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Sechster Abschnitt.
Vom Tode Schillers bis zum Scheiden Goethe's (1803-1832).

35.

Mit dem Tode Schillers beginnt die Zeit, welche man als diejenige der tiefsten Erniedrigung Deutschlands zu bezeichnen pflegt. Es ist wahr, daß unser Vaterland niemals, weder vor- noch nachher, so vollständig in die Gewalt eines äußeren, erbarmenslosen Feindes gegeben und der Gefahr der Zerreißung so nahe war; daß es niemals unter einem so furchtbaren Druck und einer so schonungslosen Vergewaltigung von außen her gelitten hat. Wer die Geschichte eines Landes und Volkes indessen nicht bloß aus den äußern politischen Vorgängen und Ereignissen aufbaut, sondern auch die inneren Zustände und Verhältnisse, das geistige und Kulturleben einer Nation in Betracht ziehen zu müssen glaubt, wird jener Bezeichnung gar nicht, oder nur bedingungsweise beizupflichten im Stande sein. Als der Druck überwunden und die Fremdherrschaft abgeschüttelt war, folgte bekanntlich nur allzubald eine noch schlimmere Zeit, ein ganzes Menschenalter der grausamsten Knechtung und der schmachvollsten Entwürdigung, eine völlige Lahmlegung alles nationalen Lebens und jedes nationalen Fortschritts, sowie jedes nationalen Selbstgefühls, so daß es wohl am Ende dahin kommen mußte, wohin es kam, das ist, daß Deutschland und die Deutschen nicht nur den übrigen Nationen verächtlich wurden, sondern auch, wenn sie überhaupt noch nachdachten und verglichen und einer tieferen Empfindung fähig waren, sich selber verachten mußten.

Man wird uns einzuwerfen versuchen, daß die Wissenschaft niemals in so rastlosem Vorschreiten begriffen gewesen und daß auf allen ihren Gebieten niemals größere Erfolge und Triumphe, sei es wirklich erzielt und gefeiert, sei es angebahnt und vorbereitet worden seien, als grade während dieser trost- und segenslosen Zeit. Das ist wiederum wahr, und wenn wir uns nur an diese Ergebnisse und Triumphe halten und nach ihnen über die damaligen Verhältnisse und Zustände auf geistigem, sittlichem und socialem Gebiet urtheilen wollten, so dürften wir möglicherweise zu dem Schlüsse gelangen, daß das deutsche Volk, grade umgekehrt, kaum jemals besser daran gewesen sei, als im zweiten, dritten und vierten Jahrzehend unseres Jahrhunderts. Aber es würde ein Trugschluß sein. Die Wissenschaft und die Stubengelehrsamkeit stehen mit der Gegenwart und dem gegenwärtigen Leben eines Volks an und für sich in keinerlei Verbindung, sondern bleiben ihnen vielmehr fremd. Ihre Ergebnisse und die von ihnen ausgehende Literatur sind daher für uns auch nur als Zeugnisse der fortschreitenden geistigen Entwickelung von Bedeutung, können jedoch niemals zum Gradmesser des Nationallebens, der Kulturverhältnisse, der öffentlichen und socialen Zustände während einer bestimmten Periode dienen. Einen solchen Gradmesser der untrüglichsten Art bietet uns nur die sogenannte Nationalliteratur, d. h. diejenige, welche in unlösbarem Zusammenhange mit der Nation und mit der Zeit steht, in ihnen wurzelt, mit ihnen steigt und fällt und sie von allen Seiten, im Einzelnen wie im Ganzen auf das getreuste wiederspiegelt. Wenn wir uns an diese halten, durch die Oberfläche ins Innere blicken und uns weder durch glänzende Einzelerscheinungen blenden, noch durch zuweilen erschreckende Auswüchse einschüchtern lassen, so wird unser Urtheil über den vor uns liegenden Zeitabschnitt und seine Unterabtheilungen kaum ein zweifelhaftes sein können.

Wie grausam auch der äußere Druck während der nächsten sieben Jahre der Fremdherrschaft war und wie tief auch die nationale Schmach von allen Wackeren und Edlen empfunden wurde, so zeigt uns doch die Literatur dieser Zeit kaum eine einzige Spur von Erdrückung oder auch nur Lähmung des deutschen Geistes. Im Gegentheil, es ist fast, als ob sich derselbe aufrafft und anstrafft und einerseits muthig der Noth der Zeit entgegenringt und andrerseits ihren Forderungen gerecht zu werden strebt. Wir sehen ein Zurückweichen aus den, nur für wenige erreichbaren, idealen Höhen auf den festen und sichern, immerhin noch fruchtbaren Boden der Wirklichkeit und Gegenwart; ein Einlenken von den alten bequemen und herkömmlichen, häufig irreführenden Bahnen auf zuweilen rauhere, unbekannte, aber richtigere Pfade. Man fängt an, zum Volke zurückzukehren, sich an dasselbe anzuschließen, hier aus ihm schöpfend, dort dasselbe ermuthigend, kräftigend und aufklärend. Mit einem Wort, die Literatur dieser traurigen Zeit ist im Allgemeinen eine durchaus kräftige und gesunde, ehrenhafte und erfreuliche.

Derjenigen, welche unbeirrt und unbegrenzt durch die Schrecken der Gegenwart, den alten Bahnen folgten und das heitere Reich der Kunst und Poesie gegen die rauhe und rohe Wirklichkeit abzusperren suchten, wie vor allen Uebrigen der Altmeister Goethe selber, waren begreiflicherweise nur sehr wenige. Die älteren Romantiker so gut, wie der sich nach und nach zu ihnen gesellende Nachwuchs, verharrten im Allgemeinen allerdings noch in ihren nebelhaften Regionen; sie bestrebten sich die von ihnen in ihrer Weise erweckte große und schöne Vergangenheit den Zeitgenossen glaubwürdig und nützlich zu machen, und suchten durch die nähere Heranziehung Shakespeare's und der Literatur der romanischen Völker, sowie allmälig auch der Orientalen unsere deutsche zu einer Art von Weltliteratur zu erheben. Allein auch bei einzelnen von ihnen ergab sich grade zu dieser Zeit eine hocherfreuliche Einsicht in die Forderungen der Gegenwart, wie denn Adam Müller und A. W. Schlegel mit voller Entschiedenheit den Fortschritt in der Kunst von demjenigen des politischen Lebens abhängig machten und statt der träumerischen und phantastischen, eine wache, unmittelbare, energische und vor allem patriotische Poesie verlangten, wenn man dem drohenden Unheil noch begegnen, oder dem schon hereingebrochenen Widerstand leisten wolle.

Diesen Forderungen genügten die eigenen Schöpfungen direct meistens allerdings nicht im allerentferntesten: trotz der geträumten und verlangten Volkstümlichkeit stehen die eigentlichen Romantiker dieser in Wirklichkeit so fern wie irgend denkbar und dem Volke als solchem so vornehm und unnahbar wie möglich gegenüber. Indirect dagegen, um uns so auszudrücken, stellte sich die Sache bei weitem anders und fehlte es keineswegs an der tiefsten Einwirkung und den allererfreulichsten und dankenswerthesten Folgen. Den Romantikern bleibt das unvergängliche Verdienst, daß ihr steter Hinweis auf jene große nationale Vergangenheit, auf die alte Sprache und Literatur, die Aufmerksamkeit anderer, fähigerer und klarerer Köpfe diesen Gegenständen zuwandte und auf dem Gebiete der einheimischen Sprach- und Literaturforschung eine Thätigkeit anheben ließ, die einen Schatz nach dem anderen zu Tage förderte und uns Deutsche erst erkennen ließ, was für eine Vorzeit das ist, aus welche wir mit mehr Stolz zurückblicken und deren wir uns mehr rühmen können als irgend eine andere Nation.

Allein man begnügte sich nicht mit diesem Durchforschen und Wiedererwecken der Vergangenheit, sondern man begann sozusagen auch in die Tiefen der Gegenwart einzudringen und sich, wie wir oben sagten, an das Volk anzuschließen, dasselbe in seiner Eigenart kennen zu lernen und seine Schätze zum Gemeineigenthum der ganzen Nation zu machen. Hier beginnt nicht nur die Literatur für das Volk, sondern auch diejenige aus ihm, und in dieser letzteren sind wenigstens die jüngeren Romantiker wiederum die Anführer. Was Herder vor dreißig Jahren begonnen und was seitdem fast vollständig geruht hatte, wurde jetzt auf das eifrigste und erfolgreichste wieder aufgenommen, und die Volkslieder, die Volksbücher, die Volkssagen, die Volksmärchen traten in die Literatur ein mit erfrischendem und belebendem Hauch; sie offenbarten die Einheit des deutschen Geistes in allen Klassen und Ständen und lehrten von neuem die Deutschen sich in ihrer Zusammengehörigkeit und als Nation erkennen und fühlen.

Aber auf solche Aeußerungen beschränkte sich das Literaturleben während dieses ersten Abschnittes keineswegs. Hin und wieder erhebt sich nicht nur aus den Reihen der Aelteren, sondern auch und zwar noch häufiger aus dem Kreise der Romantiker eine Blume voll wunderbarer Schönheit und reichen Duftes, unangefochten vom Ernst und den Schrecken des Tags. Hie und da trat ein wirklicher Patriot auf die Bühne, der in stolzer Verachtung der ihm drohenden Gefahren, voll Strenge und voll Zorns, die Nation wach rief und an ihre Pflichten und ihre Aufgaben erinnerte. Und endlich tauchten, wiederum grade in diesen Jahren, vereinzelt in dem schwer heimgesuchten Norddeutschland, zur Schule, der schwäbischen, vereint im freieren Süden, junge Dichter auf, welche wir noch heute zu unseren größten und besten zählen müssen. Die Ungesundheit oder wirkliche Krankheit, die Entmuthigung oder volle Verzweiflung zeigt sich uns stets nur in ganz vereinzelten Fällen.

Wie ganz, wie himmelweit anders erscheint uns, nach dem kurzen gewaltigen, todesmuthigen und jubelvollen Ausschwung der Befreiungsjahre, die Literatur während der folgenden anderthalb Dezennien bis zum Schluß dieses Abschnitts! Die Ungesundheit und wirkliche Krankhaftigkeit, die Unnatur und die geschmacklose Künstelei, die völlige Verwässerung und die nackte Unfähigkeit und Geistlosigkeit drängen sich uns bald mit widerlicher Ziererei oder in heuchlerischer Bescheidenheit, bald mit erschreckender Anmaßung oder gar mit anwidernder Frechheit entgegen. Die besseren und wirklich guten, natürlichen und einfachen oder gar noch wahrhaft schönen Erscheinungen auf dem Felde der sogenannten »schönen« Literatur sind zu seltenen und immer selteneren Ausnahmen geworden: hie und da erhebt sich ein Einzelner, meistens obendrein noch mit großer Schüchternheit und Unfertigkeit, gegen das allgemeine Verderbnis; und die fortwuchernde Fäulniß; hin und wieder ist einem Einzelnen das Verständnis; von Walter Scott's Größe ausgegangen und ermuthigt ihn zu eigenen Versuchen; dem Einen oder Anderen offenbaren sich die Schöpfungen Byrons oder Thomas Moore's, aber meistens nur, um ihn sich in schlechten Uebersetzungen versuchen zu lassen. Kurz, es ist die trostlose Zeit der Taschenbücher und belletristischen Zeitschriften, der Wasserpoeten und faden Unterhaltungsscribler, jene Zeit, von der Platen so bitter und so wahr sagt:

»Dieses mark- und knochenlose Publikum beklatschet nur,
Was verwandt ist seiner eignen Froschmoluskenbreinatur;
Kommt ja von Berlin und Dresden ein Roman mit jeder Post,
Bis die Deutschen kindisch werden über diese Kinderkost!«

Aber das war es eben: man wollte im Volk keine Bildung, keine Interessen und keine Theilnahme, keine Anregung und keine Aufklärung, welche den Unterdrückern hätten gefährlich werden können. Und um alles aus dem Wege zu räumen, was den beschränkten Unterthanenverstand und den erleuchteten der Regierenden auch nur im Entferntesten inkommodiren könnte, unterwarf man nicht nur die neue Literatur einer nachsichtslosen Censur, welche kein offenes und freies Wort mehr passiren ließ, sondern rückte auch die älteren großen Werke der Nation aus den Augen: Stücke wie »Egmont«, »Fiesko«, »Tell« durften auf den Bühnen des größten deutschen Staats, Preußens, bis zum Jahre 1840 nicht aufgeführt werden. Und daß sie auch sonst unschädlich blieben, dafür sorgten die theuren Ausgaben, welche die Werke unserer Klassiker nur in die Hände der Begüterten gelangen ließen.

36.

Wie tief der Verlust Schillers von Goethe empfunden wurde, das hat er selber viele Jahre später in den »Tag- und Jahresheften« uns ergreifender geschildert, als es irgend ein Biograph zu thun vermöchte: die kurze Mittheilung gehört zu dem Schönsten, was der Meister jemals geschrieben hat, und sie muß uns um so tiefer zu Herzen gehen und den Schmerz und die Trauer des Freundes uns um so rührender erscheinen lassen, als es die einzige Offenbarung dieser Art ist, die wir von Goethe irgend einmal erhalten haben. Wie tief und schmerzlich er sonst auch unter dem Verlust eines Freundes gelitten hat, so ließ er doch selbst seine nächste Umgebung kaum etwas erfahren und pflegte niemals davon Kunde zu geben. Hier, wo er die »Hälfte seines Daseins« verlor, ließ ihn die stille Fassung im Stich und kehrte ihm niemals zurück – er hat Schillers Verlust niemals überwunden.

Daß er den Plan, des Freundes »Demetrius« zu vollenden und in ihm uns ein unvergängliches Denkmal dieses Freundschaftsbundes aufzustellen, nicht zur Ausführung zu bringen vermochte, dürfen wir nicht bedauern: einer solchen Aufgabe war er ebenso wenig gewachsen, wie einer von denen, die sich später wirklich an derselben versuchten. Statt dessen gab er uns den »Epilog« zu Schillers »Glocke«, welche er im August auf dem Theater zu Lauchstädt dramatisch aufführen ließ, – eine Todtenklage, wie sie nie und in keiner Sprache einem Geschiedenen wieder nachklang. Und wenn man es überhaupt von Worten und Versen sagen kann, daß sie wie Kirchenglocken, läuten, so muß man's hier sagen:

»Denn er war unser! Mag das stolze Wort
Den lauten Schmerz gewaltig übertönen!
Er mochte sich bei uns, im sichern Port,
Nach wildem Sturm zum Dauernden gewöhnen.
Indessen schritt sein Geist gewaltig fort
Ins Ewige des Wahren, Guten, Schönen,
Und hinter ihm, in wesenlosem Scheine,
Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine.«

Wir bewundern auch in diesen Jahren die rastlose Thätigkeit Goethe's und die unversiegliche Geistesfrische, welche der nunmehr Sechzigjährige bei jeder Arbeit im unveränderten Maße bewährte, während der Körper allerdings häufig unter peinlicher Krankheit zu leiden hatte. Die naturwissenschaftlichen Arbeiten nehmen ihren Fortgang, seine Berufsgeschäfte werden auf das treulichste weiter versehen, die Leitung des Theaters und das Arrangement von allerlei Festdarstellungen, Aufzügen und was dergleichen mehr ist, verschlingt die edelste Zeit. Allein die Poesie kommt darüber nicht zu kurz: zwischen den zahlreichen Gedichten an einzelne Personen und zu besonderen Gelegenheiten finden sich stets wieder die duftvollsten Blüthen; hie und da erscheint auch ein köstliches Lied, und Balladen wie »Wirkung in die Ferne«, »Johanna Sebus«, »Der Todtentanz«, »Die wandelnde Glocke« u. s. w. folgen einander. Endlich gehören in diese Zeit auch die Sonette, welche an Minna Herzlieb, eine Pflegetochter des Buchhändlers Frommann in Jena, gerichtet sind und uns Kunde von dieser neuen, warmen – andere sagen: leidenschaftlichen – Neigung des Dichters geben. Er bewährte sich auch in dieser für ihn neuen Form, welche er später nur selten oder nie wieder gebraucht hat, als Meister.

Zu den prosaischen Schöpfungen übergehend, gedenken wir vor allem der noch im Jahre 1805 vollendeten Uebersetzung eines Dialogs von Diderot, »Rameau's Neffe«, – eines wunderbaren Werkchens voll von Geist und Leben, von Grazie und Uebermuth und von unserem Dichter in einer Form wiedergegeben, die über alles Lob erhaben ist. Man muß daher, wenigstens von dieser Seite, diese Nachbildung eines fremden Originals auch zu unseren klassischen Schriften zählen, während grade andere eigene Prosa-Arbeiten aus diesen Jahren, wie die Erzählungen, welche später meistens in die »Wanderjahre« aufgenommen wurden – wir nennen nur: »St. Joseph der Zweite«, »Die neue Melusine«, »Die pilgernde Thörin«, »Der Mann von fünfzig Jahren«, »Die gefährliche Wette« –, auf einen solchen Platz nur einen sehr zweifelhaften Anspruch haben dürften. Denn wie kunstvoll sie sein mögen, erscheinen sie doch fast alle ohne Wärme und eigenes, dem Leser entgegenathmendes Leben und leiden auch sprachlich hin und wieder schon an der Steifheit oder vielleicht richtiger gesagt, Erstarrung, welche Goethe's späteren Stil leider uns häufig unerquicklich macht. Es sind, um uns so auszudrücken, keine eigenthümlichen, frischen Natur-, sondern auf das sorgfältigste ausgearbeitete Kunstproducte, welche nur ausnahmsweise noch den frisch und frei schaffenden Geist zum heiteren Aufschwung und zur unbefangenen Offenbarung gelangen lassen, vielmehr ihn meistens unter der Herrschaft des kühl und weise berechnenden Verstandes halten. Am deutlichsten zeigt sich uns dies an der im Jahre 1826 geschriebenen, vielgepriesenen, sogenannten »Löwennovelle«, einer Arbeit, welche ohne Vorurtheil angesehen, uns nur zum Beweise dienen zu können scheint, daß selbst dieser Geist endlich dahinzuschwinden begann.

Eine von den kleineren Erzählungen wuchs dem Dichter unter der Hand aber über das beabsichtigte Maß hinaus und wurde zum Roman »Die Wahlverwandtschaften«, einer Schöpfung, welche in Ansehung der inneren Einheit, der harmonischen Gruppirung, der lebendigen Characterzeichnung, überhaupt der künstlerischen Verarbeitung des hochtragischen Stoffs selbst unter Goethe's Werken nicht ihres Gleichen hat; einer Schöpfung, in und mit welcher der Dichter sich ganz und gar wieder dem gegenwärtigen Leben, den modernen Verhältnissen und Conflicten zuwandte, so daß dieser Roman, so betrachtet, nicht nur der erste deutsche Socialroman überhaupt, sondern auch bis auf den heutigen Tag das unerreichte Vorbild und Muster dieser Gattung geblieben ist.

»Niemand verkennt an diesem Roman«, sagt Goethe selber in den »Annalen«, »eine tief leidenschaftliche Wunde, die sich im Heilen zu schließen scheut, ein Herz, das zu genesen fürchtet. – Der 3. October (1809) befreit mich von dem Werke, ohne daß die Empfindung des Inhalts sich ganz hätte verlieren können.« Und anderwärts fügt er hinzu, daß kein Strich in dieser Arbeit sei, den er nicht selbst erlebt, wenn auch keiner so, wie er ihn erlebt habe. Wir haben also auch hier eine von jenen Confessionen vor uns, durch welche der Dichter sich von dem Druck und Schmerz einer neuen schweren Lebenserfahrung zu befreien suchte, und man gibt an, daß es diesmal die leidenschaftliche und aussichtslose Liebe zu der schon genannten Minna Herzlieb gewesen sei, welche er zu überwinden hatte. Ob diese, fast allgemein angenommene Erklärung die richtige ist, haben wir hier nicht zu untersuchen. – Goethe sagte einmal zu Eckermann, daß »die Wahlverwandtschaften« das einzige Product seien, bei dem er sich bewußt gewesen, nach Darstellung einer durchgreifenden Idee gearbeitet zu haben. Wie in der Chemie sich Stoffe anziehen und abstoßen, so fühlen sich auch, nach einem für uns nicht erkennbaren Gesetz, Charactere von einander angezogen und abgestoßen. Aber die sittliche Kraft im Menschen soll stärker sein als jener dunkle Trieb, wenn nicht Haus und Familie und der Mensch selber zu Grunde gehen soll. Durch den Conflict der Natur und des Gesetzes, der Leidenschaft und Pflicht wird dieser Stoff zu einem tragischen im vollen Sinn dieses Wortes und die ganze Ausführung und Behandlung von Seiten des Dichters entspricht diesem Grundcharacter bis zum Schluß. – Was den Eindruck dieses außerordentlichen Werkes abschwächt und was uns als sein Hauptmangel erscheint, ist die Dunkelheit, ja Unglaubhaftigkeit des eigentlichen Motivs: wir glauben weder an die unwiderstehliche, dämonische Naturmacht, noch an die ebenso unwiderstehliche und unbesiegbare Gewalt des Sittengesetzes, d. h. hier an die völlige Unauflöslichkeit der Ehe. Daher finden wir denn auch in dem hereinbrechenden Verhängniß und dem endlichen Untergange weniger die zwingende Naturnothwendigkeit, als die künstlerische und menschliche Willkür. Ob der Roman mehr sittlich oder unsittlich sei, darüber läßt sich nach unserer Ueberzeugung kein maßgebendes Urtheil fällen, noch eine Uebereinstimmung unter den Beurtheilern erzielen. Goethe behandelt keinen Satz aus der Sittenlehre, sondern gibt uns ein Bild des Lebens und eine Darstellung der Wirklichkeit. Darin haben wir zugleich Gutes und Böses vor uns, über das unvermeidlich jeder nach seiner individuellen Anschauung und Auffassung urtheilen muß.

Der Stil der »Wahlverwandtschaften« rechtfertigt die ihm gezollte Bewunderung im Allgemeinen nicht: neben manchen vollendet schönen Stellen finden sich zahlreiche andere, deren Sprache uns durch ihre Künstlichkeit, durch übertriebene Glätte, merkwürdig steife Wendungen und allerhand abstracte Ausdrücke erkältet und befremdet. Wir begegnen auch hier schon jener erwähnten Erstarrung und Leblosigkeit, welche den Genuß der Alterswerke des Meisters je länger desto mehr beeinträchtigt.

Ganz anders steht es grade auch in dieser Richtung mit dem zunächst folgenden großen Werke – mit der Biographie, welche unter dem Titel »Aus meinem Leben, Wahrheit und Dichtung«, vom Jahre 1811 an erschien. Als Lebensgeschichte hat man dies Buch allerdings mit großer Vorsicht aufzunehmen. Goethe stellt nicht nur manches anders dar, als es in Wirklichkeit gewesen und geschehen und verfällt nicht selten in Irrthümer, die allerdings dem der Jugend und den Jugendgenossen fernstehenden Greise verziehen werden dürfen. Nein, er fertigt häufig auch das Allerbedeutendste mit den flüchtigsten Worten ab oder verschweigt es ganz, ohne daß sich ein Grund für solche Heimlichthuerei entdecken ließe. Aber was nun das Vorhandene, die Erzählung, die Schilderung und Darstellung selber betrifft, so steht dies Werk in seinen allermeisten Partien durch ungeschminkte Natürlichkeit und durchsichtige Klarheit, durch entzückende Frische und reizvolle Anmuth, durch wunderbare Anschaulichkeit und nicht am wenigsten endlich durch die Höhe, die Reinheit und Freiheit der Lebensanschauung, auf der höchsten Höhe der Literatur und hat kaum auch in anderen Sprachen irgendwo seinesgleichen. Was hier erreicht wurde, ist dem Dichter in den später folgenden, an dies erste sich anschließenden und dasselbe ergänzenden Werken, der »italienischen Reise«, der »Campagne in Frankreich«, der »Belagerung von Mainz«, den ausgeführteren Partien der »Annalen« u. s. w. nur ausnahmsweise wieder gelungen. Um so beachtenswerther ist es jedoch, daß er bei Wiederaufnahme der eigentlichen Biographie, deren vierter Band erst im vorletzten Lebensjahre 1831, zum Abschluß gelangte, ganz den alten Ton wieder fand und dem Werk die gleichen Vorzüge zu geben vermochte, durch welche die früheren glänzen. Wo Goethe's einzige Natur zum reinen Ausdruck kam, siegte sie selbst über den Verfall und die Grillen des Alters und offenbart sich uns in ihrer vollen Ursprünglichkeit.

Von den dramatischen Arbeiten während dieser Jahre bis zu den Befreiungskriegen wissen wir nichts zu sagen. Es fehlte nicht an Plänen und Anfängen, und ein kleines Lustspiel, »Die Wette«, wurde mit alter Leichtigkeit wie spielend aus dem Aermel geschüttelt. Etwas Nennenswerthes findet sich aber nicht, und das Festspiel zur Feier des Friedensschlusses in Berlin, »Des Epimenides Erwachen« – Goethe hatte den Antrag, ein solches Stück zu schreiben, mit merkwürdiger Selbstverblendung bereitwillig übernommen, hieß die Aufgabe aber gleich darauf schon eine ungeheure und kaum zu lösende! – gehört zu jenen Arbeiten, die am besten ungeschrieben geblieben wären: es ist ein kaltes, nüchternes, oft kaum verständliches Verstandesproduct, mit dem die Poesie so gut wie gar nichts zu thun hat. Goethe war eben nicht im allerentferntesten, was man einen Patrioten heißt, sondern stand auf seiner einsamen, alles überragenden und beherrschenden Höhe weit über den Parteien, ja über den Völkern – er sah die Welt nicht im Einzelnen, sondern im Ganzen vor sich. Der Druck der Fremdherrschaft und Deutschlands Schmach hatte ihn im Allgemeinen kaum berührt und der Aufschwung und die Begeisterung der Kriegesjahre rissen ihn nicht mit fort: er sah in der Vergangenheit kein besonderes Elend und in der Gegenwart kein besonderes Glück – er sah, wie er selber sagt, nicht Befreiung vom Joche der Fremden, sondern nur von einem fremden Joch und statt der Franzosen und Italiener Kosaken, Baschkiren, Kroaten und Magyaren; er sah statt des versinkenden Westen den jetzt herauf drohenden Osten und hat das kommende Unheil mit einer Klarheit, sei es vorausgeahnt, sei es vorausgesehen, von welcher nicht in einem einzigen unserer Staatsmänner und Patrioten auch nur eine Spur zu entdecken war.

Man hat den großen Menschen und Dichter bekanntlich für seinen sogenannten Nicht-Patriotismus mit einem unermeßlichen, halb kindischen, halb albernen Haß angegriffen und verfolgt – sogar bis in die allerneueste Zeit. Darüber verliert man am besten kein Wort, denn ein solches vermöchte keinen zu bekehren, der nicht durch Goethe selber zu bekehren ist. Und nicht anders ist es mit jenem allergrimmigsten Vorwurf, daß er keine patriotischen und Kriegslieder gesungen. Darauf hat er selber die goldenen Worte geantwortet: »Kriegslieder schreiben und im Zimmer sitzen! Das wäre meine Art gewesen! – Was ich nicht lebte, habe ich auch nicht gedichtet.« – Er vermochte nicht mehr zu kämpfen und vermochte nicht zu hassen, so sang er denn auch keine Lieder des Kampfes noch des Hasses.

37.

Zunächst betrachten wir einige Schriftsteller, deren Thätigkeit entweder ganz und gar oder doch in ihren bedeutendsten Werken diesem ersten Abschnitt unserer Periode angehört.

Hier begegnet uns zuerst Friedrich Ludwig Zacharias Werner, der 1768 zu Königsberg geboren wurde, 1811 in Rom zum Katholicismus übertrat und 1823 in Wien, wo er eine Zeit lang als Prediger Aufsehen gemacht hatte, starb. Zacharias Werner zeigt uns in seltener Grellheit eine jener von Hause aus auf das höchste, ja gewaltig begabten Naturen, welche uns aber weniger durch ihre Riesenhaftigkeit als durch die, mit dieser verbundene Ungeschlachtheit und Plumpheit auffällig werden. Ohne den nothwendigen inneren sittlichen Halt und ohne die, den wahrhaft großen Geist auszeichnende, ja ihn erst zu seiner Höhe erhebende innere Klarheit, finden sie für sich weder im Leben, noch in der Kunst den richtigen Platz und vermögen weder im Leben, noch in der Kunst sich selber gerecht zu werden. Solche Erscheinungen können und dürfen uns unter Umständen Bedauern und Theilnahme einflößen, allein Werner vermag es dahin nicht zu bringen. Seine Natur und sein Leben offenbaren sich uns von früh auf als sich selbst zerrüttende in frivolster und unwürdigster Weise, und zwar ohne daß die Ungunst der Verhältnisse ihn ins Verderben getrieben hätte. Leichtsinn, Sinnlosigkeit, Anmaßung, Eitelkeit, Unwahrheit, Heuchelei und was den Menschen sonst verunehrt, erschrecken uns auf Schritt und Tritt und halten ihn auch in seinem künstlerischen Streben von der ihm, anscheinend durch sein Talent angewiesenen Höhe fern. In seinen Schöpfungen finden sich hart neben einander, ja wirr und wüst durcheinander Partien von unleugbar großer Schönheit, von überraschender Gewandtheit und Kraft in Darstellung und Sprache, und eine Formlosigkeit sondergleichen, ein grausiges Gebräu von Glauben und Aberglauben, von toller Mystik und wilder Phantasie, und eine bis zum Fratzenhaften sich steigernde Uebertreibung. Was zur Erklärung und Entschuldigung dieses abstoßenden Charakters – wenn überhaupt von einem solchen bei Werner noch zu reden ist! – allenfalls dienen könnte, ist der Umstand, daß seine Mutter schon früh an geistigen Störungen litt und endlich wirklich gemüthskrank wurde.

