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(1902)
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Es war in Bonn, in meinem fünften Semester, daß ich die Bekanntschaft des merkwürdigen Menschen machte, von dem ich hier erzählen will.
Er war nur vier Jahre älter als ich, aber um mindestens zehn an Kenntnissen und Reise des Charakters mir voraus. Im wievielten Semester er stand, wußte Niemand, nur daß er sein Jahr abgedient hatte, dann ein wenig auf Reisen gegangen war und sich endlich als Studiosus der Philosophie in Bonn wieder hatte inscribiren lassen.
Als ich dorthin kam, hatte er bereits seit Jahr und Tag sein bescheidenes Quartier in der Rheingasse inne. Doch von allen Bekannten, die er nach und nach gewonnen, war keiner je eingeladen worden, ihn zu besuchen.
Nur ein paar naturwissenschaftliche Collegien hatte er belegt, in allen anderen aber der Reihe nach hospitirt und sich nie darüber geäußert, was sein eigentliches Studium sei und zu welchem Lebensberuf er sich vorzubereiten gedenke. Man wußte nur, daß er anfänglich auf Wunsch seines Vaters, eines Berliner Kammergerichtsraths, Jura studiert hatte, ganze drei Jahre lang, in Berlin und Göttingen. Als der Alte gestorben war, hatte er die Juristerei an den Nagel gehängt und sich einem freien Herumschweifen durch alle Facultäten ergeben.
Ähnlich wie mit den Wissenschaften hielt er es auch mit der Gesellschaft seiner Commilitonen. Bei allen Corps und Verbindungen hatte er sich ein- oder höchstens zweimal an einem Kneipabend als Gast eingefunden und war dann für immer weggeblieben. Jedem Anderen wäre dies Herumschmecken und sich dann ohne Weiteres Zurückziehen übel aufgenommen worden. Ihm ließ man es hingehen. Einmal galt er trotz seines Collegienbesuches fast schon für einen alten Herrn, dann aber auch für einen Sonderling, den man nicht nach dem allgemeinen Comment beurtheilen dürfe, und endlich stand er wegen seines eigenthümlichen Geistes und überlegenen Auftretens überall in so hohem Ansehen, daß jede Verbindung sich geehrt fühlte, wenn er sie nur einmal eines flüchtigen Besuches würdigte.
Es fiel auch sonst Niemand ein, es nach dem hergebrachten studentischen Sitten-Codex mit ihm genau zu nehmen. Er hatte im Gespräch, wenn die Geister lebhaft aufeinanderplatzten, die Gewohnheit, die Anderen eine Weile sich austoben zu lassen und dann in größter Ruhe mit einem dialektischen kalten Wasserstrahl die rothen Köpfe abzukühlen. Immer ohne jeden Anflug von Spott und Hohn, doch durch die kaltblütige Ruhe, mit der er die Schreier ad absurdum führte, oft nur um so verletzender. Dennoch – so sehr zuweilen der Unterliegende sich thatsächlich als »dummer Junge« fühlen mußte, kam es nie zu einem Tusch mit dem Sieger, der die Lacher auf seiner Seite hatte. Er erschien nie auf dem Fechtboden und machte kein Hehl daraus, daß er das Duell nur gerechtfertigt fand, wo sich's darum handelte, einen Buben zu züchtigen, der die Ehre eines Weibes angetastet, oder sich eines Feindes zu entledigen, den man sich auf gerichtlichem Wege nicht vom Halse schaffen könne. Eine Beschimpfung mit Worten durch einen Narren oder Trunkenbold müsse man abschütteln wie den Schmutz, den ein Gassenjunge einem harmlosen Spaziergänger anspritze. Gegen Realinjurien gebe es den Schutz des Gesetzes.
Diese unter Studenten sonst verpönten Grundsätze respectirte man. Niemand fiel es ein, den Verdacht eines blutscheuen Temperaments daranzuknüpfen. Daß der »Sonderling« das Herz auf dem rechten Fleck habe, hatte er bewiesen, da er in einer stürmischen Winternacht ein Bäuerlein, das, süßen Weines voll, von der Straße seitwärts schwankend in den Rhein gestürzt war, mit großer Mühe und Gefahr ans steile Ufer heraufgerettet hatte.
