Peter Hille
Aus dem Heiligtum der Schönheit
Peter Hille

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Einleitung von Fritz Droop

Peter Hille.

Wie ein Prophet aus vergangenen Tagen sah er aus, ein Germane mit wallendem Haar und flammendem Barte: Peter Hille, der Philosoph des Schönen, der Bekenner zu ewiger Jugend und beseligender Kindlichkeit. Ein ruhiges, weltüberhobenes Auge gab den bleichen Zügen etwas Feierliches, Hohes. Freimütig wie das klare Antlitz des Himmels war sein Blick; es war Gesundheit darin und ferne Weite, ein stilles Jubeln wie ein schöner Maientag.

Am 11. September 1854 hatte Peter Hille zu Erwitzen i. W. das Licht der Welt erblickt. Hier verlebte er seine Kindheit, und der Wald war sein liebster Aufenthalt. Dorthin schlich er manche Stunde, und selbst das Gebot der Schule konnte nicht seiner Sehnsucht wehren, wenn des Waldes Rauschen oder der Vögel Lied ihn rief. In einer Selbstbiographie sagt er: »Ich verlebte eine einzige Kindheit auf dem Lande, machte in eigenwillig verlängerten Ferien und flunkerweis ausgefallenen Stunden viel Gänge in den Wald und war stolz, wenn ich nach Anweisung meines Vaters, des Rentmeisters Friedrich Hille, mit Rötel Nummern an die Braken und Klafter schreiben durfte oder eben mal hinlief, um zu sehen, welche Nummer drüben an dem Holzhaufen stand. Auch die vornehme Freiheit des adligen Landlebens lernte ich im Umgange mit den Schloßkindern schätzen. Geschäftsreisen meines Vaters in der Kutsche oder im Ponywagen brachten mich in die Weserstadt Höxter, mit der alten mächtigen Kastanienallee und der noch älteren Benediktinerabtei Corvey. Hier vor der Bibliothek sah ich auch Hoffmann von Fallersleben, und in großer Ehrfurcht grüßte der dreizehnjährige Knabe, der wohl in sich schon den Dichter spürte und in diesem was ganz Hehres und Wunderbares empfand, den hohen Mann mit dem sinnend geneigten Haupt und dem ehrwürdigen Haar, das weiß bis auf den Kragen des schwarzen Rockes fiel. Wie war ich stolz, da er dankte, es war wie geheimes Einverständnis.

Detmold mit seinem Marstall; der damals noch leer – ohne Standbild – wie eine Granate im Teutoburger Walde stehende »Hermann« und die Urvagabunden versunkener Zeitschichten, die erratischen Externsteine, prägten Märchen in den jungen Sinn.

Aber auch die Furcht meines jedenfalls zart und locker gefügten Hirnes vor dem Knall oder Pfiff, der mir noch heute Dramen oder Opern ängstlich und um die Katastrophen herum peinlich macht, empfand ich schon da: machte sich mein Vater schußbereit, dann blieb ich zurück und hielt mir die Ohren zu. Beim Schweineschlachten versteckte ich mich im fernsten Winkel des Hauses. So eine Neujahrsnacht war mir entsetzlich, und mit dem Schützenfest söhnte mich nur die schöne rote Fahne aus, die vor den Honoratioren, vor dem Pastorat und auch wohl unserm Hause so kunstvoll umgewirbelt wurde. Die Eisenbahn mit ihrem Pfeifen und Rasseln traf mich mit jener Schärfe, die alle jungen Wonnen haben. In dieser Zeit, in diesen jungen Stunden,

habe ich lange geweilt, weil ich in mich leben konnte und das Eigentliche, das wohl in mir ist, bildete.

Kamen die Folteranstalten, die Gymnasien von Marburg und Münster, die mich mit Ausnahme eines, auch in mir den unfertigen Dichter erkennenden, schonenden Oberlehrers, Dr.. Joseph Buschmann in Münster, quälten und demütigten, weil sie mich nicht verhunzen konnten.

Später brachte ich in Höxter an der Weser den Oberstaatsanwalt durch meine genialen Protokolle in ärgerliche Verlegenheit, auf die er sich mit schwunghafter Vehemenz wie auf ein forensisches Opfer stürzte, um alsbald schmählich stecken zu bleiben, wie ich früher in der Mathematik, wenn ich am schönen Frühlingsmorgen um vier Uhr mit zerlesenem Reclam-Faust in der Tasche ausgegangen war und nun zu spät in die Logarithmenstunde und gleich an die Tafel kam; die Logarithmenstunde, die wie zur Ironie gegen die schöne Morgenfrühe auf die Zeit von sechs bis sieben verlegt war.

