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Der Dichter und sein Kind.

(1895.)

Ich habe mich oft gefragt, woher es komme, daß von Allen, die irgend eine der sieben freien Künste nicht als Lebensberuf, sondern nur zu ihrem Vergnügen ( por il loro diletto) betreiben, gerade die poetischen Dilettanten den unwiderstehlichen Drang fühlen, mit völlig unzulänglichen Versuchen an die Oeffentlichkeit zu treten, ohne die geringste Furcht, sich lächerlich zu machen, oder von der gestrengen Kritik gebührend heimgeschickt zu werden.

Von den Unzähligen, die in ihren Mußestunden etwa ein Porträt kritzeln oder ein Landschäftchen aquarelliren, strebt Keiner nach der Ehre, auch nur im bescheidensten Winkel eines Ausstellungssaals sich unter die zünftigen Maler zu mischen, wie auch Diejenigen, die mit ihren musikalischen Talenten anspruchslose Freundeskreise erfreuen oder Vergnügen daran finden, in Liebhabertheatern mitzuspielen, kaum je sich erkühnen, in öffentlichen Concerten oder auf einer ordentlichen Bühne ihr schwaches Lichtchen leuchten zu lassen. Sobald aber ein gefühlvoller junger Mann oder ein zartes Jungfräulein ein kleines Heft mit lyrischen Versen angefüllt oder versucht hat, auf novellistischem Wege zwei Herzen glücklich zu machen, geschweige denn in stolzen Jamben den unglücklichen Konradin zum tausendundersten Mal aufs Schaffot zu bringen, ist kein Halten mehr. Die Tagesblätter und Dichterheime werden mit der Bitte um Aufnahme bestürmt, die »Novelle« wird an sämmtliche Familienblätter und das »historische Drama« an alle Bühnen verschickt.

Woher dies leidenschaftliche Streben, mit einer Kunst hervorzutreten, von der es bekannt ist, daß nur wenige Auserwählte in ihre Geheimnisse eindringen, so Viele sich auch für berufen halten? Liegt der Grund nur darin, daß gerade diese Kunst sich eines Materials, eines Mittels der Darstellung bedient, das Jeder leicht handhaben zu können glaubt, während die Schwesterkünste alle Unberufenen durch die Nothwendigkeit abschrecken, das, was Handwerk an ihnen ist, zunächst in redlicher Uebung sich anzueignen? Weiß doch ein Jeder, daß Jahre eifrigen Studiums nöthig sind, um seine Stimme zum kunstmäßigen Gesang zu schulen, ein Instrument beherrschen zu lernen, oder seine Hand und sein Auge zu üben, um sie zur künstlerischen Nachbildung der Natur geschickt zu machen. Dagegen scheint es nicht der geringsten Mühe und Arbeit zu bedürfen, um in der Muttersprache etwas zu äußern, was nicht nur dem eigenen Geist und Gemüth Befriedigung gewährt, sondern nach der beliebten heuchlerisch bescheidenen Phrase »wenigstens in Einem Herzen einen Widerhall erwecken möchte«.

Ist nicht auch ein Dichter gekommen und hat die Thore des Musentempels weit aufgethan mit dem Rufe: »Singe, wem Gesang gegeben!«? Ja, hat er nicht sogar die Versicherung hinzugefügt, »nicht an wenig stolze Namen sei die Liederkunst gebannt«? Wer sollte da noch zurückbleiben, wenn er die tiefe Ueberzeugung hegt, von dem »übers ganze deutsche Land ausgestreuten Samen« der Poesie sei auch in seinen Busen ein Körnchen gefallen! Wie sollte ihn nicht auch das Goethe'sche Wort ermuthigen:

Dichter lieben nicht zu schweigen,
Wollen sich der Menge zeigen –?

Liegt es doch nahe, wenn man nur den lebhaften Trieb fühlt, sich der Menge zu zeigen, schon darum sich für einen Dichter zu halten.

Aber des billigen Spottes auf die verschämten Armen am Geist sollte man sich enthalten, die, wenn es ihnen so ums Herz ist, in ihr Kämmerlein gehen und die Thür hinter sich zuschließen, um im Nachklang an bekannte Melodieen in die Saiten der alten Leier zu greifen. Sie haben freilich oft das dunkle Gefühl, etwas durchaus Ueberflüssiges zu thun, wenn sie Gedichte machen, doch in dem Sinne des Sprüchleins le superflu – chose très nécessaire, so nothwendig wenigstens, wie die rothen und blauen Blumen im Kornfelde, die der nur auf seine Ernte bedachte Landmann als ein wucherndes Unkraut haßt, die Dorfmädchen aber zu Kränzen winden und die jungen Bursche, wenn sie zum Tanze gehn, hinters Ohr oder ins Knopfloch stecken.

Dann aber – wie Viele giebt es, denen die Illusion, ein Dichter zu sein, einen Trost und Halt in trüben Lebensschicksalen gewährt! Was liegt daran, ob die rhythmische Beichte ihrer Leiden nur wie ein unbeholfenes Stammeln klingt und in keines Nebenmenschen Brust ein tieferes Echo zu erwecken vermöchte! Hat sie doch ihnen wohlgethan und Niemand weh, während das Privatvergnügen musikalischer Dilettanten oft genug ihre Nachbarn zur Verzweiflung bringt.

Viele solcher dichtenden »Stillen im Lande« sind mir im Leben begegnet, da die meisten früher oder später das Verlangen tragen, von einem zünftigen Poeten sich ein Zeugniß über ihre Befähigung ausstellen zu lassen. An Einen unter ihnen, dessen Bekanntschaft ich vor vielen Jahren machte, kann ich nie ohne Rührung zurückdenken.

*

Eines Sommernachmittags wurde mir ein Besuch gemeldet. Auf der geschriebenen Karte, die mir das Mädchen ins Zimmer brachte, las ich einen mir völlig unbekannten Namen, Nikodemus K…, darunter die seltsamen Worte »Schriftsetzer und -steller«.

Ich hieß den Mann hereinführen, es dauerte aber eine geraume Weile, bis er die Stufen der Treppe in den ersten Stock hinauf überwunden hatte, auch das nur mit lautem Keuchen und Schnaufen und gestützt, außer auf einen Krückstock, auf den Arm eines großen, schlanken Mädchens, das er mir als seine Tochter Johanna vorstellte.

Sie verzeihen, sagte er, daß wir Ihnen zu Zweien ins Haus fallen, aber meine nichtsnutzigen Füße und der noch ruinirtere Brustkasten – ohne die Unterstützung meiner Antigone – auch habe ich von meiner Wohnung bis zu Ihnen über eine Stunde gebraucht –

Er sah sich während dieser stockend hervorgestoßenen Rede suchend um – ich rückte ihm einen bequemen Stuhl hin, auf den er mit einem dankenden Kopfnicken und einem Seufzer der Erleichterung niedersank. Seine Begleiterin, der ich ebenfalls einen Stuhl angeboten hatte, blieb nach einer höflichen Verbeugung aufrecht stehen.

Ich hatte, während der Mann neuen Athem schöpfte, Zeit, das wunderliche Paar genauer zu betrachten. Der Vater mochte die Mitte der Fünfzig erreicht haben, das dünne braune Haar über der breiten weißen Stirn war von silbernen Fäden durchzogen, der kurzgeschorene Vollbart um das aufgedunsene, ganz bleiche Gesicht schon völlig ergraut. Dies Gesicht war nichts weniger als schön oder bedeutend, die kleinen schwarzen Augen nur durch einen Ausdruck von Hülflosigkeit anziehend. Und doch, je länger ich die breiten, verschwommenen Züge betrachtete, je gewinnender erschienen sie mir, zumal der Mund, dessen volle, immer halbgeöffnete Lippen ein Lächeln unendlicher Güte und rührender Harmlosigkeit umspielte.

Die unbehülflichen Glieder des Mannes steckten in einem schwarzen Anzug, der sehr fadenscheinig, aber von jedem Flecken und Stäubchen frei war, und in der Hand hielt er einen ebenso peinlich gebürsteten weichen Filzhut, über den auch schon mancher Sommerregen niedergegangen zu sein schien.

