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In der Einöde

Wieder wehten Frühlingslüfte über die Erde. In rauschenden Bergwassern floß der schmelzende Schnee ab, schüchtern, fast mißtrauisch lugten die ersten Alpenpflanzen nach der Sonne aus, ob's ihr wohl ernst sei mit ihrem Scheinen und man sich weiter herauswagen dürfe? Hier und da lagen noch einzelne Schneeflecke herum wie beim Abbetten vergessene Leintücher. In dem immergrünen Zirben- und Fichtenhain lüfteten die Vögel ihre Flügel, hielten zwitschernde Beratungen und stimmten die kleinen Kehlen zum allgemeinen Jubelgesang.

Von den Fernern donnerten die Lawinen in die Täler nieder, und unter den furchtbaren, beweglich gewordenen Massen knirschten Mauer- und Balkenwerk, Baum und Strauch zusammen. Es war ein Drängen und Ringen, ein Donnern und Säuseln – ein Drohen und Locken, ein Bangen und Hoffen in Höhen und Tiefen, und der ewig wagende vorwitzige Mensch machte sich auch auf aus der langen Winterruhe, streckte die Fühler aus und begann mit dem Alpstock die Berge auszutasten, wo in den lockeren Schnee der Fuß zu setzen sei.

Nur Rofen lag noch in die Schatten seiner engen, himmelhohen Wände gehüllt wie ein Langschläfer unter der weißen Decke. Vor der Tür des Rofener Hofs stand Leander und fütterte Hansel mit einer großen Maus, die er für ihn gefangen. Hansel war Leanders Liebling geworden von der Stunde an, wo es herauskam, daß er Wally gehörte, und es ging dem Tier gar gut bei den Rofenern.

Da kam Benedikt mit dem Bergstock nach Hause. Er hatte den Weg auf Murzoll ausgekundschaftet und mehrmals zwischen Leben und Tod geschwebt. Sein Blick war unstet, sein ganzes Wesen aufgeregt und finster.

»Nun?« fragte Leander mit ängstlicher Spannung – »wie ist's?«

»Der Weg ist zur Not gehbar; wenn ich sie führ, kann sie's riskieren.«

»Geh, Benedikt, tu das nit, laß sie nit da 'nauf – i bitt dich drum.«

»Was die will – das will sie!« sagte Benedikt finster.

»Sag ihr, der Berg sei nit gehbar, dann laßt sie's von selber bleiben.«

»Zu was die Lügerei! Sie ändert ihren Sinn doch nit, wenn sie noch so lang hierbleibt, und du hast so nix zu hoffen, sie hat dir's oft g'nug g'sagt. So a Gelbschnabel taugt nit für so a Madel wie die Wally! Jetzt gib dich z'frieden.« Er ging ins Haus. Dem Leander traten die Tränen in die Augen vor Schmerz.

Wally kam mit der Heugabel aus dem Stall Benedikt entgegen.

»Wally«, sagte der, »wenn's sein muß, so will i dich 'naufführen, i hab den Weg ausg'funden, aber g'fährlich is's noch immer.«

»I dank schön, Benedikt«, sagte Wally, »so woll'n wir morgen gehn.« Sie hängte die Heugabel auf und ging in die Küche. Benedikt stampfte mit dem Fuß und stellte den Alpstock in die Ecke. Eine Weile besann er sich, dann ließ es ihn nicht ruhen – er folgte ihr.

Wally hatte den Rock aufgeschürzt und wollte die Küche scheuern.

»Wally – laß des gehn, i möcht mit dir reden.«

»I kann nit, Benedikt, schau, i muß die Kuchel putzen. Wann i morgen fortgeh, muß 's ganze Haus sauber sein. I will kei Schlamperei z'rucklassen.«

»Du hast ja mehr g'arbeit't bei uns als 'gessen und 'trunken. Laß es jetzt gut sein, 's Haus is doch sauber – und wann du fort bist – ist alles eins.« Er kaute an einem Stück Holz und spuckte dann die abgebissenen Splitter aus. Wally sah die furchtbare Aufregung, in der er war. Sie hielt mit der Arbeit inne, um ihn anzuhören.

»Wally«, sagte er, »überleg dir's doch noch amal, ob d' nit ein'n von uns nehme willst. Schau, du hätt'st 's doch nit nötig, daß d' so stolz bist, du bist so im Verschrei, daß scho a große Lieb dazu g'hört, bis einer dich nimmt.«

Wally nickte vollkommen einverstanden mit dem Kopf.

»No, siehst, wir Rofener, wir sind Leut, die überall anklopfen dürfen, wo jed's Madel froh is, wenn's so ein kriegt. Du hast die Wahl zwischen zwei von uns Brüdern – und schlägst so ein Glück aus! Schau, Wally, das könnt dich doch amal reuen!«

»Benedikt, du meinst's gut, und i hab dich und den Leander so gern, wie ma nur einen Menschen gern haben kann, aber nit zum Heiraten. Und i heirat halt kein', den i nit als Mann gern haben könnt, und daß du's nur weißt, i hab amol ein' g'sehn, den bring i nit aus 'm Kopf, und solang i den im Kopf hab, kann i kein' andern nehme.«

Benedikt wurde bleich.