Dann so um 1877 schindete ich schändlich in faustischer Art tausend und ein Kollegien, nippte von dem wie Kindheit unersetzlichen deutschen Studentenleben und begann in eine erwerbsmäßige Schriftstellerei in Leipzig, die mir bald so viel einbrachte, daß ich in der Talstraße bei der Weltfirma Hildebrand und Hadubrand wutentbrannt Korrektor wurde, wo ich bei zehn Mark Wochenlohn gefragt wurde, ob ich auch Portugiesisch verstände. Wir freuten uns alle, daß der neunzehnjährige Buchhalter herablassend mit uns und trotz des großen Gehaltsabstandes kein Unmensch war, und fühlten uns geehrt durchs Geschäftsgeheimnis, wenn wir, Chefs vorauf, vor einem Wechselboten in den Hinterraum verschwanden. Dann genoß ich auf Raub und unter Widerwärtigkeiten London, Amsterdam, die Schweiz, und von Italien Mailand, Florenz, Rom und Pisa. Seit 1885 bin ich meistens um und in Berlin. Seit Neujahr führte ich meine und anderer dichterische Untaten von abends neun bis zwölf im Restaurant »Zum Vesuv« von Carlo Dalbelli, Königin Augustastraße 19, bei der Potsdamer Brücke, einem geneigten Publikum zu Gemüte. Quad Deus bene vertat

Das »Ristorante Vesuvio« und spätere Kabarett »Zum Peter Hille« war bis zu seinem Tode am 7. Mai 1904 sein Standquartier, soweit sich bei diesem ruhelosen Pilger überhaupt von einem festen Wohnsitz sprechen läßt. »Der blauen Blume fromm geweiht, und nicht Plebejerlustbarkeit« – so lautete der Spruch, mit dem Hille die beiden prunklosen Räume geweiht hatte, wo er sich mit Erich Mühsam, Margarete Beutler, Else Lasker-Schüler und anderen fast allabendlich – eine Zeitlang auch mit Richard Dehmel – zusammenfand. Hier gab er sein Eigenstes, sein Bestes: Aphorismen und Lieder, Prosaskizzen und Gedichte, einzelne Kapitel aus seinen Romanen, Kindergeschichten und Novellen. In bunter Reihe las er vor, was er in den letzten Tagen auf unscheinbaren Blättern, Speisekarten oder Papierschnitzeln niedergeschrieben hatte. Wie die Manuskripte oft aussahen, hat Otto Julius Bierbaum in seinem köstlichen Stilperoman, dessen Peripatetiker Hilles deutliche Züge trägt, folgendermaßen geschildert: »Ein Konzeptbogen in Quartformat, der außer den ersten Szenen zu einem Drama zwei Kapitel aus verschiedenen Romanen, sechs Gedichte in Prosa, drei in Versen und außerdem: etwa fünf Dutzend Aphorismen und verschiedene Essay-Brouillons enthielt, alles durcheinander geschrieben, erst wagerecht, dann in senkrechten, dann in diagonalen Zeilen.« Ein Bohémien im landläufigen Sinne war Peter Hille nicht, viel eher der einzige echte Vertreter dieses modernen Zigeunerordens der Intellektuellen während seiner letzten Glanzperiode.

Ein zweites Heim fand Hille im Hause Peter Baums und später in der von den beiden Harts begründeten »Neuen Gemeinschaft« am Schlachtensee. Im Herzen aber ist er Westfale geblieben bis ans Ende. Aus dem Boden der Heimat, aus grünen Wäldern und rieselnden Wiesenbächen sproßte seine Poesie hervor, all das Schlichte, Treuherzige und Gläubige Niedersachsens in sich aufnehmend. Treffend sagt Heinrich Hart in der Einleitung zu Hilles gesammelten Schriften: »Das eigentlich Besondere an Hilles Poesie ist das urwestfälische Blut, das in ihr pulst und klopft. Seine Dichtung mutet an die Waldberge seiner Heimat an. Nichts Glattes, Poliertes, Ebenes ist an ihr, immer auf und ab geht der Weg, an rieselnden Brunnen vorbei, durch rauschenden Wald, über moosige Steine und Wurzelknollen, die beinahe ins Stolpern bringen, dann und wann auch an einem schattenlosen, dürren Sandhang empor, bis zur sonnigen, windumwehten Höhe mit unendlicher Aussicht ringsum.«