Die Tochter war, bis auf die dürftige, aber höchst saubere Kleidung, durchaus das Widerspiel ihres Vaters, eine stattliche Figur von schönstem Ebenmaß, auf dem schlanken Halse ein sehr regelmäßig gebildetes, noch jugendliches Gesicht, das der Ausdruck einer tiefen Schwermuth nur noch anziehender machte.

Als ich sah, daß der Schwerathmende sich ein wenig erholt hatte, fragte ich, womit ich ihm dienen könne.

Er blickte zuerst zu seiner Tochter auf, als ob er sich von ihr ermuthigen lassen wollte. Sie nickte ihm leise zu, immer mit ihrem ernsten Gesicht. Dann sagte er mit vielen Pausen, um neuen Athem zu schöpfen:

Ich komme mit einem Anliegen zu Ihnen, verehrter Herr, das Ihnen nicht neu sein wird. Es werden sich schon Viele um Beistand in literarischen Nöthen an Sie gewendet haben, aber schwerlich je ein so alter Knabe, wie ich. Um Ihnen das zu erklären, müssen Sie mir erlauben, Ihnen meine Personalien – in aller Kürze – mitzutheilen.

Sehen Sie, ich bin von Geburt ein Regensburger, aus einer Familie, die seit Menschengedenken das Buchdruckergewerbe betrieben hat. Auch mein Vater wollte mir sein Geschäft einmal übergeben, kam aber in schlechte Umstände, verlor sein kleines Vermögen und überlebte das Unglück nicht lange.

Ich mußte bei seinem Concurrenten als Setzer eintreten – eine bittere Pille, die ich aber, ohne den Mund zu verziehen, verschluckte, da ich eine alte Mutter zu ernähren hatte. Und dann – ich war schon damals ein heimlicher Dichter, und Sie wissen, verehrter Herr, mit einem Trunk aus dem kastalischen Quell im Munde spült man auch recht harte und widrige Bissen hinunter.

Nun, das ging so eine Weile, bis mich das Schicksal aller Sterblichen ereilte. Die jungen Poeten trifft's meist ein bischen heftiger als Andere. Ich verliebte mich – natürlich nicht zum ersten Mal, denn schon auf der Schule hatte ich die schönsten Liebesgedichte verfaßt, aber zum ersten Mal ernsthaft. Und ich hatte auch nicht über »verschmähter Liebe Pein« zu klagen. Ich war damals – Sie werden's dieser bröckligen Ruine kaum mehr glauben – ein Bursch, der sich wohl sehen lassen konnte. Dazu zweiundzwanzig Jahr, und glaubte, die Welt werde noch einmal meinen Namen mit Hochachtung nennen.

Es wurde aber doch nichts daraus. Das Mädchen war aus einem stockkatholischen Hause, ich Protestant. Obwohl mich die Eltern gern hatten, ließen sie's doch geschehen, daß die Pfaffen in der Beicht' meiner Liebsten die Hölle heiß machten, wenn sie einen Ketzer nahm'. Und so gab sie mir eines Tages mit vielen Thränen den Ring zurück, den ich ihr zur Verlobung geschenkt hatte, und heirathete bald darauf einen rechtgläubigen Biedermann, bei dem auch ihr irdisches Theil außer ihrem Seelenheil besser aufgehoben war, als es bei mir gewesen wäre.

Es litt mich dann nimmer lang in meiner Vaterstadt, zumal ich auch die Mutter bald verlor, und ich zog nach München. Hier fand ich bald Arbeit und auch sonst das beste Glück, das mir, außer meiner Dichtergabe, der Himmel beschert hat. Ich hatte mich bei einer wohlhabenden Beamtenwittwe eingemiethet, die eine einzige Tochter hatte, Beide auch katholisch, aber nicht so engherzig, wie meine Regensburger verflossenen Schwiegereltern und ihr Kind. Und da sie merkten, daß sie's mit einem Dichter zu thun hatten, bekamen sie einen gewaltigen Respect vor dem armen Teufel von Zimmerherrn. Die Tochter, die eine Handschrift hatte wie gestochen, ließ nicht nach, bis ich ihr all meine Verse zum Abschreiben gegeben hatte. Ueber die Gedichte auf die treulose Geliebte vergoß sie die mitleidigsten Thränen, die ich aber aufs Schönste zu trocken wußte, da ich ihr die zärtlichsten und verehrungsvollsten Lieder an sie selbst in die Hände spielte.

Nun, das dauerte nicht über Jahr und Tag, da war sie meine liebe Frau. Es gab keinen glücklicheren Menschen als mich unter Gottes Sonne. Und wenn man sagt, die Vögel singen nur, so lange sie ihr Nest noch nicht fertig gebaut haben, – bei den ungefiederten Singvögeln trifft das nicht zu. Meine poetische Ader strömte erst recht reichlich, seit ich Gatte und Vater geworden war, Vater eines Mägdleins freilich – er warf einen zärtlichen Blick auf die Tochter –, wie es in ganz München kein zweites gab.

Sei nur ruhig, Johanna. Ich weiß, du kannst's nicht hören, daß ich dich lobe. Aber wenn Sie sie kennten, verehrter Herr –!

Nun also, dies ausbündige Glück genoß ich ganze zehn Jahre. Dann verlor ich mein Weib. Es traf mich so hart, daß ich das erste Vierteljahr nicht einmal meinen Schmerz in Versen klagen konnte. Und hätte ich das Kind nicht gehabt –

Denn die Arbeit, die sonst die beste Herzstärkung ist, konnte mich auch nicht groß trösten. Sehen Sie, Herr, es hat mir immer an Ehrgeiz gefehlt, es in meinem Gewerbe weiter zu bringen, etwa so weit, daß ich das väterliche Geschäft zurückkaufen und mich hätte selbständig machen können. Ich verdiente so viel, daß ich mit dem, was meine Frau besaß, anständig auskommen konnte. Und meinen eigentlichen Lebensberuf hatte ich ja wo anders, obwohl vorläufig nur ich selbst darum wußte und auf einen klingenden Erfolg nicht zu hoffen war.

Denn Sie wissen selbst, verehrter Herr, die Poesie ist das Aschenbrödel unter den schönen Künsten. Alle hundert Jahr einmal kommt ein fabelhafter Prinz, der sie von ihrem Herde wegholt und auf sein Schloß führt. Daß ich ein solcher nicht war, habe ich frühzeitig merken können. Ich war aber darum nicht niedergeschlagen. Den köstlichsten Gewinn hatte ich ihr ja schon zu danken, mein häusliches Glück und die innere Seligkeit in meinen poetischen Weihestunden,

Sie werden vielleicht denken, ich bildete mir zu viel ein, auch fehle mir's ja an der nöthigen Bildung, da ich nur eine Realschule besucht hatte und hernach gleich ins Handwerk eingetreten war. Aber gerade dies Handwerk – kein anderes hilft einem so gut, die Lücken in seiner Bildung auszufüllen. So am Setzkasten in einer großen Druckerei – was kommt einem da nicht alles in die Hände! Man kann ohne Uebertreibung sagen, man lernt da mehr als mancher Student, es ist eine Universität im Kleinen, und zwar macht man alle vier Facultäten durch, so daß ich wohl mit Faust sprechen darf: Habe nun ach, Philosophie – und so weiter. Eher muß ich glauben, daß ich mich zu viel gebildet habe. Die Redactionen wenigstens, denen ich hin und wieder einzelne meiner Gedichte einsandte, erklärten mir, sie seien zu gelehrt, zu tiefsinnig und räthselhaft, so sehr sie das Talent darin anerkennen müßten. Nun, die Liebesgedichte so zu verzetteln, hätte ich nie übers Herz gebracht. Ich wollte warten, bis ich diese intimen Sachen einmal in »Gesammelten Dichtungen« als Buch herausgeben könnte. Aber dazu ist es immer noch nicht gekommen, und jetzt, da das Lämpchen bald kein Oel mehr haben wird –

Er verstummte und ließ den Kopf tief auf die Brust sinken, die mühsam arbeitete. Die Tochter neigte sich zu ihm hinab und trocknete mit ihrem Tuch die Stirn des Vaters, auf der große Tropfen standen. Dabei flüsterte sie ihm etwas ins Ohr, das ihn seinem Brüten entriß.