Von seinen Arbeiten nennen wir außer seinem ersten und wohl besten dramatischen Gedicht, »Die Söhne des Thals«, in welchem eine Verschmelzung maurerischer, romantischer und katholischer Elemente versucht wird, nur das 1806 vollendete Drama »Martin Luther, oder die Weihe der Kraft«, ein Stück, das einzelne schöne, ja gewaltige und hinreißende Partien enthält, aber auch in toller Mystik und Rhetorik das Mögliche leistet und aller inneren Klarheit entbehrt. Das Werk hat seinerzeit in Berlin, wo es zuerst dargestellt wurde, viel Aufsehen gemacht und einen heftigen Streit im Publikum erregt, ob der Reformator auf die Bühne geführt werden dürfe oder nicht. Eine Maskenfahrt der Berliner Offiziere, bei welcher alle Personen des Drama's, zum Theil in den pikantesten Situationen erschienen, rief eine Sistirung der Aufführungen hervor. – Beiläufig sei hier erwähnt, daß Werner später als fanatischer Katholik das Stück durch eine »Weihe der Unkraft« zu widerrufen versuchte.

Als eine weitere Arbeit führen wir die Tragödie »Der 24. Februar« an, welche, im Winter 1808 auf 1809 zu Weimar, so zu sagen unter Goethe's Augen geschrieben und bald nachher auch daselbst aufgeführt, im Publikum und in der Literatur Sensation machte und in der letzteren zu den unheilvollsten Folgen führte. Es ist ein noch mehr widerliches als grausenhaftes Stück, in welchem ein wilder und wüster Fatalismus dominirt und alle Vernunft und alle Selbstbestimmung des Menschen vernichtet. Obgleich etwas Aehnliches auch schon in früheren Arbeiten Anderer angedeutet ist, wie z. B. in einem verschollenen Stück von Moritz, »Blunt, oder der Gast«, in Jugendwerken Tieck's und vor allem, aber freilich in bei weitem edleren und höheren Sinne, in Schillers »Braut von Messina«, so ist doch diese, das menschliche Gefühl und die menschliche Vernunft entehrende Idee nirgends zuvor in solcher Nacktheit und Graßheit zur Darstellung gelangt. Und was das schlimmste war, es folgten diesem Stück alsbald die ganze Reihe der abscheulichen, sogenannten »Schicksalstragödien« von Müllner, Grillparzer, Houwald, Zedlitz, Raupach und wie sie sonst heißen, welche unsere Literatur verunehrten, den Geschmack des Publikums verwilderten und selbst die Schauspielkunst zur Unnatur hinüberführten.

Eine um vieles edlere und zugleich tief ergreifende Erscheinung ist Heinrich von Kleist, einer der genialsten und unglücklichsten Dichter unseres Jahrhunderts. Es ist ein außerordentliches Talent, das, wenn irgend eines, demjenigen Goethe's nahe kommt und den Dichter weit über alle seine Zeitgenossen, zumal über die Romantiker erhebt. Ja, der alte Wieland hat wohl kaum Unrecht gehabt, als er sagte, daß Kleist dazu berufen gewesen zu sein scheine, die immer noch vorhandene Lücke in unserer dramatischen Literatur auszufüllen und er vor allen war dazu befähigt, uns das ächt nationale Drama zu geben. Allein dahin kam es nicht. Diese Natur und dies Leben waren schon von früh an tief dunkle und verdunkelten sich immer mehr unter dem Druck der Zeit und der Ungunst der Verhältnisse. Zu Frankfurt a. d. O. 1776 geboren, endete der Unglückliche, krank an Leib und Seele, im November 1811, nachdem er eine gleichfalls kranke Freundin auf ihr Verlangen erschossen hatte, durch eigene Hand. Was ihn aber in den Tod trieb, war sicherlich nicht allein diese leibliche und geistige Zerrüttung, sondern zugleich auch der Schmerz des an der Rettung des Vaterlandes verzweifelnden Patrioten und nicht am wenigsten die Entmuthigung des Dichters, der im Bewußtsein, das Höchste zu erstreben und im Gefühl seines Werths, sich von den Zeitgenossen weder erkannt noch unterstützt sah. Sie wußten kaum von ihm, und die nächste Generation vergaß ihn beinahe vollständig, bis erst die neueste Zeit ihn wieder hervorgezogen und ihn uns nach Verdienst würdigen gelehrt hat.

Schon sein erstes großes Stück, »Die Familie Schroffenstein«, eine Art von Schicksalstragödie, machte damals, 1803, Aufsehen und ließ viel von dem Dichter erwarten. Das Lustspiel »Der zerbrochene Krug«, hervorgegangen aus einem poetischen Wettstreit mit Heinrich Zschokke und Ludwig Wieland, dem Sohn des alten Weimaraners, gehört zu dem Kennenswerthesten und Interessantesten, was wir auf diesem Gebiet besitzen: die gradezu meisterhafte Behandlung eines an und für sich trockenen und dürftigen Stoff's ist außerordentlich lehrreich. Das Ritterschauspiel »Das Käthchen von Heilbronn« und das reichste und schönste seiner Werke, »Prinz Friedrich von Homburg«, welches neuerdings wieder für die Bühne gewonnen ist, haben seinen Namen bei den Zeitgenossen und bei uns am bekanntesten gemacht. »Die Hermannsschlacht«, erst nach seinem Tode veröffentlicht, athmet den ganzen Haß des Dichters gegen die Fremdherrschaft aus und erregt nicht nur in einzelnen Theilen die vollste Bewunderung, sondern verdient auch als Ganzes unsere lebhafteste Anerkennung. – Endlich, um von den übrigen Stücken zu schweigen, finden sich zwischen seinen Erzählungen manche, die wie »Die Marquise von O...«, und »Michel Kohlhaas«, bis auf den heutigen Tag zu den Perlen unserer erzählenden Literatur und den Musterstücken einer klassisch-schönen Prosa zu rechnen sind.

Auf diese beiden dunklen und krankhaften Erscheinungen, welche sich, ob auch in einem gewissen oberflächlichen Zusammenhange mit den Romantikern, doch im Grunde ziemlich unabhängig uns darstellen, folgt eine dritte desto hellere, kerngesunde und selbstständige und zugleich eine der liebenswürdigsten, deren wir im ganzen Bereiche unserer Literatur begegnen. Das ist Johann Peter Hebel, geboren 1760 zu Basel, wo seine armen, aber treuen Eltern, zu Hausen bei Schopfheim im badischen Wiesenthal wohnend, Sommers ihrem Verdienste nachgingen, und gestorben auf einer Dienstreise zu Schwetzingen als badischer Prälat 1826. Hebel kam verhältnißmäßig spät zum Dichten. Seit 1791 zu Karlsruhe als Lehrer am Gymnasium und Prediger angestellt, litt er unter den häufig drückenden Amtsgeschäften nicht selten an Heimweh nach seiner friedlichen, schönen Heimat, und dieses war es hauptsächlich, was in den Jahren 1801 und 1802 die meisten jener Gedichte hervorrief, welche zuerst ein Jahr später unter dem Titel, »Allemannische Gedichte, für Freunde ländlicher Natur und Sitten«, erschienen, in ganz Deutschland allsogleich das größte Aufsehen machten und von den Ersten der Nation, wie besonders von Goethe und Jean Paul, mit der herzlichsten Anerkennung aufgenommen wurden. In jenem Dialect abgefaßt, der »zwischen Frickthal und Sundgau und weiter, bis an die Vogesen und Alpen, über den Schwarzwald hin, in einem großen Theil von Schwaben« herrscht, sind sie, abgesehen von den früheren, wenig bedeutenden Versuchen von Johann Heinrich Voß in plattdeutscher Sprache, das erste Beispiel der seitdem ziemlich häufig cultivirten Dialectdichtung und, wenn wir gerecht sein wollen, an Volksthümlichkeit nur ausnahmsweise erreicht und in sehr seltenen Fällen übertroffen worden. Indessen müssen wir gestehen, daß gerade in Ansehung dieser letzteren, der ächten Volksthümlichkeit, auch die »allemannischen Gedichte« die ihnen gewidmete Bewunderung im Allgemeinen nicht rechtfertigen. Die Dialect-Dichtung erscheint als wirkliche Volksdichtung nur dann, wenn man in ihr nicht bloß die Mundart, sondern auch den Sinn und Geist, die Auffassung und Anschauung des Volksstammes wiederfindet. Wo dies nicht stattfindet, kann man eigentlich nur die Originalität und Naivetät des mundartlichen Ausdrucks und die Sprachgewandtheit des Verfassers bewundern, am wenigsten aber von wahrer und voller, geschweige denn volksthümlicher Poesie reden. Hieran leidet, wie die meisten der Nachfolger, auch Hebel nicht selten in hohem Grade. Diese Dichtungen sind voll frischer Eigenthümlichkeit und häufig auch Natürlichkeit, voll von Gemüth und frommem Sinn; es sind Bilder aus der Heimat und der Heimatgenossen, der eigenen Kindheit, Abspiegelungen der Lebensweise, der Sitten, der Denkart seiner Landsleute, aber letzteres doch nur insoweit, als sie in dem Dichter selbst noch nicht durch seinen Lebensgang und seine Bildung unwillkürlich und doch ganz unvermeidlich beeinflußt worden sind. Wir finden in diesen Gedichten nicht bloß Beschreibung und Schilderung, sondern auch die Lehre, die Moral, die Reflexion und Nutzanwendung, und sogar die Allegorie, alles, was dem Volke als solchem im Grunde völlig fern liegt und ein wesentliches Ingredienz der Kunstpoesie bildet. Mit einem Wort, in und aus diesen Gedichten spricht nicht das Volk zu uns, sondern nur der treue, wackere, liebevolle, herzliche Volksmann Hebel von seinem geliebten, tüchtigen Volk und über dasselbe, so daß wir ihm selbst und seinem Volke herzlich gut werden müssen. Das erkennt man, ohne Vorurtheil lesend, grade an den bedeutendsten dieser Gedichte, wie an »der Wiese«, dem tiefsinnigen »Karfunkel«, dem schönen »Der Morgenstern« u. s. w., wie meisterlich sie formell und sprachlich und wie poetisch sie als Gedichte sein mögen. Und nur ganz wenige und zwar meistens auch nur in einzelnen Versen, wie beispielsweise das bekannte »Hans und Verene«, »Wächterruf«, »Der Sperling am Fenster«, »Der Schreinergesell«, das treffliche »Der Schwarzwälder im Breisgau (Z' Müllen an der Post)«, klingen uns sozusagen gradeswegs aus dem Volk entgegen und ins Herz hinein.

Was aber gegen diese Gedichte am meisten und zwar mit vollem Recht einnehmen muß, jede reine Wirkung aufhebt und den Character der Volksthümlichkeit von vornherein völlig zerstört, ist der Umstand, daß auch der klare und einsichtige, poesie- und geschmackvolle Hebel auf jenen räthselhaften, damals freilich allgemein verfolgten und selbst heute noch nicht ganz ausgegebenen Abweg des klassischen Versmaßes, d. i. des Hexameters, gerieth, welches schon in unserer hochdeutschen Poesie als ein ungerechtfertigtes und fremdartiges erscheinen, in der Dialectdichtung aber für eine gradezu widersinnige und vollkommen geschmacklose Spielerei erklärt werden muß.

Unter den hochdeutschen Gedichten Hebels finden sich wenigstens zwei ächte und schöne Lieder, die weit bekannten: »Jetzt schwingen wir den Hut«, und »Steh ich im Feld«. Aber auch hier tritt uns Hebel in seiner vollen Bedeutung und unerreichten Eigenthümlichkeit noch nicht nahe, sondern diese erreicht und offenbart er uns erst in jenen kleinen Geschichten, Schnurren, Anekdoten, belehrenden Artikeln, politischen Rundschauen u. s. w., welche er zuerst im »badischen Landeskalender« für 1807 und von da an im Kalender des »Rheinländischen Hausfreundes« Jahr auf Jahr bis 1814 veröffentlichte und – die ersten vier Jahrgänge – 1811 im »Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes« gesammelt erscheinen ließ. Dieser Kalender ist der beste seiner Art, der jemals in Deutschland oder irgend einem anderen Lande erschienen ist, und die Beiträge Hebels bilden vereint nicht nur die beste Volksschrift, welche wir besitzen, sondern müssen auch den Gebildetsten stets von neuem erfreuen. Hier ist die glänzendste Klarheit und unnachahmliche Frische, hier die reinste und naivste Volksthümlichkeit; hier spricht uns fort und fort das tiefste Gemüth an, die neckischste Laune, die fröhlichste Schalkhaftigkeit, ein unendlich wohlthuendes, reines Behagen, der frömmste Sinn, der redlichste, herzlichste Wille, das Volk zu belehren, zu bilden. Und das alles in durchweg edler und dennoch ganz und gar einfacher und natürlicher Sprache, wo nicht ein Wort, nicht eine Wendung aus dem Tone fällt, wo nicht ein Mißklang stört und nicht eine einzige Spur von berechneter Kunst des Prosaikers zu entdecken ist – alles ist aus einem, dem reinsten und schönsten Guß. Was Hebel hier zu Stande gebracht hat, ist völlig einzig in seiner Art, und die zahlreichen, zum Theil von hervorragenden Geistern versuchten Nachahmungen lassen uns eben nur die unerreichbaren Vorzüge des Vorbildes in um so hellerem Lichte erscheinen.

Als Patriot im landläufigen, zumal im damaligen Sinne des Worts, zeigt sich Hebel in seinem »Schatzkästlein« eigentlich nirgends: zum Hassen war seine Natur nicht gemacht und überdies war der Druck der Zeit in Süddeutschland und besonders in Baden ein bei weitem nicht so schwerer, wie im Norden, wie denn später auch im Süden der endliche Ausbruch und Aufschwung wider den Feind ein bei weitem nicht so enthusiastischer und allgemeiner war. Im höheren und edleren Sinne jedoch war Hebel ein Vaterlandsfreund, wie wir ihrer nicht viele finden. Niemand hat seine Heimat und sein Volk mehr geliebt und besser gekannt als er, niemand hat es treuer und ehrlicher mit demselben gemeint und so unermüdlich auf die Aufklärung, auf die Erweckung und Pflege seiner guten Eigenschaften, seines gesunden Geistes, seiner geistigen und sittlichen Weiterbildung hingearbeitet. – Das »Schatzkästlein«, vermehrt durch Auszüge aus den folgenden Jahrgängen des Kalenders, ist ein Schatz für unser Volk wie für unsere Literatur, ein Volksbuch ersten Ranges und sollte in keinem Hause und keiner Familie Deutschlands fehlen.

Von Joh. Gottl. Fichte, 1762-1814, dem großen Philosophen, über dessen außerordentlichen Einfluß und hervorragende Bedeutung wir in unserem Abriß nicht zu sprechen haben, wollen wir hier wenigstens die »Reden an die deutsche Nation« anführen, welche er im Winter von 1807 auf 1808 in Berlin hielt, trotz der Franzosenherrschaft; in denen er die Deutschen zusammenrief zur Nation und sie sich kennen lehrte in ihrer Schwäche und in ihrer Stärke, in ihren Pflichten wider das Vaterland. Diese Reden dürfen auch für uns noch als Zeugniß kühnen und freien Mannesmuths theuer sein und bleiben ein Muster der gewaltigsten öffentlichen Beredsamkeit.

Johann Gottfried Seume, 1763-1810, ist, nachdem er während seines Lebens wenig bekannt geworden, neuerdings mehr und mehr vergessen worden – mit großem Unrecht, da seine Schriften uns nicht nur in ihrem Verfasser einen zwar trotzigen und herben, aber durchaus ehrenhaften, republikanisch strengen und reinen Charakter, einen Mann von tiefer Einsicht und unbeugsamer Wahrheitsliebe erkennen lassen, sondern auch die heimischen, trostlosen und schmachvollen Zustände vor 1806 und während der Franzosenherrschaft mit schonungsloser Offenheit ans Licht ziehen. – Als er in seiner Jugend, ein junger Student, von Leipzig nach Paris gehen wollte, wurde er unterwegs von hessischen Werbern aufgegriffen und an die Engländer für den Krieg in Amerika verkauft – diese Art des Menschenhandels florirte damals an den kleinen deutschen Fürstenhöfen. Nach seiner Rückkehr war er Jahre lang in Rußland und erlebte die Schrecken der Unterwerfung Polens; hernach wieder in Leipzig, brach er von hier 1801 zu jener Fußreise nach Syrakus auf, die er in seinem bekanntesten Buch, »Mein Spaziergang nach Syrakus«, beschrieben hat. In »Mein Sommer 1805« erzählt er von einer ähnlichen Tour durch Rußland und Schweden. – Aber auch seine Aufsätze und Aphorismen sind lesenswerth, und unter seinen Liedern finden sich einzelne voll Muth und Kraft. Sein Trauerspiel »Miltiades« stellt der Jugend das Bild eines ächten Mannes zur Nacheiferung auf und zeugt von neuem für die reine und strenge Gesinnung seines Verfassers.

Den unermüdlichsten und erbittertsten Kämpen wider die Fremdherrschaft nicht nur, sondern auch gegen die Nichtswürdigkeit der deutschen Zustände, Ernst Moriz Arndt, dessen »Geist der Zeit«, so wie einzelne seiner schönsten Lieder schon dieser Zeit angehören, werden wir erst mit den andern Sängern der Befreiungskriege kennen lernen.

38.

Wir wenden uns jetzt zu denen, welche, ob auch nicht eigentlich für das Volk schreibend, sich dennoch ihm, der untröstlichen Gegenwart entfliehend, zu nähern suchten und aus ihm zu schöpfen begannen. Es sind dies vor allen zwei von den sozusagen jüngeren Romantikern, Clemens Brentano und Achim von Arnim, neben ihnen Joseph Görres und die Gebrüder Jakob und Wilhelm Grimm. Clemens Brentano, geboren 1778 (1777?), ist ein Sohn jenes aus Italien stammenden »Handelsmannes« Peter Brentano, welcher zu Anfang des Jahres 1774 Maximiliane von La Roche als Gattin nach Frankfurt heimführte – die von Goethe so herzlich verehrte junge Frau – und diese Mischung des italienischen und deutschen Bluts führt zu einer der seltsamsten, widerspruchvollsten und confusesten Erscheinungen in unserer ganzen literarischen Welt. In Clemens Brentano finden wir eine Natur voll der grellsten, ja unbegreiflichsten Gegensätze, voll der erschreckendsten Disharmonie: eine wunderbare Reinheit, Innigkeit und Demuth, welche plötzlich in grasse Sinnlichkeit, Ueppigkeit, Eitelkeit und Prahlerei umschlagen; der heilige Ernst, der im nächsten Augenblick zur wildesten Ausgelassenheit, ja zur wirklichen Tollheit hinüberspringt; die – man möchte sagen: natürlichste und anmuthigste Natürlichkeit, welche Knall und Fall von der grellsten und fratzenhaftesten Unnatur abgelöst wird; eine, so sollte man wenigstens glauben, ächte Gottseligkeit und unmittelbar neben ihr eine erschreckende, bis ins Gemeine sinkende Frivolität, – mit einem Wort: die reichste Begabung und die grenzenloseste geistige und sittliche Verwilderung.

Von seinen Werken nennen wir nur »Godwi, oder das steinerne Bild der Mutter«, das schon durch den eigenen Zusatz des Verfassers: »Ein verwilderter Roman«, characterisirt wird; das Lustspiel »Ponce de Leon«, aus welchem das fast zum Volksliede gewordene »Nach Sevilla, nach Sevilla« stammt; das berühmteste seiner Märchen, »Gockel, Hinkel und Gockeleia«, eine Dichtung von unleugbarer Tiefe und Innigkeit, von Kindlichkeit und Naivetät, die aber oft genug in das grade Gegentheil umschlagen, während zugleich häufig eine unendliche Breite und zahlreiche nüchterne Verse allen Genuß zerstören. Unter seinen Gedichten finden sich einzelne, welche von wirklichem Werth sind, wie außer dem eben genannten die gleichfalls volksliedartigen: »Ich wollt' ein Sträußlein binden«; – »Es sang vor langen Jahren – Wohl auch die Nachtigall«, das empfindungstiefe Gedicht »Die lustigen Musikanten«, oder das schöne geistliche Lied, das da anfängt:

»Bleib' nur stille,
Gottes Wille
Hat auch dich ja ausersehn,
Alle Armuth, alle Fülle
Wird an dir vorübergehn.«

Zwischen seinen Prosawerken finden wir aber eine der schönsten Perlen unserer Literatur, die kleine, ergreifende und hochpoetische »Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl«, ein Stücklein, das schon allein hinreichen würde, uns in Brentano trotz aller Verschrobenheit und Verworrenheit einen ächten Dichter erkennen zu lassen. Wir besitzen in ihm so ziemlich das erste Beispiel und zugleich ein kaum jemals überbotenes Muster – nicht, wie man wohl gesagt hat, der Dorfgeschichte, da dies Moment ein rein nebensächliches ist, aber der eigentlichen Geschichte in neuerem Sinn, d. i. gewissermassen ein Naturproduct, welches unabhängig von der Kunst entsteht und dennoch ihren höchsten Forderungen entspricht. Darum werden wir auch in dieser kleinen Arbeit von kaum einer einzigen der herkömmlichen Unarten und Fratzen Brentano's gestört – der Dichter tritt völlig zurück und begnügt sich, die Natur schaffen zu lassen.

Brentano's höchstes Verdienst aber und das, was seinen Namen stets erhalten wird, ist die Sammlung von deutschen Volksliedern, welche er in Gemeinschaft mit seinem Freunde und späteren Schwager Achim von Arnim, unter dem freilich seltsamen Titel, »Des Knaben Wunderhorn«, von 1806-1808, in drei Bänden erscheinen ließ. Im Einzelnen betrachtet leidet diese Sammlung an mehr als einem Mangel, denn die Texte sind zum Theil überarbeitet und zwischen die ächten Volkslieder finden sich, sei es zufällig, sei es mit Wissen der Herausgeber, nicht ganz wenige andere, unächte eingeschoben; es sind seitdem auch andere Sammlungen entstanden, welche uns diesen schönsten und reichsten Schatz in viel größerer Vollständigkeit und Richtigkeit und in der pietätvollsten Behandlung vorlegen. Aber das alles kann den wirklichen Werth des »Wunderhorns« und das Verdienst der beiden Herausgeber nirgends beeinträchtigen. Wir verdanken dieser Sammlung vorweg nicht nur die Kenntnis, sondern auch die Rettung vieler unserer allerschönsten Lieder, und was sie zur Weckung des deutschen Volksbewußtseins beigetragen hat, wie tief ihr Einfluß auf die Weiterentwickelung unserer Poesie war und wie nachhaltig sie auf das Studium unserer älteren und überhaupt nationalen Literatur einwirkte, – das leuchtet jedem Nachdenkenden ein. Die Zeit, als nur einzelne Bevorzugte den Werth des Volksliedes zu erkennen und zu würdigen vermochten und die große Mehrzahl der sogenannten Gebildeten und sogar die angeblich großen Geister verächtlich über sie als rohe oder läppische Fratzen und Possen die Achseln zu zucken liebten, – war für immer vorüber und wir fanden nicht nur den Grund und Kern aller wahren Poesie, sondern auch unser Volk selbst wieder in seiner ganzen Eigenart, mit seinem Geist, seinem Herzen und seinem Gemüth, seiner Liebe und seinem Haß, seinem Lachen und seinen Thränen, seiner Innigkeit und Frömmigkeit, seiner Schwermuth und seiner Schalkhaftigkeit. – Darum bleibt die Sammlung und Herausgabe des »Wunderhorns« grade zu dieser Zeit auch eine nationale Großthat im besten Sinne des Worts.

In dem Mitherausgeber Achim von Arnim (1781-1831) begegnen wir einem Character, der sich uns nach der menschlichen so gut wie nach der dichterischen Seite bei weitem natürlicher, maßvoller und gesunder offenbart, als Brentano, ohne daß er darum jedoch zur vollen inneren Klarheit gelangt wäre und sich aus den phantastischen Irrgärten der Romantik hätte befreien können. So wird die wahre und tiefe Empfindung, das Verständniß des Lebens und zwar ausdrücklich deutschen Lebens und nicht minder auch die Darstellung selbst in seinen Werken nur gar zu häufig, ja meistens durch Wunderlichkeit, Barockheit und eine Manierirtheit beeinträchtigt, welche uns nur ausnahmsweise noch zur unbefangenen Anerkennung der unleugbar schönen, ja genialen Einzelheiten und zum Genuß derselben gelangen lassen.

Von seinen Dramen haben wir hier ganz zu schweigen: man hat von ihnen mit Recht gesagt, daß sie einem wie der reine Hohn auf diese Kunstgattung erscheinen müssen. Auch seinen novellistischen Arbeiten ist wenig Gutes nachzurühmen, zum mindesten muß man das spärlich erscheinende Gelungene und Erfreuliche so mühsam und aus einem solchen Wust von Verkehrtheiten und Ungeheuerlichkeiten herauslesen, daß die meisten Leser alsbald von einem so unfruchtbaren und unerquicklichen Unternehmen abstehen müssen. – Mehr Beachtung verdienen dagegen zwei größere Werke: »Armuth, Reichthum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores. Eine wahre Geschichte zur lehrreichen Unterhaltung armer Fräulein« (1810), und »Bertholds erstes und zweites Leben« (1817), der erste Band der »Kronenwächter«, dem aus dem Nachlaß des Dichters noch ein zweiter, aber gleichfalls als Fragment folgte. Das erste, die Geschichte einer jungen, lustigen und leichtsinnigen Dame, welche durch ihren Leichtsinn zu Grunde gerichtet, sich aufrafft und durch aufrichtige Buße zu versöhnen sucht, würde nicht nur lesbar sein, sondern auch unsere Theilnahme verdienen, falls dieser einfache Stoff auch einfach und mit Geschmack behandelt wäre. Allein die Komposition leidet an einer solchen inneren Zerrissenheit, an einer solchen Fülle der zwecklosesten Episoden, und der seltsamsten, phantastischen, ja rein schemenartigen und zudem überflüssigen Figuren, daß das Buch uns völlig unleidlich wird. Einzelne gelungene Characterzeichnungen, wie diejenige der Dolores selbst, oder hübsche Schilderungen, wie die des alten, verfallenden Schlosses und des armen Hauswesens im Anfang, bieten dafür keinen Ersatz.

Nicht anders steht es um den zweiten Roman, in welchem Arnim den Uebergang des Mittelalters in die neuere Zeit in dem engen Rahmen einer Familiengeschichte darzustellen versucht. Auch hier finden wir einzelne Partien, wie die Schilderung des bürgerlichen Lebens und des zu Grunde gehenden Ritterthums, von großer Kraft und Anschaulichkeit, ja durchhaucht von mehr wirklich mittelalterlichem Geist, als die meisten Schöpfungen der anderen Romantiker ihn aufzuweisen haben. Allein auch hier überwiegt das Wunderliche, Phantastische und Barocke und schwächt jeden tieferen Eindruck ab. – Genug, um ein Gesammturtheil auszusprechen, so dürfen wir Achim von Arnim in Ansehung seiner eigenen Schöpfungen vor vielen anderen bei den Vergessenen ruhen lassen.

An Arnim anschließend, gedenken wir hier nur flüchtig seiner Gattin Bettina, der Schwester Brentano's, (1785-1859), welche durch ihr Andrängen an Goethe und den bekannten, romanhaften »Briefwechsel Goethe's mit einem Kinde«, so wie durch allerhand andere, halb naiv-kindliche und poesievolle, halb aber phantastische, überschwängliche, in ihrer gesuchten, ans Kindische streifenden Naivetät völlig unleidliche Producte sich einen Namen gemacht hat und eine Zeit lang in gewissen Kreisen über alles Verdienst gefeiert worden ist. Nicht am wenigsten deßhalb, muß man hinzufügen, weil sie kokett und eitel, sich überall in den Vordergrund zu drängen und von sich reden zu machen liebte. Ihr Buch »Die Günderode« enthält ihren Briefwechsel mit einem Stiftsfräulein Karoline von Günderode – Verfasserin von Gedichten und dramatischen Dichtungen unter dem Namen Theano –, welche sich 1806 aus Liebesgram selbst den Tod gab. Auch hier ist unleugbar viel Poesie, aber auch ebensoviel Ueberschwänglichkeit und Gesuchtheit, und das Uebelste ist, daß auch hier nicht an Authenticität zu denken sein, vielmehr gleichfalls nur eine Art von Fabrikat Bettina's selber vorliegen dürfte.