»Schau, i sag dir des, damit d' endlich Ruah kriegst und dich nit weiter plagst mit Gedanken an mich. Glaub's nur, Benedikt, i woaß, was d' für mich 'tan hast, du und ihr alle. Ihr habt mich vom Tod errettet, habt mich g'schützt, wie mich der Vater mit G'walt hat holen lassen wolln, und 's war gar schön, wie du mich und dei Hausrecht verteidigt hast. I wär ja a glückliches Madel, wenn i dich liebhab'n und den andern vergessen könnt – i bin dir g'wiß dankbar, und wann's dir was helfen könnt, ließ i's Leben für dich – aber sag's selber, was hätt'st an 'ner Frau, die 'n andern gern hat? Des war wahrhaftig a schlechter Dank für 'n Mann, wie du bist!«

»Ja!« sagte Benedikt heiser und wischte sich die Stirn.

»Gelt, jetzt siehst ein, daß i weg muaß, daß es so nit fortgehen kann?«

»Ja!« sagte er wieder und ging aus der Küche.

Wally sah ihm nach, wie er so bewegt dahinschritt, der brave, stolze Mann, der ihr alles geboten, was – wie er in seiner ungeschlachten Art selbst gesagt – jedes andere Mädel glücklich gemacht hätte. Und sie begriff sich selbst nicht, daß sie den Mann, der so viel für sie getan, nicht lieber haben konnte als den Fremden, der nicht einmal an sie dachte. Aber es war nun doch einmal so! Gegen den Joseph kam eben doch keiner auf an Kraft und Herrlichkeit! Und sie sah ihn immer vor sich, wie er das blutige Fell des Bären von der Schulter warf und erzählte, wie er mit dem Untier gerungen, und wie sie ihn alle umstanden und bewunderten, ihn, den Einzigen, den Schönen, den Gewaltigen. Und wie er ihren Vater bezwungen, den starken Mann, der ihr bis dahin immer so unbezwinglich und schrecklich erschienen war. Und wie er dann so gut, so lieb mit ihm geredet, trotz des Vaters Feindseligkeit. Nein, gegen den Joseph kam keiner auf. Sie ging wieder an ihre Arbeit. »Wenn's der Joseph wüßt, was i alles für ihn hingeb!« dachte sie und schaute zu, wie der Benedikt draußen vor dem Fenster mit rotem Kopf in den Leander hineinredete und wie Leander weinte.

Der alte Stromminger hatte anfangs getobt und geflucht gegen sein aufrührerisches Kind, und selbst dem guten Kurat von Heiligkreuz war es nicht gelungen, ihn zu besänftigen. Als es endlich ruchbar ward, daß sich Wally auf Rofen verborgen halte, schickte er Leute, sie zu holen. Aber die »Klötze von Rofen« schob keiner so leicht auf ihrem eigenen Grund und Boden vom Fleck, und sie verteidigten ritterlich den altgeheiligten Burgfrieden der Rofener Höfe.

Als aber Wally sah, daß die Brüder eine Leidenschaft für sie faßten, da vertraute sie sich dem ruhigen, besonnenen Nikodemus an, und der sah ein, was hier not tat. Er ging zum Stromminger, und seiner klugen Beredsamkeit gelang es, ihn so weit zu bringen, daß er endlich den Gedanken, Wally einzusperren, aufgab und sich damit begnügte, sie für immer zu verbannen.

Im Sommer sollte sie wieder auf Murzoll das Vieh hüten, »weil das doch das einzige sei, wozu man sie brauchen könne«. Im Winter möge sie sich einen Dienst suchen, wo sie nur wolle, nur dürfe sie nicht in die Heimat zurück.

Als Nikodem mit diesem Bescheid zurückkam, bestand sie darauf, augenblicklich zu gehen und auf dem Ferner die Herde zu erwarten, und nur der Machtspruch Nikodems brachte sie dahin, daß sie wenigstens wartete, bis Benedikt zuvor untersucht, ob der Berg schon gehbar sei.

So kam die Stunde, wo Wally abermals vor den Frühlingslüften herfliehen mußte auf die Berge, in die Einöde. Es war ein schwerer Abschied, den sie von den Brüdern und der guten Mariann nahm. Sie waren ihr lieb geworden, die soviel an ihr getan.

Benedikt ging mit ihr hinauf, das ließ er sich nicht nehmen. »Du warst uns solang anvertraut – wir wollen dich wenigstens mit heiler Haut wieder abliefern. Was dann mit dir g'schieht, dös könne wir leider Gottes nit hindern!«

Es war ein Schreckensweg, den sie mitten durch die Frühlingsumwälzung zu machen hatten, und Benedikt, weit und breit als der kühnste und sicherste Führer bekannt, sagte selbst, so schlimm sei noch keine Bergfahrt gewesen. Sie sprachen wenig, denn sie waren in einem beständigen atemlosen Ringen ums Leben und konnten nicht rechts noch links schauen. Es war schwere Arbeit. Endlich, nachdem sie einen halben Tag mit Schnee und Eis und Geklüft gekämpft, waren sie oben.

Da stand sie noch, die alte Hütte, etwas zerfallener als vorher, und Lasten von Schnee lagen auf dem Dach und rings um sie her.

»Da willst d' also hausen – da! Lieber als bei uns unten im sichern Heimwesen als Rofenbäuerin a recht's Leben z'führen und a ang'sehene Frau z' wern?!«

»I kann nit anders, Benedikt!« sagte Wally leise und blickte schwermütig auf die verschneite unwirtliche Hütte hin. »I glaub, die Berggeister haben mich in Bann 'tan, daß i immer wieder zu ihnen z'ruck muß und im Tal nimmer heimisch werden kann!«

»Man könnt's fast glauben! 's is was Eigen's mit dir. D' bist ganz anders als andere Madeln, und ma muß dich auch ganz anders liebhabn, viel, viel lieber, und doch is 's, als g'hörtest nit zu uns, und als trieb' dich a böser Geist um!«

Er warf den Packen mit Lebensmitteln, die er für Wally mit hatte, hin und begann ihr den Schnee von der Tür zu schaffen, daß sie in die Hütte konnte.