Hast Recht, Kind, sagte er und drückte ihr die Hand, wir halten den Herrn zu lange auf. Mein Gott, wenn einmal mein Nekrolog in der Zeitung erscheint, wird er nicht halb so ausführlich sein, wie das, was ich Ihnen hier vorgeschwatzt habe. Also zum Ende zu kommen: wollten Sie die große Güte haben, eine meiner Dichtungen anzusehen und mir Ihre aufrichtige, aber gewiß ganz aufrichtige Meinung darüber zu sagen? Ich möchte doch – der Doctor meint zwar, ich hätte noch ein paar Jahre vor mir – aber die Arbeit in der Druckerei habe ich schon seit zehn Monaten aufgeben müssen, die weiten Wege und das Bücken über dem Setzkasten – es ging halt nicht mehr. Nun, man hat mir eine Pension nicht verweigern können – fünfundzwanzig Dienstjahre –, und überdies verdient meine Johanna, die ein großes Talent zum Putzmachen hat, ein hübsches Sümmchen dazu; immerhin müssen wir uns jetzt einschränken gegen früher, denn das kleine Vermögen, das von ihrer Mutter kommt, darf um keinen Preis angepackt werden. Da begreifen Sie, verehrter Herr, wenn ich durch Ihre gütige Fürsprache ab und zu ein kleines Honorar erhalten könnte – natürlich sollen Sie mich nicht gegen Ihr Gewissen empfehlen – aber ich müßte mich sehr täuschen, wenn in meinen Sachen nicht doch – nun, Sie werden ja selber sehen.

Er griff in die Brusttasche und zog ein Heftchen heraus, das nur aus ein paar Octavbogen bestand. Auf dem Titelblatt las ich:

Scheu-Tsi, Scheuch-Tsi!
Capritschio
frei nach dem Chinesischen
von
N. K.

Ich sehe, der curiose Titel giebt Ihnen auf zu rathen, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln. Aber lesen Sie nur die getrennten, scheinbar zopfigen Worte zusammen, so wird Ihnen der Sinn klar werden. Und glauben Sie nicht, ich wüßte nicht, wie man Capriccio schreiben muß. Es steckt eben ein Witz in der falschen Orthographie, ich wollte andeuten, daß ich in dem Gedicht mit der Pritsche um mich schlage, Sie werden schon sehen, wem die Hiebe gelten. Bitte, lesen Sie's mit aller Muße, zum Vorlesen fehlt mir leider der Athem – ja sonst – Gelt, Johanna, ich las sehr gut? Und wenn Sie gelesen haben, bitt' ich, mich's nur durch eine Postkarte wissen zu lassen. Ich komme dann und hole mir Ihr Urtheil. Sie sollen sich nicht mit einer schriftlichen Kritik bemühen.

Ich erwiderte, daß ich ihm das gewünschte Urtheil jedenfalls ins Haus bringen würde, er dürfe sich nicht zum zweiten Mal auf den weiten Weg machen, und unter Collegen seien Höflichkeitsrücksichten nicht am Platze. Doch erst nach langem Weigern war er dazu zu bringen, mir seine Wohnung zu verrathen. Dann, unter vielen Danksagungen, keuchte der wackere Mann, von seiner schweigsamen Tochter unterstützt, aus meinem Zimmer und die Treppe wieder hinab, und ich machte mich sofort daran, das chinesische Opus näher kennen zu lernen.

*

Eine der wunderlichsten Ausgeburten eines einsamen Poetengehirns, die mir jemals vorgekommen waren.

Eine Kapuzinade von etlichen hundert Versen, einem Derwisch in den Mund gelegt, der das Reich der Mitte durchwandert und allerorten sich über das Unwesen einer herrschsüchtigen, habsüchtigen Priesterschaft entsetzt, die ihre Macht mißbraucht, um das arme, unwissende Volk in der Finsterniß zu erhalten und bequem im Trüben zu fischen. Durch den dünnen Schleier der chinesischen Vermummung blickten unverkennbare heimische Gesichter und Zustände durch, der ganze leidenschaftliche Ingrimm eines Menschen, der unter pfäffischer Unduldsamkeit gelitten hatte und sich durch die Narrensprünge und Pritschenhiebe einer poetischen Maskerade mit übersprudelndem Galgenhumor das Herz zu befreien und sein Müthchen an den Feinden zu kühlen suchte.

Auch die Form war seltsam. Die mannichfaltigsten Strophen und Rhythmen taumelten durch einander, nur die Reinheit der Reime war ängstlich gewahrt, nach Art der Dilettanten, die hierin das Wesentlichste der Kunst zu sehen pflegen, zumal es unschwer zu erreichen ist, wenn man nur leichten Herzens darauf verzichtet, »den Gedanken rein zu haben«.

Ich las diese langathmige krause Fastenpredigt mit sehr gemischtem Gefühl. In dem tollen Feuerwerk, das über den bezopften Häuptern der Bonzen abgebrannt wurde, verpufften oft genug die Schwärmer und Frösche mit einem ohnmächtigen Zischen und Prusten, wie von feucht gewordenem Pulver. Auch an schwachen Wortspielen fehlte es nicht; eines der glücklichsten, aber freilich billigsten war noch die Anklage, daß der große Confucius eine ungeheure Confusion in den Gehirnen der Gläubigen angestiftet habe. Doch über all den barocken Spuk erhoben sich auch einige wahrhaft dichterische Stellen, Gedanken von idealem Schwung, wie Leuchtkugeln oder flotte Raketen, die das Auge erfreuten und zu überraschtem Beifall herausforderten.

Alles in Allem: eine immerhin merkwürdige Talentprobe, die nur das Bedauern erregte, daß der Verfasser trotz des Studiums an der Hochschule des Setzkastens keine tiefere und reinere Bildung gewonnen hatte.

Ich mußte mir leider sagen, daß keine Aussicht sei, dem Gedicht Aufnahme in einer angesehenen Wochen- oder Monatsschrift zu erwirken, auch wenn man die anstößigsten Stellen unterdrückte und harmlosere Geschmacklosigkeiten beseitigte. Meine Freunde, die ich zu Rathe zog, waren derselben Meinung. Und da der Verfasser dieses interessanten Monstrums dasselbe doch wohl für sein gelungenstes Werk ansah, von dem er sich am meisten Erfolg versprach, war auch nicht zu hoffen, daß unter seinem anderen poetischen Vorrath sich etwas Genießbareres und Druckfähigeres finden lassen würde.

Da mir noch immer sein gutes, treuherziges Gesicht vorschwebte und die schüchterne, aber vertrauensvolle Heiterkeit, mit der er sein Anliegen vorgebracht hatte, war mir der Gedanke, ihm nicht helfen zu können, ein wahrhafter Kummer, der durch ein Billet der Tochter, das schon am nächsten Tage eintraf, nur noch gesteigert wurde.

Sie schrieb mir, der Arzt habe bei der heutigen Untersuchung das Leiden ihres Vaters – eine Herzerweiterung – erschreckend rasch fortgeschritten gefunden und sie darauf vorbereitet, daß vielleicht schon sehr bald das Ende eintreten könne. Der Kranke habe keine Ahnung, wie es um ihn stehe. Er sei des festen Glaubens, alle seine Beschwerden rührten von dem Asthma her, das in seiner Familie erblich gewesen. Nun aber bitte sie mich, falls ich kein so günstiges Urtheil über das Gedicht zu fällen hätte, wie sie hoffe und wünsche, dem theuren Kranken nicht die volle Wahrheit zu sagen. Es würde ihn, so sehr ihn nach der Erkenntniß seiner Fehler verlange, allzu schmerzlich treffen, ja vielleicht seine letzte Stunde beschleunigen.