Auch hatte er unter den Waffen gestanden. Daß er sein Freiwilligenjahr nicht mit dem Offiziersexamen beschlossen hatte, war Allen so gleichgültig wie ihm selbst. Der Ehrgeiz, »Leutnant der Reserve« auf seine Visitenkarte zu schreiben, war damals noch nicht in Schwang gekommen.
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Ungewöhnlich, wie Alles an ihm, war auch sein Name, Berengar Selbitz. Doch hörte man ihn nie so nennen, da er mit Niemand in vertrauterem Verkehr stand, der ihn mit dem Vornamen hätte anreden dürfen. Sprach man von ihm hinter seinem Rücken, so hieß er allgemein mit einem Spitznamen, den Jeder sehr bezeichnend fand, »der Selbst«: »Ich bin heute Ihm selbst begegnet«, »Er selbst hat das und das gesagt oder gethan«, was nur zuweilen ein Lächeln hervorrief, gewöhnlich aber eine nachdenkliche Stimmung. Denn obwohl man ihn nicht zum Vorbild nahm, imponirte er doch Allen ungemein, eben deßhalb, weil er sich um die Meinungen der Welt und die Urtheile über sein eigenes Wesen nicht im Geringsten kümmerte, sondern im Großen wie im Kleinen immer that, was seiner Natur gemäß war. Einem Menschen, der unerschütterlicher auf sich selbst beruhte, doch ohne jede Spur von Selbstgefälligkeit, bin ich nie im Leben begegnet.
Dieser seltene Charakter sprach sich auch in seiner äußeren Erscheinung aus.
Wenn er so daher kam, immer in demselben grauen Sommeranzug, der im Laden gekauft oder von einem ungeschickten Schneider angefertigt schien, hielt man ihn nicht für einen Sohn aus guter Familie, sondern etwa für einen vacirenden Schulmeister, der sich kümmerlich durchschlagen mußte. Bis man ihn näher betrachtete und bemerkte, wie feine Wäsche er trug und wie tadellos das schwarze Seidentuch aussah, das unter dem übergeschlagenen Hemdkragen in einen großen Knoten geschlungen war. Auch glaubte man, einen jungen Menschen von mittlerer Statur vor sich zu haben, da er sich schlecht in den Schultern hielt und gewöhnlich mit gesenktem Kopf seines Weges ging. Sobald er sprach und sich in die Höhe reckte, erkannte man, daß er vielmehr über das Durchschnittsmaß hinausragte.
Dann sein Gesicht. Auf den ersten flüchtigen Anblick war man geneigt, es entschieden häßlich zu finden: tief liegende graue Augen unter scharf gezeichneten schwarzen Brauen, eine kleine, etwas allzu stumpfe Nase, vorstehende Backenknochen, eine niedrige Stirn, wie sie wenigstens erschien unter dem wirr hereinhängenden schwarzen Haar. Nur der Mund war schön gebildet, verschwand aber unter dem Gestrüpp eines ungepflegten, nur mit der Papierscheere zuweilen gestutzten Bartes, der dünn und wie schwarze Seide glänzend, in einer zarten Spitze über den Hals herabhing. Alles in Allem slavischer Typus, von seiner Mutter stammend, die, wie ich später erfuhr, eine Kleinrussin gewesen war und dem Sohn auch ihre weiche Stimme mitgegeben hatte.
Sobald man ihn mit dieser Stimme nur ein paar Worte hatte sagen hören, fühlte man sich seltsam angezogen und wunderte sich auch, daß man das Gesicht hatte häßlich finden können. Dabei wirkte durchaus nicht etwas in seinem Betragen mit, was an die einschmeichelnden Manieren und weiche Liebenswürdigkeit der Slaven erinnert hätte. Er sprach immer wie zu sich selbst, durchaus in gelassenem, sachlichem, fast nüchternem Ton, und es schien ihm sehr gleichgültig zu sein, welchen Eindruck seine Worte machten.