Joseph Görres, geboren 1776 zu Coblenz und gestorben 1848 zu München, ist, ob er auch kein Dichter war, doch zu den ersten Geistern unseres Jahrhunderts und zu unsern größten Prosaschriftstellern zu zählen. In früher Jugend ein Anhänger und Verfechter der französischen Revolution, gehört er in unserer Periode zu den entschiedensten Gegnern der Fremdherrschaft und trat vom Jahre 1814 an in seinem »Rheinischen Merkur« und einzelnen Flugschriften für Deutschlands Freiheit und Recht gegen den äußern Feind, wie gegen die furchtbar aufwuchernde Reaction mit der gewaltigsten Beredsamkeit ein, die wir in Deutschland jemals kennen gelernt haben. Später gehört er, von Hause aus Katholik, zu den extremsten Verfechtern und Verkündigern eines halb mystischen, halb fanatischen Ultramontanismus. Die volksthümliche Literatur verdankt ihm die Sammlungen der »deutschen Volksbücher« und der »altdeutschen Volks- und Meisterlieder«, von denen die erstere der Zeit angehört, wo er zu Heidelberg mit Brentano und Arnim in enger Verbindung lebte und sich an der Herausgabe ihrer »Einsiedler-Zeitung (Tröst-Einsamkeit)« betheiligte, 1807, während die andere erst zehn Jahre später, mitten zwischen den erbittertsten politischen Streitschriften, erschien.

Von den Gebrüdern Jakob Grimm (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859), den großen deutschen Sprach- und Alterthumsforschern, haben wir unsern Lesern nur die »Kinder- und Hausmärchen« (1812) und »die deutschen Sagen« (1816) anzuführen, welche als poesievolle Offenbarungen des deutschen Volksgeistes von unvergänglichem Werthe sind.

39.

Bevor wir zu den neueren Dichtern kommen, welche, wenn auch nicht von Anfang an, doch je länger desto entschiedener sich in frischer Selbstständigkeit entwickeln, haben wir noch flüchtig ein paar Dramatiker zu betrachten, welche, dieser Zeit angehörend, sich bald mehr Schiller, bald mehr den Romantikern zuneigen.

E. A. F. Klingemann, 1777-1831, schrieb schon von den neunziger Jahren an eine Unzahl von Ritterromanen, Schau- und Trauerspielen aller Art, »Deutsche Treue«, »Cromwell«, »Columbus«, »Faust«, »Ahasver«, »Schill« u. s. w. u. s. w., Stücke, die theilweise von einer gewissen Bühnengewandtheit zeugen – er war selber Schauspieldirector –, im Allgemeinen aber von außerordentlicher Flachheit, Rohheit und Verkehrtheit sind.

Bei weitem höher, obgleich auch er hinter seinem Vorbilde Schiller weit zurückbleibt, steht der Wiener Heinrich Joseph von Collin, 1772-1811. In seinen Trauerspielen, von denen »Regulus« und »Coriolan« die bekanntesten sind, ist außerordentlich viel Phrase, Schwulst und Empfindsamkeit, daneben aber auch zuweilen eine warme Freiheits- und Vaterlandsliebe. Von dieser zeugen auch seine »Wehrmannslieder«, welche er in den schweren Kriegen gegen Napoleon sang. – Noch unbedeutender ist sein jüngerer Bruder, Mathäus v. Collin, 1779-1824. Von seinen zahlreichen Stücken nennen wir nur »Bela's Krieg mit dem Vater«, in welchem ein Stoff aus der ungarischen Geschichte bearbeitet ist.

Adam Oehlenschläger, ein Däne, 1779-1850, der sich die deutsche Sprache so weit aneignete, daß er seine Arbeiten auch in ihr abfassen konnte und daher zu unseren eigenen Dichtern und speciell zu den Romantikern zu zählen ist, beansprucht jedenfalls mehr Beachtung. Es mangelt ihm keineswegs an einem wirklich schönen dramatischen und epischen Talent, allein dasselbe war den Aufgaben, an welchen der Dichter sich meistens zu versuchen liebte, wenig gewachsen: die altnordische Sagenwelt mit ihren Riesen und Recken war für die weiche Behandlung des Romantikers Oehlenschläger zu gewaltig, und nur, wo sich auch im Stoffe selber schon mildere und rein menschliche Elemente fanden, wie in der Tragödie »Axel und Walburg«, vermochte er Erfreuliches und Bedeutendes zu leisten. Am bekanntesten ist sein Künstlerdrama »Correggio« geworden, das sich auch eine Zeitlang auf der Bühne behauptete, aber voll Kunstschwärmerei und einer gewissen sentimentalen, ja fast weinerlichen Weichheit, die ihm gezollte Bewunderung wenig verdient. Seine Lustspiele, Märchen und Erzählungen sind nicht hervorragend. Trotz alledem hat man an Oehlenschläger immer das ernste Streben und die künstlerische Einsicht zu schätzen, die sich mehr oder weniger in all seinen Werken angedeutet finden.

Von ihm ist die Rückkehr zu unseren deutschen Dichtern durch den Freiherrn Friedrich de la Motte Fouqué vermittelt, der gleichfalls nicht selten die altnordischen Stoffe zu behandeln suchte. Fouqué, geboren 1777, gestorben 1843, ist ein Enkel jenes von Friedrich dem Großen schon in seine Rheinsberger Tafelrunde aufgenommenen und bis an seinen Tod hochgeehrten alten ritterlichen Generals, und diese Ritterlichkeit, verquickt mit allerhand patriotischen, romantischen, leider aber auch junkerhaften und modern soldatischen Elementen, spiegelt sich auch in seinem Character und seinen Dichtungen wider. Anfangs unter dem Namen Pellegrin, später und bis ins hohe Alter hinein unter seinem eigenen, hat Fouqué eine außerordentliche Productivität entfaltet und sich einer seltenen Beliebtheit zu erfreuen gehabt, bis er sich überlebt hatte und in die völlig veränderte Zeit nicht mehr paßte. Von seinen Zauber- und nordischen Heldenromanen nennen wir »Sintram und seine Gefährten«, »Die Fahrten Thiodulfs des Isländers«, vor allen den »Zauberring«, ein Buch, das man als Muster dieser Gattung ansehen und dem man auch heute noch Interesse abgewinnen kann. Von seinen Dramen dürfte die Trilogie »Der Held des Nordens« und in dieser »Sigurd, der Schlangentödter« das bemerkenswertheste sein. Seine Gedichte bieten uns hin und wieder allerdings wirklich Schönes, voll Empfindung, Phantasie und in guter Sprache; bekannt ist das Kriegslied – Fouqué machte den Befreiungskrieg natürlich mit –: »Frisch aus zum fröhlichen Jagen – Es ist nun an der Zeit«, – und das schöne geistliche Lied: »Wenn alles eben käme, – Wie du gewollt es hast«. – Im Allgemeinen aber leiden sie unter einer sehr unbehaglichen Steifheit und Manierirtheit. Den gleichen Vorwurf hat man seinen kleineren, auch stilistisch schwachen Erzählungen zu machen. Aber eine von ihnen, »Undine«, 1811, gehört zu den lieblichsten Blüthen unserer Literatur, eine Dichtung von ganz einziger duftiger Zartheit und Reinheit, voll wunderbarer Innigkeit, Kindlichkeit und Schalkhaftigkeit, und auch in Ansehung der Darstellung und Sprache weitaus das Beste, was Fouqué geschrieben hat.

Eben nur erwähnt soll hier werden, daß auch die Gattin Fouqué's, Karoline, geb. v. Briest, gestorben 1831, als Schriftstellerin auftrat und eine große Zahl von Romanen, sowie auch andere Schriften, z. B. »Briefe über Zweck und Richtung weiblicher Bildung« zu Tage förderte. Sie gehören immer noch zu den besseren Producten der damaligen Erzählungsliteratur, wie werthlos sie auch, künstlerisch betrachtet, sein mögen.

Nach und neben Fouqué erscheint eine ganze Reihe von jungen Dichtern, welche der Romantik nur noch oberflächlich verbunden, sich selbstständig zu entwickeln begannen und zuerst meistens in dem von Chamisso und Varnhagen herausgegebenen »Musenalmanach auf das Jahr 1804« auftraten. Außer den genannten beiden Herausgebern und Fouqué, der in diesem »Nordsternbunde« durch seine Persönlichkeit und auch durch seine gesellschaftliche Stellung eine Art von Vorrang behauptete, gehören ihm hauptsächlich an: F. W. Neumann, 1781-1834, Eduard Hitzig, 1780-1849, Franz Theremin, 1783-1846, Ludwig Robert, der Bruder der gefeierten Rahel Levin, 1778-1832. Aber wie wir Andere ganz übergehen, so begnügen wir uns auch hier mit der Anführung der Namen. Etwas Erwähnenswerthes ist von keinem von ihnen ausgegangen. Anders steht es mit den Herausgebern. Beide haben sich, wenn auch erst in späteren Jahren, zu einer hervorragenden Stellung in unserer Literatur aufgeschwungen und ihre Werke gehören zu den hier gehaltvollsten, dort liebenswürdigsten Erscheinungen, welche im Laufe des folgenden Zeitraums und weiter ans Licht getreten sind.

Karl August Varnhagen von Ense, geboren 1785 zu Düsseldorf, aber zu Hamburg erzogen, kam zur Betreibung medicinischer Studien schon früh nach Berlin, fühlte sich aber bereits hier mehr zur klassischen Literatur und zur Poesie hinübergezogen. Auch in Halle 1806 und zu Tübingen 1808 gewann es die Fachwissenschaft nicht über ihn und zwar um so weniger, als ihn beidemale die Zeitereignisse, der über Preußen hereinbrechende Kriegssturm und der Krieg gegen Oesterreich im Jahre 1809, aus seiner ruhigen Bahn trieben. Den letztern Krieg machte er als Volontair in der österreichischen Armee mit, in den Jahren 1813 und 1814 zog er, der in Preußen keine Anstellung finden konnte, als russischer Hauptmann und Adjutant des Generals Tettenborn gegen den Feind. In Paris endlich wurde er vom Staatskanzler Fürsten Hardenberg in den preußischen diplomatischen Dienst berufen und war, nachdem er sich mit Rahel Levin verbunden hatte, von 1816-1819 Ministerresident am badischen Hofe. Durch die Reaction aus dieser Karriere geworfen, ging er nach Berlin zurück und lebte und schriftstellerte hier in voller Unabhängigkeit bis zu seinem 1858 erfolgenden Tode.

Ein Dichter ist Varnhagen nicht. Seine meistens in verschiedenen Musenalmanachen veröffentlichten, später auch gesammelten Gedichte wollen nichts heißen; seine Erzählungsversuche sind verschollen und selbst die bekanntere historische Novelle »Die Sterner und Psitticher«, hat im Grunde nur darum noch einen Werth, als sie den Beweis liefert, daß ein Geist und eine Bildung, wie Varnhagen sie besaß, bis auf einen gewissen Grad jeder Aufgabe von allgemeinem Character gewachsen sind und, wo nicht Vollendetes, doch immerhin höchlich Beachtenswerthes zu leisten vermögen. Dagegen hat er auf dem Felde der literarischen Kritik und im Fache der Biographie und historischen Denkwürdigkeiten das Vorzüglichste geleistet und durch seine musterhaften Darstellungen auf die deutsche Geschichtsschreibung und die Literatur überhaupt einen tiefgreifenden Einfluß geübt. Seine »Denkwürdigkeiten (des eigenen Lebens) und vermischte Schriften« bieten uns eine Fülle von wahrhaft plastisch hervortretenden Gestalten, der lebensvollsten Characterköpfe; sie liefern ein glänzendes Zeugniß nach dem andern von seiner tiefen, gesunden und unbefangenen Einsicht in die verwickeltsten Zustände und – Naturen, von seiner ächt humanen und toleranten Auffassung neuer Erscheinungen, von der Schärfe und Feinsinnigkeit seines Urtheilens, von seinem Ueberblick, und sind zugleich Muster einer, durchweg als klassisch zu bezeichnenden, lichtvollen und harmonischen Darstellung. Manche von diesen Eigenschaften treten in den aus seinem Nachlaß, von seiner Nichte Ludmilla Assing veröffentlichten »Tagebüchern« u. s. w. allerdings zurück, der feinsinnige, humane und objective Beobachter und Beurtheiler erscheint hier als Parteimann; allein auch in ihnen zeigt sich noch jene ganz einzige, bis ins späteste Alter nicht versagende Aufnahmsfähigkeit und Aufnahmslust und erhält sich Sprache und Darstellung unverändert, selbst in zahlreichen, gewissermaßen nur noch schwatzhaften Partien, auf ihrer künstlerischen Höhe. Auf eben dieser stehen, was Sprache und Darstellung angeht, auch die »Biographischen Denkmale« und einzeln erschienenen Biographien, während sie, historisch angesehen, zum Theil an einer, man möchte sagen, diplomatischen Zurückhaltung leiden, welche dem Verfasser freilich durch die damaligen Zeitverhältnisse geboten sein mochte. Endlich die beiden, dem Andenken seiner 1833 verstorbenen Gattin, Rahel Levin, geweihten Bücher, »Rahel, ein Buch des Andenkens für ihre Freunde«, und »Gallerie von Bildnissen aus Rahels Umgang und Briefwechsel«, sind ein Denkmal nicht nur dieser freilich unzweifelhaft geistvollen, aber im Grunde doch weit überschätzten Frau selber, sondern auch der Liebe und Treue des Zurückgebliebenen, das Beiden in gleicher Weise zur Ehre gereicht und für uns durch die Einführung in einen überaus merkwürdigen Literatur- und Lebenskreis von großem Werthe bleiben muß.

Adelbert – oder wie er eigentlich heißt: Louis, Charles, Adelaide – von Chamisso entstammt einem alten lothringischen Geschlecht und wurde 1781 auf dem Familienschlosse Boncourt in der Champagne geboren. Vor der großen Revolution flüchtete die Familie nach Deutschland und Adelbert trat in früher Jugend schon in die preußische Armee. In diesem Dienste blieb er auch, als die Seinen unter dem Konsulat nach Frankreich zurückkehren durften, kein bloßer Soldat, sondern schon von früh auf mit seiner Weiterbildung beschäftigt und besonders dem Studium der deutschen Sprache und Literatur zugewendet, ja sich selber dichterisch versuchend. Seine in dem oben erwähnten Musenalmanach mitgetheilten Gedichte und die Briefe dieser Zeit zeugen, ob auch noch unfertig, doch bereits von einer Beherrschung unserer Sprache, zu welcher die meisten Ausländer niemals gelangen. Der unglückliche Krieg von 1806 warf auch ihn aus seiner Bahn und in ein ruhloses Leben, welches ihn bald nach Frankreich, bald nach Deutschland zurückführte. Doch entschied er sich schon in diesen Jahren bestimmt für die neue Heimat. Er trieb voll Eifer naturwissenschaftliche und besonders botanische Studien, und als der Kapitän Otto von Kotzebue im Jahre 1815 mit einem russischen Schiff zu einer Entdeckungsreise in die Südsee und um die Welt aufbrach, betheiligte er sich an dieser Fahrt als Naturforscher. 1818 zurückkehrend, erhielt er eine Anstellung am botanischen Garten in Berlin und blieb hier bis zu seinem 1838 erfolgenden Tode.

In Chamisso begegnet uns eine der interessantesten und eigenartigsten, aber auch liebenswürdigsten und anheimelndsten Erscheinungen in unserer ganzen Literatur: die besten und ansprechendsten Grundzüge des französischen und deutschen Characters und Wesens finden sich in ihm zu einem außerordentlich wohlthuenden Ganzen vereint. Wie er schon gleich zu Anfang der Gefahr, in die Unklarheit und Verschwommenheit der Romantiker zu verfallen, durch sein gesundes, wesentlich realistisches Naturell entging, so wurde er auch in der Folgezeit all der Unnatur, Verwässerung und Planlosigkeit unserer damaligen Literatur durch dieselbe fern gehalten und läßt sich neben sehr wenig Anderen stets auf dem rechten Wege finden. Wir begegnen in seinen Dichtungen einer höchst eigenthümlichen, aber überaus glücklichen Mischung von französischer Bonhommie und – man darf wirklich so sagen! – deutschem Gemüth, von Leichtherzigkeit und graziöser Schalkhaftigkeit hier, von zarter Empfindung, von tiefem, ja düsterem Ernst und von schwermüthiger Melancholie da. Ueberall tritt uns eine reiche Lebenserfahrung, eine genaue Kenntniß des Menschenherzens, ein scharfer Blick für die oft grassen Gebrechen und Schäden auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, eine edle, männliche und freisinnige Lebensauffassung entgegen. Er urtheilt streng, oft herb', er straft voll Härte, er wählt gern düstere Stoffe und rückt dieselben durch seine Behandlung nicht selten eher noch tiefer in den Schatten als ins versöhnende Licht. Aber es geht ihm darüber, wie zahlreiche andere Stellen uns zeigen, die Milde, die Innigkeit, die neckische, zuweilen spöttische oder auch wohl ernstlich spottende Laune keineswegs verloren. Er liebt im Grunde das Leben, die Menschen, die Natur auf das herzlichste und weiß sie mit Natürlichkeit und Kraft zu reproduciren, zu zeichnen und zu schildern; und da er endlich auch die Sprache und den Ausdruck, seltene Unbehülflichkeiten und Härten abgerechnet, mit großer Freiheit und Energie beherrscht, so dürfen wir ihn, alles zusammengenommen, wohl nicht nur zu unsern deutschen, sondern auch zu unseren besten Dichtern zählen. Zu einer Gruppe von diesen läßt er sich kaum zählen, sondern nimmt, in Folge der Mischung des Französischen und Deutschen, seine wesentlich eigene Stellung ein: es erscheinen allerdings Züge von Verwandtschaft mit den schwäbischen Dichtern, daneben aber auch andere, welche nur an die französischen Chansonniers, vor allen an Beranger gemahnen können.

Zwischen seinen Liedern finden sich einige der schönsten Blüthen unserer Poesie, wie er sich denn durch den Cyclus »Frauen-Liebe und Leben«, und durch den anderen, »Lebens-Lieder und -Bilder« für immer die Liebe der deutschen Frauen sichern muß und in ihnen Töne anschlägt, die unseres Wissens, mit einziger Ausnahme Rückerts im »Liebesfrühling«, niemand vor oder nach ihm getroffen hat. Seine Balladen und Romanzen leiden häufig an jener schon erwähnten Düsterheit des Stoffes und der Ausführung, doch finden sich zwischen den letzteren auch manche gar anmuthige und neckisch heitere, wie z. B. die bekannte »Tragische Geschichte« – »'s war Einer, dem's zu Herzen ging, – Daß ihm der Zopf so hinten hing«, welche als ein kleines Meisterstück zu erachten ist. – Von den – um sie so zu heißen, Lebensbildern gehören einzelne, wie z. B. »Die alte Waschfrau«, zum Allerbesten, was wir in diesem Genre besitzen. – Seine Höhe erreicht der Dichter aber erst in der poetischen Erzählung, zu welcher ihn nicht nur die reiche Lebenserfahrung und die unter allen Zonen eingesammelten Naturbeobachtungen, sondern auch seine Gesundheit, Frische und innere Tüchtigkeit und sein Darstellungs- und Schilderungstalent vor vielen befähigen. Dazu handhabt er die von ihm gewählte Form, die Terzine, mit einer Meisterschaft, die in unserer ganzen Poesie fast nicht ihres Gleichen hat. Wir nennen hier nur jenes Meisterstück, »Salas y Gomez«, ein Seelengemälde der ergreifendsten Art und von einer Anschaulichkeit und Gewalt der Schilderung und Darstellung, die uns vom ersten bis zum letzten Wort zur Bewunderung zwingt.

Chamisso's bekanntestes und beliebtestes Buch ist das Märchen »Peter Schlemihl's wundersame Geschichte«, welches er 1813 zur eigenen Aufheiterung und zur Unterhaltung für Frau und Kinder seines Freundes Hitzig schrieb, – ein Stücklein voll kindlicher Naivetät und guter Laune, hinter dem man mit der bekannten deutschen Spür- und Deutungslust, der Himmel weiß was alles gesucht und zu finden gemeint hat. Nach unsrer Ueberzeugung ist es aber, ob sich vielleicht auch hie oder da einzelne Bezüge entdecken lassen möchten, nichts Anderes als ein gut und lustig durchgeführter harmloser Schwank. – Wer Chamisso's Prosa kennen lernen will, soll an seinen Reisetagebüchern nicht vorübergehen, die sich durch Einfachheit, Klarheit und Anschaulichkeit vortheilhaft auszeichnen und sich noch heute mit Genuß lesen lassen.

Lassen wir uns durch Mäkeleien, wie man sie neuerdings an Chamisso zu üben versucht hat, in unserem Urtheil über ihn nicht irre machen. Von seiner fremden Abstammung und allerhand mit dieser zusammenhängenden Mängeln weiß und will kaum die Literaturgeschichte noch etwas. Das deutsche Volk kennt in ihm einen Dichter, der durch Leben, Character, Gesinnung und Dichten ganz und gar der unsere ist und es vor vielen verdient, mit voller und warmer Liebe in unser Herz geschlossen zu werden.

40.

Wenige Jahre, nachdem der dichterische Nachwuchs Norddeutschlands sich in jenem Musenalmanach Varnhagens und Chamisso's mit seinen ersten Versuchen in die Oeffentlichkeit gewagt hatte, fing auch in Süddeutschland ein neues poetisches Leben an zu erwachen – trotz des Druckes der Zeit. Von 1807 an brachten Leo von Seckendorf's Musenalmanach und »Prometheus«, Brentano's und Arnims »Zeitung für Einsiedler«, das junge Stuttgarter »Morgenblatt«, eine Zeitschrift, die ein halbes Jahrhundert lang für die Entwickelung und Geschichte unserer neueren schönen Literatur von größter Wichtigkeit ist, und andere ähnliche Schriften allmälig Beiträge von den jungen Dichtern, welche den Stamm der sogenannten »schwäbischen Dichterschule« bilden. Diese Bezeichnung ist gerechtfertigt, denn die ersten Mitglieder gehören sämmtlich Schwaben an; sie sind Alters- und Studiengenossen und schaffen sich, ihrer Zusammengehörigkeit bewußt, schon auf der Universität einen Sammelpunkt in dem 1807 entstehenden, von Justinus Kerner redigirten, allerdings nur handschriftlich cirkulirenden »Sonntagsblatt«. Oeffentlich treten sie vereint und verbunden mit einzelnen Norddeutschen, zuerst in Kerners »poetischem Almanach« für 1812 und dem, ein Jahr später erscheinenden »Deutschen Dichterwald« auf.

In ihren Anfängen lehnen sich die Schwaben entschieden an die Romantiker an. Das erwähnte »Sonntagsblatt« sollte nach dem Willen seiner Stifter ausdrücklich dem von Goethe begünstigten, anti-romantischen »Morgenblatt« entgegentreten, und es spricht, abgesehen von einzelnen, noch erhaltenen Jugendversuchen, auch ihr Anschluß an die Heidelberger, sowie ihre Verbindung mit den Norddeutschen, welche durch den in Tübingen zu dieser Zeit studirenden Varnhagen vermittelt wurde, dafür. Manche von ihnen sind dieser Richtung auch bis an ihr Lebensende mehr oder weniger treu geblieben, während die Kräftigeren und vor allen ihr Haupt und Führer, Ludwig Uhland, zu gesund, zu klar und zu unbefangen waren, als daß sie sich von den nebelhaften Reizen der phantastischen Irrgärten lange hätten täuschen und verlocken lassen sollen. Ihre Schule und ihr Meister ist, wie Kerner singt, allein die Natur, und wenn dieser Satz, so allgemein hingestellt, auch nicht ganz zutreffend erscheint, vielmehr einiger Erweiterung bedürfen möchte, so wird er doch in der Hauptsache nicht anzufechten sein.

Die Schwaben sind vor allem und ausdrücklich nicht bloß Natur-, sondern auch natürliche Dichter und es ist ihr großes und bleibendes Verdienst, daß sie die Poesie aus der Idealität der Klassiker und der Phantastik der Romantiker zuerst wieder zur Wirklichkeit zurücklenkten, daß sie die Natur nicht mehr als die sogenannte »schöne« und idealisirte der Ersteren und als die traumumfangene und verkünstelte der anderen, sondern als die wirkliche und natürliche zu sehen wagen und den Menschen und sein Leben mit ihr im innigsten, unauflöslichen Zusammenhange erblicken. Erst bei ihnen finden wir, nach dem unmittelbaren Vorausgange Hebels in seinen »allemannischen Gedichten«, eine gesunde, herzliche Auffassung der Natur, ein Sich-hinein- und mit-Leben und eine unbefangene, ungekünstelte und treue Wiedergabe der Natur selber und der von ihr empfangenen Eindrücke. So sind sie gewissermaßen die ersten Begründer und Anbahner der wesentlich-realistischen Richtung in der neueren Literatur, wenn es auch noch einer langen Zeit, vieler Irrwege und schwerer Kämpfe bedurfte, bis dieselbe wirklich gewonnen war. Eigentliche Bahnbrecher wurden die Schwaben ebenso wenig, wie sie sich am Kampfe selber betheiligten: zu dem einen fehlte ihnen die Kraft, wie ihnen zum andern die Weiterentwickelung fehlte. Sie sind im Grunde niemals über das gleich anfangs Erreichte hinaus gekommen.

Als Haupt und Führer dieses Kreises tritt uns der schon genannte Ludwig Uhland entgegen, geboren am 26. April 1787 zu Tübingen und gestorben ebendaselbst am 13. November 1862. – Das Leben dieses zu unseren Besten zählenden, ausgezeichneten Mannes ist äußerlich ein sehr einfaches. Auf der Universität sich zum Juristen ausbildend, verfolgte er diese Carriere manche Jahre lang im Staatsdienst und als Advokat, während er zugleich in der württembergischen Kammer als einer der freisinnigsten Abgeordneten das alte Recht des Landes und Volkes aufrecht hielt. Im Jahre 1829 erhielt er eine Professur der deutschen Literatur in Tübingen, legte dieselbe jedoch, als die Regierung ihm den Urlaub zu den Kammersitzungen versagte, alsbald wieder nieder und lebte fortan seinen Studien, mit einziger Ausnahme der Jahre 1848 und 1849, wo er als Abgeordneter in der Paulskirche sich als einer von den wenigen zeigte, welche mit einem ganzen Herzen für Deutschland, unwankbar auf der Höhe der Zeit standen und ihren Forderungen gerecht zu werden strebten.

Ludwig Uhland gehört als Patriot und Mann des Volkes, wie wir schon sagten, zu unseren besten und edelsten deutschen Männern, zu denen, an welchen wir unsere reinste Freude haben, auf die wir von ganzem Herzen stolz sein dürfen. Es ist einer von den Characteren, welche wir antike heißen müssen, weil wir ihnen unter den Neueren so unendlich selten begegnen – ein Character von makelloser Reinheit, von unbeugsamer Kraft und von nie und nirgends verletzter Integrität. – Ludwig Uhland als Forscher auf dem ganzen Gebiet des deutschen Alterthums, der Mythologie, der Sage, der Literatur, steht den Meisten voran und ist den Größten ebenbürtig. Ludwig Uhland endlich, der Dichter, übertrifft nicht nur die mit ihm verbundenen Jugendgenossen und die meisten Dichter der folgenden Jahrzehende, man darf schon sagen, himmelweit, sondern sein Name steht auch als einer der schönsten Sterne unter der höchsten und glänzendsten Gruppe an unserem Dichterhimmel überhaupt. Alle Vorzüge der schwäbischen Dichterschule besitzen und zeigen uns seine Dichtungen in gesteigertem Maße; und von den Schwächen, welche derselben anhaften, erscheinen bei ihm gar keine, oder nur selten kaum sichtbare Spuren. Die gründlichste Kenntniß des alten deutschen Lebens und der deutschen Poesie; das innigste Verständniß des Volks und des Volksthümlichen, wie des Menschen und des ächt Menschlichen; die wärmste Liebe zur Natur und wiederum das tiefste Verständniß derselben; die durch nicht einen krankhaften Zug beeinträchtigte Klarheit und Gesundheit des Geistes und Herzens; die Reinheit und Tiefe der Empfindung; die unbefangene und unmittelbare Auffassung; die leichte und natürliche und zugleich durchweg künstlerische Reproduction; die vollendete Darstellung, die Prägnanz des Ausdrucks, die Musik der Sprache –: kurz alles und alles, was den großen Dichter macht, finden wir in ihm in seltener Fülle und Harmonie bei einander. Frei von den Sünden und Schwächen der Romantiker, vertritt er die wahre Romantik und weiß uns statt des Traumlebens das wirkliche, anmuthige und naive, kraftvolle und reckenhafte, statt der Traumgesichte, Gestalten von Fleisch und Blut entgegenzuführen. Und wo er in der Gegenwart weilt, da gibt er uns wiederum dieselbe ganz mit ihrem inneren und mit ihrem äußeren Leben, in ihren kleinen und individuellen, wie in ihren großen und allgemeinen Interessen, in ihrem rastlosen Fortschritt und in ihrem Kampfe für die freiheitliche Entwickelung. Daß Uhland das Recht des Volkes auf politische Freiheit und den Kampf um dieselbe mit vollster Klarheit und höchster Energie wieder als ein berechtigtes Element in die Poesie einführte und zum Ausdruck brachte, ist nicht nur für ihn selbst, sondern auch für die ganze Folgezeit so charakteristisch und bedeutungsschwer wie irgend denkbar. Sie, von der die Klassiker nichts wußten, noch verstanden, und gegen welche die Romantiker sich wehrten, wird fortan in steigendem Maße zum höchsten und edelsten Motiv der deutschen Dichtung.