Des Briefes, der in seiner rührenden Schlichtheit den Eindruck bestätigte, den die Person der Schreiberin auf mich gemacht, hätte es natürlich nicht bedurft, um alle Kritik zu entwaffnen. Es drängte mich nun aber um so mehr, dem armen Poeten, selbst auf Kosten der Wahrheit, eine kleine Herzstärkung zu bringen, und ich ließ nur darum einige Tage bis zu meinem Besuch vergehen, um die fromme Lüge wahrscheinlicher zu machen.

*

Die Wohnung meines kranken Collegen lag jenseits der Isar, in der Vorstadt Au, in einem vier Stock hohen Hause, das von lauter kleinen Leuten bevölkert war. Es war traurig, zu denken, daß der schwerathmende Mann täglich diese hohen, steilen Treppen hatte hinaufkeuchen müssen.

Als ich aber oben geklingelt hatte und, von der Tochter freudig begrüßt, in das vordere Zimmer geführt worden war, leuchtete mir die volle Nachmittagssonne so lachend entgegen, daß ich begriff, einem sanguinischen Poeten müsse von hier oben gesehen die Welt trotz alledem nicht als ein Thal der Thränen erscheinen.

Ein großer, sehr bescheiden möblirter Raum, ungemein sauber gehalten und mit Blumen auf einem grüngestrichenen Gestell geschmückt, weiße, frischgewaschene Musselinvorhänge an beiden Fenstern, durch die man über die Dächer hinweg und an dem schlanken Thurm der Auerkirche vorbei zu einem Streifen des Gebirges hinübersah. Am Fensterpfeiler ein Stehpult, davor ein Reitesel mit stark abgewetztem Leder bezogen, an der schmalen Wand nur zwei Bilder, ein Frauenbild in einer verblichenen Photographie und darüber ein großer, aus irgend einer illustrirten Zeitung ausgeschnittener Holzschnitt, der den edlen Löwenkopf Freiligrath's darstellte. Auch der übrige Bilderschmuck an den Wänden schien von ähnlicher Herkunft; doch nahmen sich diese Ausschnitte, meist Dichterportraits und ihre Denkmäler oder Geburtshäuser, in ihren dünnen Goldleistchen ganz artig aus und waren in zierlicher Ordnung neben und über einander angebracht.

Im Hintergrunde des Zimmers stand ein mit einer geblümten Kattundecke sauber verhülltes Bett, ohne Zweifel das des Papa's, während in einer Kammer nebenan, deren Thür offen stand, die Tochter ihr kleines Reich zu haben schien. Vor den Fenstern aber waren zwei Arbeitsplätze eingerichtet, vor dem einen das Nähtischchen, an welchem Fräulein Johanna ihre Hüte und sonstige Putzmacherarbeit anfertigte, – einige sehr phantasievoll aufgeschmückte von zweifelhaftem Geschmack präsentirten sich an hölzernen Haubenstöcken auf der Kommode – an dem andern Fenster der Schreibtisch des kranken Dichters, vor welchem er in einem mit gestickten Kissen ausgepolsterten hohen Rohrsessel saß. Bei meinem Eintritt erhob er sich mit einem rührenden Ausdruck der Freude, um mir entgegenzugehen.

Ich kam ihm zuvor und nöthigte ihn, seinen Sitz wieder einzunehmen.

Er trug einen leichten Schlafrock von gestreiftem Wollstoff, um den sehr reinlichen Hemdkragen ein schmales seidenes Tüchlein geknüpft, die dünnen Haare sorgfältig über die Schläfen gekämmt.

Sie bemühen sich wirklich meine hohe Himmelsleiter hinauf, Verehrtester, rief er, über das ganze breite Gesicht lachend. Und ich hier in meinem Hauskleid – auf Besuch nicht eingerichtet – denn ich erwartete Sie noch gar nicht – meine Tochter kann mir's bezeugen – Sie sind so viel beschäftigt – aber gewiß haben Sie sich vorgestellt, daß ich auf Ihren Ausspruch mit der fieberhaften Spannung eines armen Sünders begierig war – o bitte, setzen Sie sich und erlauben Sie mir – Johanna! Nur, daß ich einen anständigen Rock –

Ich beruhigte ihn über seine Toilette und bat ihn, doch nur keine Umstände zu machen. Wie hübsch er hier wohne! Und wie sauber es bei ihm aussehe! Nicht jeder Dichter hält so rein, aber freilich nicht jeder kann sich einer so treuen weiblichen Pflege rühmen.

Das schöne ernste Mädchen hatte sich, nachdem sie mir einen Stuhl gebracht, an das Nähtischchen gesetzt und die Arbeit wieder aufgenommen. Sie erröthete über mein Lob. Gleich darauf sah ich ihren Blick sorgenvoll auf mich gerichtet, voll Erwartung, was ich dem Vater sagen würde.

Ja, mein lieber Herr College, fing ich an, es lag nicht an mir, daß ich erst heute komme. Mein eigenes Urtheil über Ihr Gedicht, das sehr günstig ist, hätt' ich Ihnen gleich am Tage nach Ihrem Besuch bringen können. Ich wollte aber abwarten, was mein Freund Julius Rodenberg dazu sagen würde, und ob er geneigt wäre, es in seine Monatsschrift, den »Salon«, aufzunehmen. (Es war noch vor den Zeiten der »Deutschen Rundschau«.) Nun, erst heute ist die Antwort eingetroffen. Er findet, gleich mir, Ihr »Capritschio« sehr originell und wird es mit Vergnügen abdrucken und honoriren, wenn Sie ihm ein wenig Zeit lassen, da die nächsten Hefte schon festgestellt sind. Im Herbst aber denkt er jedenfalls damit herauszurücken.

Niemals habe ich mein Gewissen über eine Nothlüge rascher beruhigt, als über diese. Denn ihre Wirkung war zauberhaft.

Zwei dicke Thränen traten dem Kranken in die Augen und rollten langsam über sein bleiches, gedunsenes Gesicht, während er meine Hand mit seinen beiden ergriff und zitternd mit seinen kühlen Fingern drückte. Eine Weile versagten ihm die Worte. Dann aber blickte er zu der Tochter hinüber und stammelte: Hast du gehört, Johanna? Am Abend meines Lebens bricht die Sonne noch einmal durch die Wolken, Du hast nie an deinem verkannten alten Vater gezweifelt. Aber ich selbst hoffte Nichts mehr. Ich hatte auf die Anerkennung der Mitwelt verzichtet und tröstete mich mit dem Spruch:

Was glänzt, ist für den Augenblick geboren;
Das Echte bleibt der Nachwelt unverloren.
Und jetzt doch noch –

Er konnte nicht weiter sprechen, der Athem versagte ihm. Aber während seine beklommene Brust schwer arbeitete, strahlten seine Zuge von dem Glanz einer überschwänglichen Freude. Dann deutete er auf ein dickes Manuscript, das vor ihm lag, und sagte:

Sehen Sie, verehrter Freund und Gönner, Sie finden mich gerade an der Arbeit, für meinen Nachruhm zu sorgen, der mir in kleinmüthigen Stunden gar zweifelhaft geworden war. Nun aber lebt die Zuversicht wieder auf, es werde auch meine Zeit noch einmal kommen, wenn auch nur mein Kind sie noch erlebt. In meiner unfreiwilligen Muße habe ich mich daran gemacht, mein ganzes poetisches Vermächtniß durchzusehen und druckfertig zu machen – zwei dicke Bände, unter dem Titel »Lust und Leid« meine Privatangelegenheiten; dann, was ich als Theilnehmer an den Kämpfen der Zeit und den großen Menschheitsfragen mir vom Herzen gesungen habe. »Welt und Zeit« habe ich diesen Band betitelt. Es sind, ohne mich zu rühmen, Sachen darunter, die an Schwung und Gedankenfülle weit über der chinesischen Schnurre stehen. Ich bin Ihnen schon so unendlich viel Dank schuldig, ich wage kaum zu hoffen, daß Sie – nur ganz gelegentlich – auch in diese Hefte einen Blick werfen möchten. Streichen Sie nur gleich durch, was Ihnen nicht gelungen scheint. Was Sie aber für werthvoll halten – ein Wort von Ihnen wird gewiß sofort einen Verleger geneigt machen – mein Gott, ich denke ja nicht an ein hohes Honorar – die Gewißheit, nicht umsonst gelebt und gedichtet zu haben, ist mir Lohn genug, und dann kann ich sagen: Herr, nun lassest du deinen Diener in Frieden fahren. O wenn ich es nur noch erleben könnte, die Correcturen selbst zu lesen! Was dann die Kritik dazu sagt, daran mag meine Johanna sich erbauen.