»Benedikt«, sagte Wally leise, als könnten sie's hören, »glaubst d' an die seligen Fräul'n?«

Benedikt schaute nachdenklich vor sich nieder und zuckte die Achseln. »Was kann ma da sagen! I hab noch keine g'sehn – aber 's gibt Leut, die lassen sich drauf totschlagen!«

»I hab au nie dran glaubt – aber wie i vorig's Jahr da aufi komme bin, da hab i 'n Traum g'habt, so lebendig, daß ma fast meine könnt, 's wär gar kei Traum g'west – und seitdem muß i immer bei allem, was mir g'schiecht, an die seligen Fräul'n denken.«

»Was war denn dös für a Traum?«

»Weißt, der, den i gern hab, is au a Gamsjager, und wegen ihm hat mich ja der Vater da aufi g'schickt vorig's Jahr, und in der ersten Stund, wo i oben war, traumt's mir, die seligen Fräul'n und der Murzoll täten mir drohen, wann i von dem Bursch nit ließ, so stürzten's mich in'n Abgrund!« Und sie erzählte Benedikt ausführlich den ganzen Traum. Der schüttelte den Kopf und wurde ganz schwermütig: »Wally, an deiner Stell hätt i Angst!«

Wally warf den Kopf zurück: » Ach was, du schießt ja au Gemsen, trotz der seligen Fräul'n. Ma muß sich nur nit schrecken lassen. I bin seitdem scho über viel Abgründ wegg'sprunge, i habs wohl g'spürt, daß mich was 'nunterreißen will, aber i hab mich festg'halten und bin Meister geblieben.«

Sie hob ihre starken braunen Arme herausfordernd empor: »Solang i die zwei Arm hab, brauch i mich vor nix z'fürchten!«

Dem Benedikt gefiel das nicht. Er hatte auf seinen einsamen Wanderungen über den furchtbaren Similaun und Wildspitzgletscher einen Hang zum Grübeln angenommen und dachte manchem tiefer nach als andere Menschen: »Gib acht, Wally! Wer zu hoch 'naus will, der stoßt leicht mit 'm Kopf oben an, und das leiden die da droben nit und stoßen ihn 'runter!«

Sie schwieg.

»'s is z'frua, daß du da 'rauf gehst –« begann er wieder, »das haltet ja kei Mensch aus!«

»Oh, wie i abi bin vorigen Herbst, war's noch ärger«, meinte Wally.

Sie traten in die Hütte.

»Wem nit z'raten is, dem is nit z'helfen. Aber wenn dir's der amal nit lohnt, was du alles für ihn durchmachst, dann verdient er, daß ma ihm 'n Kragen umdreht!«

»Wenn er's wüßt, er tät's mir g'wiß lohne!« sagte Wally und blickte errötend vor sich nieder.

»Er weiß es nit amal?« fragte Benedikt erstaunt.

»Nein, er kennt mich kaum!«

»No, nachher verzeih dir's Gott, daß du dein Herz so an'n fremden Menschen hängst – und die, die dich liebhaben und dich g'hegt und pflegt haben, von dir stoßt! Weißt, des kann kei' Lieb sein, des is Eigensinn!«

Wally schwieg. Auch Benedikt sagte nichts mehr. Er tat, wie das Jahr zuvor der alte Klettenmaier getan hatte. Er richtete Wally, so gut es ging, die Hütte ein und trug ihr Holz im Vorrat. Dann reichte er ihr die Hand zum Abschied: »B'hüat dich Gott da droben! Und wann i dir noch was sagen dürft, so wär's dös: wach über dich und bet, daß d' nit böse Mächt verfällst!«

Wally zog es das Herz zusammen, als sein Auge so tieftraurig auf ihr ruhte. Ihr war wirklich, als fühlte sie die bösen Mächte um sich herwallen, und fast unbewußt hielt sie den Beschützer, der bisher so treu über sie gewacht, bei der Hand und geleitete ihn ein Stück Weges, als fürchte sie sich, allein zu bleiben.

»Kehr jetzt um! Da wird der Weg schlecht; i dank dir fürs G'leit!« sagte Benedikt und trennte sich von ihr.

»So leb wohl und komm guat hoam!« rief ihm Wally nach.

Er sah sich nicht mehr um. Sie kehrte nach der Hütte zurück und war wieder allein mit ihrem Geier und ihren Berggeistern. – Aber die Geister schienen versöhnt. Freundlich lächelte Murzoll im Frühlingssonnenglanz dem wiedergekehrten Kind entgegen. Und Wally fand sich in der gewaltigen Umgebung nicht mehr fremd wie früher. Jede Falte auf der Stirn Murzolls war ihr vertraut. Sie kannte jetzt sein Lächeln und sein Grollen, es schreckte sie nicht mehr, wenn düstere Wolken seine Stirn umlagerten, oder wenn er im Zorn Lawinen in die Tiefe hinabwälzte, sie fühlte sich geborgen an seiner rauhen Brust, und sein Sturmesatem wehte ihr die Last vom Herzen, die sie wieder aus der Tiefe mit heraufgebracht. Denn im Sturm liegt eine heilende Kraft, er kühlt das Blut, er trägt die Seele auf seinen rauschenden Schwingen weit fort über alle die Steine und Dornen, zwischen denen sie sich ängstlich flatternd verfangen. Wenn ein Kind sich weh getan und weint, so blasen wir ihm die schlimme Stelle, sprechen das »Heile, heile« dazu, und das Kind lächelt uns wieder an. So blies Vater Murzoll dem wiedergekehrten Kinde den dumpfen Schmerz weg, der es bedrückte, und sie blickte leuchtenden Auges und gehobenen Herzens in die weite Welt hinaus und – hoffte und harrte.