Fassen wir alles bisher Gesagte zu einem kurzen und bestimmten Urtheil zusammen, so müssen wir sagen, daß wir in Uhland zwar kein universelles, aber in den ihm gezogenen Grenzen eines der schönsten und reichsten Talente zu bewundern haben, die jemals einem Menschen verliehen worden sind.

Was können wir über Uhlands Gedichte sagen, was die meisten unserer Leser nicht auch ohne uns wissen, bei ihnen empfunden haben und an ihnen lieben? – Diese Gedichte sind, nachdem sie anfangs eine lange Zeit übersehen, ja hie und da sogar kalt zurückgewiesen waren – die erste Auflage erschien 1815, die zweite 1820, die dritte 1825 – von unserem Volk mit immer herzlicherer Liebe aufgenommen und zum Eigenthum aller Klassen geworden. Und zwar sind es nicht einzelne und einige, sondern die große Mehrzahl aller, welche der mäßige Band enthält. Sehe man nur einmal in die sogenannten poetischen »Blumenlesen« hinein – alle schöpfen mit Vorliebe aus Uhland und finden immer wieder Anderes mitzutheilen, so daß man, falls man einmal alle solche Sammlungen zusammenstellen wollte, weitaus das meiste bei einander haben würde, was der Dichter überhaupt gesungen hat. Oder schlage man einmal die »Gedichte« selber auf – Seite für Seite klingt es uns vertraut und innig entgegen: »Da liegen sie alle, die grauen Höhen«, – »Droben stehet die Kapelle«, – »Ich bin so hold den sanften Tagen«, – »Das ist der Tag des Herrn«, – »Ich bin vom Berg der Hirtenknab'«, – »Im Walde geh' ich wohlgemuth«, – »Kein bess're Lust in dieser Zeit«, – »Die linden Lüfte sind erwacht«, – »Bei einem Wirthe wundermild, – Da war ich jüngst zu Gaste«, – und so fort, und so fort, durch die ernsten und schönen vaterländischen Gedichte – wer kennt nicht jenes gewaltige und ergreifende: »Wenn heut ein Geist herniederstiege –"? – zu den Balladen und Romanzen: »Bertrand de Born«, »Das Glück von Edenhall«, »Graf Eberstein«, »Der Wirthin Töchterlein«, »Der gute Kamerad«, »Der weiße Hirsch«, »Der Schenk von Limburg«, dem Cyclus »Graf Eberhard der Rauschebart«, und all den übrigen, – – wer kennt sie nicht und liebt sie nicht?

Als Dramatiker steht Uhland in seinen beiden Stücken, »Ernst, Herzog von Schwaben« und »Ludwig der Baier«, nicht auf der gleichen Höhe. Auch hier begegnet uns ächt deutsches Leben und alte deutsche Treue, überall spricht uns eine ernste Würde und eine ruhige Größe an, es fehlt auch nicht an guter Characterzeichnung und stetiger Entwickelung, und die Sprache endlich ist von größter Schönheit. Allein das wirkliche, dramatische Leben, welches grade viele der Balladen so bewunderungswürdig erfüllt und vor allem auszeichnet, geht diesen größeren Compositionen in empfindlichem Maße ab. Hier waren eben die Grenzen von des Dichters Talent. – Seine wissenschaftlichen Arbeiten, welche ihm unter den Alterthums- und Literaturforschern einen der ersten Plätze sichern, haben wir hier nicht zu besprechen.

Ihm zunächst steht Justinus Kerner, geboren zu Ludwigsburg 1786, gestorben 1862 in jenem, seinerzeit in ganz Deutschland und über dessen Grenzen hinaus bekannten Dichterhause an der »Weibertreue« zu Weinsberg. Von seinem äußeren Leben ist nichts zu melden: es war das einfache eines Landarztes, nur daß derselbe sich nicht mit dem herkömmlichen Beruf eines solchen und den gewöhnlichen Kranken begnügte, sondern der sogenannten »Nachtseite« der Natur zustrebend, überall nach einem in das Diesseits herüberragenden Jenseits spürte, mit dem letzteren selbst in Verkehr zu treten suchte und daher den Besessenen, Visionären, Somnambulen u. s. w., eine noch größere Aufmerksamkeit widmete: sie bildeten ja die Vermittler! Seine »Seherin von Prevorst«, in welchem Buch er die Krankheit einer solchen Visionärin erzählt, hat eine Art von Weltruhm erlangt; seine »Geschichten Besessener« und sein »Magikon« berichteten von ähnlichen – Wundern oder Schrecken, und Kerner wurde zu einem der gefeiertsten Apostel des Geisterglaubens, der zu dieser Zeit eine, jeden Vernünftigen bestürzende Ausbreitung gewann.

Einer solchen Erscheinung gegenüber bleibt dem unbefangenen Beobachter nur die Wahl, den betreffenden Verkündiger für krank und unzurechnungsfähig, oder für nicht ganz wahr zu erklären. Zu der ersteren Annahme bietet Kerner kaum recht Veranlassung. Er zeigt sich uns nicht nur im Uebrigen, sondern auch in diesen Geister-Affairen gelegentlich immer wieder, sei es als ein ganz practisches, sei es als ein humoristisches, oder richtiger gesagt, spaßhaftes und sogar ausgelassenes Menschenkind, das sich um den Geisterspuk kein graues Haar wachsen läßt und mit den nächtigen Gesellen ganz kordial und fidel verkehrt. Es ist fast, als machte er sich nur einen Spaß mit uns.

Der Dichter Kerner hält sich in der Poesie gewissermaßen gleichfalls an die Nachtseite und bleibt unter den schwäbischen Dichtern seiner Jugendliebe, d. i. der Romantik, bis in sein höchstes Alter am getreusten. In seiner Auffassung und seinen Schilderungen der Natur und des Lebens werden wir sehr häufig durch einzelne Blicke, Züge und Wendungen an die alte Schule erinnert: Goldglanz, Maiengrün und Himmelblau, Rosenlicht und süße Dämmerung erfüllen die ganze Natur, die Menschen gehen darin träumerisch, voll Zartheit und Schwermuth oder krank zum Sterben umher, und wo es gar zu Balladen und Romanzen kommt, wimmelt es von Spuk und Gespenstern, Gerippen, unheimlichen schwarzen Vögeln und einander im Arme ruhenden Todten. Durch Kerners meiste Dichtungen geht mit seltenen Ausnahmen und abgesehen von einer gelegentlichen krankhaften Spaßhaftigkeit, ein endloser Wehlaut: alles ist todtkrank und sterbenstraurig, voll Lebensmüdigkeit und Todessehnsucht, aus allen Blumen duftet der Schmerz und aus allen Tannen werden Särge gezimmert. Ernst gesprochen haben aber diese sinnlose Uebertreibung und dies Schwelgen und Wühlen im Schmerz die nothwendige Folge, daß wir mit Mißtrauen gegen den Dichter und sein Empfinden erfüllt werden: es ist ihm nicht Ernst, fürchten wir, sondern er tändelt und kokettirt nur mit etwas, von dem er in Wirklichkeit gar nichts weiß noch empfindet.

Der Dichter Kerner ist entschieden über sein wirkliches Verdienst gefeiert worden. Man wird kaum in der Annahme irren, daß er einen großen Theil des Ruhmes, den er außerhalb seiner engeren Heimat erlangte, und der Beliebtheit, deren seine Gedichte sich auswärts eine Zeitlang zu erfreuen hatten, theils jenen erwähnten mystischen Schriften und der Zeitstimmung, theils dem Eindruck zu verdanken hatte, den der joviale, launige, unterhaltende Wirth auf die aus allen Himmelsgegenden herbeiströmenden Besucher seines gastfreien Hauses machte. Dies Weinsberger Dichter- und Geisterhaus wird selbst in der Geschichte unserer Literatur nicht vergessen werden! – Wenn wir aber seine »Dichtungen« und den »letzten Blüthenstrauß« ohne Voreingenommenheit durchmustern, so erstaunen wir über die Fülle des, häufig auch formell, Schwachen und Unfertigen, des Krankhaften, Verzerrten und gradezu Geschmack-, ja Poesielosen; während Gedichte von einer gewissen inneren und äußeren Vollendung, von Wahrheit und Tiefe der Empfindung, von nicht gesuchter, sondern ächter Volksthümlichkeit, uns verhältnißmäßig recht selten begegnen. »Preisend mit viel schönen Reden«, »Wohlauf noch getrunken«, »Mir träumt', ich flög' gar bange«, das bekanntlich als vermeintliches Volkslied ins »Wunderhorn« aufgenommen wurde. »Ich armes Klosterfräulein«, »Schwarzes Band, o du mein Leben«, – diese weit bekannten, beliebten und gesungenen Lieder stehen neben wenig anderen in Kerners Poesie ziemlich vereinzelt da.

Von Kerners Prosawerken nennen wir nur sein erstes: »Reiseschatten. Von dem Schattenspieler Lux«, – ein originelles Stück Arbeit, voll von komischen und phantastischen, aber auch sentimentalen und forcirten Zügen, ansprechend und amusirend zuweilen, aber häufiger verwirrend, oder durch Witzhascherei erkältend, so daß der Leser, zumal der heutige, nirgends zu einem wirklichen Genuß kommt. – Sein bestes Buch ist das »Bilderbuch aus meiner Knabenzeit. Erinnerungen aus den Jahren 1786-1804«. Hier erzählt, zeichnet und schildert der Verfasser voll Einfachheit und Wahrheit, voll Anschaulichkeit, voll Gemüthlichkeit, Behagen und Lust sich selbst und die längst entschwundene Zeit und weiß den Leser bis zum Schluß zu fesseln.

Als Dritter gesellt sich zu diesen beiden ersten Gründern des Bundes Karl Mayer, geboren 1786, gestorben 1870, ein Dichter von keinem bedeutenden, aber ansprechenden und freundlichen Talent, ein liebevoller Freund und Kenner der Natur und ganz eigenthümlich befähigt, uns im engsten Rahmen ein hübsches Naturbild zu liefern. Sein Empfinden ist kein tiefes, aber ein durchweg natürliches und gesundes, und wo er wirklich einmal, dem Zeitgeschmack nachgebend, ein wenig in Weltschmerz zu machen versucht, ruft die Natur ihn alsbald wieder auf den rechten Weg zurück:

»Ach das Herz, das irre, schwanke,
Gleicht dem weiten Erdenrund;
Wie es gähre, wie es kranke,
Lebt's hinwieder sich gesund

Als Vierter begegnet uns der etwas jüngere Gustav Schwab, 1792 bis 1850, ein ungemein rühriger Schriftsteller, dem wir mehr als ein gutes und nützliches Buch zu verdanken haben. Als Dichter zeigt er kein bedeutendes, aber ein ganz angenehmes Talent, und hätte er sich statt der mittelalterlichen Stoffe häufiger neuere gewählt und statt in die Sagenwelt ins Volksleben hineingegriffen, so würden wir sicherlich mehr wirklich poetische Gedichte von ihm besitzen und seltener über Breite und Nüchternheit zu klagen haben. »Das Eßlinger Mädchen«, vor dessen Reinheit der wilde Melac entweicht, »Das Gewitter« – »Uhrahne, Großmutter, Mutter und Kind« –, »Der Reiter und der Bodensee«, »Ein Fund in der Opferbüchse«, »Die Engelskirche auf Anatolikon«, und andere, sind Gedichte von Tiefe der Anschauung, von vorzüglicher Komposition, voll Schwung und Kraft und von fast durchweg trefflicher Sprache. Zwischen seinen Liedern finden wir das bekannte Studentenlied: »Bemooster Bursche zieh' ich aus«. – Von seinen übrigen Werken erwähnen wir das warmherzige und für die damalige Zeit höchst beachtenswerthe »Schillers Leben«. Die Sammelwerke, »Fünf Bücher deutscher Lieder und Gedichte«, »Die deutsche Prosa«, »Die deutschen Volksbücher«, »Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums«, zeugen auch heute noch von seinem Geschmack in der Auswahl und der Bearbeitung. – »Die Neckarseite der schwäbischen Alb«, »Der Bodensee nebst dem Rheinthal«, »Die Schweiz in ihren Ritterburgen und Bergschlössern«, sind Bücher von trefflicher Darstellung und durch die zahlreichen eingeflochtenen Sagen von Interesse. – Eine Ausgabe von Paul Flemings erlesenen Gedichten, Uebersetzungen von Lamartine's » Meditations« und Barthélemy's und Méry's » Napoléon en Egypte« sind gleichfalls erwähnenswerth. Ganz besonders aber und auf das ehrendste müssen wir des überaus wohlthätigen Einflusses gedenken, welchen er so gut wie Chamisso nicht nur im persönlichen Verkehr, sondern auch durch den von beiden herausgegebenen Musenalmanach auf die jungen Dichter und die Literatur, zumal der dreißiger Jahre ausübte, voll warmer Theilnahme, anregend und ermuthigend, belehrend und berathend – ein freundlicher Mentor.

Hiermit könnten wir von der eigentlich schwäbischen Schule scheiden, da wie viele auch in allen Gauen Deutschlands sich zu ihr bekannten und an sie anschlossen, zwischen ihnen nirgends ein hervorragendes Talent erscheint. Es ist aber bemerkenswerth, daß sich in dieser Schule und ihrer Richtung strenggenommen nichts von einer Weiterentwickelung zeigt, vielmehr auch ihre späteren Schüler und Anhänger sich gewissermaßen überall an die Tradition und die ersten Themata halten und nur ausnahmsweise neue Wege aufsuchen und neue Weisen vernehmen lassen. In Folge davon würden diese Angehörigen mit allem Recht schon hier zu nennen sein, wenn sie auch hin und wieder einer viel späteren Zeit angehören. Allein wie achtungswerthe Talente auch zwischen ihnen wieder sich finden – wir nennen nur die Schweizer A. E. Fröhlich und Rudolf Tanner, die Elsasser Brüder August und Adolf Stöber, die Schwaben Niklas Müller, Theobald Kerner, den frommen Liederdichter Albert Knapp u. s. w. –, so gilt doch auch von ihnen das oben Gesagte: etwas Hervorragendes und Bleibendes ist von ihnen nicht ausgegangen. Nur zwei Dichter erheben sich noch über das Niveau – Gustav Pfizer und Eduard Mörike – und verlangen unsere Aufmerksamkeit, nicht nur wegen ihres wirklichen und schönen Talents, sondern auch weil Beide sich, sei es auch nur im Einzelnen, von der Grundrichtung der Schule entfernen. Einige andere, welche sich zu noch größerer Unabhängigkeit erhoben und späteren Literaturströmungen folgten, werden uns auch erst in dieser späteren Zeit begegnen.

Gustav Pfizer, geboren zu Stuttgart 1807, ist kein großer Dichter, aber er hat Gedanken und Empfindung und eine schöne Sprache, welche durch Schwung und Pracht zuweilen an Schiller erinnert. Sie steht freilich eben hierdurch, wie sich zumal an seinen kleineren lyrischen Gedichten zeigt, nicht selten in einem gewissen Mißverhältniß zu den einfachen und natürlichen Stoffen, und ebenso leidet auch die Empfindung hin und wieder unter seiner Lust zur Reflexion. Pfizer besitzt eine gründliche klassische Bildung und behandelt gern Stoffe aus dem Alterthum, aber er ist auch im Orient und wieder in der Neuzeit und ihren Sprachen daheim, wie einige, für die damalige Zeit vortreffliche Uebersetzungen zeigen – z. B. Lord Byrons »Lebewohl« und Shelley's »Leichenbegängniß,« – und offenbart endlich zugleich ein Verständniß der Gegenwart und eine Theilnahme für sie, die ihn unter den Dichtern seiner Zeit auf das Vortheilhafteste auszeichnen und ihn sich fast den eigentlich politischen Dichtern anreihen lassen. Neuerdings ist er völlig verstummt.

Eduard Mörike, geboren zu Ludwigsburg 1804 und gestorben zu Stuttgart am 4. Juni 1875, nimmt unter seinen Heimatsgenossen einen der ersten Plätze ein, ja er würde auf einen solchen unter den deutschen Dichtern überhaupt Anspruch zu machen haben, hätte die Entwickelung seines Talents nur einigermaßen der ursprünglichen Anlage entsprochen. Romantiker von Hause aus, streckt er, um uns so auszudrücken, andere Wurzeln in das Leben der Gegenwart herüber und betheiligt sich an ihren Fragen und Interessen mit dem Ausdruck des modernsten, freilich tiefen, aber keineswegs immer klaren Empfindens. Zu einer Vermittelung dieser beiden Richtungen kommt es in ihm nicht, vielmehr schwankt er unausgesetzt zwischen ihnen hin und her, wie es sich vorzüglich in seinem angeblichen Hauptwerk, »Maler Nolten, eine Novelle«, zeigt, einem Künstlerroman, der auf jeden Unbefangenen einen nicht nur unkünstlerischen, sondern auch ungesunden, ja fast abstoßenden Eindruck macht. Bei weitem höher stehen seine kleineren Schöpfungen, wie z. B. das Märchen »Der Schatz«, und die schöne Novelle, »Mozart auf der Reise nach Prag«. Am größten und liebenswürdigsten zeigt Mörike sich aber in seinen Gedichten, welche noch bei weitem nicht genug bekannt geworden sind. Es finden sich unter ihnen manche Stücke von tiefer Gemüthlichkeit und Empfindung, von größter Innigkeit und harmloser Fröhlichkeit, von hoher Einfachheit und frischer Volksthümlichkeit, so daß sie nicht selten an Goethe's schönste Lieder erinnern. Um diesem Dichter auf das herzlichste zu eigen zu werden, muß man die anmuthigen, die schalkhaften, die ergreifenden Stücklein lesen, wie: »Rosenzeit, wie schnell vorbei«, »Ach wenn's nur der König auch wüßt«, »Drei Tage Regen fort und fort«, mit dem herzigen Schluß:

»Und auf und nach der Liebsten Haus,
Und sie gefaßt ums Mieder:
»Drück' mir die nassen Locken aus
Und küss' und hab' mich wieder!«

Oder man lese jene Krone seiner Poesie und eine der schönsten Perlen unserer ganzen deutschen Dichtung: »Wie heißt König Ringang's Töchterlein? – Rohtraut, Schön-Rohtraut!« – Oder endlich das völlig volksliederartige:

»Früh, wenn die Hähne krähn,
Eh' die Sternlein verschwinden,
Muß ich am Herde stehn,
Muß Feuer zünden.

»Schön ist der Flammen Schein,
Es springen die Funken,
Ich schaue so drein,
In Leid versunken.

»Plötzlich da kommt es mir,
Treuloser Knabe,
Daß ich die Nacht von dir
Geträumet habe!

»Thräne auf Thräne dann
Stürzet hernieder,
So kommt der Tag heran –
O ging' er wieder!«

Seine »Idylle am Bodensee« ist ein hübscher Schwank, reich an schönen Naturbildern und guten Schilderungen aus dem Volksleben, aber ohne Einheit der Composition. – In dem Märchen »Das Stuttgarter Hutzelmännlein«, hat er mit vielem Glück mehrere Volkssagen benützt. Auch Mörike hat in seinen letzten Lebensjahren öffentlich kaum noch etwas von sich hören lassen.

41.

Inzwischen war die Zeit erfüllt, und »das Volk stand auf und der Sturm brach los,« der die Franzosenherrschaft vom deutschen Boden fegte. Glück und Liebe einen freilich die Menschen, wo es Wenige gilt, auf das innigste, aber wo Alle sich verbinden sollen, da ist Zorn und Noth ein noch festerer Kitt, wenn der eine und die andere Alle gemeinsam so eisern umpressen und so grimmig erfüllen, wie es die vergangenen Jahre uns Deutschen gebracht hatten. Die allgemeine Schmach und der allgemeine Druck hatte Alle einander gleich und gleiches Sinnes und Willens gemacht. Sie wußten plötzlich, wie sie es noch nie gewußt, von Memel an der ganzen Küste entlang bis gegen Holland und rückwärts, bis in Mitteldeutschland hinein und nach Schlesien hinüber, daß sie zu einander gehörten und zu einander stehen wollten zum einen großen Werk der Befreiung, – eine Erscheinung, welche in diesem Glanz und dieser Gewalt in Deutschland niemals sonst beobachtet worden ist. Und als der russische Winter die Macht Frankreichs gebrochen hatte und die unglücklichen Flüchtlinge mit der Kunde des Verderbens auch die Botschaft in alle Paläste und Hütten brachten, daß die Stunde geschlagen habe, da waren Alle bereit und die Begeisterung schlug auf und zusammen zu einer gewaltigen Flamme.

Wie groß und schön, wie rein und selbstlos diese Begeisterung war, deß ist noch heute die Literatur und sind die Dichter Zeugen, welche diesen Tagen angehören: wie das Volk, so wurden auch sie weit über sich selbst hinausgerissen und zu einer Höhe erhoben, die unter gewöhnlichen Verhältnissen keiner von ihnen erreicht haben würde. Was uns das deutsche Volk und Heer dieser Zeit und dieses Krieges beobachten läßt: die Tüchtigkeit und den Adel der Gesinnung, den festen, klaren Willen zu siegen oder zu sterben, den Opfermuth und die durch nichts zu brechende, alle Gefahren und Intriguen, allen Widerstand besiegende geistige und moralische Kraft – wir finden seines Gleichen weder in der deutschen, noch in irgend einer anderen Geschichte wieder und erstaunen um so mehr, je schneller das alles nach dem Kriege wieder in die müdeste Gleichgültigkeit und das ödeste Philisterthum zurücksank. Und ebenso nimmt, was in der Literatur und Poesie dieser Tage ans Licht tritt, nicht nur in ihr, sondern auch, wie schon bemerkt, im Leben und unter den Werken der Schriftsteller und Dichter seinen eigenen, höheren Platz ein. Wenige Vorläufer, wie die früher erwähnten »Reden an die deutsche Nation«, von Fichte, einzelne Schriften und Lieder von Arndt u. s. w., abgerechnet, hebt diese patriotische und Kriegsliteratur auch wirklich erst mit der Volkserhebung an und endet mit oder doch bald nach dem Wartburgsfest, zugleich mit dem romantischen Traumbilde von des deutschen Volkes und Reiches »alter Herrlichkeit«.

Wie einzig und wie hoch diese Poesie dasteht – denn nur von ihr haben wir hier zu reden! –, das ersehen wir am deutlichsten, wenn wir sie mit derjenigen vergleichen, welche der neusten großen Erhebung Deutschlands im Kriege gegen Frankreich ihre Entstehung verdankt. Diese letztere ist und bleibt, trotz einzelner trefflicher Gedichte, im Großen und Ganzen eine Haus- und Stubenpoesie, die den Leser erhebt und erfreut, während jene von anno Dreizehn, wie Goethe es will, »aus dem Bivouac heraus, wo man Nachts die Pferde der feindlichen Vorposten wiehern hört«, gewaltig ins Herz des Volkes klang und von dem ganzen Heer und der ganzen Nation tausendstimmig in die Lüfte gesungen wurde. Eine Begeisterung, wie jene der Freiheitskriege, ist eine wesentlich und eminent poetische von Hause aus und wo sie sich in Wort und Schrift offenbart, tritt dieser ihr Character uns mehr oder weniger deutlich entgegen. Und wie sie selber nicht auf einen Stand beschränkt war, sondern das ganze Volk in all seinen Ständen und Klassen erfüllte, so gelangte sie auch allerwärts zur poetischen Aeußerung, und die patriotischen Lieder und Kriegsgesänge klingen uns von allen Seiten her an.

Es ist eine ganz außerordentlich reiche Literatur, diese der damaligen Krieges-, Sieges- und Traumzeit, und sie erscheint uns um so reicher, als sie sich, wie bemerkt, mit wenig einzelnen Ausnahmen, auf den kurzen Zeitraum von fünf Jahren beschränkt. Die Dichtungen der Arndt und Körner, der Schenkendorf, Rückert und Fouqué mögen freilich wohl gewissermaßen den Stamm bilden, wie sie ja auch am weitesten bekannt geworden sind. Allein neben und zwischen ihnen und um sie her erscheinen zahlreiche andere Lieder, deren Verfasser niemals bekannt geworden oder längst vergessen sind, während unser Volk und zumal unsere Jugend sie noch immer singt. Da ist gleich das Lied: »Schön ist's unter freiem Himmel«, von Hiemer, den niemand mehr kennt, und das treffliche: »Hinaus in die Ferne mit lautem Hörnerklang«, das Methfessel gedichtet haben soll (?), wie er es komponirt hat. – Da ist das, nur als fliegendes Blatt bekannt gewordene, viel gesungene: »Mit Mann und Roß und Wagen – So hat sie Gott geschlagen«, und das nur in der gleichen Weise verbreitete:

»Es reiten drei Jäger zum Thor hinaus – ade!
Feinsliebchen, du siehst ja nicht traurig aus – ade!
Warum sollt' ich denn traurig sein?
Ein Krieger ist der Herzliebste mein!
Ade, ade, ade –
Wer gehen kann, der geh'!

– oder das trauervolle, ächt volksthümliche: »Die Preußen haben Allarm geschlagen – Du schwarzbraun Mädel, nun hilft kein Klagen, – Dein Tambour, der rückt ins Feld!« – oder das Spottlied: »Kaiser der Napoleon – Ist nach Rußland kommen«. Allein es ist hier von diesen Kriegs- und den zahlreichen folgenden Turner- und burschenschaftlichen Liedern kein Ende zu finden, und selbst von den bekannteren Dichtern genügt es völlig, wenn wir nur einzelne Namen nennen, wie Ludwig Follen, der stürmische Vaterlandslieder und ein paar Jahre später die »freien Stimmen frischer Jugend« schrieb; Gottlob Wetzel, Karl Lappe, August Binzer, den Dichter des bekannten: »Wir hatten gebauet – Ein stattliches Haus«; Friedrich Förster, den alten Lützower, der außer Kriegs- und Zeitliedern später eine lange Reihe von historischen, biographischen, statistischen, geographischen Schriften, Erzählungen, Dramen, Erinnerungen u. s. w. zusammenschrieb; Friedrich August von Stägemann, den specifisch preußischen Kriegssänger, von dem hier noch seine »Erinnerungen an Elisabeth« erwähnt werden mögen, eine Auswahl der formell vollendet schönen Sonette, die er an seine Gattin richtete und, wie die Sage geht, unendlich viele Jahre lang alltäglich an sie gerichtet haben soll.

Näher haben wir indessen jene vier Stimmführer unter den Freiheits- und Kriegssängern zu betrachten, – Schenkendorf, Körner, Arndt und Rückert. – Fouqué wurde bereits früher genannt, und Uhland gehört, obgleich manche ihn hieher rechnen wollen, dennoch im Grunde nicht zu diesem Kreise.

Max von Schenkendorf, geboren 1783 und gestorben 1817, ist, zumal Fouqué's Kriegslyrik von keiner namhaften Bedeutung, der Romantiker unter diesen Dichtern. Er begeistert sich am lebhaftesten zugleich für »Kaiser und Reich« und die »alte deutsche Herrlichkeit«, und für das Vaterland und seine Erhebung aus der Schmach, und es geht durch seine Gedichte nicht nur ein ritterlicher und frommer, sondern auch ein ächt deutscher und treuer Ton. Seine Gedichte zeugen von einer schönen Begabung, sie sind zuweilen voll Schwung und immer voll Wärme, Innigkeit und Vaterlandsliebe und zeichnen sich auch durch Melodie und Schönheit der Sprache vortheilhaft aus. Bekannt sind manche noch heut; so die Lieder: »Freiheit, die ich meine«, »Erhebt euch von der Erde«, »Die Feuer sind entglommen«, »In dem wilden Kriegestanze«, – vor allen der »Frühlingsgruß«:

»Wie mir deine Freuden winken
Nach der Knechtschaft, nach dem Streit!
Vaterland, ich muß versinken
Hier in deiner Herrlichkeit.
Wo die hohen Eichen sausen,
Himmelan das Haupt gewandt,
Wo die starken Ströme brausen –
Alles das ist deutsches Land.«

Auch zwischen den übrigen Gedichten des frommen Sängers finden sich nicht wenige, welche den Wunsch rechtfertigen, daß man Schenkendorf seiner halben Vergessenheit wieder entziehen möge. Er verdient es uns lieb zu bleiben.