Ich erklärte mich gern bereit, seinen Wunsch zu erfüllen. Ich hätte ihm ohne Bedenken das Unmöglichste versprochen, so unwiderstehlich war das verklärte Gesicht, mit dem er zu mir aufsah.

Doch nun stand ich eilig auf, unter dem Vorwunde, er dürfe nicht so viel sprechen. Mein Blick streifte noch einmal die Bilder über seinem Stehpult. Er sei wohl ein großer Verehrer Freiligrath's, sagt' ich, daß er ihm diesen Ehrenplatz eingeräumt habe.

Er lächelte eigentümlich.

Gewiß, sagte er, ich liebe und bewundere ihn sehr. Daß er aber da hängt über dem Bilde meiner theuren Frau – Sie sehen, meine Tochter war so gescheidt, nicht mir, sondern der Mutter im Aeußeren nachzuarten – das hat einen Grund, der Ihnen recht lächerlich scheinen wird. Immer, wenn ich meine plumpe Figur und meine plebejische Visage betrachtete, sah ich mir dann wieder diesen herrlichen Mann an und tröstete mich, daß man einen dicken, unschönen Körper haben könne, in dem doch eine ideale Dichterseele wohne. Im Uebrigen – Sie werden in meinen Gedichten sehen, daß ich gleich ihm Zeitlebens ein strammer Demokrat gewesen bin – kein Socialdemokrat, behüte! Denn die Phantasie hat meine gesunde Vernunft nicht todt machen und mich zu socialen Phantastereien verführen können. Auch habe ich meine arme Seele stets vom Neide rein gehalten. So bescheiden mein äußeres Loos war – sagen Sie selbst, ob man sich hier oben, dieses weite, sonnige Stück Welt vor Augen, eine Tochter wie meine Johanna zur Seite und durch die Gunst der Musen getröstet über alles Erdenweh, nicht für einen bevorzugten Sterblichen halten muß?

Ich nickte, gerührt von so viel harmlos genügsamer Lebensfreude in aller leiblichen und geistigen Enge, und bat, mir die Hefte mitzugeben. Davon wollte der Gute aber nichts hören. Seine Tochter werde sie mir bringen, ich solle mich nicht damit schleppen. Auch habe er noch an einige Verse eine letzte Feile zu legen.

So nahmen wir Abschied von einander. Das stille Mädchen begleitete mich hinaus. Sie haschte draußen nach meiner Hand, ich konnte mit Mühe abwehren, daß sie ihre Lippen darauf drückte. Sie wissen nicht, hauchte sie, was für eine Wohlthat Sie uns erwiesen haben. Ich werde es Ihnen ewig – ewig danken!

*

Am nächsten Tage wurde mir ein dickes Packet gebracht; das Fräulein aus der Au habe es für mich abgegeben, sich aber nicht melden lassen wollen.

Als ich die beiden schön geschriebenen Bände dieses Vermächtnisses durchblätterte, fand ich, was ich nach jenem »Scheut sie, Scheucht sie« erwartet hatte: in einem großen Haufen poetischer Spreu hin und wieder eine Handvoll goldenen Weizen. Die Abtheilung »Lust und Leid« enthielt davon am wenigsten. Es waren Naturstimmungen, Liebesklagen, Betrachtungen über ein erfolgloses dichterisches Streben – Alles im landläufigen Dilettantenstil. Erst wo im zweiten Bande die satirische Ader des guten Nikodemus sich rührte, in allerlei munteren oder bissigen Expectorationen über sociale Zustände, Invectiven gegen »den Uebermuth der Aemter und die Schmach, die Unwerth schweigendem Verdienst erweis't,« konnte man eine echte poetische Anlage erkennen, die leider in Halbbildung und bei dem Mangel an jeder eigenen und Freundeskritik verkümmert war.

Ich legte das unförmliche Manuscript mit Kummer bei Seite. Wer konnte sagen, was aus diesem unleugbaren Talent bei so viel Frische des Naturells geworden wäre, wenn es, in einen günstigen Boden gepflanzt, die rechte Pflege gefunden hätte?

Einige dieser Gedichte gaben immerhin Anlaß, dem Verfasser etwas Freundliches zu sagen, und ich nahm mir vor, auch ein wenig Kritik einzumischen, um zu beweisen, daß ich es ernst damit genommen hätte.

Doch sollte ich dieser Liebesmühe überhoben werden. Denn etwa acht oder zehn Tage nach meinem Besuch zeigte mir die Tochter in einem kurzen Billet an, daß ihr geliebter Vater durch einen Herzschlag von seinen langen Leiden erlös't worden sei.

Ich schrieb ihr ein Wort der Theilnahme und schickte Blumen für den Sarg, einen Palmenzweig, mit dem ein paar Lorbeerreiser und weiße Rosen verflochten waren. Zugleich entschuldigte ich mich, dem Begräbniß nicht beiwohnen zu können. Ein Unwohlsein hielt mich ans Zimmer gefesselt.

Hierauf vergingen ein paar Wochen. Ich fühlte endlich die Verpflichtung, mich nach der verwais'ten Tochter umzusehen und ihr das poetische Vermächtniß ihres Vaters zurückzubringen, als sie mir zuvorkam und eines Tages bei mir eintrat.

Sie erschien in ihrem schwarzen Kleide mit dem blassen Gesicht und den leichtgerötheten Augen als ein Bild des tiefsten Grams, dessen Herzenswunde noch keine leiseste Hoffnung erweckt, sich zu schließen. Bei dem ersten theilnehmenden Wort, das ich ihr sagte, stürzten ihr die Thränen aus den Augen. Niemand weiß, was für ein herrlicher Mensch er war! brach es stockend von ihren Lippen. Verzeihen Sie – es ist noch so frisch – ich kann noch immer nicht daran glauben, daß ich ihn verloren habe.

Dann, als ich sie nach seiner letzten Zeit fragte, faßte sie sich und berichtete, er sei sanft und ahnungslos geschieden. Noch eine Stunde vorher habe er davon gesprochen, nun würde ich wohl bald wieder bei ihnen eintreten und über das Nähere in Betreff der Herausgabe der Gedichte mich mit ihm besprechen. Es werde wohl Manches ausgeschieden werden müssen, schon des Umfangs wegen, das Beste aber gebe immer noch einen stattlichen Band.

Wir schwiegen darauf Beide. Ich suchte in Gedanken nach einem Ausweg, der Trauernden nicht gleich heute die Wahrheit eingestehen zu müssen. Sie aber schnitt mir jeden behutsam schonenden Rückzug ab.

Ich habe jetzt nur noch eine heilige Pflicht zu erfüllen, sagte sie: das Vermächtniß des Entschlafenen seinem Volk zu überliefern. Ich brauche nicht zu sagen, wie innig dankbar ich Ihnen sein werde, wenn Sie mir dabei ferner mit Ihrem gütigen Rath an die Hand gehen wollten. Bei dem Interesse, das Sie an den Dichtungen meines Vaters genommen haben, wird es Ihnen selbst eine Genugthuung sein, seinen Namen nach seinem Tode zu Ehren zu bringen.

Sie schlug die Augen still zu mir auf und wartete, was ich ihr zu sagen haben würde. Ich fühlte mich in peinlichster Verlegenheit und begriff doch, daß ein weiteres Verhehlen der Wahrheit nur unerfüllbare Hoffnungen erregen konnte und eine schmerzliche Enttäuschung dem armen Mädchen auf keine Weise zu ersparen war.