So vergingen wieder Wochen und Monate. Die Julisonne brannte bereits mit solcher Kraft, daß der Berg völlig ausgeapert, das heißt, der leichtere Winterschnee abgeschmolzen war bis zu den Grenzen des ewigen Schnees, wo Wally hauste. Dann und wann kam einer der Rofener Brüder herauf und fragte, ob sie ihren Sinn noch nicht geändert. Doch kam dies nur selten vor und störte Wallys Einsamkeit nur auf wenige Viertelstunden.

Eines Tages stachen die Sonnenstrahlen so ungewöhnlich scharf herab, daß es Wally war, als ginge sie zwischen glühenden Nadeln hin. Wenn die Sonne »sticht«, näht sie Wolken zusammen, und bald, etwa um Mittagszeit, hatte sich auch ein dichtes Wolkenzelt um sie her zusammengezogen, hinter dem sie selbst verschwand, und eine bleierne Dämmerung legte sich schwer über die Erde. Eine seltsame Unruhe ergriff die kleine Herde, dann und wann zuckte es leuchtend auf in dem grauen Luftchaos, wie wenn ein Schlafender mit den Wimpern zuckt – und riesige schwarze Trauerschleier umwallten das Haupt Murzolls. Hin und wieder zerrissen sie und gaben noch einen schwachen Durchblick in die Ferne frei, aber emsig woben sich an der dünnen Stelle neue Schleier, bis alles zu war, als gäbe es zwischen Erde und Himmel keinen leeren Raum mehr.

Wally wußte wohl, was das zu bedeuten hatte; sie hatte schon manches schwere Wetter hier oben erlebt. Sie trieb die Herde zusammen unter einen Felsvorsprung, den sie selbst im Laufe der Zeit als Notpferch hergerichtet hatte. Aber eine junge Geiß hatte sich verstiegen, Wally mußte gehen, sie zu suchen. Noch kein Wetter war mit solcher Schnelligkeit herangekommen. Schon begann es rund um den Berg dumpf zu murren. Brausend fegte die Windsbraut heran und warf einzelne schwere Hagelkörner nieder. Jetzt handelte es sich noch um Minuten, und das Zicklein war nirgends zu sehen. Wally löschte ihr Herdfeuer und trat hinaus in den Kampf der Elemente wie eine heldenmütige Königin unter die Scharen ihrer aufrührerischen Untertanen. Und königlich sah sie aus, ohne es zu wissen und zu wollen. Sie hatte ein kleines kupfernes Milchkesselchen gegen den Hagel wie einen Helm auf den Kopf gestülpt, und wie ein Mantel hing eine dicke Pferdedecke von ihren Schultern nieder. So, den Krummstab statt der Lanze in der Hand, warf sie sich dem Sturm entgegen und kämpfte sich durch bis auf eine Felszacke, wo sie nach dem verlorenen Tier ausschauen konnte. Aber es war unmöglich, in dem Nebel etwas zu erkennen. Wally stieg weiter und weiter bis auf den Weg, der vom Hochjoch hinüber ins Schnalsertal führt. Und da tief unten in der Schlucht hing das Zicklein am jähen Abhang und zitterte vor Angst und krümmte sich unter den Schlägen der schweren Eiskörner. Und das hilflose Tier dauerte sie – sie mußte sich seiner erbarmen. Immer dichter prasselte der Hagel auf sie herab und peitschte ihr Sturm und Regen ins Gesicht, immer näher schwoll es heran, wie das Wogendonnern einer nahenden Sintflut – aber es focht sie nicht an; das stumme Hilfeflehen des geängstigten Tieres übertönte das Tosen, und ohne sich zu besinnen, klomm sie hinab in die neblige Tiefe. Mit unsäglicher Mühe erreichte sie auf dem schlüpfrigen Pfad das Tier soweit, daß sie es mit ihrem Krummstab fassen und zu sich heranziehen konnte, dann warf sie es über die Schulter und stieg wieder, mit Händen und Füßen kletternd, empor. Da war es, als schösse ein Feuerstrom vom Zenit in die Schlucht hernieder, krachend splitterte unter ihr in der Tiefe eine Fichte und, als brüllten Himmel und Erde zugleich, ein Knattern von oben, ein Brausen, ein Donnern stürzender Bäche und Blöcke von unten, daß der einsamen Pilgerin, die da an dem dröhnenden Felsen hing, war, als drehe sich die Welt in wilder Auflösung um sie her. Wie betäubt schwang sie sich endlich auf den sichern Rand des Saumpfades empor, sie mußte einen Augenblick Atem schöpfen und die Nässe aus den Augen wischen, denn sie konnte fast nichts mehr sehen, und dazu zappelte das Zicklein auf ihrer Schulter, daß sie's binden mußte, um es weiter tragen zu können. Schlag auf Schlag krachte indessen über ihr, unter ihr, und als sei der Himmel ein leckes Gefäß voll Feuer, so troffen die Blitze in feurigen Güssen nieder. Da – was war das – eine Menschenstimme! Ein Hilferuf klang ganz deutlich durch das Getöse. Wally, die nicht gezittert hatte vor der Wut des Orkans und des Donners – jetzt – erbebte sie. Eine Menschenstimme – jetzt – hier oben bei ihr in dem furchtbaren Aufruhr der Natur, im Chaos! Das erschreckte sie mehr als das Toben der Elemente. Sie lauschte mit gespanntem Atem, woher der Ruf komme, und ob sie sich nicht getäuscht. Da rief es wieder, und zwar ganz dicht hinter ihr: »He, du dort – hilf mir doch!« Und aus dem Nebel und Regen tauchte eine Gestalt auf, die eine zweite Gestalt zu schleppen schien. Wally stand wie erstarrt; was war das für ein Gesicht? Die brennenden Augen, der schwarze Schnurrbart, die feingebogene Nase, sie schaute und schaute und war unfähig, ein Glied zu rühren vor seligem Schreck – das war ja der Sankt Georg – der Bärenjoseph.