Ja, er ist Westfale geblieben. Immer wieder zog es ihn in die Heimat zurück, wo er dann plötzlich bei seinem Bruder, bei dem als Schriftsteller bekannten Lehrer Ludwig Schröder in Iserlohn oder einem andern seiner Freunde auftauchte und blieb, bis ihn die Weltsehnsucht eines Tages von neuem ergriff. Es schien, als sei er plötzlich vom Erdboden verschwunden, und eine Karte aus irgendeinem Wetterwinkel war für Monate das einzige Lebenszeichen, das in die Heimat gelangte. So wurde er zu einem unruhigen Vaganten, einem ewig ziellosen Pilger. »Wie ein ewiger Kranich,« sagt er in »Des Platonikers Sohn«, »ziehen wir umher, eine Mahnung an die Eitelkeit alles Irdischen; viel Wehmut ist unser Gemüt, viel Wehmut, die schon sehr toll, sehr ausgelassen sein, die schreien muß, wenn sie ihre Unrast einmal will zur Ruhe singen, wie die Mutter ihr Kind. Unsere Heimat ist zurückgesunken ins Vergangenheitsreich wie das Paradies, und darum gewinnt das Heimweh über uns eine klagende Gewalt, wie kaum bei einem andern Stande auf dieser sehnsüchtigen Erde ... Wir wissen unser Schicksal, unser Wesen durchschauen wir, und so haben wir selbst uns verdammt zu rastlosem Schweifen. Ein schönes Wort von den Lilien: Sie säen nicht, sie ernten nicht, und versammeln nicht in die Scheuern. Wohl mögen wir's auf uns beziehen und stolz uns rühmen: Unser Wams, wie's auch verschlissen – läge Salomons Thronkleid daneben und zur Freite ein Prinzeßlein, dennoch nähmen wir unser Röcklein und zögen fürbaß. Wie's kommt, ob Heil, ob Unsegen dieser Drang und Zug; ich vermag's euch nicht zu künden. Aber ein starkes treues Herz schlägt in uns, frei in aller Unbill, und wo sollten wir bleiben, wo verkümmern und verbauern, ohn' unser eigen Königtum, den freien erdwarmen Sinn in uns selbst?« Und den Archibacchanten Walter, einen begeisterten Rheinländer, läßt er die Worte sprechen: »Im Lande der westlichen Falen sollen sie zähe sein und hart und fest. Und was sie mal angefangen haben, das setzen sie durch, und ob auch der Geier ihnen die Leber zerhackt, sie geben nicht nach. So ein Westfale muß auch der Prometheus gewesen sein.«

Den freien Sinn, sein stolzes Recht, hat Peter Hille sich nicht nehmen lassen; lieber schnallte er sein Bündel und zog seine Straße. Die Welt war ja so weit, so schön, und ein wenig Liebe würde er schon finden. Der unbeschränkte Besitz der Natur, die innige Fühlung mit Himmel und Erde machten ihn zum glücklichsten Menschen, vorausgesetzt, daß auch sein unergründlicher Reisesack mit Büchern und Manuskripten in der Nähe war. Ein interessantes Stück Hilleschen Wesens lernen wir aus »Des Platonikers Sohn« kennen. Hille selbst ist Giovanni, der Sohn Petrarkas. Auch in ihm verkörpert sich »der Gegensatz stürmender, drängender Jugend zur konventionell gewordenen Klassik, der Gegensatz des Wesensmenschen zum bloßen Formenmenschen, dem die Form nicht um der Schönheit willen, sondern das Schöne um der Form willen existiert«. Eine Siegernatur ist Giovanni nicht; in ihm schreitet die Jugend nicht trutzig über das zu Boden gestürzte Alte hinweg – einen solchen Sieger zu schaffen, war Hille zu weich. Sorglos und hilflos stand er dem Leben gegenüber, ein Ewig-Hoffender, der auszog, Schönheit und Glauben zu suchen. »Ich muß die Welt schön haben, sonst lasse ich sie fallen!« Sein Weggenosse Erich Mühsam sagt einmal: »Muß ich dich denn nicht lieben, Peter Hille, wenn du mir in unerschütterlichem Glauben an Welt und Menschheit auseinandersetzt, daß das Leben gar nicht so gallig und krötig ist, wie ich es sehe? – Es kann wohl nicht anders sein, ich muß schon selbst die gallige Kröte sein, um die Welt so elend zu empfinden, die dich geboren hat. – Du bist ein Mensch, Peter Hille, ein ganzer Mensch! Und dabei ein Kind, das mit der Sonne spielt und den Blumen und dem Himmel und seinen Spielkameraden, den garstigen Mitmenschen. Du durftest sagen: ›Ich bin – also ist Schönheit!‹ Du bist Welt und Gott und All und Menschheit und bist du! Und darum, Peter Hille, liebe ich dich!« Hart nennt ihn ein Gotteskind, dem das Leid niemals einen Finger netzen konnte. In allem sah er das Göttliche; darum war ihm auch die Welt mit all ihren Genüssen und Freuden ein rechter Gottestisch, an dem er sich's nach Kräften wohl sein ließ. Ein Gotteskind und ein Weltkind zugleich, ein Erzpriester, ein Erzpoet und ein Erzzecher. Ein Optimist reinsten Wassers, maß er die Welt, wie sie war, mit kindlichem Glauben. Er war die überlegene Toleranz, die jede Meinung sozialer und politischer, religiöser und ästhetischer Art in liebevoller Weise achtete, ein Feind alles Gewaltsamen in der Welt, besonders in der Entwicklung geistiger Potenzen.