Ich erinnerte sie daher an ihre Bitte, mein Urtheil über das chinesische Poem dem Kranken nicht schonungslos mitzutheilen, und gestand meine fromme Lüge, indem ich das Heft hervorzog, das aus meiner Verwahrung nie hinausgekommen war. Was ich irgend an Anerkennung des Talents zu sagen wußte, äußerte ich aufs Wärmste. Doch diese wie alle übrigen Dichtungen des theuren Mannes entbehrten der Reife, und es sei nicht zu hoffen, daß ein fremdes Publicum, das den liebenswerthen Menschen nicht gekannt habe, sich für seine Poesie erwärmen werde.

Sie hatte mich reden lassen und mit einem starren, ganz entfärbten Gesicht in ihren Schooß geblickt. Jetzt richtete sie ihren Blick fest auf den meinen und sagte mit dumpfem, fast rauhem Ton:

Also Sie halten meinen Vater nicht für einen wirklichen Dichter?

Ich suchte der directen Antwort auszuweichen, indem ich von Edelsteinen sprach, die für den Kenner des inneren Werthes nicht entbehren, auch wenn ihnen nicht die nöthigen Facetten, um zu glänzen, angeschliffen seien. Sie wiederholte aber:

Sagen Sie mir gerade heraus, was Sie meinen. Fürchten Sie nicht, daß Sie mich in meinem Glauben an ihn irre machen könnten. Ich weiß wohl, er war keiner von den ganz Großen. Aber daß er ein volles Recht hatte, auch sich des Lorbeers werth zu halten –

Gewiß, liebes Fräulein, fiel ich ihr ins Wort, und Sie wissen ja auch – und hier kam mir das gefährliche Wort Meister Uhland's zu Hülfe –

Nicht an wenig stolze Namen
Ist die Liederkunst gebannt –

aber erwägen Sie doch selbst, es handelt sich ja nicht um das, was wir Beide und der theure Todte selbst mit mehr oder weniger Recht von diesem literarischen Vermächtniß halten dürfen, sondern was das Publikum darüber urtheilen möchte. Glauben Sie meiner Erfahrung, auch wenn Sie dabei auf Ihre liebsten Wünsche verzichten müssen. Gerade, was mir diese Gedichte merkwürdig macht, wird von den Verlegern, die nur den Geschmack der großen Menge berücksichtigen, nicht gewürdigt werden. Zudem – wer kauft heute noch ein Bändchen Lyrik, selbst wenn ein bekannter Name davorsteht? Ein Honorar also wird keinesfalls –

Sie blitzte mich' vorwurfsvoll an. Ich habe nie daran gedacht, einen materiellen Vortheil von der Herausgabe zu haben, nur eine Liebespflicht zu erfüllen und ein Gelöbniß, das ich meinem Vater gethan habe, die Nachwelt zum Richter darüber aufzurufen, ob sein Lebenswerk ein verfehltes war, oder ob er sich mit Recht zu den Berufenen zählen durfte. Mit Freuden würde ich alle Kosten des Druckes tragen. Aber – und sie sah hülflos vor sich hin – das kleine Capital, das wir besaßen, ist aufgezehrt worden während seiner langen Krankheit, er hätte sonst Manches zu seiner Bequemlichkeit entbehrt. Er ahnte es nicht, er überließ mir alle diese prosaischen Sorgen, die ihn nur aus seiner idealen Welt herabgezogen hätten, und ich ließ ihn glauben, mit meinem bischen Putzarbeit verdiente ich so viel, wie wir noch brauchten, um mit seiner kleinen Pension auszukommen. Jetzt haben die Kosten der Beerdigung noch den Rest verschlungen. Für mich ist mir's gleichgültig. Ich bin gesund und habe wenig Bedürfnisse und kann arbeiten, wenn ich mich auch nie entschließen würde, selbst gegen eine glänzende Stellung in einem fremden Hause meine Unabhängigkeit aufzugeben und die Räume zu verlassen, in denen ich mit meinem Vater so glücklich war. Aber wenn Sie Recht haben sollten, daß sein Vermächtniß keinen Verleger fände, außer wenn man alle Kosten trüge, wie viel wäre es denn wohl? Wie lange müßte ich sparen, um die Summe zusammenzubringen?

Ich machte ihr einen Ueberschlag, der, nach dem Umfang dieser beiden Bände bemessen, nicht eben niedrig ausfiel. Sie sann einen Augenblick nach. Dann:

Es ist gut. Ich danke Ihnen. Bitte, geben Sie mir die Manuscripte zurück. Halten Sie es nicht für einen Mangel an Vertrauen zu Ihnen, aber Sie werden begreifen – ich kann die Sache nicht endgültig verloren geben. Es käme mir dann vor, als stürbe mir mein Vater zum zweiten Mal, und diesmal ohne den Trost einer Auferstehung.

*

Das Gespräch mit dem trefflichen Mädchen war mir sehr zu Herzen gegangen. Ich hätte viel darum gegeben, ihr zur Erreichung des so heiß ersehnten Zieles hülfreich sein zu können. Nun mußte ich sie dem unvermeidlichen Schicksal überlassen, mit ihrem vermeintlichen Schatz von Verleger zu Verleger hausiren zu gehen und überall mit Achselzucken abgewiesen zu werden. Denn ein Ausdruck von fester Willenskraft in dem jungen Gesicht ließ die Hoffnung nicht aufkommen, sie werde schon nach den ersten vergeblichen Schritten zu der Erkenntniß kommen, daß ich mit meiner Warnung Recht gehabt hätte.

Ich hatte sie beim Abschied gebeten, falls ich ihr irgend sonst einen Dienst leisten könne, wieder an meine Thür zu klopfen. Sie ließ sich aber nicht blicken, und bei der Abgelegenheit ihrer Wohnung kam es auch nicht zu einem zufälligen Begegnen. So verging Jahr und Tag, und das Erlebniß war in meiner Erinnerung ziemlich verblaßt, als sehr unerwarteter Weise die Gestalt des Dichterkindes fern von der Stadt wieder vor mich hintrat.

Auf einer Herbstwanderung durch die Vorberge war ich nach einem Oertchen gelangt, wo ich ein paar Tage zu rasten gedachte. Der ansehnliche Marktflecken lag sehr anmuthig zwischen Wiesen und waldigen Hügeln, und ein helles Bergwasser strömte hindurch, an dessen Ufern unter uralten Weiden auch am sonnigen Mittag sich's behaglich schlendern ließ.

Gewöhnlich begegnete man hier keiner Menschenseele, da die Sommerfrischler, die im Orte wohnten, sich nach den aussichtsreicheren Höhen zu wenden pflegten. Die Bänke, auf denen sich im Weidenschatten bei der Musik des starkrauschenden Flüßchens so erquicklich ruhen und träumen ließ, waren fast immer unbesetzt.

Bei meinem zweiten Spaziergang jedoch sah ich an der dunkelsten Stelle eine schwarze weibliche Gestalt sitzen, die meine Schritte aufzuscheuchen schienen. Sie wandte aber erst den Kopf und blieb dann mit einem Ausruf der Ueberraschung stehen.

Ich hatte sie schon aus der Ferne erkannt.

Sie hier, Fräulein Johanna! rief ich. So weit also muß man Ihnen nachlaufen, um Ihnen einmal wieder guten Tag zu sagen?

Sie erröthete ein wenig. Es stand ihr sehr lieblich, wie sie denn überhaupt, seit ich sie nicht gesehen, noch an Anmuth in jeder Weise gewonnen hatte, ohne jedoch den Zug von träumerischer Melancholie aus ihrem edelgeformten Gesicht verloren zu haben.

Sie erzählte mir, eine Schulfreundin, die im Ort verheirathet sei, habe sie eingeladen, ein paar Wochen bei ihr zuzubringen, und da während des Sommers das Geschäft, für das sie arbeite, nur wenig zu thun habe, auch eine Erholung ihr sehr nöthig gewesen sei, habe sie die freundliche Aufforderung gern angenommen.

Wir gingen ein Weilchen, von Diesem und Jenem plaudernd, auf dem engen Wege neben einander her. Ich hütete mich, den einen Punkt zu berühren, der zuletzt zwischen uns zur Sprache gekommen war.