Aber auch er war über Wally erschrocken, als sie sich umwandte, nur aus einem andern Grund, als sie über ihn. »Jesus Maria – 's is a Madel!« sagte er fast scheu – und betrachtete Wally voll Staunen. Als er sie von rückwärts gesehen, hatte er wegen ihrer Größe geglaubt, es sei ein Hirt – jetzt hatte er ein Mädchen vor sich. Und wie sie vor ihm stand, den langen Mantel in starren Falten um sich geworfen, das Haupt kriegerisch gegen den Hagel behelmt, die dunkeln Haare aufgelöst und triefend um das Gesicht hängend, den Krummstab in der Hand und auf der breiten Schulter das Zicklein, die großen Augen flammend auf ihn geheftet, da ward ihm einen Augenblick unheimlich, als habe er etwas Überirdisches vor sich. In seinem ganzen Leben hatte er noch kein so gewaltiges Frauenbild gesehen, und er brauchte eine Weile, bis er sich mit ihr zurechtfand.

»Ach«, sagte er, endlich begreifend, »du bist am End die Geier-Wally vom Stromminger?!«

»Ja, die bin i!« erwiderte das Mädchen atemlos.

»Ah so, ja, da sollt i eigentlich nix mit dir z'schaffen habn!«

»Warum nit?« fragte Wally erbleichend, und ein Blitz zuckte gerade auf sie nieder, daß ihr kupferner Helm rot aufleuchtete.

Joseph mußte innehalten, so schmetternd war der Schlag, der ihm folgte, und mit neuer Wut prasselte ein Hagelschauer herab. Joseph schaute verlegen auf das Mädchen, sie stand unbeweglich, indes die Eisstücke Beulen in das leichte Kesselchen auf ihrem Kopf schlugen. Joseph beugte sich über die leblose Gestalt, die er trug.

»Weißt, i bin halt seit der G'schicht in Sölden mit dei'm Vater in Verschmach, und d' Leut sagen, mit dir sei's au nit zum auskomme. Aber das arme Madel kann halt nimmer weiter, 's is a Blitz neben ihr eing'schlagen und hat's umg'worfe, und sie is ganz von sich. Geh, führ uns in dei Hütt'n, daß die Dirn ausruhen kann, bis 's Unwetter vorbei is – nachher gehn wir glei wieder – und 's soll au g'wiß nimmer vorkomme!«

Wally sah ihn auf diese Reden seltsam an – halb trotzig, halb schmerzlich. Ihre Lippen zuckten, als wolle sie heftig etwas erwidern, aber sie bezwang sich, und nach einem kurzen stillen Kampfe sagte sie nur: »Komm!« und schritt voran. Nach einer Weile blieb sie stehen und fragte: »Wer is denn die?«

»'s is a Magd aus 'm Vintschgau und kommt ins ›Lamm‹ nach Zwieselstein. Mei Mutter is g'storben, und da hab' i 'nüber müssen ins Vintschgau, wo sie z'Haus war, wegen der Erbschaft, und weil wir g'rad einen Weg g'habt haben – hab i's Madel mit 'rüber g'nomme!« antwortete Joseph ausweichend.

»Dei Mutter is g'storben? O du armer Joseph –« rief Wally teilnehmend.

»Ja – das war ein harter Schlag!« sagte Joseph tief traurig, »das guate Müaterl!«

Wally sah, daß es ihm weh tat, davon zu reden, und schwieg. Sie sprachen nichts mehr, bis sie die Hütte erreichten.

»Des is a bös's Loch!« sagte Joseph, als er sich beim Eintreten trotz des Bückens die Stirn anstieß: »Da g'hört scho was dazu, sei Kind in so'n Hundsstall z'stecken! No, du hast's ihm freili danach g'macht.«

»So – weißt du des?« fuhr Wally bitter auf, während sie ihr Zicklein losband und in einer Ecke absetzte. Dann schüttelte sie ihr Lager zurecht und half Joseph die Fremde darauflegen. Ihre Hände zitterten dabei.

»No«, fuhr Joseph harmlos fort, »des woaß jeder, daß d' so wild bist wie dei' Vater, und daß d'Gellner-Vinzenz beinah totg'schlag'n hätt'st und dei'm Vatern d' Scheuer an'zünd't im Zorn! I moan halt, wenn's d' jetzt scho so anfängst, kannst's noch weit bringe!«

»Weißt d', warum i den Vinzenz g'schlagen hab und d' Scheuer an'zündt?« fragte Wally mit bebender Stimme: » Weißt, warum i da heroben bin in dem Hundsstall, wie du's g'heißen hast? Weißt's?« Und sie zerbrach mit den Händen einen starken Ast über dem Knie, daß das Holz krachend splitterte, und Joseph unwillkürlich ihre Kraft bewunderte.