Als das schönste Werk, die erlesenste Aufgabe bezeichnete er es, ein Kind zu bilden. Nicht wie die Pädagogik es wollte, sondern wie sich's gehört: mit all seiner fröhlichen Wildheit, mit all dem munteren Tau darauf, einen jungen Menschen aus sich steigen zu lassen, wie eine Wurzel zur Blüte steigt. Und nichts vom Eigenen, das dem Kinde fremd ist, dazu tun. Nur da, wo das Kind von seinem Sinne abirren will, die Hand anzulegen gegen den schlanken Schaft seines seelischen Wachstums, um es in seinem Sinne steigen zu lassen zur Blüte. »Und so ein Kind will eigene Wege haben. Ich bin so ein Kind. Vielleicht am allermeisten Kind auf Erden. Ich bin's geblieben. Zugeworden. Das Kind ist am allermeisten in mir gewachsen und Glut unbändigen Saftes und feinfarbige Begehrlichkeit nach aller Welt.« – »Sich frei machen erst, dann sich in Bewegung setzen. Hat man mir aber einmal alles genommen, was mein Eigenes war, und dafür Fremdes eingesetzt, was anderen beliebte, was nie bei mir anwachsen wird, was soll ich damit, was soll ich das in Bewegung setzen? Mögen die es tun, die es in mich hineingestopft haben, als seien sie der Jäger und ich der Wolf, der die Großmutter gefressen hat. Und nun – was rumpumpelt in meinem Bauch? Und nun die Wackelsteine eingeladen kriegt.« – »Die Kindheit soll aus eigenem Rechte da sein. Nicht bloß geduldet. Sie soll nicht von den Begriffen vergewaltigt werden, den greisen Begriffen. Neid macht Vorschriften. Schwäche, die nicht mehr genießen kann, verbietet.« – »Alle Kinder des Lebens zusammen: das ist Schönheit.«

Deshalb liebte Peter Hille die Kinder und hörte wie kein anderer den Pulsschlag ihres Herzens. Seine Kinder-Lieder, -Geschichten und -Skizzen beweisen es. Man lese nur das Märchen: »Wie die kleinen Engel fliegen und singen lernen«, die Novelle »Kinderliebe« oder die Skizze »Schlummernde Kinder«.

Nur seelisch Starke sollen sich dem Innenleben zuwenden, »Seelenkrüppel bilden müde Kirchen«. Hille selbst war stark genug, seinen Weg zu finden. In dem Roman »Die Hassenburg« hat er sein Wachsen folgendermaßen geschildert: »Früher Gerümpel, vom schlendernden Tag Gebotenes wahllos aufnehmend – will ich nun anfangen zu wachsen, wie ich angelegt bin – ganz genau so – meine Erde, der mir zuständige Boden soll mich speisen: er soll mich züchten – und ich will zusehen. Zusehen so aus Neugier, was aus mir wird. Bin ich doch mein nächster Zuschauer! Was für ein Schauspiel ginge darüber! Und dann kann man zu gleicher Zeit ein bißchen zum Rechten sehen und mal eingreifen, wenn der gute Boden mal einschlummern sollte.