Was Schenkendorf zu wenig wurde, das ist Körner in desto höherem Maße zu Theil geworden: er ist das Vorbild jener todesmuthigen und nicht selten opferungssüchtigen Jugend und der gefeiertste Sänger der Befreiungskriege, den man, wie es die damalige, jedes Maß überflutende Begeisterung mit sich brachte, zu einer Höhe hinaufgehoben hat, die er in Wirklichkeit gar nicht oder nur durch seine Kriegsgedichte zu behaupten im Stande ist. Karl Theodor Körner wurde 1791 zu Dresden geboren. Sein Vater war der Lebensfreund Schillers und mit diesem in herzlichstem Verkehr, wie der umfangreiche, bis an des Dichters Tod reichende Briefwechsel beider Männer bezeugt, der uns erhalten worden ist. Die Schiller'schen Werke wanderten, nicht selten schon im Manuscripte, zur Beurtheilung durch den gebildeten und geschmackvollen Freund, ins Körner'sche Haus; der Dichter selber stellte sich auch von Zeit zu Zeit persönlich ein oder sah die Freunde bei sich in Jena und Weimar. Es gab im Körner'schen Hause keine gefeierteren Namen als diejenigen Schillers und Goethe's, und die unsterblichen Werke dieser Heroen wurden nirgends mit mehr Liebe und mehr Verständniß aufgenommen als hier. Daß solche Zustände, ein solcher Verkehr und eine solche Anregung den tiefsten Eindruck auf einen, in seiner Jugend obendarein kränklichen und daher mehr auf ein Innenleben hingewiesenen, begabten Knaben machen und seine ganze Entwickelung beeinflussen und fördern mußten, ist begreiflich genug. Ob von der Natur zum Dichter bestimmt oder nicht, wurde ihm die Poesie vom frühsten Kindesalter an sozusagen eingeimpft und mit dem reifenden Verständniß und unter der unausgesetzten Anregung auch die Lust zur eigenen Production erweckt.

Körner dichtete schon als Knabe und veröffentlichte bereits als Achtzehnjähriger eine Gedichtsammlung »Knospen«, und als er nach einer ziemlich wilden und unfruchtbaren Studienzeit zu Freiberg, Leipzig und Berlin nach Wien kam, wurden seine dramatischen Versuche mit so viel Beifall aufgenommen, daß er zum Hoftheaterdichter ernannt wurde. Hier folgen dann seine Schöpfungen: Trauerspiele – »Zriny«, »Rosamunde«, »Hedwig«, – Lustspiele – »Der Nachtwächter«, »Der grüne Domino«, »Der Vetter aus Bremen« u. s. w. – Operntexte, Gedichte, Erzählungen u. s. w. in gedrängter Reihe – Zeugen einer ungewöhnlichen Frühreife und einer außerordentlichen Productionskraft, aber nicht grade eines großen und selbstständigen Talents. Denn er ist vor allem ein Schüler und Nachahmer Schillers und zwar nicht einmal ein glücklicher, denn sein Pathos ist nicht selten ein äußerst hohles und seine Sprache aufs höchste gespreizt. Trotzdem wurde er zu seiner Zeit beinah wie ein zweiter Schiller begrüßt und angejubelt. Auch in seinen Lustspielen ist er nicht selbstständig, sondern steht häufig sichtbar genug unter dem Einflusse Kotzebue's.

Auf sein eigenes und eigentliches Feld gelangte und zu einer wirklichen Höhe erhob er sich erst mit seinen vaterländischen und Kriegsgesängen, die er, mit dem Lützow'schen Freikorps 1813 wider den Feind ziehend, begeistert und begeisternd anstimmte. Zu Anfang des Waffenstillstandes bei dem bekannten Ueberfall von Kitzen schwer verwundet, genas er während der folgenden Wochen, zog im August wieder mit seinem Korps aus und fiel, tollkühn in den Tod jagend, am 26. August in einem Gefecht zwischen Schwerin und Gadebusch, – um eines solchen, fast als Märtyrertod gepriesenen Endes willen noch mehr gefeiert. – In seinen Kriegsliedern, welche unter dem Titel »Leier und Schwert« erschienen, steht er in unserer Poesie allerdings, Ernst Moritz Arndt ausgenommen, völlig einzig da. In diesen Liedern spiegelt sich jene Zeit mit ihrer Begeisterung, ihrem Glaubensmuth, ihrer Opferfreudigkeit, ihrer Liebe und ihrem Haß, in ihrer vollen Größe, auf das glänzendste und zugleich reinste wieder, und es athmet uns aus ihnen noch heute jener Geist an, der die Lötzow'schen »Schwarzen« auszeichnete. Sie sind, mag auch hier im Einzelnen Pathos und Bombast zu rügen sein, voll Schwung und Melodie und nicht bloß sing bar, sondern auch fast ausnahmslos gesungen im Heer und im Volk, bis auf den heutigen Tag. Jene Lieder – »Das Volk steht auf, der Sturm bricht los«, – »Frisch auf, mein Volk, die Flammenzeichen rauchen«, – »Was glänzt dort vom Walde im Sonnenschein«, – »Vater, ich rufe dich«, – »Du Schwert an meiner Linken«, und manche andere sind wirklich zum Eigenthum unseres Volkes geworden und werden das Andenken an ihren Dichter länger erhalten als das Denkmal unter der Eiche bei Wöbbelin.

Wenn Theodor Körner die damalige Jugend vertritt und aus seinen Liedern uns die jugendliche Begeisterung jener Zeit anmuthet, so tritt uns in Ernst Moritz Arndt der Mann des Damals entgegen. Geboren zu Schoritz auf der Insel Rügen im Jahre 1769, war er beim Ausbruch des Befreiungskrieges längst kein Neuling im Leben mehr und ein schon seit langem erprobter Bekämpfer und unversöhnlicher Feind aller Unterdrückung. Nach weiten Reisen wurde er zu Anfang des Jahrhunderts in Greifswald als Professor der Geschichte angestellt und veröffentlichte unter anderen Werken auch eine »Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern«, welche nicht wenig Aufsehen machte und ihm den Haß des ganzen Adels eintrug. Gegen Napoleon aber und die Franzosenwirthschaft erhob er sich in seinem »Geist der Zeit«, der in mehreren Bänden während der folgenden Jahre erschien und sich voll des gewaltigsten Zorns gegen die Unterdrücker wie gegen ihre entarteten deutschen Anhänger und gegen alle Schäden und Gebrechen der Zeit erhob. Von den Franzosen verfolgt, flüchtete Arndt nach Schweden und Rußland und setzte von hier aus den Kampf in zahlreichen Schriften, Schriftchen und Liedern fort, den Haß predigend und zum Kriege rufend. Viele von diesen nach Deutschland und ins Lager der Feinde hinübergeschleuderten Feuerbränden findet man in seinen »Schriften für und an seine lieben Deutschen« gesammelt. Aber auch nach seiner Rückkehr nach Deutschland und während des Krieges war er unermüdlich in dieser Weise thätig, setzte er rastlos den Kampf fort und ließ keine Seite des jungen öffentlichen Lebens aus den Augen, und obgleich er niemals selber das Schwert geführt hat, muß er doch als einer der gewaltigsten Kämpfer dieser Zeit angesehen werden. Nach dem Kriege artete auch sein »Deutschthum« freilich, wie man es damals an vielen zu erleben hatte, in Deutschthümelei aus und gefiel sich in allerhand seltsamen Forderungen und Uebertreibungen. Zu Bonn als Professor angestellt, wurde er bei der beginnenden Demagogenverfolgung 1819 vom Amte suspendirt und erst 1840 wieder angestellt. Im Jahre 1848 erschien er noch einmal als Abgeordneter in der Paulskirche und starb, der Gegenwart fremd, 1860 im einundneunzigsten Lebensjahre.

Als Dichter gehört er ursprünglich fast noch der vorklassischen Zeit an: nicht wenige seiner früheren Gedichte klingen uns beinahe Klopstockisch an oder gemahnen auch wohl einmal an die zarten und tändelnden Liebes- und Natursänger jener Zeit. Alles aber, die Vaterlandslieder, die Oden, die Episteln, die Naturbilder, die Klinglieder, einzelne Balladen und was sonst immer dieser ersten Periode angehört, – ist weder poetisch noch sprachlich von höherem Werth und würde auch ihn schwerlich vor der Vergessenheit schützen. Nur ein paar Trinklieder zeigen Spuren von Frische und Lust und einen nicht unmelodischen Fluß.

Schon in dem ersten uns bekannten Sturmliede aber, dem 1810 gedichteten »Schlachtgesang«: »Zu den Waffen! Zu den Waffen! – Als Männer hat uns Gott geschaffen!« erhebt der Dichter sich auf eine um vieles höhere Stufe und ist alles voll männlicher Kraft, eiserner Entschlossenheit und unbesieglichen Muthes, gewaltigen, grimmigen Zornes. Und nun stürmt und braust es fort, Lied auf Lied: »Brauset Winde, schäume Meer!« – »Auf zur Rache, auf zur Rache! – Erwache, edles Volk, erwache!« – »Es wurden die Väter gepriesen«, – »Der Gott, der Eisen wachsen ließ – Der wollte keine Knechte«, – »Das Lied vom Schill«, – »Es zog aus Berlin ein tapferer Held«, ein Lied voll der tiefsten und edelsten Mannestrauer, und daneben das übermüthige »Lied vom Gneisenau« – »Bei Kolberg auf der grünen Au«. Dann folgen die schönen Lieder aus dem »Katechismus für den deutschen Wehrmann«: »Gott du bist meine Zuversicht«, – »Auf, die Schwerter hell heraus!« – »Hebt das Herz, hebt die Hand!« – »Was ist des Deutschen Vaterland?« und wieder andere: »Durch Deutschland flog ein heller Klang«, – »Wer ist ein Mann? – Wer beten kann!« – »Was blasen die Trompeten? Husaren heraus!« u. s. w. u. s. w. Das sind alles Lieder, an denen man immerhin im Einzelnen, künstlerisch angesehen, mancherlei auszusetzen haben mag, daß die Begeisterung in ihnen bis zur Ekstase sich steigert, daß die Worte sich überstürzen und Bilder und Vorstellungen sich ins Ungemessene verlieren. Aber wenn wir sie heut noch lesen oder singen, so packen und durchschauern sie uns stets von neuem mit der alten unwiderstehlichen Gewalt und gemahnen uns wie die Kolbenschläge des deutschen Heers, denen kein Feind Stand zu halten vermochte.

In allem, was Arndt während seines langen, späteren Lebens gedichtet und geschrieben hat, finden wir viel Gutes, Wackeres und Edles, vernehmen aber nur selten wieder Klänge, welche uns gleich den alten treffen. Wir gedenken hier nur noch des hochsinnigen »Bundesliedes«: »Sind wir vereint zur guten Stunde«, und der beiden weit bekannten, für unsere schönsten deutschen zu erachtenden Trinklieder: »Aus Feuer ward der Geist geschaffen«, und »Bringt mir Blut der edlen Reben«. Aus das französische Kriegsgelärm von 1840 antwortete der alte Kämpe noch einmal in dem mannhaften Gedicht: »Und brauset der Sturmwind des Krieges heran«, mit dem allgemein bekannten Refrain:

»So klinge die Losung: Zum Rhein, über'n Rhein!
All-Deutschland in Frankreich hinein!«

Seine »Erinnerungen aus dem äußeren Leben« sind nicht nur geeignet, sondern verdienen es auch ein Volksbuch zu werden. Sie gewähren uns ein gutes Bild des treuen und wackeren Mannes selbst, seiner Zeit und mehr als eines seiner großen Zeitgenossen. Alles zusammengenommen, ist und bleibt Ernst Moritz Arndt ein Mann und ein Dichter, auf den Deutschland stolz sein darf, wie auf wenige.

Friedrich Rückert ist zu Schweinfurt am Main 1783 geboren. Nachdem er seine Studien beendet hatte, lebte er eine Zeit lang in Stuttgart und betheiligte sich an der Redaction des »Morgenblatts«, bis er 1818 nach Italien ging. Zurückkehrend ließ er sich in Coburg nieder und lebte seinen Studien und der Dichtkunst, docirte eine Reihe von Jahren die orientalischen Sprachen an der Universität Erlangen, folgte 1841 dem Rufe des Königs Friedrich Wilhelm IV. nach Berlin, wo der an das unabhängigste Leben in der schönen Natur gewöhnte Mann sich jedoch sehr unbehaglich fühlte, und lebte und dichtete dann wieder auf seinem Gute Neuseß bei Coburg, bis er am 31. Januar 1866 daselbst starb.

Das ist der einfache Lebensweg eines Dichters, der in unserer Literatur wieder einmal fast einzig dasteht und auch in keiner anderen, fremden recht seines Gleichen hat. Sein Geist ist von einer Regsamkeit und Rastlosigkeit ohne Beispiel; die Gedanken, die Vorstellungen und, man möchte hinzusetzen, die Empfindungen strömen in niemals aussetzender Flut herbei und werden, zum Ausdruck gelangend, ohne Weiteres zu Verszeilen, zu Strophen und Gedichten. Und zu einer solchen unerhörten – sage man Thätigkeit oder Fruchtbarkeit, gesellt sich eine Herrschaft über die Sprache, für die es kein Hinderniß und keine Schwierigkeiten gibt, in welcher der Dichter sich vielmehr so sicher weiß, daß er sich nicht selten, wie aus reinem Uebermuth, solche Hindernisse und Schwierigkeiten erst schafft, um sie spielend zu besiegen, und sich in allerhand halsbrechenden Künsten versucht, ohne im Grunde doch jemals den Hals zu brechen. Denn was Rückert vor vielen, ja den meisten neueren Dichtern auszeichnet und als der größte Vorzug seiner Poesie zu erachten sein dürfte, das ist seine und seiner Poesie Gesundheit. Bei ihm findet sich kein krankhafter Zug, er weiß von keiner unreinen Stimmung und falschen Empfindung, und sein Schmerz und Ernst sind ebenso natürlich und gesund, wie seine Freude und sein Scherz. Daher läßt man sich von ihm auch die Künstelei und Barockheit des sprachlichen Ausdrucks und des Reims eher gefallen und verzeiht ihm selbst gelegentliche Fehlgriffe leichter, als einem anderen Dichter. Wie man freilich auf der anderen Seite auch über den barocken, aber gewandten und originellen Versen und Reimen wohl einmal eine außerordentliche Trockenheit und Nüchternheit des Inhalts zu vergessen hat und – zu vergessen vermag.

Seine Eigenartigkeit und seine Eigenheiten begegnen uns schon in seinen ersten Schöpfungen, welche er unter dem Namen Freimund Raimar veröffentlichte – den »geharnischten Sonetten«, ziemlich zahlreichen patriotischen Gedichten und zwei aristophanisirenden, gegen Napoleon gerichteten Komödien: »Napoleon und der Drache« und »Napoleon und seine Fortuna«. – Die Sonette schreiten wirklich wie gepanzert einher, es ist häufig etwas Hartes und Rauhes im Ausdruck, in der metrischen Form, selbst in der Gliederung der Sätze, und dies alles stimmt gewissermaßen zu der flammenden Begeisterung, zu dem wilden Zorn, zu der grimmigen Verachtung und dem scharfen Spott und Hohn, welche jede Zeile erfüllen. Zwischen diesem national deutschen und ächt volksthümlichen Inhalt jedoch und der weichen, kunstvollen, völlig undeutschen Sonettform besteht ein Widerspruch, der durch keine noch so schönen Worte fortzudemonstriren ist, und die Wahl dieser Form bleibt ein ernster Mißgriff und eine obendarein nicht grade geistvolle Caprice des Dichters. – Es ist schon hier jener Kosmopolitismus angedeutet, der den Dichter Rückert mehr oder weniger von allen Seinesgleichen unterscheidet: er und seine Poesie schwingen sich über die Heimat und das Heimatliche hinaus, über den Erdkreis hin und wählen ihre Stoffe und Formen unparteiisch, wo sie sie finden, ob im Süden oder Norden, ob im Alterthum oder in der Neuzeit.

Zwischen seinen übrigen patriotischen und, wenn man so will, politischen, der ersten Zeit angehörenden Gedichten finden sich manche hübsche, frische und kräftige. So wollen wir auf die »Blücherlieder« hinweisen und auf die bekannteren: »O, wie ruft die Trommel so laut!« – »Nehmt euch in Acht vor den Bächen – Die da von Thieren sprechen!« – »Der Landsturm! Der Landsturm!« – Oder auf die Spottlieder: »Ei ei – Ney, Ney!« – »Es waren einmal die Schneider – Die waren gar muthig und keck«. – Auch die treffliche, an das Volkslied erinnernde Ballade: »Der alte Barbarosse – Der Kaiser Friederich«, ist hieher zu rechnen. Im Allgemeinen aber reichen diese Zeitgedichte weit nicht an Körners Schwung, Arndts Kraft und Schenkendorfs Innigkeit und Ritterlichkeit hinan, und wäre Rückert uns nur durch sie bekannt geworden, so würde er sich in unserer Literatur mit einem sehr bescheidenen Platz zu begnügen haben und zu den Vielen zu zählen sein, denen eben hin und wieder auch wohl einmal das Bessere, ja selbst das Gute gelingt, ohne daß sie sich über dem Niveau der Mittelmäßigkeit zu erhalten vermögen.

Aber Rückert betritt schon in und mit seinen nächsten Gaben, den »Oestlichen Rosen«, in welchen er sich zum erstenmal dem eben durch Goethe eröffneten, nie wieder von ihm verlassenen Orient zuwandte, der anmuthigen Idylle »Amaryllis«, den »Makamen des Hariri«, vor allem aber in zahlreichen Liedern und unter diesen besonders im »Liebesfrühling« sein eigenstes Gebiet und schwingt sich rasch zu einem unserer ersten Lyriker und zum größten Lehrdichter auf, den wir in unserer Literatur kennen lernen. In seinem bekannten »Liebesfrühling«, der Krone seiner gesammten Dichtung, und in seinen übrigen Liebes-, Haus-, Familien- und Lebensgedichten – seine wunderbar schönen und ergreifenden »Kindertodtenlieder« wurden erst ganz vor Kurzem aus seinem Nachlaß veröffentlicht –, seinen Wander- und Naturbildern offenbart sich uns ein Gedankenreichthum, ein Gemüth, eine Empfindung, eine Menschen- und Naturliebe, eine Kenntniß und ein Verständnis der tiefsten und geheimsten Seelenregungen, eine klare Anschauung und eine zugleich natürliche und liebevolle Auffassung, welche, durchdrungen und getragen von jener schon erwähnten, seltenen und unvergänglichen Gesundheit dieser Natur und dieses Talents und verbunden mit einer glänzenden, formengewaltigen Darstellungsgabe, die Mehrzahl dieser Dichtungen an die Seite des Besten stellen, was unsere Lyrik auszuweisen hat. Völlig einzig sind seine Kinderlieder und Kindermärchen, wie die wunderhübschen: »Vom Büblein, das überall hat mitgenommen sein wollen«, oder »Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt«. Nur ausnahmsweise und meistens nur da, wo sich auch hier das Lehrhafte eindrängt, haben wir über Verskünstelei und Reimspielerei zu klagen und fast überall athmet uns eine Fülle der wahren Poesie an. Nicht minder überraschend und bewunderungswürdig ist der Gedankenreichthum, die Fülle von Lebensweisheit und Lebenserfahrung, die ewig rege, unerschöpfliche, glänzende Phantasie, welchen wir in den größeren, meistens dem Orient entlehnten Dichtungen, den launigen »Makamen des Hariri«, dem anmuthigen, deutsch gemüthvollen »Nal und Damajanti«, dem bilderreichen und ergreifenden »Rostem und Suhrab«, dem großen Lehrgedicht »Die Weisheit des Brahmanen«, und all den kleineren Stücken, den Parabeln, den gnomischen Dichtungen, den Sagen und Geschichten u. s. w. begegnen.

Auf eine Characterisirung aller dieser Arbeiten müssen wir ebenso verzichten, wie auf die Herzählung aller Werke und auf die Hervorhebung einzelner. Hier genüge es zu bemerken, daß unter den zahllosen Schöpfungen Rückerts das Schöne und Aechte, das Tiefsinnige, Warme und Weihevolle um vieles das Schwache und Matte, das Gesuchte und Erkünstelte überwiegt. Gänzlich Fehlgegriffenem und völlig Mißlungenem begegnen wir nur da, wo der Dichter sich an Aufgaben versuchte, denen selbst sein außerordentliches Talent nicht gewachsen war. So finden wir ein poetisch durchaus werthloses »Leben Jesu, Evangelienharmonie«, in – Alexandrinern! – Und seine dramatischen Versuche: »König Arsak von Armenien«, – »Columbus«, – »Heinrich IV.«, – »Saul und David«, u. s. w. suchen an Langweiligkeit und Unfertigkeit ihres Gleichen.

Alles zusammengenommen besitzen wir jedoch in Rückert einen Dichter, der – wir wiederholen es – zu unseren größten Lyrikern gezählt werden muß und unter den Lehrdichtern die erste Stelle einnimmt. An Fruchtbarkeit und in Ansehung seiner Herrschaft über die Sprache übertrifft er fast alle vor, neben und nach ihm, ja steht beinah einzig da. Trotz seiner patriotischen Anfänge und seines lebhaften Eintretens in die, eben von Goethe eröffnete Richtung auf den Orient, gehört er im Grunde doch keiner Schule oder Gruppe von Dichtern, sondern stets nur sich selbst und der Poesie an. Der Lyriker Rückert ist durchaus selbstständig und auch von seiner Zeit unabhängig. Die besonderen Strömungen und Erscheinungen derselben blieben ohne nennenswerthen Einfluß auf ihn und seine Poesie. Es spiegelt sich in ihr, wenn auch allerdings in der Auffassung eines originellen und gesunden Geistes, vor allem der unvergängliche und unveränderliche Grundstoff aller Poesie wider, das ist das rein und ewig Menschliche und Natürliche.

42.

Die praktische Anwendung oder sage man poetische Verwerthung der Studien, welche sich seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts mit wachsendem Eifer und immer günstigerem Erfolge den Sprachen und Literaturen des Orients zugewendet hatten, verdanken wir in unserer Poesie Goethe: es war ein gewaltiger Schritt weiter zu der, von ihm angestrebten Weltliteratur.

Soweit sich dergleichen erkennen und angeben läßt, mag die von Josef von Hammer 1813 veröffentlichte Uebersetzung vom »Divan des Hafis«, ihm den unmittelbaren äußeren Anstoß gegeben haben, sich für den Ausdruck seiner Empfindung dieser neuen Formen und Farben dichterisch zu bemächtigen und, wie bisher mit Vorliebe das Alterthum, jetzt den Orient aufzusuchen und mit deutschem Geist zu erfüllen und beleben. »West-östlicher Divan« heißt diese Sammlung von Gedichten. Der Orient erwacht und umfängt uns in voller Fremdartigkeit und Märchenhaftigkeit; allein der ihn erweckt, der in ihm lebt und träumt, schwärmt und liebt, ist der Deutsche.

Eine andere und um vieles interessantere Frage ist diejenige nach dem innern Antrieb, dem alle diese Lieder und Liederchen, Gedichte, Verse, Sprüche, Parabeln u. s. w. ihre Entstehung verdanken, – und zwar in verhältnißmäßig so kurzer Zeit. Denn vor dem Jahre 1814 finden sich keine Spuren von diesen Gedichten, und 1819 erschienen die zwölf Bücher des Divans vollendet. Wie rastlos Goethe's Lyrik auch immerdar treibt und blüht, – eine Fruchtbarkeit, wie die gegenwärtige, wird doch sonst niemals erreicht und selbst in jener glänzendsten Frankfurter Zeit, wo jeder Tag und obendarein manche Nacht durch ein Lied, einen Vers bezeichnet wurde, kaum überboten. Und man muß hinzurechnen, daß Goethe, wie wunderbar frisch sich dieser außerordentliche Geist auch erhalten hatte, zu dieser Zeit immerhin schon die letzte Hälfte der Sechziger durchmaß und obendarein durch zahlreiche andere Interessen, seine Kunst-, Alterthums- und naturwissenschaftlichen Studien, seine amtlichen Obliegenheiten, durch Abfassung neuer Arbeiten, der »italienischen Reise«, der Hefte »Ueber Kunst und Alterthum« u. s. w. und eine neue Ausgabe seiner Werke zerstreut und abgelenkt wurde. So überrascht denn auch diese Liederfülle und zwar um so mehr, als uns schon jener Spruch Goethe's: »Was ich nicht lebte, das hab' ich auch nicht gedichtet!« daran erinnert, daß diese Gedichte keineswegs als bloße Uebungsstücke und Versuche auf einem, dem Dichter bisher fremden Gebiet angesehen werden dürfen. Im Gegentheil, aus vielen athmet das wärmste, reichste und frischeste Leben, die tiefste Empfindung, die ächteste Poesie uns an. Und wer, wie ein gewisser Kritikaster, hier den Ausdruck einer »greisenhaften Lüsternheit« zu finden, ja auch nur zu ahnen wagt, hat weder Goethe, noch seine Poesie jemals verstanden.

Es ist begreiflich und natürlich genug, daß Goethe, wie unberührt er auch anscheinend von allen Stürmen und aller Noth jener schweren Zeit geblieben war und wie fest er sich gegen die Erhebung des Jahres 1813 verschlossen hatte, 1814, wo die Stürme vorübergebraust waren und alles Leben umher wieder in ruhige und sichere Bahnen einzulenken begann, mit vollem Behagen sich der heiteren Gegenwart hingab und ihrer froh wurde. Dazu kam, daß er in diesem Sommer und Herbst zum erstenmal seit langer Zeit wieder in seinem alten schönen Geburtslande, am Rhein und Main, lebte und die heitere Natur und das frohe Leben dieser Gegenden und Menschen mit ganzem Herzen genießen konnte. So war die Anregung da und hatte kein Ende, und endlich wurde auch das Herz selber in Mitleidenschaft gezogen.

»Und noch einmal fühlet Hatem
Frühlingshauch und Sonnenbrand.«

Bei der Feier der Leipziger Schlacht, am 18. October 1814, lernte Goethe auf der, nahe bei Frankfurt gelegenen Besitzung des Banquiers von Willemer, der Gerbermühle, die junge Gattin desselben, Mariane, kennen und blieb mit der schönen, anmuthigen, liebenswürdigen und hochpoetischen Frau fortan, bis zu seinem Tode in der herzlichsten Liebe und treusten Verehrung verbunden. An sie sind viele der schönsten und innigsten Lieder des Divans und zumal des Buches »Suleika« gerichtet, von denen wir hier nur jenes prachtvolle Lied anführen:

»Ist es möglich, Stern der Sterne,
Drück' ich wieder dich ans Herz?
Ach, was ist die Nacht der Ferne
Für ein Abgrund, für ein Schmerz!«

Aber, und das ist für uns bei dieser – Liebe – und diesen Liedern nicht am wenigsten interessant, auch die Geliebte antwortete im Liede und sah diese Antworten in die Sammlung mit aufgenommen, – mit allem Recht, dürfen wir hinzufügen, da sie sich würdig an Goethe's Poesie anschließen. Wir können uns nicht versagen, eines dieser anmuthigen und innigen Gedichte wenigstens hier vollständig und in seiner ursprünglichen Gestalt mitzutheilen:

»Ach, um deine feuchten Schwingen,
West, wie sehr ich dich beneide!
Denn du kannst die Kunde bringen,
Was ich durch die Trennung leide.

»Die Bewegung deiner Flügel
Weckt im Busen stilles Sehnen,
Blumen, Auen, Wald und Hügel
Stehn bei deinem Hauch in Thränen.

»Doch dein mildes, sanftes Wehen
Kühlt die wunden Augenlider;
Ach, für Leid müßt' ich vergehen,
Hofft' ich nicht, wir sehn uns wieder.

»Geh' denn hin zu meinem Lieben,
Spreche sanft zu seinem Herzen,
Doch vermeid' ihn zu betrüben,
Und verschweig' ihm meine Schmerzen.