»Na«, sagte er, »woher soll i's wissen?«

»No, wenn's du's nit weißt, so red auch nit!« grollte sie leise und machte Feuer, um für die Kranke Milch zu wärmen.

»So sag mir's, wenn's d'meinst, i tu dir Unrecht!«

Da schlug Wally plötzlich wieder jene gellende bittere Lache auf, die ihr eigen war, wenn ihr heimlich das Herz blutete. »Dir – dir soll i's sagen?!« rief sie. »Ja – du wärst mir g'rad der Rechte, dem i's saget!« Und sie spülte mit fieberhaftem Eifer ein Kesselchen, goß die Milch hinein und hängte es über das prasselnde Feuer.

Joseph fühlte nicht den Schmerz heraus, der in diesem Hohn lag – er fühlte nur den Hohn und wandte sich verdrossen von ihr ab: »Mit dir is nit z'reden, da hab'n die Leut scho recht!« Von nun an beschäftigte er sich nur noch mit der Kranken.

Auch Wally schwieg und blickte nur dann und wann, während sie herumhantierte, verstohlen auf Joseph, der übergossen von dem roten Feuerschein auf einem Schemel unweit des Lagers saß. Wie ein paar Kohlen glühten seine Augen im Widerschein der Flammen, die bald schwächer, bald heller aufleuchteten und das schöne, strenge Gesicht des Jägers wunderbar wechselnd verklärten, daß es bald düster, bald freundlich erschien.

Da fiel Wally plötzlich der Traum der ersten Nacht hier oben ein. »Wenn ihn die seligen Fräulein so sehen könnten, sie müßten an ihm vergehen wie Schnee am Feuer!« so etwas mochte sie wohl denken, und ihr war, als könnte sie, wie man vom Herzen sagt, auch den Blick nur blutend von ihm losreißen, und es fielen ihr wirklich ein paar heiße Tropfen vom Auge, als sie sich abwandte, zwar keine Blutstropfen, aber sie taten nicht minder weh.

Die Fremde kam jetzt zur Besinnung und fragte erstaunt: »Was ist denn?«

»Sei nur ruhig, Afra«, sagte Joseph, »woaßt, der Blitz hat di fast derschlagen, und da hat uns die Stromminger-Wally in ihr Hütt'n g'führt.«

»Jesus Maria! Bei der Geier-Wally sind wir?« sagte das Mädchen erschrocken.

»Sei staad«, tröstete sie Joseph, »sobald d' dich erholt hast, geh'n wir wieder!«

»Also bis ins Vintschgau 'nüber hast scho von mir g'hört? Da trink eins auf den Schreck«, sagte Wally ruhig mit einem Anflug gutmütigen Spottes und reichte ihr die warme Milch mit etwas Branntwein gemischt. Joseph war aufgestanden, um Wally mit dem Getränk an das Bett zu lassen. Afra versuchte sich aufzusetzen, aber es ging nicht, und Wally griff rasch zu und richtete sie auf, sie hielt sie im Arm wie ein Kind und gab ihr mit der andern Hand zu trinken. Afra tat einen durstigen Zug aus der Holzschale, aber sie war so schwach, daß ihr Kopf auf Wallys Schulter sank, nachdem sie getrunken. Wally winkte Joseph, ihr die Schale abzunehmen, und blieb so geduldig sitzen, um die Kranke nicht zu stören.

Joseph betrachtete sie nachdenklich, wie sie so auf dem Bettrand saß, das Mädchen im Arm: »A schön's Dirn'l bist« – sagte er ehrlich – »nur schad, daß d' so schiech bist!«

Eine leise Röte überflog Wallys Gesicht bei diesen Worten.

»Aber dir schlagt amol dei Herz!« sagte Afra, »i spür's an deiner Achsel.« Und sie hob jetzt etwas kräftiger den Kopf und sah ihr in das düstere, luftgebräunte Gesicht und die großen Augen. Wally betrachtete jetzt auch die Fremde aufmerksamer. Sie mochte wohl schon fünf- bis sechsundzwanzig Jahre alt sein, aber sie hatte liebliche Züge, seelenvolle blaue Augen und blondes Haar, wie von Seide gesponnen. Wally fand, daß sie schön sei, und ein eigentümlich banges, widerwilliges Gefühl beschlich sie dabei. Sie sah auf Joseph, stand auf und fing wieder an herumzuhantieren.

»Ist denn des auch g'wiß die Geier-Wally?« fragte jetzt Afra ihren Führer, als könne sie es nicht begreifen, daß die verschriene Geier-Wally so gut sein sollte.

»Man sollt's nit meine, aber sie sagt ja selber, sie sei's!« erwiderte Joseph halblaut.

»Und i will dir's glei beweisen, daß i's bin«, rief Wally mit aufwallendem Stolz, öffnete die Tür und rief hinaus: »Hansl – Hansl, wo bist?« Ein geller Schrei antwortete ihr, und sogleich kam Hansl vom Dach herabgebraust und zur Tür herein.

»Jesus, was is des?« schrie Afra, sich bekreuzigend, aber Joseph stellte sich vor sie, um sie zu beschützen.

»Des is der Geier, den i als Kind aus'm Nest g'nommen hab – drüben an der Burgsteinwand. Von dem hab i ja mein Namen – die Geier-Wally!« Und ihr Auge hing so stolz an dem Vogel, wie das eines Soldaten an der eroberten Fahne: »Da schau, so hab i mir'n zähmt, daß i 'n frei 'rumfliegen lassen kann, und er fliegt mir doch nit davon!« Sie setzte sich ihn auf die Schulter und entfaltete seine Schwingen, damit Joseph sähe, daß sie nicht beschnitten waren.