Bin ja doch kein Bauer, daß ich alles roh nehmen müßte, wie's mir eben zugeschanzt wird. Nein, ich kann's machen wie der Weber, der seelenrichtig jede Verhedderung ausgleicht.

Das hab' ich dem Schicksal zu danken, das mich frei gestellt hat: frei so über meine Wahlen, wie auch über mein Urteil.

Sein Herr, nicht sein Sklave – und doch fest gegründet. Noch ein wenig untätig aus Überfülle: Entscheidung ist Beschränkung.

Doch zur Probe: was will ich?

Mich ausleben natürlich. Ein Ich sein, ein eigenständiger Mensch! Aus all dem dumpfen Boden, meiner Liebe für ihn, und mit klarer, weiter Überschau.

Wie dieser Himmel droben zu dieser Heimat. So will ich sein. Dieser Himmel, der auch seine Heimat hat; der eben festlich angezogen ist, wie etwa eine vornehme Gegend: so um eine Hauptstadt herum oder wo viel Glück und Freude wohnt. Heimat: wie kommt sie zustande? Ich finde so: das tauscht sich aus, geht herüber und hinüber, von der Erde lagert sich was in uns und von uns in die Erde hinüber. So will ich heimatlich mich regen!«

Wenn schon die gegebenen autobiographischen und rein prosaischen Stilproben Peter Hille als den wortgewaltigen Meister der Sprache zeigen, so noch mehr seine Aphorismen.Eine reichhaltige Sammlung der Aphorismen enthält die bei Schuster & Loeffler erschienene vierbändige Gesamtausgabe der Werke Peter Hilles. Sie haben die reine kernige Art unserer Prosameister, von Jakob Boehme bis zu Luther hin. Sie haben auch mit jenem Mystiker die anmutende Dunkelheit gemein, die nicht aus Unklarheit, sondern aus der unaussprechbaren Tiefe irdisch nicht zu fassender Gedanken oder aus der atemlosen Fülle sich allzu heftig drängender Ideen entspringt. Kerndeutsch, nicht im Sinne jener engen Deutschtümelei von heute, die dein rastlosen Weltwanderer innerlich fremd war, sondern im Sinne jener besonderen Wesenheit des Menschengeistes, die wir in ihrer Verbindung von hoher Anschaulichkeit mit tiefster Kontemplation insbesondere als deutsch ansprechen dürfen. Der Aphorismus ist Hilles Stärke, hier ist er alles, hier ist er König. Selten hat jemand für das Wesen einer Person oder Sache so treffenden Ausdruck geprägt wie er. Die Anschaulichkeit des Wortes war ihn: höchstes Gesetz; er schwelgte geradezu in der Freude über neue Wortbildungen: er war ein Orgiastiker des Wortes. Mit hohem Genusse wird sich der Leser davon überzeugen, wenn er in den Aphorismen dieses Buches blättert. Hilles Gedanken kamen blitzartig, oft zusammenhanglos; dabei wurde es ihm schwer, eine umfangreichere Arbeit folgerichtig aufzubauen. Ein abgerundetes Kunstwerk größeren Stils zu schaffen, war nicht seine Sache; weder das Drama »Des Platonikers Sohn« noch die Romane »Kleopatra«, »Semiramis«, »Die Sozialisten« und »Die Hassenburg« vermitteln uns einen ungetrübten Genuß. Bei der Fülle von Ideen, die sein rastloses bebendes Hirn bewegten, war es ihm nicht möglich, die Gedankenreihen lückenlos zu ordnen. So blieb manches Bruchstück oder ist zum wenigsten sprunghaft und deshalb nicht immer gleich verständlich. Gern verlor er sich auf Seitenpfade, die ihn dann oft in das Reich der Mystik und Symbolik führten. Tausend Bilder drängten sich vor seiner Seele, bis lodernd, flammend plötzlich ein Gedanke alles andere vergessen ließ, als sollten die Worte, die Hebbel einst vor einem Rembrandt sprach, neue Gewalt gewinnen: »Wilde zerrissene Züge, jäh aus der Finsternis brechend, als bekäme die Nacht hier plötzlich selber ein Gesicht.« Der Mangel an Konzentration war bei Hille eine pathologische Erscheinung; er selbst zitierte gern die Äußerung eines Phrenologen, es sei eine Lücke in seinem Gehirn, die ein zusammenhängendes Auffassen verhindere. Dies Urteil ist nicht nur sachlich interessant. Daß er es mitteilt, das kennzeichnet wieder den ganzen Hille – freimütig, ohne Selbstverwahrung, wie die Sonne, die ein Stück Natur darum so schonungslos beschaut, weil es im Grunde doch nicht Minderwertiges an den Geschöpfen des Weltalls gibt.