Sie aber blieb plötzlich stehen und sagte: Ich habe Ihnen noch zu danken für Ihre gutgemeinte aufrichtige Warnung, mir keine Hoffnungen in Betreff der Herausgabe der Gedichte zu machen. Sie haben nur allzu Recht gehabt: keiner der vielen Buchhändler, denen ich den Verlag angeboten habe, hat darauf eingehen wollen, nicht einmal, wenn ich mich verpflichten wollte, die Auslagen nach und nach abzutragen, was freilich einige Jahre gedauert hätte. Und eine Aussicht, die sich mir ganz unverhofft eröffnet hat – erst in den letzten Tagen und hier am Ort – o Gott, in was für Gewissensnöthe hat sie mich gestürzt!

Ich sah sie verwundert an. Hier am Ort? sagt' ich. Hier ist doch wohl keine Verlagsbuchhandlung, oder haben Sie zufällig einen Buchhändler, der hier in der Sommerfrische lebt, dafür zu gewinnen gewußt?

Nein, ein eigentlicher Buchhändler ist nicht hier, wenigstens kein Verleger. Aber Sie haben wohl am Marktplatz den Laden bemerkt, in welchem allerlei Schreib- und Buchbinderwaaren zu haben sind, auch Schulbücher, Karten und Reisehandbücher. Der Besitzer des Geschäfts hat auch eine Druckerei, in der Alles besorgt wird, was der Ort und die Umgegend an Todesanzeigen und Festprogrammen, Theaterzetteln und sonstigen Anzeigen gebrauchen. Außerdem giebt er die Fremdenliste und den wöchentlich erscheinenden »Anzeiger« heraus, mit einer Unterhaltungsbeilage. Ein ganz gebildeter Mann, der eigentlich in größere Verhältnisse hineingehörte. Das Haus und das Geschäft aber hat er von seinem Vater geerbt und möchte seine Heimath hier draußen nicht mit der Stadt vertauschen.

Nun, diesen Herrn habe ich zufällig kennen gelernt bei einem Concert auf dem Sommerkeller, wohin ich mit meiner Freundin gegangen war. Wir kamen an denselben Tisch mit ihm zu sitzen, er gefiel mir ganz wohl, so daß ich, wie ein Wort das andere gab, ihm auch von den Gedichten meines Vaters erzählte, die ich natürlich bei mir habe. Denn ich möchte sie Niemand zur Aufbewahrung anvertrauen, es könnte Feuer auskommen, und Keiner dächte daran, zu retten, was er für werthloses Papier hielte.

Als ich ihm sagte, wie lange schon ich mich umsonst bemüht hätte, einen Verleger dafür zu finden, fragte er, ob er sie nicht einmal, lesen dürfe. Vielleicht entschlösse er selbst sich zu der Herausgabe, es liege ihm daran, seine Druckerei zu beschäftigen und überhaupt einmal etwas zu unternehmen.

Sie können denken, wie glücklich ich war. Gleich am nächsten Tage brachte ich ihm die Manuscripte, er zeigte mir seinen Laden, schenkte mir ein kleines Etui mit Spiegel und Kämmchen und einen Fremdenführer, den er herausgegeben hat, und bestellte mich auf die nächsten Tage wieder hin.

Ich habe die Nacht vor Aufregung kaum schlafen können. Als ich aber kam und mein Schicksal erfahren wollte – Anfangs dacht' ich wirklich, ich hätt' es endlich erreicht. Er sprach mit großer Bewunderung von den Gedichten, die er freilich noch nicht alle gelesen habe, aber sie seien so ganz anders, als was sonst in Goldschnittbändchen feilgeboten werde, und jedenfalls, wenn auch nicht das Ganze, doch eine Auswahl zu drucken, würde er sich am Ende entschließen.

Wie froh war ich! Wie innig dankte ich ihm und bot ihm meine Hand und drückte die seine, indem mir die Thränen in die Augen traten. Er aber hielt meine Hand fest und kam nun, ein wenig stockend freilich, damit heraus: eine Liebe sei der andern werth. Ein Geschäft sei mit Gedichten nicht zu machen, er denke auch nicht daran, Geld damit zu verdienen; aber ganz umsonst – er sei doch nicht in der Lage – und kurz und gut, er gab mir zu verstehen, daß er für seine Gefälligkeit erwarte, ich würde – ich bring' es nicht über die Lippen! Was giebt es für Widersprüche in einer und derselben Menschenseele! Dieser Mann, den ich für so ehrenhaft und bieder gehalten hatte – und konnte meine traurige Lage sich zu Nutze machen wollen, um mich Unglückliche –

Sie wandte sich ab, und ihre Augen füllten sich mit Thränen. Ich hatte Mühe, meine Empörung nicht ausbrechen zu lassen.

Mein liebes Fräulein, sagt' ich, ich kann es nicht glauben, Sie müssen ihn mißverstanden haben. Er wird, was ihm keine Unehre macht, eine heftige Neigung zu Ihnen gefaßt und Sie, vielleicht mit unbeholfenen Worten, um Ihre Gegenliebe gebeten haben, in allen Ehren. Gewiß haben Sie ihn nicht ausreden lassen und ihn schroff abgewiesen.

Sie trocknete ihre Augen. Ich weiß, was ich weiß, sagte sie. Er hat mich zu seiner Geliebten herabwürdigen wollen, und da er die Zwangslage sah, in der ich mich befand, nicht gezweifelt, daß ich darauf eingehen würde. Man nimmt's ja hier draußen in dem Punkt nicht sehr genau – Manche besänne sich nicht lange, schon um ein paar Ohrringe, und so eine arme Waise, die eine heilige Kindespflicht gegen ihren todten Vater damit erfüllen könnte – wird die so thöricht sein, sich noch lange zu zieren? Hat nicht die Judith sich auch für ihr Vaterland hingegeben?

Ich traute meinen Ohren nicht. Sprach sie im Ernst, oder war sie schon halb entschlossen und wollte nur hören, was ich dazu sagen würde? Ihr Gesicht war mir ganz fremd geworden, die Augen brannten unheimlich, wie aus einer tragischen Maske heraus.

Sind Sie bei Sinnen, Johanna? rief ich. Sie könnten nur einen Augenblick daran denken –.

Sie stand wieder still und nickte, den Blick starr zu Boden gesenkt, finster vor sich hin. Warum nicht? sagte sie mit bitterem Rümpfen der Lippe. Was liegt an mir – einer armen Putzmacherin? Sie ist die Erste nicht, aber der ewige Gott weiß, sie würde das Opfer mit schauderndem Herzen bringen und hernach – nun, der Fluß da ist ja nicht sehr tief, aber reißend genug, und wenn man nicht wieder in die Höhe kommen will – – Leben Sie wohl! –

Eh' ich mich noch von meiner Bestürzung erholen und ein Wort hervorbringen konnte, hatte sie einen Seitenweg eingeschlagen, der zu den Hügeln hinaufführte, mit so hastigen Schritten, daß ich an ihrer Absicht nicht zweifeln konnte, jede Einrede von meiner Seite abzuschneiden und ihrem Eigenwillen überlassen zu bleiben.

*

Ich hätte nicht einen so herzlichen Antheil an dem Schicksal des seltenen Mädchens nehmen und zu denken brauchen, ob ihr Vater eingewilligt hätte, seine zweifelhafte Unsterblichkeit zu diesem Preise zu erkaufen, um sofort den Entschluß zu fassen, Alles, was in meinen Kräften stand, zur Verhütung dieser verzweifelten Selbstvernichtung zu thun.

Zunächst lag mir daran, über den Charakter des Mannes, der dem Dichterkinde so schnöde zu nahe getreten war, zuverlässige Nachrichten einzuziehen. Als ich daher in der Gaststube des Wirthshauses, wo ich eingekehrt war, am Fenster sitzend meine Mittagsmahlzeit einnahm und die behäbige Frau Wirthin sich zu mir setzte, um einen kleinen Discurs mit mir zu halten, sagt' ich: Ihr habt da drüben einen Laden, der sich in München sehen lassen könnte, mit einer großmächtigen Spiegelscheibe und dahinter eine Menge feiner Galanteriewaaren. Auch eine Buchdruckerei scheint damit verbunden zu sein. Hat der Besitzer denn so viel Kundschaft, daß er sich diesen Luxus erlauben darf?