»Das is a Staatskerl«, sagte Joseph, und sein Jägerauge hing feindlich lüstern an der stattlichen Beute, die kein Jäger dem andern, geschweige denn einem Mädel gönnt! Es mußte etwas in diesem Blick liegen, das den Geier reizte, denn er stieß ein eigentümliches Pfeifen aus, bog den Hals vor und sträubte die Federn gegen Joseph.

Wally fühlte die ungewohnte Bewegung auf ihrer Schulter und suchte den Geier mit Streicheln zu beschwichtigen. »No, Hansl, was fallt dir denn ein, bist doch sonst nit so!«

»Aha, Kerl – gelt, merkst 'n Jaga«, lachte Joseph herausfordernd und griff übermütig nach dem Vogel, als wolle er ihn von Wallys Schulter reißen. Da entfaltete das gereizte Tier plötzlich seine Kraft, breitete die Schwingen aus, rauschte zur Decke auf und stieß mit seiner ganzen Macht auf den Feind nieder. Ein Schrei des Entsetzens entrang sich Wallys Lippen, Afra flüchtete sich in eine Ecke, die enge Hütte war fast ausgefüllt von dem brausenden Ungetüm, das auf keinen Ruf seiner Herrin mehr hörte, mit dem furchtbaren Schnabel immer wieder auf Joseph eindrang und ihm die Fänge in die Hüfte zu schlagen versuchte. Es war nichts mehr als ein Knäuel von kämpfenden Fäusten und Fittichen, daß die Federn stoben und die Wände rot wurden, wo Josephs blutige Hände sie berührten. »Mei Messer, wann i nur mei Messer 'rausbringe könnt«, schrie Joseph.

Wally riß die Tür auf: »Naus, Joseph, ins Freie – in dem engen Loch kannst ihm ja nit auskomme.«

Aber der »Bärenjoseph« lief nicht vor einem Geier davon. »Der Deifel soll mich holen, wann i vom Fleck geh!« stöhnte er. Noch einen Augenblick schwankte der Kampf. Da bekam Joseph, das Gesicht an die Wand gedrückt, mit den eisernen Fäusten den Geier bei den Fängen zu packen und zwang nun das sträubende Tier mit Riesenkraft wie in einer Falle nieder, während es ihm mit dem Schnabel Hände und Arme zerhackte. »Jetzt mei Messer, zieg mir's Messer 'raus – i hab ja kei Hand frei«, rief er Wally zu.

Aber Wally nützte den Augenblick anders, sprang bei und warf dem Geier ein dickes Tuch über den Kopf. Nun war es ihr auch ein leichtes, ihm mit einem Strick die Füße zusammenzubinden, und so war er unschädlich gemacht. Joseph warf ihn zur Erde. Ohnmächtig zuckend zerarbeitete sich das stolze Tier in dem Tuche am Boden, und Joseph ging hin und lud seine Flinte.

»Was machst d' da?« fragte Wally erstaunt.

»I lad mei Bixen«, sagte er und biß die Zähne zusammen vor Schmerz an seinen zerhackten Händen. Als er geladen, nahm er den gefesselten Vogel vom Boden auf und warf ihn vor die Hütte, hinaus ins Freie, dann stellte er sich unweit davon auf, legte an und sagte leise, gebieterisch zu Wally: »Jetzt bind ihn los.«

» Was soll i?« fragte Wally, die nicht recht zu hören glaubte.

»Fliegen sollst d' lassen!«

»Zu was?«

»Daß i 'n schießen kann – weißt nit, daß a rechter Jaga kei Wild anders als im Sprung oder im Flug schießt?«

»Ja, um Gottes willen!« schrie Wally, »du wirst mir doch mein Hansel nit derschießen woll'n!«

Joseph sah sie nun seinerseits verwundert an: »Soll i den bissigen Ruach etwa leben lassen?«

»Joseph –« rief Wally und trat entschlossen vor ihn hin, »laß mir mein Hansl ung'schoren! I hab den Vogel seine Alten ab'kämpft mit Lebensg'fahr, hab'n vom Nest aufzogen, kei Mensch mag mich als des Viech – 's is mei einzig's, was i hab auf der Welt – dem Hansl darfst nix tun!«

»So«, sagte Joseph scharf und bitter, »der Satan hat mir beinah d' Augen ausg'hackt, und i soll'm nix tun?«

»Er hat dich halt nit kennt! Was kann denn der Vogel dafür, daß er nit g'scheiter is – du wirst dich doch nit rächen woll'n an so 'n unvernünftigen Tier?«

Joseph stampfte mit dem Fuß. »Jetzt bind'n auf, daß er fliegen kann, oder i schieß'n so z'samme.« Er legte die Büchse an.

Da stieg Wally das heiße Blut zu Kopf, und sie vergaß alles um ihren Schützling. »Des woll'n wir doch sehn«, rief sie in flammendem Zorn, »ob du dich vergreifen wirst an mei'm Eigentum. Tu die Bixen weg, der Vogel g'hört mir! Hörst's? Mir g'hört er! Und i laß ihm nix g'schehen, s' mag kommen, was will. Weg mit der Bixen – oder du sollst mich kenne lerne!« Und sie schlug ihm mit einem raschen Griff die Flinte aus der Hand, daß der Schuß sich krachend gegen die Felswand entlud.