Eine Natur wie Hille mußte sich notgedrungen auch zu Nietzsche hingezogen fühlen, und manche Worte, die Hille geschrieben, könnten auch der Feder des Weisen von Sils-Maria entstammen. »Selig sind die Rücksichtslosen, denn sie werden das Erdreich besitzen.« – »Wovon hat die Freiheit diesen Duft, diese köstliche Frische? – Vom Mannesodem.« – »Der wahre Mann ist doch etwas Schönes. Habt ihr schon so einen recht innig freundlichen Morgen in seiner blauen Kraft gesehen, wenn vorher Gewitter gewesen?« – »Kultur muß Natur haben. Noch einmal werden wir Wilde. Wann wir ganz reif sind.«

Trotz dieser interessanten Ähnlichkeit im Weltdenken der beiden Mystiker wollen wir durchaus nicht ihre gegensätzliche Naturverfassung ableugnen. Während Nietzsches krankhaft angegriffener Gehirnorganismus zeitlebens stark die destruktive Tendenz des schöpferischen Genies offenbarte, die den Einsamen von Sils-Maria mit dem Hammer philosophieren ließ, besaß Humanus Hille bei seinem unabweisbaren Hirndefekt doch apriorisch eine stete Bewußtseinsrichtung, die ihn befähigte, mehr das fruchtbare und aufbauende Element im Weltrhythmus zu schauen und zu gestalten, das heißt jeder Erscheinung, selbst der sprödesten, mit seinen wohlgeformten Händen den Schmelz der Daseinsgüte beizumischen. In diesem Sinne ist auch die Seligpreisung der Rücksichtslosen zu verstehen, die Hille lediglich als Tatsache hinstellen, nicht aber als Ideal bezeichnen wollte.

Sich selbst hat Hille in folgender Weise charakterisiert: »Peter Hille, Feuer hinter Schloß und Riegel. Inneres Schicksal verdunkelt, äußeres sperrt's ein, und so zappelt sich ab dies Meerwunder der Erfolglosigkeit bis an sein kühles Grab. Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht nicht ward.«

Vier Jahre sind seit dem Tode Peter Hilles dahingerauscht, und schon senkt die Vergessenheit ihren grauen Fittich nieder auf sein Grab. Der dankenswerte Versuch des Verlages Schuster & Loeffler, den Dichter durch eine Ausgabe seiner gesammelten Werke weiteren Kreisen zu vermitteln, ist nicht von dem erwarteten Erfolge gekrönt gewesen. Die Ausgabe umfaßt die »Blätter vom fünfzigjährigen Baum« (Gedichte), »Gestalten und Aphorismen«, »Dramatische Dichtungen« (»Des Platonikers Sohn«, »Myrrdhin und Vivyan«) und den Roman »Die Hassenburg«. – »Die Sozialisten«, »Kleopatra«, »Semiramis« und die dramatischen Fragmente »Walter von der Vogelweide«, »François Villon« und »Williams Abendröte« sind in den gesammelten Werken nicht enthalten.

Die Zeit ist eine unerbittliche Richterin, sie wird auch Peter Hille nicht verschonen. Aber seine Aphorismen – »Aus dem Heiligtum der Schönheit«, damit glaubt der Unterfertigte diese Schöpfungen zutreffend gekennzeichnet zu haben – wird sie eines Tages auf die Wage legen und finden, daß es Diamanten sind. Und solange in der Welt die Sehnsucht nach dem Guten und Schönen nicht ausgestorben ist, wird man auch von jenem Menschen erzählen, der selbst in den Tagen der Not und Anfechtung die Ehrlichkeit seines Wesens zu bewahren wußte. Vor allem sollte Westfalen seinen Dichter nicht vergessen. Weil er seine Landsleute so sehr liebte und schätzte, daß er selbst Prometheus zu den ihrigen zählte, müssen wir ihn ehren, müssen wir ihn lieben.

Essen, Ruhr, 1909.

Fritz Droop.


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