»Sag' ihm nur, doch sag's bescheiden,
Seine Liebe sei mein Leben;
Freudiges Gefühl von beiden
Wird mir seine Ruhe geben.«

Goethe's Divan ist im Allgemeinen wenig bekannt und kaum jemals nach Verdienst geschätzt worden. Wie auch anderen Werken des Alters, pflegten selbst die Verehrer Goethe's ihm mit einer gewissen Höflichkeit aus dem Wege zu gehen, und das größere Publikum wurde ihm durch die wachsende Gleichgültigkeit gegen alle Poesie und den immer zunehmenden Ungeschmack von Anfang an fern gehalten. Sogar die Literarhistoriker schlüpfen an ihm gern mit einer respectvollen Verbeugung vorüber und begnügen sich mit ein paar entschuldigenden Worten über die »Grillenhaftigkeit« und »Spitzfindigkeit« des alten Goethe. Wir glauben aber, daß wer diese Lieder, Verse, Sprüche nur einmal wirklich kennen lernt und mit wahrer Theilnahme aufnimmt, dem Dichter auch hier voll Bewunderung und Liebe zu eigen bleiben muß, – eine solche Fülle des Lebens athmet uns, wie wir schon vorhin sagten, an; so viel ächte Poesie erquickt, so viel Gemüth und Empfindung erwärmt uns; eine so reiche Lebensweisheit und eine so reine, klare und großartige Lebensanschauung begegnet, stärkt und erhebt uns allerwärts. Da mögen immerhin einmal einzelne Züge und Zeichen des Alters hervorlauschen, – wie vermöchten sie die Größe und Schönheit des Ganzen zu entstellen und zu verkleinern? – Im Divan offenbart sich Goethe's Dichtergeist noch einmal in kaum verminderter Größe und Gewalt; in dem meisten, was später entstand, begegnen uns wirklich mehr und mehr die Spuren des Verfalls. Der Divan ist gewissermaßen die letzte Schöpfung unserer großen Literaturperiode und gewährt uns noch einmal eine reiche und erquickende Labung und Stärkung, bevor wir uns in die kaum von einzelnen Oasen unterbrochene Wüste der nächstfolgenden Literatur hinauswagen.

43.

Wir haben die Zeit, welche jetzt anhebt, schon oben als eine solche zu characterisiren versucht, wo das gesammte nationale, sociale und geistige Leben Deutschlands auf eine erschreckend tiefe Stufe, sei es von selbst hinabsank, sei es von den damaligen Staatskünstlern hinabgebracht wurde. Erschwert wurde den Letzteren ihre Aufgabe und ihre Thätigkeit von der Nation als solcher kaum: das eben erst erwachte Einheitsgefühl ging bis auf wenig Reste wieder verloren; die gewaltige, alle erfassende und mit fortreißende Begeisterung fiel in einer Weise in sich zusammen oder nährte sich, wo sie noch nicht völlig erstarb, um im Bilde fortzufahren, von so kraftlosen und so seltsamen Stoffen, daß jene Staatskünstler und selbst die Staatsmänner wohl zu entschuldigen waren, wenn sie in ihr wenig mehr als ein Strohfeuer erkennen wollten, das sich mit dem Fuße austreten läßt. Es war in der That, als sei der allgemeine Rausch und der himmelstürmende Aufschwung zu groß gewesen für die deutschen Köpfe und – Herzen, so daß sie sich naturgemäß betäubt und schwach fühlten im folgenden Katzenjammer. Alles war krankhaft, alles verzerrt, die Patrioten, die Sentimentalen, die Schicksalsdichter, die Spuk- und Teufelsjäger und was sie sonst für Obliegenheiten sich erwählt hatten, und selbst wo sie sich aufzuraffen suchten, waren es nur krankhafte, trostlos unfähige Anstrengungen. Die Musen selber schienen, wie Ludwig Börne einmal sagt, hysterisch geworden zu sein.

Es wäre für den Literarhistoriker eine fast unerfüllbare Aufgabe, wollte er auch nur den Versuch machen, seine Leser Schritt für Schritt durch diesen Wust und Graus zu führen und sie mit allen, bald lächerlichen, bald widerlichen und fast ausnahmslos armseligen Erscheinungen jener Tage bekannt zu machen. Aber nicht nur vergeblich wäre ein solcher Versuch, sondern er wäre auch unendlich überflüssig, da schwerlich jemand noch Verlangen tragen wird, eine Reihe von verschollenen Namen und Büchertiteln, geschweige denn die Werke selber kennen zu lernen. Das dürfte sich für die Heutigen selbst bei den Schriften eines Karl Julius Weber, 1767-1832, und des Ritters Karl Heinrich von Lang 1764-1835, kaum lohnen, obgleich des Letzteren satirische »Hammelburger Reise« und seine späteren »Memoiren«, und des Ersteren humoristische »Briefe eines in Deutschland reisenden Deutschen«, und »Demokritos, oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen«, zu den gelesensten und lesenswerthesten Schriften dieser Zeit gehören. Von der Versunkenheit dieser Literatur, von dem Rückgange des Geistes, der Kunsteinsicht und des Geschmacks zeugt es am deutlichsten, daß selbst die Kritik, welche sich vor und nachher noch immer wenigstens auf einer gewissen, achtungswerthen und geachteten Höhe zu erhalten wußte, jetzt dem allgemeinen Verderben unterlag: ihre damaligen Hauptvertreter, wie der eitle, unendlich nüchterne Franz Horn, der widerlich anmaßende und widerlich zanksüchtige Adolf Müllner, der schwachherzige Friedrich Kind, der süßliche Theodor Hell und wie sie sonst heißen, finden an Armseligkeit und Unfähigkeit weder vor noch nachher ihres Gleichen.

Wenn wir trotzdem eine Reihe von Namen nennen, so geschieht es nur, um die Leser mindestens mit den damaligen Hauptträgern der schönen Literatur in ihren verschiedenen Gattungen und den derzeitigen Lieblingen der Lesewelt bekannt zu machen.

So nennen wir zuerst die Dichter und Erzähler von bald patriotischer, bald romantischer, familienhafter oder allmälig auch historischer Richtung – Wilhelm Blumenhagen und Wilhelm von Lüdemann, den unerschöpflichen Tromlitz (von Witzleben), den unvermeidlichen Georg Döring, den in Parodien, Räthseln, Epigrammen, Anekdoten u. s. w. schwelgenden Karl Müchler, den »großen« Clauren (Heun) mit seinen zahllosen süßen, naiven, koketten, lüsternen Mimili-Geschichten, Romanen und auch Schauspielen, Apel und Laun (Schulze), die Gespensterjäger, der ein wenig spätere F. W. Bruckbräu, gestorben erst 1874, mit zum Theil höchst unsauberen Erzählungen u. s. w., Aloys Schreiber, die Brüder Ch. J. und K. W. Salice-Contessa, Mahlmann mit seiner wirklich guten Travestie der Kotzebue'schen »Hussiten vor Naumburg« – »Herodes von Bethlehem«, den schon genannten süßen, faden, langweiligen Redacteur der »Vespertina-Abendzeitung«, Theodor Hell (Winkler); Friedrich Kind, der nur um seines guten Textes zu Webers »Freischütz« willen genannt zu werden verdient; K. B. v. Miltitz, 1781-1845, einen gewandten Erzähler; Arthur von Nordstern (von Nostiz), und den unendlich gefeierten Isidorus Orientalis (Graf von Löben): die beiden, als Uebersetzer des Calderon, Dante, Tasso, Ariost immerhin achtungswerthen A. F. Streckfuß und E. von der Malsburg 1786-1829; endlich den bedeutendsten von diesen allen – K. F. van der Velde, 1779-1824, der eine große Zahl von historischen Erzählungen und Romanen schrieb und jedenfalls durch Geist, Geschmack und wirkliche Erzählungskunst seine große Beliebtheit rechtfertigte.

Natürlich fehlt es auch nicht an Dichterinnen und Erzählerinnen, im Gegentheil: die Damen betheiligen sich allmälig immer häufiger an der Literatur. So sei hier Louise Brachmann erwähnt, die sich aus unglücklicher Liebe selber den Tod gab; Johanna Schopenhauer, † 1838, ein wenig pretiös nach gut weimar'scher Weise, aber nicht ohne Geist und Geschmack; Friederike Lohmann, Fanny Tarnow: die oben schon genannte Amalie von Helwig, geb. v. Imhof, 1776-1831, deren idyllisches Epos, »Die Schwestern von Lesbos« von Schiller und Goethe seinerzeit gelobt wurde, deren Uebersetzung von Esaias Tegnèr's »Frithiofs Sage« (1826) als eine für die damalige Zeit sehr gute zu schätzen ist und von Goethe auf das lebhafteste empfohlen wurde; Th. A. L. Robinson, geb. v. Jacob, als Schriftstellerin unter dem Namen Talvj bekannt, 1797 bis 1870, deren trefflich übersetzte »Volkslieder der Serben« auch heute noch gerühmt zu werden verdienen; die abenteuerliche und abenteuernde Enkelin der Karschin, Helmina von Chezy, geb. 1783; die Wienerin Karoline Pichler, geb. von Greiner, 1769-1843; endlich Henriette Hanke, 1785-1862, auf die man sich gewöhnt hat so außerordentlich mißachtend hinabzusehen, während ihre Familiengeschichten und Romane sich zwar nicht durch großen Geist und reiche Erfindung, aber durch Einfachheit und Natürlichkeit und eine gewisse äußere und innere, stille Sauberkeit vortheilhaft vor den zahlreichen unfertigen und verzerrten Producten dieser Zeit auszeichnen. Ueberhaupt muß man zugestehen, daß die Schriftstellerinnen dieser Zeit, allerdings ohne sich zu irgend einer bedeutenden Höhe zu erheben, in anerkennenswerther Weise wenigstens den Extremen des Ungeschmacks und all der Verirrungen fern blieben, die uns bei den Schriftstellern auf Schritt und Tritt begegnen.

Die Krankhaftigkeit der Zeit, der Poesie und des Geschmacks spiegelt sich deutlich in den beiden romantischen Epen Ernst Schulze's (1789 bis 1817), »Cäcilie« und »Die bezauberte Rose«, und in dem enthusiastischen Beifall und der schwärmerischen Verehrung wider, die man ihnen und dem an der Schwindsucht hinsterbenden Dichter in den weitesten Kreisen widmete. Ernst Schulze gehört den Romantikern an, und die beiden genannten Werke sind unbestritten die bedeutendsten epischen Gedichte, welche dieser Schule entstammen. »Cäcilie« schildert den Kampf des Christenthums mit dem nordischen Heidenthume; »die bezauberte Rose« singt von der Erlösung der in eine Rose verwandelten Königstochter. Beide Gedichte, zumal »Cäcilie«, sind reich an schönen Einzelheiten und zeichnen sich besonders durch die kaum von Anderen wieder erreichte Melodie der Sprache und die Vollendung des Versbaues aus, so daß der Dichter als Meister der Form stets in Ansehen zu bleiben verdient. Aber es ist in diesen Dichtungen auch soviel Mystisches, Weiches, Verschwommenes und – heißen wir es: Schwindsüchtiges, daß nur eine selber kranke Zeit sich über ihren wirklichen Werth zu täuschen vermochte.

Ein ganz anderes, frisches, gesundes und liebenswürdiges Talent von hohem Range erscheint uns in den Liedern des Dessauers Wilhelm Müller, der geboren 1794, schon 1827 starb. Müller ist einer unserer besten Lyriker, von einem Gemüth und einer Innigkeit, einer heiteren Naivetät und einer thaufrischen Natürlichkeit und Fröhlichkeit, die uns bei den Früheren und Späteren, ja selbst bei unseren Größten nur ausnahmsweise und vereinzelt begegnet. Dazu gesellen sich die gesundeste Lebens- und Naturanschauung, eine hohe Empfänglichkeit für alle äußeren Eindrücke, verbunden mit einer kaum jemals getrübten Klarheit des künstlerischen Blicks und einer außerordentlich leichten und anmuthigen Reproductionsgabe, und, was nicht am wenigsten Bewunderung verdient, ein ganz eigenes Talent, sich in fremde Persönlichkeiten und ihren Anschauungskreis hineinzuversetzen. Seine Wander-, Musikanten-, Jäger-, Müllerlieder gehören zu den anmuthigsten und singbarsten, die wir besitzen, aber – man muß gerecht sein! – auch zu unseren beliebtesten, wenn schon der Name ihres Dichters für viele so gut wie verschollen ist. So sei hier nur einzelner gedacht: »Ich schnitt es gern in alle Rinden ein«; – »Es lebe, was auf Erden stolzirt in grüner Tracht«; »Im Krug zum grünen Kranze – Da kehrt ich durstig ein«; – »Guten Morgen, schöne Müllerin«; – »Das Wandern ist des Müllers Lust«; – »Bächlein, laß dein Rauschen sein«; – »Wo ein treues Herze – In Liebe vergeht«; –

» Auszug

»Ich ziehe so lustig zum Thore hinaus,
Als ob's ein Spaß nur wär':
Das macht, es wallt Feinsliebchens Bild
Gar helle vor mir her.

»Da merk' ich denn im Herzen bald,
Ich sei dort oder hier,
Ich gehe fort, ich kehre heim,
Ich ziehe doch immer zu ihr.

»Und wer zu seinem Liebchen reist,
Dem wird kein Weg zu schwer,
Der läuft bei Tag und läuft bei Nacht
Und ruht sich nimmermehr.

»Und ob es regnet, ob es stürmt,
Mir thut kein Wetter weh:
Es hat mein Liebchen mir gesagt
Ein freundliches ade!«

Seine »Griechenlieder« – die ganze gebildete Welt Europa's sang, schwärmte und sammelte damals für die Griechen und ihren Freiheitskampf gegen die Türken – sind noch besonders als kräftig, schwungvoll und auch als sprachlich hervorragend anzuführen. – Seine Prosaerzählungen – z. B. »Der Dreizehnte« – sind unbedeutend. Dagegen sind seine Ausgaben deutscher Dichter des 17. Jahrhunderts wiederum auf das ehrendste zu erwähnen. Und alles zusammengenommen, verdient dieser Dichter weit über die vereinzelten bekannten Lieder hinaus in seiner gesammten Lyrik den Heutigen wieder vertraut und lieb zu werden.

Ein Talent vom höchsten Range, das jedoch niemals zur vollen Ausbildung gelangte, wie auch der Dichter selber weder bei den Zeitgenossen, noch bei den Nachkommen jemals zu seinem Recht kam, zeigt uns der Schwabe Wilhelm Waiblinger, geboren 1804 zu Reutlingen, gestorben 1830 zu Rom, durch raschen Lebensgenuß aufgerieben und in tiefem Elend. Unsere Literarhistoriker gehen meistens achselzuckend leicht über ihn hin und unser neueres Publikum weiß nichts von ihm. Trotzdem verdient er eine solche Mißachtung und ein solches Vergessen nicht. Wie zwanzig Jahre früher Hölderlin, ist auch Waiblinger voll Begeisterung für die Herrlichkeit der antiken Welt und ihres Lebens, und theilt mit ihm die krankhafte, zerstörende Sehnsucht nach der einen und dem anderen. Seine Phantasie ist eine reiche, aber freilich nicht selten auch eine unklare und ausschweifende, wie ihm denn überhaupt nur allzuhäufig das künstlerische Maß verloren geht. Ebenso wird auch die Reinheit der Empfindung häufig durch eine wilde Leidenschaftlichkeit getrübt, und selbst seine Metrik leidet unter diesem Ungestüm. Trotz alledem weht durch die Mehrzahl seiner Dichtungen ein Geist und spricht uns aus ihnen ein Gemüth an, welche ihn zum ächten Dichter stempeln und uns auf das ernstlichste den Untergang dieses Talents beklagen lassen. Seine Gedichte aus Italien – »Römischer Carneval«, – »Olevano«, »Neapel«, »Pompejanische Lieder« – und auch die übrigen – »Der Tod«, »Abschied auf dem Genfersee«, »Das Vaterland«, »Lebewohl«, – die – poetischen – »Erzählungen aus der Geschichte des jetzigen Griechenlands« u. s. w. sind reich an schönen Einzelheiten und ganzen Partien und voll ächter Poesie. Seine Prosa-Erzählungen, Märchen und das Trauerspiel »Anna Bullen« erheben sich dagegen fast nirgends über die Mittelmäßigkeit und leiden, ob auch im Einzelnen nicht ohne Geschick, doch im Allgemeinen an der ganzen Nüchternheit, Verschrobenheit und Unfähigkeit jener Zeit. Aber wir müssen auch hier hinzusetzen: dessenungeachtet sollte unsere Zeit auch diesen Dichter sich nicht entgehen lassen und ihn, gerechter als seine Zeit- und Heimatsgenossen, auf den ihm gebührenden Platz in unserer Literatur erheben.

Es folgen zwei Andere, in denen dem Dichter der Erzähler gleich steht oder doch sehr nahe kommt – gleichfalls ein paar überaus tröstliche Erscheinungen in dieser Zeit des Ungeschmacks und der Unfähigkeit: der Schwabe Wilhelm Hauff und der Schlesier Josef Freiherr von Eichendorff.

Wilhelm Hauff, geboren 1802, gestorben schon 1827, zeichnet sich schon dadurch aus, daß zwischen seinen Schöpfungen keine einzige unbedeutende und werthlose ist. Es spricht uns aus allen ein anmuthiges und liebenswürdiges Talent, eine warme Empfindung, ein ächter Dichtergeist, aber auch eine solche Klarheit der Einsicht in die Schäden und Gebrechen der Zeit und Literatur an, daß man nicht nur Freude an diesem Dichter haben muß, sondern auch mit Respect vor ihm erfüllt wird. Von seinen Gedichten erwähnen wir nur der beiden, zu Volksliedern gewordenen: »Steh ich in finstrer Mitternacht«, und »Morgenroth – Morgenroth«. Mit seinem »Mann im Monde«, den er unter Claurens Namen erscheinen ließ, und noch entschiedener mit der »Controverspredigt über den Mann im Monde« stellte er sich hoch über die gesammte Zeitliteratur und ihre Nichtsnutzigkeit und trug nicht wenig dazu bei, diese letztere auch dem besseren Publikum wieder deutlich zu machen. – Die »Mittheilungen aus den Memoiren des Satans«, sind voll Frische und Keckheit; sein historischer Roman »Lichtenstein« ist trotz einzelner Schwächen in der Komposition, der Characterzeichnung und Motivirung, ein glänzendes, poesievolles Zeitgemälde; seine »Phantasien im Bremer Rathskeller« sind voll wirklicher, anmuthiger und heiterer Phantasien und voll eines Humors, der diesen Dichter in jener armseligen Zeit schon allein zu einer hervorragenden Erscheinung macht. Und allen seinen Schöpfungen ist die leichteste und gewandteste, völlig natürliche Darstellung und ein Stil zu eigen, der sich nur als graziös bezeichnen läßt.

Joseph Freiherr von Eichendorff, geboren 1788, Lützower Jäger 1813 und gestorben 1857, wird zu den Romantikern gezählt, ja pflegt »der letzte Ritter der Romantik« genannt zu werden, da er allerdings der Letzte war, der in Deutschland jener Richtung und jenen Weisen treu blieb. Aber wir glauben doch mehr in ihm sehen zu müssen. Während uns in den Irrgärten der rechten Romantiker, in ihren Nebeln und Dünsten nur allzuleicht angst und bange wird und wir unbehaglich und verdrießlich uns los zu machen streben, liegt bei Eichendorff alles im blauen Dufte ächter Poesie, fühlen wir uns traumhaft umfangen und weitergezogen in die zauberhaft aufdämmernde Ferne hinein. Eichendorfs ist ein ächter Dichter von Gottesgnaden und steht als Lyriker unter den Romantikern, vielleicht den einzigen Novalis ausgenommen, weitaus auf der ersten Stelle. Seine Poesie ist keine herangepflegte, sondern eine ursprüngliche; seine Natur erscheint uns nicht durch ein kunstvoll geschliffenes Glas oder in einer sorgsam vorbereiteten Beleuchtung, sondern im freien Blick des Auges und unter den Lichtern des Himmels; seine Lieder entstammen nie einer Absicht und Stimmung, in welche der Dichter sich hineingestimmt hat und in welche er auch uns versetzen möchte, sondern sie sind da und klingen heraus mit der ganzen Ursprünglichkeit und Frische, mit der ganzen Innigkeit und Sangeslust, mit aller natürlichen, oft regellosen und dennoch bezaubernden Melodie des Waldvogelliedes. Daran mäkelt man nicht, noch fragt man nach der Kunst, sondern man lauscht darauf und freut sich daran bis ins Herz hinein.

Man schlage die Sammlung seiner Gedichte auf, wo man will, überall begegnen uns die unendlich innigen und anmuthigen, hier wehmüthigen, dort fröhlichen, bald kindlich neckischen und schalkhaften, bald männlich ernsten und gemüthvollen Lieder: »Wem Gott will rechte Gunst erweisen«, – »Ich wandere durch die stille Nacht«, – »Frühmorgens durch die Klüfte – Wir blasen Victoria!« – »Ich hör' die Bächlein rauschen«, – »Schlafe Liebchen, weil's auf Erden – Nun so still und seltsam wird«, – »Wohin ich geh' und schaue«, – »Zwischen Bergen, liebe Mutter«, – »Ich kam vom Walde hernieder«, – »Es ist schon spät, es wird schon kalt«, das weltbekannte: »In einem kühlen Grunde – Da geht ein Mühlenrad«, – und endlich das – wir möchten fast sagen: schönste aller schönen:

»Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
Das Herz mir im Leibe entbrennte,
Da hab' ich mir heimlich gedacht:
Ach wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht!«

Große Stoffe zu bemeistern und kräftige Charactere zu zeichnen, war Eichendorff's Sache nicht. Seine Trauerspiele »Ezzelino von Romano«, »Der letzte Ritter von Marienburg«; sein dramatisches Märchen, »Krieg den Philistern«; sein Roman, »Ahnung und Gegenwart«; die Novellen: »Die Marmorbraut«, »Dichter und ihre Gesellen« u. s. w., sind sämmtlich unbedeutend und schwach: es kommt wohl hin und wieder zu muthigen Anläufen, denen aber der Weitergang nicht entspricht, und die einzelnen schönen und poetischen Züge verschwinden in der Zerflossenheit und Verworrenheit des Ganzen. – Ebenso können wir auch seine kritischen Versuche mit Schweigen übergehen: sie sind voll Einseitigkeit, ja erscheinen nicht selten krankhaft. Dagegen ist eine seiner letzten Schöpfungen, der Romanzencyclus »Julian«, noch ein ächtes Dichterwerk und ein schönes Schwanenlied des Sängers. – Das Schönste und Anmuthigste aber, was Eichendorff außer seinen Liedern geschaffen hat, und was ihm neben diesen einer der besten Plätze in unserer Literatur sichern wird, ist das köstliche Stücklein »Aus dem Leben eines Taugenichts«, eine Schöpfung von glückseliger Harmlosigkeit und hinreißender Kinderfröhlichkeit, von reizender Schalkhaftigkeit und unwiderstehlicher Komik, – welche in unserer Literatur kaum ihres Gleichen hat.

44.

In der erzählenden Literatur dieser Zeit haben wir zunächst nicht sowohl eines Dichters, als eines einzelnen Werkes zu gedenken, welches unseres Wissens der einzige Versuch seines Verfassers auf diesem Gebiete blieb: es ist der Roman »Memoiren des Freiherrn von S?a«, der 1815 anonym erschien, aber von K. L. von Woltmann im Verein mit seiner, damals durch allerhand Romane, Erzählungen u. s. w. bekannten Gattin Karoline verfaßt war. Woltmann, 1770-1817, hat sich als Historiker einen gewissen Ruf erworben, ohne sich jemals zu einem höheren Standpunkt zu erheben, und sich auch auf diplomatischem Gebiete ohne sonderliche Erfolge versucht. Von poetischem Geist findet man in seinen, beiläufig gesagt, zugleich nüchternen und oberflächlichen Werken keine Spur. Der genannte Roman aber ist unbestreitbar ein Werk von hohem Werth, und zwar nicht nur durch den klassischen Stil und die vollendet maßvolle und klare Darstellung, durch hinreißend schöne und glänzende, freilich aber hin und wieder fast lascive Schilderungen, sondern auch durch außerordentlich scharfe Zeit- und Characterbilder und durch die hie und da eingeflochtenen, sehr, ja fast allzu strengen, stets jedoch scharfsinnigen und geistvollen Urtheile über die Dichter und die Literatur seiner Zeit. Zur Damenlectüre eignet sich der Roman, jener erwähnten Schilderungen wegen, freilich nicht, rechtfertigt jedoch nichts weniger als das Achselzucken und den Spott, die sich hin und wieder an ihm, zumal an der Darstellung versucht haben.

Heinrich Zschokke, geboren 1771 zu Magdeburg, aber schon früh nach der Schweiz verschlagen und dort völlig eingebürgert, gestorben 1848, hat sich zuerst 1793, durch seinen auch als Trauerspiel bearbeiteten »Aballino, der große Bandit«, einen der ersten und bedeutendsten Räuberromane, bekannt gemacht. Seine zahlreichen, in dem ersten Viertel unseres Jahrhunderts veröffentlichten kleinen und größeren Erzählungen werden ihm indessen unter unseren Erzählern und in unserer Literatur überhaupt stets einen hochgeachteten Platz sichern. »Der todte Gast«, »Der Fürstenblick«, »Das Loch im Aermel«, »Die Verklärungen«, »Ein Narr des neunzehnten Jahrhunderts«, »Die Herrnhuter Familie«, »Das blaue Wunder«, »Das Abenteuer der Neujahrsnacht« u. s. w. sind alles Muster einer überaus leichten, nur ausnahmsweise flüchtigen, gewandten, ansprechenden Darstellung, reich an Handlung, stets unterhaltend, leichtfertig zuweilen, aber in einer Weise, daß man nicht wohl zürnen kann, sondern nur etwa einmal lachend den Kopf schütteln muß, endlich fast durchweg voll der heitersten Laune und hin und wieder voll tiefer Empfindung. Noch höher steht die größere Erzählung, »Der Flüchtling im Jura«, ein Zeitbild von großer Klarheit, und die historischen Stücke, »Der Freihof von Aarau«, und »Addrich im Moos« sind gleichfalls Zeitbilder von vorzüglicher Art und reihen sich durch die Darstellung, die Characterzeichnung, durch treffliche Schilderungen dem Besten an, was wir in diesem Genre besitzen. – Auch Zschokke's Volksschriften, wie »Bilder aus der Schweiz« und »Das Goldmacherdorf«, verdienen unsere volle Anerkennung. Seine weit verbreiteten, anonym erschienenen »Stunden der Andacht« rechtfertigen den Beifall nicht, welchen das damalige, religiös völlig indifferente Publikum diesem nüchternen und verstandesmäßig frommen Werk widmete.

Wie in der dramatischen Literatur die demnächst zu erwähnenden Schicksalstragödien, so spiegeln in der erzählenden die Schriften des sogenannten Callot-HoffmannErnst, Theodor, Amadeus Hoffmann, geboren zu Königsberg 1776, später Musikdirector in Bamberg und Dresden, endlich Kammergerichtsrath in Berlin und nach langer, schwerer Krankheit gestorben 1822 – am deutlichsten, ja grassesten die Krankheit der Zeit, des Geschmacks, des gesammten Lebens und die Herabgekommenheit des Geistes wider, welche Dichter und Publikum nach den gewaltsamsten Reizmitteln greifen und verlangen ließen und Karikaturen, Spukgestalten, Teufelsfratzen aller Art in das heitere Reich der Schönheit einzuschwärzen versuchten. Hoffmann malt wirklich schwarz in schwarz, seine Phantasie und seine Phantasien, um uns so auszudrücken, sind die ausschweifendsten, ja völlig ungeheuerliche. Man könnte sagen, er kehre das Leben und der Menschen Verhältniß zu demselben gradeswegs um; während wir Anderen im Scherz oder Ernst die »Nachtseite« und das »Traumleben« als etwas gewissermaßen Nebensächliches ansehen, das keinen rechten Platz und kein volles Recht in der wirklichen und gewöhnlichen Tageswelt findet und, wo es in diese einmal hineingreift, nur stört und erschreckt, läßt Hoffmann uns grade auf jenem unheimlichen Territorium und mit jenen Spukgestalten auf das unbefangenste verkehren und nur zuweilen von der nüchternen, für uns nebensächlichen Wirklichkeit angefröstelt werden. Der Vorwurf von Unnatur und Unnatürlichkeit im gewöhnlichen Sinne haftet daher auch an Hoffmann und seinen Werken im Grunde nirgends. Im Gegentheil, wie er sie auffaßt und von uns aufgefaßt haben will, sind diese Unnatur und Unnatürlichkeit sein eigentlicher Boden und sein rechter Stoff. Er bewegt sich in ihnen und handhabt sie mit der höchsten, ja man könnte sagen, erschreckenden Virtuosität, mit dämonischer Lust und wildem und doch genialem Uebermuth. So zeigen es seine Werke: die »Phantasiestücke in Callots Manier«, die »Nachtstücke«, »Die Elixire des Teufels«, die Novellen- und Märchensammlung, »Die Serapionsbrüder«, die »Lebensansichten des Katers Murr«, die Märchen »Klein Zaches, genannt Zinnober«, »Prinzessin Brambilla«, »Meister Floh« und die meisten seiner letzten Erzählungen. Es ist wahr, wir erschrecken vor diesen Ausgeburten einer grenzen- und maßlosen Phantasie; wir fühlen uns taumelnd werden in diesem Wirbel von Spukgestalten und Teuselsfratzen; wir werden von Grausen geschüttelt, und das Herz zieht sich zusammen und der Kopf ist betäubt.