Es lag etwas in ihrer Haltung, was den gewaltigen Burschen, den Bärenjäger, bezwang, daß er scheinbar ruhig den Stutzen aufnahm und mit bitterem Hohn sagte: »Meinetwegen! I will dir dein krummschnabelten Schatz lassen – 's is vielleicht doch der einzige, den d' kriegst in dei'm Leben –! Du – du bist halt die Geier-Wally

Und ohne sie weiter eines Blickes zu würdigen, riß er sein Taschentuch in Streifen und versuchte sich die zerfleischten Hände damit zu verbinden. Wally sprang herbei und wollte ihm helfen, jetzt erst sah sie, wie schlimm die Wunden waren, und ihr war, als blute ihr eigenes Herz bei dem Anblick! »O Jesus, Bua, was hast für Händ«, schrie sie auf, »komm, i will dir's abwaschen und richten.«

Aber Joseph schob sie beiseite: »Laß –! Die Afra kann's machen!«

Er trat in die Hütte. Wally überkam eine tödliche Angst. Sie fühlte plötzlich, daß sie sich ihn zum Feind gemacht, vielleicht für immer, und ihr war, als müsse sie sterben bei diesem Gedanken. Wie gebrochen ging sie ihm nach, und ihre Augen verfolgten mit einer Art von eifersüchtigem Haß die Fremde, während diese Joseph sorgfältig verband.

»Joseph«, sagte Wally mit erstickter Stimme, »du mußt nit meine, i machet mir nix aus deine Wunden, weil i dich den Hansl nit hab derschießen lass'n. Schau, wär'n s' da dervon heil word'n – so hätt'st wegen meiner 'n Hansel und mich dazu derschießen könne – aber so hätt's ja doch nix g'holfen.«

»'s is scho gut, d'brauchst dich nit z' entschuldige«, sagte Joseph abwehrend. »Afra«, fragte er das Mädchen, »kannst jetzt weiter?«

»Ja«, sagte diese.

»So mach dich fertig, wir woll'n gehn!«

Wally verfärbte sich. »Joseph – magst nit noch a wenig ausruhen – i hab dir ja noch kein Imbiß 'geb'n! I will dir noch g'schwind was koch'n – oder magst n' Schluck Milli?«

»I dank dir für alles – i will jetzt mach'n, daß i z'Haus kumm vor Nacht, 's regnet ja nimmer, und die Afra kann wieder lauf'n.«

Damit half er der Dirn sich fertig machen, hängte die Büchse über die Schulter und nahm den Bergstock zur Hand.

Da hob Wally eine der Federn auf, die Hansel im Kampfe verloren, und steckte sie Joseph auf den Hut: »Die Feder mußt tragen, Joseph; du darfst sie tragen, denn du hast ja den Geier 'zwunge, und er wär ja dei Jagdbeut, wenn's d'n mir nit g'schenkt hätt'st.«

Aber Joseph nahm die Feder vom Hut: »Du magst's gut meine – aber die Feder trag i nit – i bin nit g'wohnt, mei Beut mit Mädeln z'teilen!«

»So nimm den Geier ganz mit, i schenk ihn dir, aber i bitt dich nur, lass'n leben!« stieß Wally atemlos heraus.

Joseph sah sie verwundert an. »Was fallt dir denn ein! I werd dir nix nehme, wodran dir dei Herz so hangt. Vielleicht fang i amal 'n lebendigen Bären, den bring i dir noch dazu, daß die G'sellschaft vollständig wird. Aber bis dahin siechst mi nimmer, 's könnt mir doch amoi passieren, daß i den Vogel derschießet, wann i'n wo treffet – da will i's Revier lieber meiden! B'hüat Gott und Dank fürs Obdach!«

Damit schritt er stolz und ruhig aus der Hütte.

Da bückte sich Afra und hob die von Joseph weggeworfene Feder auf. »Schenk mir die Feder«, sagte sie. »I will's in mei Betbüchel legen und so oft i's sieh, a Vaterunser für dich beten!«

»Wegen meiner!« sagte Wally dumpf; sie hatte kaum gehört, was Afra sprach. Es pochte und hämmerte in ihrer Brust und sauste in ihren Ohren, als tose noch das Unwetter um sie her. Sie ging den Dahinschreitenden nach vor die Hütte. Das Unwetter hatte sich verzogen, die schwarzen Wolkenschleier hingen zerfetzt herab, und durch die Risse schimmerte die feucht verschwommene Ferne. Nur dumpf grollte der abziehende Donnergott nach, und verrauschend stürzte das Wasser in den Runsen zur Tiefe, sonst aber war alles still und ruhig ringsumher, und ein weißes Leichentuch von Schnee und Eiskörnern hatte sich über den Berg gebreitet.

Wally stand regungslos, die Hände auf die Brust gepreßt. »Er kann sich's ja nicht denken, wie arm eins sein muß, wenn's sei Herz an so'n Vogel hängt!« sagte sie zu sich selbst. Dann kniete sie nieder und band das halberstarrte Tier los, das schwankend auf ihren Arm klomm und sie verständig anschaute, als wolle es sie um Verzeihung bitten, »Ja, schau mich nur an«, schluchzte sie, »o Hansl, Hansl – was hast mir 'tan!«

Sie setzte sich auf die Stufen ihrer Hütte, ließ Hansl zur Erde und weinte so recht aus Herzensgrund, bis sie's satt bekam, sich selbst schluchzen zu hören. Sie blickte hinauf, wo eine hohe Schneewand senkrecht hinter ihr emporstieg, hinunter, wo rechts und links in den überschneiten Mulden der Tod sein kaltes Nest bereitet hatte, hinaus in die graue Ferne, wo lange Regenstreifen vom Himmel zur Erde niederhingen, und plötzlich fühlte sie es wieder, ganz schwer, wie am ersten Tag, daß sie in der Einöde war – und blieb!


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