht.« Und er verließ ungesehen das Haus.

Es war heiteres Frostwetter. Der dunkle Winterhimmel glühte von Sternen. Ihm kam es vor, als ob auch sie sich drehten in ausgelassenem Wirbel, und mit wahrem Erstaunen wollte er bemerken, daß sie sämtlich die ihnen von der Wissenschaft angewiesenen Stellen am Himmel verlassen hätten; er hatte trotz aller astronomischen Kenntnis vergessen, daß die himmlischen Lichter keine Straßenlaternen sind, sondern um Mitternacht einen andern Platz einzunehmen berechtigt sind als um sieben Uhr abends, zu welcher Stunde er sie sonst zum letztenmal zu begrüßen pflegte. Denn er war ein solider Mann und nächtlicher Ausschweifungen unkundig.

Heute jedoch lockte ihn auch zu dieser Stunde noch nichts nach Hause. Ein Unbehagen beschlich ihn bei dem Gedanken an die dürftige Einsamkeit seines Stübchens; der berauschende Duft des Reichtums prickelte 106 noch durch seine Nerven. Zugleich erkannte er plötzlich, daß er sich durch seine Flucht um etwas Wesentliches betrogen hatte, nämlich um das Abendessen. Er hätte zu Hause ein genügendes Stück Zwiebelleberwurst und Brot die Fülle gefunden, aber dieses sein tägliches Freudenmahl reizte ihn heute gar nicht. Er fand die Weinstube des ersten Gasthauses offen; er trat hinein mit dem unsicheren Blick des hier völlig Fremden.

Doch er fühlte sich bald behaglich; ein Eckstübchen erinnerte ihn durch die vornehme Art seiner Ausstattung an das Rauchzimmer bei Kommerzienrats. Er bestellte ein Stück Putenbraten und ein Moselweinchen. Doch das letztere schmeckte ihm nicht recht stilgemäß. Im Hauptzimmer trank eine Gruppe wohlbeleibter älterer Herren Sekt in erheblichen Massen. Gotthold fühlte eine geheime Notwendigkeit, es ebenfalls mit diesem unerhörten Getränk zu versuchen; er ließ eine halbe Flasche kommen und trank sie ohne merkliche Gewissensbisse. Jetzt fühlte er sich zu Hause und unermeßlich wohl.

Nach Vollendung dieser Genüsse machte er noch einen vergnügten Gang durch die Straßen und strich an dem stattlichen Hause des Kommerzienrats vorüber. Strahlendes Licht floß aus allen Fenstern wie ein warmer Festgruß, und ein freudiges Brausen drang dumpf in die nächtliche Stille hinaus.

Der Nachtschwärmer kam sich vor wie ein irrender Ritter, der im Begriff steht, ein Königsschloß zu erobern und die reizende Prinzessin im Sturm zu gewinnen. Die Brust von heißer Siegesfreude geschwellt, 107 kehrte er endlich nach Hause zurück. Als er im Bett lag, kreisten die Sterne des Himmels um sein Haupt in so hitzigem Wirbeltanz, daß er sie ordentlich zischen hörte.

 


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