Aber, und das ist das Wunderbare, wir entfliehen nicht dem wilden Reigen, dem Grausen und Entsetzen, sondern bleiben und folgen, gefesselt durch einen unheimlichen Zauber, einen dämonischen Reiz. Denn, krankhaft, ausschweifend, verzerrt oder nicht – es ist etwas Gewaltiges und Grandioses selbst in dieser Krankhaftigkeit, Ausschweifung und Verzerrung, in diesem Geist und dieser Phantasie und ihren Ausgeburten, das nie und von niemand in unserer Literatur wieder erreicht worden ist. Wie groß und wie völlig einzig Hoffmann in dieser seiner Art ist und von welcher Ueberlegenheit über alle, die sich auf dem gleichen Gebiet und in den gleichen Weisen versuchten, sieht man am deutlichsten, wenn man einmal unmittelbar nach den seinen die schwächlichen Producte seines bekanntesten und beliebtesten Nachahmers Weisflog liest, die uns langweilen oder anwidern, oder die von Blut, Mord, Wollust triefenden Romane des späteren Emerentius Scävola (v. Heyden), welche nur Ekel erregen. Solche Stimmungen ruft keine Hoffmann'sche Schöpfung jemals hervor. Wir wiederholen es: diese mögen uns mit Grausen oder auch mit Entsetzen erfüllen, ja uns zuweilen an der Vernunft des Autors oder gar unserer eigenen zweifeln lassen, aber fesseln werden sie uns immer. Es kommt freilich dazu, daß Hoffmanns Darstellung, Schilderung und – man muß wohl sagen: Karikaturzeichnung auf einer Höhe steht, die gleichfalls von nur sehr wenigen erreicht worden ist. Nur wo er sich einmal ausnahmsweise von seinem eigentlichen, unnatürlichen oder übernatürlichen Terrain auf das – ihm aber nicht – natürliche verirrt, verfällt er in den schwachen und faden Ton seiner Zeitgenossen. So ist z. B. seine unendlich, ja heute noch von Manchen hochgefeierte Erzählung, »Meister Martin, der Küfner«, trotz einzelner ansprechender Züge aus dem reichsstädtischen Leben, bei Lichte besehen ein außerordentlich schwaches, fades und süßliches, geziertes und sentimentales Product, das sich höchstens nur durch jene eben erwähnten einzelnen Züge und die Hoffmann eigenen formellen Vorzüge über das langweilige Niveau der damaligen Literatur erhebt. So wie man aber Hoffmann auf seinem eigentlichen Gebiete kennen lernt, begreift man auch den Beifall der Zeitgenossen. Der Zauber, dem sie unterlagen, wirkt in der Mehrzahl dieser Werke noch heute auf uns, wenn wir uns ihnen ohne Voreingenommenheit und Prüderie nahen, genau ebenso.

Eine eigenthümliche Erscheinung ist Henrik Steffens, 1773-1845, geboren in Norwegen, aber bald nach Deutschland übersiedelnd, Verbündeter und Anhänger der ersten Romantiker, Schüler Schellings und Verkündiger seiner Naturphilosophie, völlig zum Deutschen werdend, so daß er mit deutschem Enthusiasmus in den Befreiungskrieg zog, daß er nur noch deutsch philosophirte, schrieb und – dichtete. Er könnte daher an Chamisso erinnern, aber er ist fernab von dessen Innigkeit, Klarheit und Liebenswürdigkeit: die Nebel und die Trübheit seiner nordischen Heimat begleiten ihn auch auf deutschem Boden und machen diese Gestalt auf wissenschaftlichem Gebiet so gut, wie aus dem dichterischen zu einer schwankenden und unklaren. – Seine beiden Romane »Die Familien Walseth und Leith« und »Die vier Norweger« verdienten den lebhaften Beifall des Publikums durch die Naturschilderungen aus der nordischen Heimat des Dichters, wie denn die Schilderung des großen Schloßbrandes in Kopenhagen in ihrer Art ein Meisterstück ist. Allein in der Nähe betrachtet, sind es unkünstlerische Producte, in denen der Verfasser sich uns überall und stets von neuem selber vorstellt und uns mit seinen eigenen Erlebnissen und Erfahrungen, seinen wissenschaftlichen, philosophischen, religiösen, politischen Ideen und Ansichten unterhält. Noch schwächer sind die späteren Romane »Malkolm« und »Die Revolution«. Seine biographische Schrift, »Was ich erlebte«, ist von wirklichem Werth für die Geschichte seiner Zeit und der damaligen Literatur, leidet aber an unerquicklicher Einseitigkeit und Engherzigkeit.

Eine viel erfreulichere und bedeutendere Erscheinung trotz aller Beschränkung, von unleugbar großem und wohlthätigem Einfluß auf die Entwickelung unserer Literatur ist Wilhelm Häring, der sich als Schriftsteller Wilibald Alexis nannte, geboren 1798, gestorben nach langer trauriger Krankheit erst am 16. Dezember 1871. Wilibald Alexis ist der Schöpfer und zugleich der Meister des deutschen, eigentlich historischen Romanes und auf diesem Gebiet von keinem Späteren übertroffen worden. Es war damals die Zeit, wo die Waverley-Romane und die übrigen Dichtungen des »großen Unbekannten«, d. i. Walter Scott's, in Deutschland ein um nichts geringeres Aufsehen machten als in England selber, und für unerreichbare Muster erklärt wurden. Da hatte Wilibald Alexis die Kühnheit, einen Roman »Walladmor« ohne seinen Namen erscheinen zu lassen, der vom Publikum und Kritik für ein Werk des großen Schotten gehalten, ja von diesem selber auf das herzlichste belobt wurde. Von der gleichen Art ist der folgende Roman, »Schloß Avalon«; dann jedoch wandte der Dichter sich alsbald nationalen, und zwar preußischen und zunächst brandenburgischen Stoffen zu und betrat hiermit sein eigentliches Gebiet und erreichte hier seine volle Größe, während er sich in seinen mehr socialen Romanen, »Haus Düsterweg« und »Zwölf Nächte«, sowie auch in kleineren Schöpfungen nur ausnahmsweise über das Niveau der anderen erzählenden Literatur erhebt. In seinen historischen Romanen jedoch, »Cabanis«, »Der Roland von Berlin«, »Der falsche Waldemar«, »Die Hosen des Herrn von Bredow«, »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht«, »Isegrim«, steht er als Meister vor uns. Seine Kenntniß der Zeit und ihrer Verhältnisse, der Menschen und des Lokals ist die genaueste und sicherste und seine Herrschaft über seinen Stoff eine nahezu vollständige. Was er darstellt, schildert und zeichnet, bleibt nicht auf diesem Boden, sondern erhebt sich zum Leben; seine Menschen stehen leibhaftig vor uns, sie wachsen, möchte man sagen, und entwickeln sich vor uns; seine Naturbilder sind nirgends Copien, sondern zeigen uns die Natur selber in wunderbar treuer und klarer Auffassung. Bei Wilibald Alexis steht alles im innigsten Zusammenhange und vereint zur Gesammtwirkung; selbst der Stil, den der Dichter sich erst zurecht machte, und der bei jedem anderen leicht möglich manierirt erscheinen könnte, stimmt in seiner chronikenartigen Einfachheit und Treuherzigkeit vortrefflich zu allem Uebrigen. Ueberhaupt ist in diesen Romanen fast nirgends von einem Ueberfluß und Zuviel die Rede, und die ängstliche Genauigkeit der Darstellung, die peinliche Detailmalerei, die behagliche Breite, welche uns bei Walter Scott nicht selten stören, verschwinden bei Wilibald Alexis fast immer vor dem raschen und frischen, selbstständigen inneren Leben dieser Werke. Was uns in dieser Weise begegnet, ist meistens nicht Fehler des Autors, sondern characteristische Eigenart der geschilderten Zeit und Menschen. Diese Werke sind, etwa »den falschen Waldemar« abgerechnet, Romane im großen Stil und stehen in Deutschland ziemlich vereinzelt da. Leider aber sind sie unter uns nicht nach Verdienst bekannt. Es ist, als habe die Enge des gewühlten Lokals auch ihre Ausbreitung und ihren Erfolg beschränkt.

Ein anderer Autor, der gleichfalls, ja im Grunde noch bestimmter als der vorige, dieser Zeit angehört, weil nicht nur seine ersten Werke in diesen Jahren entstanden, sondern weil er auch, während Wilibald Alexis sich erst um vieles später zu seiner vollen Größe aufschwang, seinerseits niemals recht über das gleich zu Anfang Erreichte hinausgelangte, – ist Karl Spindler, 1796-1855. Spindlers Talent ist ein großes und angenehmes; seine Phantasie ist von der lebhaftesten Regsamkeit, seine Erfindungsgabe eine ungemein reiche und unversiegliche, seine Gestaltungskraft eine ungewöhnliche. Spindler war Straßburger und es zeigt sich in seinen Schöpfungen etwas von dem leichteren und rascheren Blut der Halbfranzosen: man hat ihn nicht mit Unrecht den deutschen Alexander Dumas geheißen. Von Reflexion ist in seinen Werken so gut wie keine Rede. Er erzählt nur und zwar mit Lebendigkeit und Anschaulichkeit, ohne eine Spur von Gezwungenheit und Gesuchtheit, stets unterhaltend, nie verlegen um den Fortgang. Seine Darstellung ist eine sehr gewandte, seine Schilderungen sind voll Naturwahrheit und Glanz, seine Charakterzeichnungen weisen alle prägnanten und entscheidenden Züge in seltener Schärfe und zugleich Sauberkeit auf, und ohne daß er sich viel auf etwas wie eine vorsichtige Unter- oder sorgfältige Ausmalung, auf psychologische Begründung und Entwickelung einließe, gewinnen seine Gestalten Wahrheit und Leben, erhebt sich die Zeit und das Lokal vor uns mit überraschender Klarheit und greifbarer Deutlichkeit. »Der Bastard«, »Der Jude«, »Der Invalide«, »Der Jesuit«, sind solche Zeit-, Sitten- und – sagen wir Standesbilder von ungemeiner Treue und Wahrheit, von einer merkwürdigen Realität; denn Spindler verliert sich hier selten oder nie ins Phantastische oder Ideale, sondern bleibt auf sicherem historischem Boden, ohne daß die Zeitgeschichte ihm mehr als den Hintergrund für seine Gemälde und seine Gestalten lieferte. Trotz aller Vorzüge erheben sich diese Romane indessen nicht zu der Höhe und dem großen Stil der Wilibald Alexis'schen Schöpfungen, sondern bleiben mehr nur, freilich vortreffliche, Unterhaltungsschriften. Denn Spindlers Talent und Schaffen sind mehr instinctiv, als künstlerisch angelegt, klar, bewußt und maßvoll. Daher hält es auch auf die Dauer nicht vor und verliert der Autor sich in den zahlreichen Novellen und selbst in dem, übrigens an reizenden Einzelheiten reichen »Vogelhändler von Imbst« häufig in die Oberflächlichkeit und Routine der Leihbibliotheksschriftsteller.

Von einer gewissen Naturwüchsigkeit, aber noch weniger wirklich künstlerisch sind die zahlreichen Romane des damals beginnenden und bis in die neuere Zeit fortschaffenden L. Storch, geb. 1803, »Der Glockengießer«, »Der Freiknecht«, »Ein deutscher Leinweber« u. s. w. – Höher steht der scharfe und nicht selten geistvolle Berliner Kritiker, L. Rellstab, 1799-1860; seine Novellen erheben sich ausnahmslos über das Mittelgut, und sein Roman »1812«, ist ein geschicktes, farbenreiches Gemälde jener außerordentlichen Zeit und ihrer ebenso außerordentlichen Menschen. Auch hat er eine lesenswerthe Selbstbiographie, »Aus meinem Leben«, geschrieben. – Neben ihm finden wir den freilich späteren, aber vorwiegend dieser ersten Periode der historischen Erzählung angehörenden F. Stolle, 1806-1872; seine Romane, »1813«, »Napoleon in Aegypten«, »Elba und Waterloo«, u. s. w. sind nicht ohne Geschick und Erfindung, erheben sich jedoch kaum über die bessere Leihbibliothekswaare. Dagegen war sein kleines Blatt, »Der Dorfbarbier«, eines der freisinnigsten und volksthümlichsten in Deutschland, und seine »Nachtigallenlieder« verdienen unter den politischen Gedichten der vierziger Jahre lobend genannt zu werden.

Weiter gehören die Erzählungen und Romane von G. K. Herloßsohn, 1802-1849, A. F. von Bronikowski, 1783-1834, Robert Heller, 1813-1871, und zahlreichen anderen hieher. Sie alle bewegen sich so ziemlich im gleichen Gleise, ohne sich zu einer besonderen Höhe zu erheben, sind indessen noch immer der besseren Unterhaltungsliteratur zuzuzählen. – Wegen seines Romans »Furore« sei hier auch Wolfgang Menzel, 1798-1873, genannt, der freilich durch seine langjährige kritische Thätigkeit, durch seine Angriffe auf Goethe und das »junge Deutschland«, sowie durch zahlreiche populäre Geschichtswerke bekannter geworden ist als durch seine dichterischen Versuche. – Zu gedenken ist auch noch eines seltsamen Buches, »Die Bernsteinhexe«, von dem Pastor W. Meinhold, 1797-1851, das ganz in der Sprache und dem Tone des 17. Jahrhunderts, nicht nur von der Lesewelt, sondern auch von gelehrten Leuten eine Zeit lang für ein ächtes Erzeugniß der alten Zeit gehalten wurde. Der Verfasser wußte den erlangten Ruhm in späteren Werken nicht zu behaupten; doch besitzt man einzelne gute, geistliche Lieder von ihm.

Im unmittelbaren, durch die Widmung betonten Anschluß an Walter Scott, begegnet uns der anonym erschienene Roman »Scipio Cicala«. Sein Verfasser war der Tübinger P. J. von Rehfues, 1779-1843. Voll Geist und Kunst, voll Handlung und Bewegung, ausgezeichnet durch glänzende Schilderungen und Charakterzeichnungen, ist er doch mehr nur das Werk eines geistvollen und feingebildeten Mannes. Dem Talent, welches sich darin ausspricht, gebrach es an dem Haupterforderniß, der Dauerhaftigkeit. Schon der zweite, und unseres Wissens letzte Roman des Verfassers, »Die Belagerung des Castells von Gozzo«, steht bei weitem nicht auf der Höhe des ersten. Vor allen spricht wider diese Werke jedoch jene, den deutschen Schriftstellern leider von jeher anklebende Liebhaberei, ihre Stoffe aus der Fremde zu holen und den Schauplatz in diese Fremde zu verlegen. Es zeugt für Walter Scott's und nicht minder auch für Wilibald Alexis' Größe, daß der Erstere nur in der Zeit seines Sinkens und der Letztere niemals in diesen Fehler verfiel.

45.

Die Saat, welche Zacharias Werner durch seinen »24. Februar« gesäet hatte, ging nur allzu rasch auf. Schon 1812 veröffentlichte Adolf Müllner, »der Advocat in Weißenfels«, sein greuliches Stück, »Der 29. Februar« und fortan folgten diese Ausgeburten der vollständigen geistigen und sittlichen Verkehrtheit mehr als ein Jahrzehend lang einander Schlag auf Schlag. Wir Heutigen stehen vor diesen »Schicksalstragödien« und dem Beifall, den sie fanden, wie betäubt oder vielmehr wie verdummt, ja wir dürfen wohl hinzusetzen, daß Vernunft und Verstand, ästhetisches und sittliches Gefühl sich in jedem in gleicher Weise vernichtet fühlen müssen. Wie es möglich gewesen, daß dieser Mischmasch von angeblicher antiker Tragik und verzerrter Romantik, servirt durch die allerdüfstigsten Talente, einen solchen Eindruck machen, solche Bewunderung erregen und beinah als das Höchste gepriesen werden konnte, was im Reiche der Kunst entstanden sei und entstehen könne, wird uns immer räthselhaft bleiben, obgleich wir gut genug wissen und sehen, wie weit sich nicht nur die Romantiker, sondern auch selbst die Klassiker von der Natur und dem Natürlichen schon entfernt hatten, wie das große Publikum an zunehmender Geschmacksverwirrung litt, und wie gewaltig und unheilvoll der Rückschlag war, der auf die Begeisterung der Kriegszeit folgte – jener geistige und sittliche Katzenjammer, wie wir es hießen, der nur in extremen Reizmitteln und durch dieselben Linderung finden zu können glaubte. Aber freilich, schamroth sollte man noch heute werden, für jenes Publikum und seinen Geschmack und für die damalige Kritik und ihre Kunsteinsicht. Der eine wie die andern haben niemals auf einer tieferen Stufe gestanden.

Wir dürfen über diese »Dichter« und ihre Werke schnell hingehen. Adolf Müllner, 1774-1829, Doctor der Rechte und Advocat, auch ein Neffe Bürgers, ohne eine Spur von dem Geiste und Talent desselben, ließ jenem schon erwähnten »29. Februar«, sein bekanntestes und berühmtestes Stück »Die Schuld« folgen, welches wenigstens nicht ohne eine gewisse theatralische Lebensfähigkeit ist. Sein »König Yngurd« und »Die Albaneserin« gehen über das Bühnenmaß hinaus, sind aber nicht ohne Geist und Kraft. Seine Lustspiele, »Die Vertrauten«, »Der angolische Kater«, »Der Blitz« u. s. w. haben gute Einfälle und einen, häufig freilich geschraubten, Witz aufzuweisen. Müllners dichterisches Talent ist trotzdem ein geringes und wird obendarein, wo es sich noch einmal regen möchte, durch den allernüchternsten Verstand vollends lahm gelegt. In der Kritik, der er sich von 1820 an widmete, machte er sich durch Dünkel, Zanksucht, Rabulisterei und Persönlichkeiten der rücksichtslosesten und gehässigsten Art anrüchig und verhaßt, so daß sein Gedächtniß selbst von dieser Seite nicht aufgefrischt zu werden verdient. Er ruht bei den Todten und möge dort ruhen bleiben.

Noch mehr gilt dies von seinen, schier noch talent- und geistloseren Nachahmern und Nachfolgern, von denen wir hier nur den schwächlichen, süßlichen und weinerlichen, von Börne hingerichteten, Ernst von Houwald, 1778-1845, mit seinen Stücken »Der Leuchtthurm« und »Das Bild« nennen. Das gleichfalls hieher gehörige Stück des Freiherrn Josef von Zedlitz, »Turturel«, ist mehr nur als eine Geschmacksverirrung und als ein dem Zeitgeschmack gebrachtes Opfer dieses unleugbar schönen und bedeutenden Talents anzusehen. Und nicht anders steht es mit jenem Dichter, dessen »Ahnfrau« neben, ja vor der »Schuld« Müllners, einen wahren Sturm der Bewunderung hervorrief, das ist der Wiener Franz Grillparzer, 1790 bis 1872, der trotz der Beschränkung seines Talents – er ist wesentlich, ja im Grunde nur Dramatiker – unter den Schicksalsdichtern die erste, unter den deutschen Dramatikern überhaupt eine sehr hohe Stelle beanspruchen darf.

Grillparzer ist seit seiner »Ahnfrau« bis ganz neuerdings nie wieder recht bekannt geworden, geschweige denn zum verdienten Ansehn gelangt und wurde selbst in seinem Vaterlande nicht nach Verdienst gewürdigt. Erst nach seinem Tode, kann man sagen, hat man diesen Dichter wieder entdeckt und seine Werke aus dem Staube der Bibliotheken zusammengesucht und durch eine Gesammtausgabe dem Publikum bekannt gemacht. Grillparzer besitzt unzweifelhaft ein Talent, das in seiner Beschränkung und, wie wir hinzufügen müssen, trotz seiner Unselbstständigkeit zu den größten gehört, die seit unserer großen Literaturepoche in Deutschland erschienen sind. Dies Talent muß sich durchaus auf das dramatische Gebiet beschränken und sich anlehnen können, hier an den unglückseligen Calderon, dort an Shakespeare, bald an Goethe, bald an die großen Alten. Unter solchen Bedingungen kommt es zum Durchbruch und gelingen ihm Werke, welche wie »Sappho«, »Medea«, ja wie auch »König Ottokars Glück und Ende«, die nächste Stelle nach den Schöpfungen unserer größten Meister beanspruchen dürfen, während auch in den übrigen, »Die Argonauten«, »Des Meeres und der Liebe Wellen«, »Der Traum ein Leben«, sich Einzelheiten und Züge in Ueberfluß finden, die den großen Dichter kennzeichnen. So ist auch sein Lustspiel »Wehe dem, der lügt«, abgesehen von gelegentlicher Breite, ein hervorragendes Werk. Grillparzers Unglück war es, daß er als Oesterreicher geboren und in armselige persönliche und Zeitverhältnisse gebannt, sich nie zu größerer innerer Freiheit und einem höheren Standpunkte durchzuarbeiten und der von 1830 an beginnenden frischeren Zeit gerecht zu werden vermochte. So brauste diese letztere ganz naturgemäß an ihm vorüber oder gar über ihn hin.

Bevor wir auf denjenigen zu reden kommen, der sich nicht nur wider diese letzte Verzerrung, sondern auch gegen die gesammte Unnatur und Geschmacklosigkeit der damaligen Literatur erhob – auf den Grafen August von Platen – haben wir noch eines Einzelnen hier zu gedenken, dessen lebhafteste, wenn auch nicht bedeutsamste Thätigkeit gleichfalls hauptsächlich dieser Periode angehört und ihn auf das Bitterste mit dem Letztgenannten verfeindete. Das ist Karl Immermann, geboren zu Magdeburg 1796, gestorben zu Düsseldorf 1840, hart verurtheilt von den Moralitäts-Enthusiasten wegen seiner vieljährigen illegitimen Verbindung mit der geschiedenen Gattin des Generals von Lützow, Elise von Ahlefeld. Seinen nüchternen lyrischen Gedichten ließ er vom Anfang der zwanziger Jahre an eine ganze Flut von dramatischen, bald romantischen, bald shakespearisirenden oder goethisirenden Werken aller Art folgen: »König Periander und sein Haus«, »Das Thal von Ronceval«, »Cardenio und Celinde«, »Ghismonda«, »Das Trauerspiel in Tirol«, »Friedrich II.«, die Trilogie »Alexis«, »Das Auge der Liebe«, »Merlin«, das hübsche Märchen »Tulifäntchen« u. s .w., und machte später auch als Leiter des Theaters in Düsseldorf nicht wenig Aufsehen. Trotzdem ist der Dichter hier nicht auf seinem richtigen Gebiet. Er zeigt in den besseren dieser Arbeiten Kraft, Geschick und Einsicht, wie denn auch seine Natur selber eine derbe und tüchtige, hin und wieder sogar schroffe, aber durchaus verständige ist. Es fehlt ihm nicht an Witz, an Satire und Ironie, allein er geräth trotz aller besseren Einsicht stets wieder in die Irrgärten der Romantik hinein und bleibt der wahren und vollen Poesie in Wirklichkeit ziemlich fern. Zu ihr, zu seinem eigentlichen Gebiet und seiner rechten Bedeutung gelangte er erst ungesucht, als er in den dreißiger Jahren das Gebiet des Romans, und zwar, wie man wohl sagen darf, des Zeitromans betrat, mit zwei Werken, welche er ausdrücklich in die Strömung des neuen Lebens und der neuen Literatur hinausstellte und in denen er mit vollem Bewußtsein und voller Schärfe den Schäden und Gebrechen, der Unwahrheit und Unnatur der abgelaufenen, aber noch hundertfältig in die neu anhebende hinübergreifenden Periode zugleich einen klaren Spiegel und die unverfälschte, reine und gesunde Natur selbst entgegenhielt. Dort werden wir ihn noch einmal zu betrachten haben.

August Graf von Platen-Hallermünde ist am 24. October 1796 zu Ansbach geboren. Der äußerst beschränkten Vermögensverhältnisse wegen wurde er schon früh von seinen Eltern für den Militärdienst bestimmt, ohne daß er diesem Beruf jemals die geringste Neigung gewidmet hätte. Eine außerordentliche Wißbegierde, ein unermüdliches Streben nach Vermehrung und Vertiefung seiner Kenntnisse zeichneten ihn schon früh aus und bereits der Kadett und junge Lieutenannt versuchte sich neben den sprachlichen und philosophischen Studien auch in der Poesie. Nach dem Feldzuge von 1815 erlangte er einen längeren Urlaub, der ihm, da er sein Gehalt weiter bezog, erlaubte, nicht nur seiner Reiselust zu genügen, sondern auch sich auf das ernstlichste zu Würzburg und hauptsächlich zu Erlangen den Studien zu widmen, welche sich über die Gebiete der Philosophie, der Alterthumskunde, der alten und neueren Sprachen, der schönen Künste verbreiteten. Dabei begannen die poetischen Schöpfungen und setzten sich fort, ausgezeichnet bereits durch eine Reinheit und Vollendung der Form, die bis dahin in Deutschland noch nicht erreicht worden war. Allein seine Lage blieb eine armselige und drückende: es gab der Arbeit, ja selbst der Entbehrungen zu viel und der Erfrischung durch gelegentliche Reisen zu wenig; von einem rechten Verständniß seiner Begabung, von einer wahrhaft herzlichen und liebevollen geistigen Unterstützung und Anregung war wenig die Rede; die Erfolge des Dichters entsprachen bei weitem nicht den hochfliegenden Hoffnungen und den Ansprüchen seines Ehrgeizes und seines Selbstbewußtseins, und als er endlich 1826 von dem neuen König Ludwig einen Urlaub nach Italien erhielt, war nicht sein Dichtertalent, aber seine Frische und Gesundheit zerdrückt, war seine Melancholie zur Hypochondrie geworden, gewann alles, was fortan von ihm ausging, einen scharfen, herben, bitteren, ja feindseligen Character oder wiegte sich in einer Selbstüberhebung, die den Eindruck seiner besten Schöpfungen beeinträchtigte und den theils berechtigten Ausstellungen, theils aber auch nichtswürdigen Anfeindungen zahlreicher Gegner nur allzuviele Blößen bot. So starb er, nachdem er neun Jahre lang mit nur kurzen Unterbrechungen in Italien gelebt hatte, verbittert und niemals von der Noth des Lebens völlig befreit, am 5. December 1835 zu Syrakus und fand im Garten der Villa Landolina sein Grab.

Platen gehört nicht zu unseren großen Dichtern, aber er ist von einer Eigenthümlichkeit, die kaum ihres Gleichen hat und ihn zu einem der hervorragendsten Plätze in unserer Poesie und in der Literatur überhaupt erhebt. Es gibt unter unseren Dichtern nicht einen, auf den jenes alte Wort: »Gott schütze mich vor meinen Freunden,« eher anzuwenden wäre, als auf Platen und niemand hat, nach seinem Tode, mehr gelitten durch seine »Freunde« als er. Die Anfeindungen und der Tadel seiner Feinde und Gegner zerfallen vor dem ruhigen und klaren Blick eines unbefangenen Beurtheilers leicht genug in nichts oder schwinden auf ein sehr geringes Maß zusammen. Aber die Lobpreisungen seiner Freunde forderten durch ihre Maßlosigkeit und ihren Unverstand stets von neuem den Widerspruch heraus und veranlaßten auch die billigsten und unbefangensten Beurtheiler lange Zeit zu einer größeren Strenge, als die wirklichen Mängel der Platen'schen Dichtungen sie zu rechtfertigen vermögen, da man sich weniger an die Feststellung dieser, als an die Zurückweisung jener hielt.

Es ist ein schweres, nur durch völliges Nichtverstehen oder Nichtverstehenwollen zu erklärendes Unrecht, Platen die eigentliche Dichternatur und den wahren und vollen Dichterberuf absprechen zu wollen. Gemüth und Empfindung kommen bei ihm allerdings erst sozusagen in zweiter Linie zur Geltung, da sie unter der Herrschaft seines zugleich hohen und strengen Geistes stehen. Allein an Höhe und Reinheit der Begeisterung, an Adel der Gesinnung, an Klarheit und Kraft des Gedankens und an Prägnanz, Gewalt und Schönheit des Ausdrucks, die doch alle gleichfalls einer ächten Dichternatur angehören, ja sie als eine solche bestätigen, weicht Platen wenig Anderen. So kommt er zum eigentlichen, reinen Liede freilich nur selten und ausnahmsweise, und noch seltener gelingt ihm dasselbe, weil er sich nur ausnahmsweise voll Unbefangenheit und Hingebung durch sein Gefühl leiten läßt. Ueberall anderwärts aber in der Lyrik und zum Theil auch Epik, in der Ode und Hymne, im Epigramm, im Gasel und Sonett, in der Ballade und Romanze, steht er als wirklicher Dichter vor uns, der nirgends zur Alltäglichkeit hinabsinkt und demzuweilen das Höchste gelingt. Ein Volks-, oder auch nur volksthümlicher Dichter ist Platen allerdings nicht im Entferntesten, und er ist es auch schon um dessentwillen nicht, weil er von Hause aus eine vornehme und exclusive Natur ist, welche viel mehr auf den reinen Höhen der Kunst als im eigentlichen, beschrankten Leben daheim ist und sich wohl fühlt. Er ist ein Kunst-Dichter im edlen Sinne des Wortes, und er ist dies nicht am wenigsten durch die ausdrücklich verlangte und angestrebte Reinheit der Form und die Klarheit und Frische des Ausdrucks, die uns selten oder nie den Eindruck der Künstelei empfangen lassen. So erinnert diese Form-Reinheit und Vollendung freilich häufig an die Kälte und Glätte des Marmors, aber hin und wieder finden wir doch auch Gedichte, wo Form und Inhalt, Natur und Kunst in vollendeter Harmonie vor uns treten, einander tragen, heben und ergänzen.