O, versetzte die Frau, es ist ein sehr solides Geschäft, und weit und breit keine Concurrenz. Der jetzige Besitzer ist seit ein paar Jahren eine Doppelwaise, den Vater hat er schon früh verloren, aber seine Mutter, was eine gute Freundin von mir war, verstand ihr Sach' aus dem Grund und hat den Buben gut angelernt. Ich hab' ihn aus der heiligen Tauf' gehoben und mit meine eigne Buben ist er aufgewachsen, hat dann aber noch in Freising eine höhere Bürgerschul' besucht. Nun ist er freilich kein Bub' mehr, bald an die Dreißig, aber zu mir noch immer wie ein eigner Sohn. Und manchmal kanzl' ich ihn auch ab, als wenn er's wirklich wär'. Ich lieg' ihm alleweil in den Ohren, er müßt' heirathen, eine Frau gehör' ins Geschäft, und dann – er ist mir halt gar zu viel hinter den Mädeln her, und die Courschneiderei schickt sich nimmer für ihn. Ihm ist aber Keine bisher ganz recht gewesen, und so hab' ich meine liebe Noth mit ihm, so ein kreuzbraver Mensch er übrigens ist.

Die Wirthin wurde abgerufen. Ich wußte aber, was ich wissen wollte.

Nachdem ich mein ländliches Mahl beendet hatte, kreuzte ich den Marktplatz und trat drüben in den Laden des angehenden Verlagsbuchhändlers ein.

Ich fand ihn allein hinter dem Ladentisch sitzend, in eine Zeitung vertieft. Ein schlanker, blonder junger Mann, dessen munteres, gutmüthiges Gesicht in Allem mit dem Zeugniß seiner Frau Pathe übereinstimmte, mit gewandten Manieren, doch nicht geckenhaft. Ich ließ mich in ein kleines Gespräch mit ihm ein, während ich irgend etwas kaufte, und Alles, was er sagte, erweckte eine vortheilhafte Meinung von seinem Verstand und seiner Bildung. Zuletzt, halb schon zwischen Thür und Angel, drehte ich mich noch einmal nach ihm um.

Ich höre ja auch, sagt' ich, Sie haben die Absicht, die Gedichte eines mir wohlbekannten Poeten herauszugeben, des guten Nikodemus K. Wenn er das noch hätte erleben können! Es würde ihm seine letzten Leidenstage sehr erleichtert haben.

Woher wissen Sie –? fragte er, mich ein wenig verlegen ansehend. Ich habe freilich – aber es ist keine Kleinigkeit – zwei dicke Bände – und ob ich nur auf meine Kosten komme –

Nun, es brauchten ja nicht sämmtliche Gedichte zu sein, das möchte ich Ihnen selbst widerrathen, zumal durchaus nicht Alles von gleichem Werth ist und gedruckt zu werden verdient. Aber ein Heftchen von einem halb Dutzend Bogen – so zur Probe, ob sich ein Publikum dafür findet – damit wagten Sie ja nicht viel, zumal Sie Ihre eigene Druckerei haben. Meinen Sie wirklich?

Sie werden in dem Manuskript die Gedichte mit Bleistift bezeichnet finden, die mir als die originellsten und gelungensten erschienen sind. Einem alten Collegen – er war ja auch Buchdrucker – könnten Sie schon diesen Liebesdienst erweisen. Und dann – am Ende sind Sie es auch seiner Tochter schuldig.

Er wurde dunkelroth. Sie kennen – das Fräulein?

Freilich, und schätze sie sehr. Sie ist eine Zierde ihres Geschlechts, nicht bloß durch ihre äußeren Vorzüge, sondern durch ihren Charakter und alle weiblichen Tugenden. Darum habe ich sehr bedauert, daß sie glaubt, von Ihnen gekränkt worden zu sein.

Ich sah, wie er sich bemühte, seine Verwirrung zu verbergen.

Gekränkt? stotterte er. Wie hätte ich – bei meiner großen Verehrung für das Fräulein – es muß ein Mißverständniß –

So hab' ich mir's auch gedacht, fuhr ich fort, und Fräulein Johanna zu beruhigen gesucht. Aber so eine Dichterstochter – sie hat das reizbare Blut ihres Vaters, und ihr empfindliches Ehrgefühl bringt sie leicht dazu, ganz unschuldigen Worten einen verletzenden Sinn unterzulegen. Sie haben ihr ein bischen stark den Hof gemacht, natürlich in der ehrenhaftesten Meinung, aber Gott weiß, was sie alles herausgehört hat. Doch nun wäre es an Ihnen, ihren falschen Verdacht glänzend zu widerlegen. Alles, was zum Glück dieses seltenen Mädchens beitragen könnte, würde mir eine besondere Freude sein. Denn wahrhaftig, wie sie sich gegen ihren Vater betragen hat, berechtigt sie schon allein, wie man zu sagen pflegt, »von Mund auf in den Himmel zu kommen«. Ich hoffe aber, fügte ich lachend hinzu, sie findet erst noch einen braven Mann, dem sie hier auf Erden den Himmel verschafft. Aber da kommen andere Kunden, ich will Sie nicht länger aufhalten.

Der noch immer sehr verlegene ländliche Don Juan ließ es sich nicht nehmen, mir die Ladenthür zu öffnen, und wir schieden von einander mit einem freundschaftlichen Händedruck.

*

Es war mir nicht möglich, den Erfolg meiner diplomatischen Vermittlung abzuwarten. Auch meinen Schützling bekam ich nicht mehr zu Gesicht. Ich wußte den Namen der Freundin nicht, deren Gastfreundschaft sie genoß, und da ich am andern Tage meinen Stab weitersetzte, konnte ich nicht darauf warten, daß der Zufall uns abermals zusammenführte.

Gegen Weihnacht aber erhielt ich durch die Post ein kleines Packet, in dem sich ein rothgebundenes Büchlein mit reicher Goldpressung befand, etwa sechs Bogen, zierlich gedruckt, die den Titel hatten:

Ausgewählte Dichtungen
von
Nikodemus K.
nach seinem Tode herausgegeben
von seinem Schwiegersohn
N. N.
(Erste Folge.)

In dem Buch lag eine Vermählungsanzeige, der die junge Frau ein paar kurze, herzliche Dankeszeilen hinzugefügt hatte. Der Schluß lautete:

»Ich muß Sie noch bitten, verehrter Herr, Alles zu vergessen, was ich Ihnen auf jenem Spaziergang am Flußufer erzählt habe. Es war ein großer Irrthum von meiner Seite; mein lieber Mann, den ich damals noch nicht so genau kannte, hatte niemals etwas Unehrenhaftes im Sinn gehabt, ich aber war so von Kummer und all meinem Unglück verwirrt, daß ich gleich das Schlimmste glaubte und seinen Worten eine falsche Deutung gab. Wie seltsam muß ich Ihnen erschienen sein! Jetzt aber ist ja Alles gut, und ich die glückliche Frau des besten Mannes. Er läßt sich Ihnen hochachtungsvoll empfehlen, und ich soll Ihnen sagen, in Betreff einer gewissen Person – den Namen will er mir nicht verrathen – hätten Sie nicht zu viel gesagt.

Sein Hochzeitsgeschenk war das beifolgende Buch. Wenn es Absatz findet, soll in einiger Zeit eine zweite Serie folgen. Ich habe nur den Schmerz, daß der theure Entschlafene die ersehnte Ehrenrettung vor der Nachwelt nicht mehr erleben sollte.« – –

Ob jemals diesem ersten Heft ein zweites gefolgt ist, habe ich nie erfahren. Da aber nach Jahr und Tag ein Enkel des verkannten Dichters das Licht erblickte und dann auch regelmäßig, wie mir pünktlich angezeigt wurde, Jahr um Jahr das Familienglück sich vermehrte, habe ich guten Grund, anzunehmen, der Wunsch, das gesammte poetische Vermächtniß des Vaters nebst dem chinesischen »Capritschio« der Nachwelt überliefert zu sehen, werde in dem Herzen der Dichterstochter nach und nach sanft eingeschlafen sein.


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