Gehen wir seine Gedichte durch, so begegnen wir auch zwischen den Liedern einzelnen duftvollen Blüthen. Lieder wie »Ich bin ein Wassertropfen«; – »Laß tief in dir mich lesen«, – »Geduld, du kleine Knospe«, – »Sich von den Menschen fern zu halten«, – »Süß ist der Schlaf am Morgen« kennzeichnen den ächten Dichter. Noch deutlicher tritt uns dieser aus den viel zu wenig bekannt gewordenen, wundervollen und zugleich gewaltigen »Polenliedern« entgegen, durch welche im Verein mit mehreren, gleichfalls als politisch zu bezeichnenden Oden – z. B. »Kassandra« – er nach und neben Uhland zuerst der politischen Dichtung im neueren Sinne einen Platz in unserer Poesie erobert. Auch zwischen den »Gaselen«, mit denen er, im Anschluß an Goethe und Rückert, zuerst hervortrat, findet sich mehr Gedankenreichthum und auch mehr Tiefe der Empfindung, als man hinter der künstlichen Form zu suchen pflegt; in seinen »Oden«, wo er die antiken Maße mit vollendeter Meisterschaft handhabt, begegnen uns die edelsten Gedanken und Anschauungen, die geläutertste Kunsteinsicht und gelegentlich, wie z. B. in dem Stücke »Der Vesuv im December 1830«, eine reiche Naturmalerei, während in den »Hymnen« die selbsterfundenen Metra nicht selten eher den Eindruck der Kunstfertigkeit als der wirklichen Kunst machen. Dagegen finden wir unter seinen Balladen und Romanzen wieder ächte Perlen, wie z. B. die bekannten »Der Pilgrim vor St. Just«, »Das Grab im Busento«, »Harmosan«, und jene selten erwähnte, aber herrliche:

»In der Nacht, eh Lady Stuart
Durch das Beil den Tod erlitt,
Trat der Geist vom Weibe Bothwells
Vor sie hin mit leisem Tritt.« u. s. w.

In seinen »Sonetten« und zumal in den Venetianischen erhebt Platen sich zur vollendeten Meisterschaft, und wenn auch hin und wieder in ihnen deutlicher als in allen übrigen Dichtungen die Krankhaftigkeit des Dichters, seine Gereiztheit und Verbitterung, seine Selbstüberhebung und Eitelkeit hervortritt, so finden sich doch selbst zwischen diesen einzelne und unter den übrigen zahlreiche, welche als das Vorzüglichste erscheinen, das in dieser Form bei uns gedichtet worden ist. So nennen wir von den Venetianischen nur »Mein Auge ließ das hohe Meer zurück« – »Venedig liegt nur noch im Land der Träume«, – »Es scheint ein langes, ew'ges Ach zu wohnen«, und von den übrigen: »Wem Leben Leiden ist und Leiden Leben«, – »Ich möchte, wenn ich sterbe, wie die lichten – Gestirne schnell und unbewußt erbleichen«, – »Es sehnt sich ewig dieser Geist in's Weite«, u. s. w.

Platens Märchen »Rosensohn« und das epische Gedicht »Die Abassiden« sind ein paar hübsche Stücke. Seine dramatischen Arbeiten, »Der gläserne Pantoffel«, in welchem er die Märchen von Aschenbrödel und Dornröschen nicht ohne Glück vermischte, »Der Schatz des Rampsinit«, wo die alte, durch Herodot bekannte Sage, durchschossen mit allerlei satyrischen Ausfällen auf moderne Zustände, zur Darstellung kommt – ein Stück, welches am deutlichsten Platens eigenen Zusammenhang mit den später so bitter angefeindeten Romantikern und vorzüglich Tieck verräth; die beiden Kleinigkeiten »Berengar« und »Der Thurm mit sieben Pforten«, das ausgeführtere Schauspiel »Treue um Treue«, das anspruchsvollere, aber dramatisch schwache Drama »Die Liga von Cambrai«, interessant, weil es sich streng auf historischem Boden hält und den Dichter von der Romantik befreit zeigt, – alle diese Stücke erheben sich, ob auch im Einzelnen talent- und wirkungsvoll, dennoch nirgends über die Mittelmäßigkeit und stellen Platens Beruf zur Dramatik nirgends außer Zweifel.

Platens Hauptwerke, durch welche er am meisten Eindruck machte, und welche immerhin gewissermaßen als literarische Thaten anzusehen sind, wenn auch der Zweck nicht im Verhältniß zu dem Aufwande von Mitteln steht, sind die beiden polemisch-satirischen, sogenannten Aristophanischen Lustspiele: »Die verhängnißvolle Gabel«, und »Der romantische Oedipus«. In der ersteren vernichtet er die Schicksalstragöden, im anderen versucht er sich mit gleichem Glück gegen die Romantiker und vorzüglich Immermann, daneben aber auch gegen die Unnatur und Geschmacklosigkeit der damaligen Bildung und Literatur überhaupt. Hier ist denn wirklich erreicht, was in Deutschland bis dahin noch nirgends erreicht war, und Platen drückte, wie er es sich selber nachrühmte, in der That »der Sprache sein Gepräge auf«. Die Sprache und die antiken Maße wurden hier mit einer Anmuth, Grazie und Leichtigkeit gehandhabt, welche an Schwierigkeiten und irgend etwas Erlerntes gar nicht denken ließen. Hier war es nicht das oft übermüthige Spiel Rückerts, sondern die bewußte Kraft und der tiefe Ernst des Meisters, dem die Kunst gewissermaßen zur Natur geworden war. Diese Schönheit und Kraft hier und dieser tiefe, heilige Ernst da versöhnen uns sogar mit der Eitelkeit und Selbstüberschätzung des sich selbst rühmenden Dichters und mit der Bitterkeit und Gereiztheit, mit den unerquicklichen Persönlichkeiten, welche im zweiten Stück noch häufiger als im ersten, den scharfen Spott und den edlen Zorn des Kunstrichters ersetzen und ihn aus seiner Höhe sozusagen zwischen das Gewimmel der gezüchtigten Gegner herabziehen. Was jedoch den Werth und die Bedeutung dieser Komödien auf lange hinaus sichern sollte, ist, daß Platen in ihnen den Sündern und Ketzern neben der edlen und kunstvollen Form auch den Geist der ächten und hohen Kunst entgegenhält. Diese Stücke, zumal die auch formell völlig meisterhaften Parabasen – die Ansprachen des Dichters an das Publikum – sind nicht nur ein scharfes und geisterfülltes Spiegelbild der damaligen Literatur- und Kulturzustände, sondern auch gewissermaßen eine Aesthetik in nuce, deren Lehren noch heute, ja für immer alle Beherzigung verdienen und unsern Dichtern zur Richtschnur empfohlen werden müssen.

So haben wir an diesem Dichter, außer anderen Vorzügen, vor allem die Schönheit und Reinheit seiner Sprache und die Meisterschaft zu bewundern, mit der er den Versbau und die Verskunst auszubilden und zu handhaben verstand. Wir müssen ihm stets dankbar bleiben, daß er in jener Zeit der Sprach- und Versverwilderung und Verliederlichung ein Muster aufstellte, das bis auf den heutigen Tag an Geltung und Werth noch nichts verloren hat. Denn ob auch selbst Platens Formvollendung seitdem in einzelnen Fällen von Einzelnen noch überboten sein mag, so spricht uns doch der Geist, der bei ihm diese Form erschuf, beseelte und – meistens wenigstens auch mit dem Inhalt untrennbar verschmolz, aus derartigen Versuchen der Neueren nur gar zu selten an. Wo Platens Beispiel und seine Meisterschaft ohne diesen seinen Geist nachgeahmt und angestrebt wird, können sie nur zu den wenig erfreulichen Folgen führen, die wir grade in unserer neueren und neusten Poesie zu beobachten finden, d. h. zu einem Formalismus und einer Ueberschätzung der Technik, welche von der wahren Kunst genau ebenso weit entfernt sind, wie die Nachläßigkeit und Mißhandlung, unter welcher die Form zu anderen Zeiten zu leiden hatte.

Von Platen gehen wir zu den zahlreichen Dramatikern über, welche sich gegen die Verzerrungen der Schicksalstragöden und die Nebelhaftigkeit und Formlosigkeit der Romantiker wehrend, und gewillt höhere Ziele zu verfolgen, als Epigonen Schillers und etwa als Jambentragöden zu bezeichnen sind. Aber auch zwischen ihnen erhebt sich nicht einer zu wirklicher dichterischer Höhe und wir müssen uns auch hier wieder mit der Anführung derjenigen begnügen, welche sich zum wenigsten über dem Niveau der Alltäglichkeit zu erhalten vermochten oder sich beim Publikum und der Kritik eines gewissen Ansehens zu erfreuen hatten.

So möge hier als der Erste Ernst Raupach, 1781-1852, stehen, ein Dramatiker von erschreckender Fruchtbarkeit und übermenschlicher, nur noch als wirklich industriell zu bezeichnender rastloser Thätigkeit, der Dramatiker der preußischen Bureaukratie, der langjährige tyrannische Beherrscher der Berliner Hofbühne, ohne irgend welches Verständniß für die moderne, freiere Zeit- und Lebensbewegung, vielmehr der erbitterte Feind von allem, was für Fortschritt gelten konnte. Er hat sich in allen denkbaren Richtungen versucht, schillerisirend, goethisirend, shakespearisirend, in die Romantik hineinpfuschend und in das klassische Alterthum, und mit diversen Streifzügen das politische und sociale, wir wissen nicht genau, ob auch religiöse Gebiet beehrend. »Die Fürsten Chavansky«, »Isidor und Olga«, »Der Müller und sein Kind«, »Tasso's Tod«, »Der Nibelungenhort«, »Corona von Saluzzo«, »Das Märchen ein Traum«, »Timoleon«, »Themisto«, sieben oder acht Bände voll »Hohenstaufentragödien«, u. s. w. – das sind nur so ein paar Titel aus dieser endlosen Reihe. Besser, wenigstens häufig nicht ohne Laune und, freilich oft geschraubten, Witz sind einzelne seiner gleichfalls zahlreichen Lustspiele: »Der versiegelte Bürgermeister«, »Laßt die Todten ruhen«, »Der geraubte Kuß«, »Die Schleichhändler« u. s. w.

Von bedeutender Sprachgewandtheit zeugen die, im Uebrigen schwachen und an viel hohlem Pathos leidenden Stücke von Eduard von Schenk, 1788-1841; »Belisar« und »Die Krone von Cypern«, hielten sich sogar lange auf dem Theater. – Von größerem Geschmack und Talent, bei der gleichen sprachlichen Gewandtheit ist der, dem Vorigen engbefreundete Michael Beer, 1800-1833, ein Bruder des berühmten Componisten. Seine Tragödie »Der Paria«, und das Trauerspiel »Struensee«, sprechen für seine immerhin nicht geringe dichterische Begabung. – Weniger bühnengerecht und ohne dramatisches Leben, aber großartiger sind »Alexander und Darius«, und »Die Babylonier in Jerusalem«, von Friedrich von Uechtritz, 1800-1875, der sich später auch als Erzähler versuchte, z. B. in dem umfangreichen Roman »Albrecht Holm«. Endlich mögen hier stehen: Josef Freiherr von Aussenberg, 1798-1857, der mehr als zwanzig Bände Trauerspiele zusammenschrieb, von denen freilich das von ihm selbst als »Epos in dramatischer Form« bezeichnete »Alhambra« allein drei dicke Theile füllt; G. A. F. Freiherr v. Maltitz, 1794-1837, mit allerhand Trauerspielen und Dramen – »Hans Kohlhas«, »Der alte Student« u. s. w., und F. F. A. v. Maltitz, 1795 -?, von dem es unter Gedichten, Romanen, Schauspielen u. s. w. auch eine Fortsetzung des Schiller'schen »Demetrius« gibt.

Der Schauspiel-, Lustspiel- und Possendichter gibt es eine Legion. Es finden sich unter ihnen manche angenehme und erfreuliche, wirkliche Talente, aber ohne daß sich im Grunde auch hier wieder eines voll Kraft und Glanz über die anderen erhöbe. Als die bekannteren führen wir an: die Breslauer Karl Sessa 1786-1813(?), mit seiner berühmten und berüchtigten Posse, »Unser Verkehr«, und Karl Schall; die Berliner Louis Angely, Karl Blum, Karl Töpfer, Louis Schneider, Alexander Cosmar: Albini, Lebrun, Herzenskron, A. F. von Steigentesch, Costenoble, F. v. Holbein, Frau von Weißenthurn, v. Kurländer, die liebenswürdigen und heiteren, witzigen Wiener Bäuerle und Castelli, dessen Parodie der Schicksalstragödien, »Der Schicksalsstrumpf«, auch heut noch genannt zu werden verdient. Er hat auch hoch interessante und liebenswürdige »Memoiren meines Lebens« veröffentlicht. – Wir können uns hierbei die Bemerkung nicht versagen, daß die österreichischen Dichter dieser Zeit, ob sie auch, abgesehen von Grillparzer und Raimund, kein großes Talent verriethen, noch von hervorragender Bedeutung wurden, im allgemeinen um vieles gesunder und natürlicher erscheinen als ihre Collegen im übrigen Deutschland, zum mindesten in bei weitem nicht so hohen Grade an der Krankhaftigkeit, Verzerrtheit und all den übrigen Schäden litten. Man möchte glauben, daß in Oesterreich, wo die Theilnahme an dem großen deutschen Literaturleben eine sehr geringe und von dem gewaltigen patriotischen Aufschwung von anno 1813 kaum etwas zu spüren gewesen war, auch der jetzige sociale, politische und geistige Rückschlag von einer um vieles schwächeren Wirkung sein mußte.

Ferdinand Raimund, der 1791 zu Wien geboren wurde und sich daselbst, krank und schwermüthig, 1836 durch einen Schuß das Leben nahm, muß, wenn auch nur flüchtig, doch besonders genannt werden. Seine zugleich in der phantastischen Welt der Wunder und in der nüchternen Wirklichkeit sich bewegenden Stücke – »Der Barometermacher«, »Der Verschwender«, »Der Bauer als Millionär«, »Der Alpenkönig und der Menschenfeind« u. s. w. – sind voll eines ganz eigenen Humors und der ächtesten Poesie, voll Wärme und Empfindung, voll glänzender Phantasie und psychologischer Vertiefung und von einer stets sittlichen Grundlage. So waren sie von der tiefsten Wirkung und verdienten den außerordentlichen Beifall, mit dem sie nicht bloß in Wien, sondern in ganz Deutschland aufgenommen wurden. – Der sich in der gleichen Gattung versuchende Johann Nestroy, 1802-1862, erhebt sich keineswegs zu der gleichen Höhe. Seine Stücke »Lumpacivagabundus«, »Zur ebenen Erde und im ersten Stock« u. s. w., sind nicht nur überhaupt roher, sondern entbehren auch meistens jenes sittlichen Grundzugs und streifen häufig hart an das Genre der Lokalposse.

Karl von Holtei dagegen, geboren zu Breslau 1797 und noch jetzt lebend, verdient um seiner Sing- und Liederspiele willen die herzlichste Anerkennung: wer hat sich selbst von den Jetztlebenden nicht einmal an diesen Stücken und Stücklein: »Der alte Feldherr«, »Lenore«, »Eckensteher Nante«, »Die Wiener in Berlin« u. s. w. u. s. w. gefreut und ihre fast alle zu Volksliedern gewordenen, neckischen oder ergreifenden Gesänge nachgesummt? Holtei besitzt kein großes, aber ungemein liebenswürdiges, heiteres, leichtes, ja gewissermassen improvisatorisches Talent, das wo der Dichter ihm nicht all zu Schweres zumuthet, niemals versagt. Seine ernsteren Dramen sind verschollen, unter seinen Romanen aber finden sich mehrere von wirklichem und nicht geringem Werth, und werden wir ihn daher später noch einmal und genauer zu betrachten haben.

Endlich müssen wir noch einer, allerdings eigenartigen, aber nichts weniger als erquicklichen Erscheinung gedenken, des sogenannten Humoristen und Wortwitzlers Moritz Saphir, 1794-1858, eines Oesterreichers, der als eine Art von privilegirtem Possenreißer, Lustig- und zugleich Skandalmacher, mit seiner Pritsche durch das Literaturgewimmel fährt, den Einen ärgert, den Andern zu lachen macht, den Dritten gar zu rühren versucht und, bei Lichte besehen, jedermann durch seine gesinnungs- und gedankenlose, ungezogene Schwadronage zurückschreckt. Unter solchen Umständen kann man auch zu seinen ernsteren Producten kein Herz fassen. Von seinen Gedichten (»Wilde Rosen«) dürfte das auf den Herzog von Reichstadt, »Im Garten zu Schönbronnen«, eines der bekanntesten und auch besten sein.

46.

Und so treten wir zum Schluß dieses Abschnitts nun noch einmal an Goethe heran – um von ihm Abschied zu nehmen. Die Vergötterer und Enthusiasten, welche an und in diesem außerordentlichen Menschen dem Irdischen kaum irgend eine Stelle einräumen wollen, haben es wohl behauptet, daß das Alter weder in leiblichem noch geistigem Sinne jemals Macht über ihn gewonnen habe. Hier vermögen wir ihnen nicht zuzustimmen. Denn wie der Greis allmälig an mancherlei Gebrechen des Alters zu leiden begann, obschon in viel geringerem Grade, als es den meisten Menschen auferlegt ist, und bis zum Tode im Besitz einer Lebenskraft, die den schwersten Stößen trotzte, und gehoben von der Kraft seines Geistes sich immer noch wieder aufzuraffen vermochte: so fingen auch jene Spuren eines gewissen Nachlassens, denen wir schon früher begegneten, nach und nach an immer häufiger hervorzutreten. Die Reflexion drängte sich mehr und mehr hervor, die Lehrlust erging sich immer behaglicher, die reiche Lebenserfahrung und das alle Gebiete umfassende Wissen ließen sich stets häufiger vernehmen. Dazu gesellte sich eine steigende Lust am Symbolischen und Geheimnißvollen, ein Trieb mit den »Freunden« Versteckens zu spielen, die leider oft genug dahin führte, daß der alte Herr sich endlich schier selber nicht mehr wieder finden konnte; und während vordem Empfindungen und Gedanken stets den natürlichsten und ungezwungensten Ausdruck gesunden hatten, wurden diese letzteren mehr und mehr zu einem Producte der sorgfältigsten Ueberlegung und Erwägung, d. h. der Curialstil der Goethe'schen Alters-Prosa spricht uns gar nicht selten auch aus seiner Altersdichtung an.

Aber unsere Leser dürfen das Gesagte nicht mißverstehen. Trotz eines solchen Nachlassens blieb dieser Geist noch immer von einer Größe und Höhe, von einer Kraft und Klarheit, welche über das gewöhnliche Maß weit hinausreichten, so daß, was uns an ihm allenfalls als ein Zeichen des Alters erscheint, bei jedem Anderen noch für die unverminderte seltene Kraft und Frische zeugen, ja als höchste Blüthe des Geistes zu erachten sein würde.

Die Aufnahmsfähigkeit seines Geistes und seine Thätigkeit lassen nicht nach; sie steigern sich vielmehr von Jahr zu Jahr. Es gibt kaum ein Gebiet des menschlichen Strebens und Wissens, das auch er sich nicht zugänglich zu machen sucht; allen neuen Erscheinungen, allen Forschungen, allen neuen Strömungen und Fragen folgt er mit der regsten Theilnahme und bemächtigt sich ihrer und betheiligt sich an ihnen mit der tiefsten Einsicht. Naturwissenschaften und Kunststudien, der Electro-Magnetismus, die neuen Entdeckungen der Chemiker, alles beschäftigt ihn, alles wird mit Gründlichkeit durchgehandelt, und die Literatur aller Zeiten und Völker bildet sein tägliches Studium. Die Perser, Inder und Chinesen, die Serben, die Neugriechen, sie stehen ihm alle gleich nahe; hier ist es Camoens und Cervantes, dort sind es die französischen Romantiker; nun Walter Scott und Byron, dann Manzoni oder Esaias Tegnér, welche an die Reihe kommen, und die deutsche Literatur dieser Zeit bleibt stets unter seinen Augen und kann, mit Ausnahme sehr seltener Fälle, immer auf sein Verständniß, auf sein in aller Strenge gerechtes und billiges Urtheil rechnen.

Kurz, wenn man dies alles überschaut, so wird man mit immer größerem Staunen und immer höherer Bewunderung erfüllt und muß sich mit immer herzlicherer und reinerer Verehrung vor dem großen Alten beugen, der sich in seiner zunehmenden Vereinsamung und in der um ihn her sich ausbreitenden Verödung noch immer so frisch, regsam und so hoch zu erhalten verstand. Es fing an zu Weimar traurig auszusehen. Der frühere glänzende Kreis war vollständig ausgestorben bis auf den einzigen, zu Jena hausenden, uralten Knebel, und der Ersatz war ein sehr unbedeutender. Die Nächsten des alten Meisters, seine Getreuen und Berather, die Mitredacteure und Herausgeber seiner Werke waren wackere, aber nüchterne Leute, wie z. B. F. W. Riemer, 1774-1845, vor Zeiten Lehrer seines Sohnes, Reisebegleiter und gewissermaßen Privatsecretär, für uns hauptsächlich um seines Buches »Mittheilungen über Goethe«, willen von Interesse, das indessen nur mit größter Vorsicht zu benützen ist, oder wie J. P. Eckermann, 1792-1854, die bescheidene, treue Seele, dessen erst neuerdings richtig gewürdigten »Gespräche mit Goethe« sich dem Werthvollsten anschließen, was über den Altmeister geschrieben worden ist.

Von seinem eigenen dichterischen Schaffen während dieser letzteren Jahre haben wir nur wenig zu sagen. Der Fortsetzungen und Nachträge zu seiner Biographie haben wir bereits oben gedacht. Neben ihnen begegnen uns als die beiden Hauptwerke »Wilhelm Meisters Wanderjahre«, erschienen zuerst 1821, und der zweite, kurz vor seinem Tode vollendete Theil des »Faust«, welcher erst unter den übrigen nachgelassenen Schriften zum Abdruck gelangte. Ueber beide Werke enthalten wir uns jedes eindringenderen Urtheils, weil wir, bescheidentlich gesagt, trotz aller Commentare und Interpretationen, selber weder in das eine, noch in das andere einzudringen vermochten. Daß es keinem von ihnen an den schönsten und erhabensten Einzelheiten fehlt und daß sich Partien in ihnen finden, die ganz und gar Goethe's würdig sind, wird jedermann mit Freuden zugestehen dürfen, während die »Wanderjahre« so gut wie dieser »Faust« als Ganzes betrachtet, kaum irgend einem Unbefangenen genug thun dürften. In Ansehung jener geheimen Größe aber, und der geheimen Schönheiten, von welchen uns die Commentatoren und Interpreten erzählen, müssen wir an dem alten Satze festhalten, daß die Größe und Schönheit, überhaupt der Werth eines Dichterwerks, welcher, um uns sichtbar und verständlich zu werden, erst einer solchen Interpretation bedarf, auf äußerst schwachen Füßen steht, ja mit vollstem Recht bezweifelt werden darf.

Von den kleinen Erzählungen und Novellen, welche in die »Wanderjahre« auf das willkürlichste und zusammenhangsloseste eingefügt sind, haben wir einzelne – »Der Mann von fünfzig Jahren«, »Die neue Melusine«, »Die pilgernde Thörin« u. s. w. – schon früher erwähnt. – Die neu hinzugekommenen, »Das nußbraune Mädchen«, »Wo steckt der Verräther«, stehen nichts weniger als hoch, und eine dritte »Nicht zu weit«, wird uns sogar als Fragment vorgelegt. – Hier schließt sich die in den Werken selbstständig veröffentlichte »Novelle«, die sogenannte »Löwennovelle«, an, welche, wie wir schon früher erwähnten, weit über ihren Werth hinaus gefeiert worden ist.

Der Kuriosität halber wollen wir hier erwähnen, daß, wie Goethe's erster Prosadichtung, dem »Werther«, die Parodie Nicolai's folgte, auch das Letzte, die »Wanderjahre«, eine solche von einem Pfarrer Pustkuchen hervorrief, ein ernstgemeintes, aber trauriges Product.

Um vieles erfreulicher und erquickender ist und bleibt auch zu dieser Zeit Goethe's Lyrik. Wir haben es schon früher gesagt: wo Goethe's innerste und eigenste Natur zum Durchbruch und zur Aeußerung gelangte und er nichts wollte und nichts gab, als sich selbst, war er stets der Gleiche und ließ sich keine Schwäche oder Grille des Alters, kein Vorgreifen, keine Künstelei spüren. Wo wir die noch immer zahlreichen Lieder und Gedichte dieser letzten Zeit aufschlagen, – fast überall finden wir den großen Dichter wieder, und eine Dichtung, wie jene berühmte Marienbader »Elegie« –, »Was soll ich nun vom Wiedersehen hoffen?« –, welche er im Jahre 1823 nach dem Scheiden von einer unendlich Geliebten, einem Fräulein von Levezow, schrieb, ist seiner besten Zeit würdig.

In der Mittagsstunde des 22. März 1832 verließ dieser wunderbare Geist die Erde. Es ging eine tiefe Trauerklage durch Deutschland, durch die ganze gebildete Welt, denn zu Goethe's Größe hatten alle bewundernd aufgestaunt, vor ihm sich alle in feiernder Verehrung gebeugt. Und wo man während seines Lebens und Schaffens ihm noch fremd geblieben, nun wußte man wohl, was man an ihm gehabt und was man an ihm verloren.

»Der Mann entzieht sich uns,« sprach Schelling in der Sitzung der Münchener Akademie am 28. März, »der in allen inneren und äußeren Verwirrungen wie eine mächtige Säule hervorragte, an der Viele sich aufrichteten, wie ein Pharus, der alle Wege des Geistes beleuchtete; der die Herrschaft, welche er über die Geister ausübte, stets nur der Wahrheit und dem in sich selbst gefundenen Maß verdanken wollte; in dessen Geist und, wie ich hinzusetzen darf, in dessen Herzen Deutschland für alles, wovon es in Kunst oder Wissenschaft, in der Poesie oder im Leben bewegt wurde, das Urtheil väterlicher Weisheit, eine letzte versöhnende Entscheidung zu finden sicher war. Deutschland war nicht verwaist, nicht verarmt, es war in aller Schwäche und inneren Zerrüttung groß, reich und mächtig von Geist, so lange – Goethe lebte.«

Und am 1. Mai spricht Wilhelm von Humboldt in Berlin: »Zu den schönsten Eigenthümlichkeiten Goethe's gehört sein Bemühen, auf die Geistesthätigkeit seiner Zeitgenossen einzuwirken, ja man kann mit gleicher Wahrheit hinzusetzen, daß er ohne alle Absicht, gleichsam unbewußt, bloß durch sein Dasein und sein Wirken an sich den mächtigen Einfluß darauf ausübte, der ihn vorzugsweise auszeichnet. Es ist dies noch geschieden von seinem geistigen Schaffen als Denker und Dichter, – es liegt in seiner großen und einzigen Persönlichkeit. – Es ist uns, als wäre uns bloß dadurch, daß er nicht mehr unter uns weilt, etwas in unseren innersten Gedanken und Empfindungen und grade in ihrer erhebendsten Verknüpfung genommen. – Er drückte dem deutschen wissenschaftlichen und künstlerischen Geist, durch die lange Dauer seines Lebens fortwirkend, ein neues, ewig an ihn erinnerndes Gepräge auf.«

So war es vollbracht – nicht vorbei – denn: »Vorbei – ein dummes Wort!« sagt Mephistopheles, und am allerwenigsten läßt es sich auf das anwenden, was Goethe gelebt, gewirkt und gedichtet, er, dem jenes stolze Wort des sterbenden Faust gebührt:

»Es kann die Spur von meinen Lebenstagen
Nicht in Aeonen untergehen!«

Aber sein Leben, Wirken und Dichten war zum Abschluß gelangt und damit die große Epoche, die wir als das »Zeitalter Goethe's« bezeichnen müssen, zu Ende. Das Leben, die Kultur und Literatur lenkten ungeduldig in neue Bahnen ein.

 


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