Lachen hörte man ihn nur selten, dann immer ganz kurz, wenn irgend eine Albernheit ihn dazu veranlaßte. Aber nichts verschönte sein geistreiches Gesicht mehr als das zarte Lächeln, das zuweilen darauf erschien, gewöhnlich beim Anblick lustig spielender Dorfkinder, oder wenn einer der großen Corpshunde, bei denen allen er in besonderer Gunst stand, zu ihm heranschlich und den dicken Kopf auf sein Knie legte, um sich ihn von seiner weiblich weichen und weißen Hand streicheln zu lassen.
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Ich weiß noch genau, wo und bei welcher Gelegenheit ich zum ersten Mal mit ihm zusammenkam.
Es war in einem Kaffeegärtchen draußen vor der Stadt, in Endenich oder Kessenich. Am Morgen hatte sich wie ein Lauffeuer das Gerücht verbreitet, Gottfried Kinkel habe sein Katheder im Stich gelassen, um zu seinem abenteuerlichen Freischaarenzug aufzubrechen.
Die Aufregung auch unter meinen näheren Freunden, von denen keiner einem Corps angehörte, war groß. Wir hatten die Entwicklung der Dinge, die in Frankfurt und Berlin vorgingen, mit leidenschaftlichem Interesse verfolgt, einig im Hasse gegen das »reactionäre« Regiment, das nun den Sieg über die mit blutigen Opfern errungene Freiheit davon tragen sollte. Eine Zeit lang hatte ich selbst und sogar mein älterer und kühlerer Freund Bernhard Abelen ernstlich erwogen, ob es nicht unsere patriotische Pflicht sei, uns mit in die Reihen der freiwilligen Kämpfer zu stellen, die im Badischen zusammen strömten. Nun fühlten wir uns durch das Beispiel des Dichters, den wir verehrten, und das seiner Anhänger beschämt, die das Wort zur That machten, daß unter den Waffen die Musen zu schweigen hätten.
Einstweilen legten wir für unsere freiheitliche Gesinnung Zeugniß ab dadurch, daß wir an diesem Tage sämmtliche Collegien schwänzten.
Nach Tische machten wir einen weiten Spaziergang, auf dem kein anderes Gespräch aufkam, als die Erörterungen des großen Ereignisses und die Hoffnungen und Befürchtungen, die sich daran knüpften. Auch Einer aus unserem engsten Kreise war mit verschwunden. Wir bewunderten und beneideten ihn. Er hat dann schwer für seine vermeintliche »heroische Aufopferung« gebüßt, da er bei Waghäusel eine Verwundung erhielt, die ihm für seine Lebenszeit zu schaffen machte.
Das Alles hätte uns nicht abgeschreckt. Wir waren aber sämmtlich zu gute Muttersöhne, um ohne elterlichen Consens der Fahne des Aufruhrs zu folgen, ich war überdies den Strapazen einer Campagne schwerlich gewachsen.
So blieb es denn bei heftigen Reden und politischer Kannegießerei, die unsere Kehlen so trocken machte, daß wir endlich froh waren, in jener Kaffeeschenke zu landen.
Der kleine Garten war schon von einer großen Schaar Studenten von allen Farben besetzt, wir fanden aber noch einen freien Tisch und mischten uns vorläufig nicht in den Tumult, in welchem ein paar Heißsporne vom Corps der Frankonen das große Wort führten. Still unsere Cigarren rauchend und unseren Kaffee schlürfend, hörten wir zu; es wurde aber nichts gesagt, was wir heute nicht selbst hundertmal in allen Tonarten ausgesprochen hätten.
Auf einmal zeigte sich am Eingang des Gärtchens Berengar, blieb einen Augenblick stehen, sah sich die bunte Gesellschaft an und horchte auf die feurige Rede, in der eben über die Köpfe der Corpsbrüder weg der Senior seine Bewunderung der heldenhaften »Vaterlandsvertheidiger« ausströmte. Zum Schluß hob er sein Glas – an seinem Tische wurde Wein getrunken – und brachte ein Hoch auf Kinkel aus, in das die sämmtlichen Anwesenden begeistert einstimmten, auch wenn sie nur ihre Kaffeetassen hatten, um damit anzustoßen.
Der Redner war von dem Stuhl herabgestiegen, trocknete sich den Schweiß und ließ sich das geleerte Glas von seinem Leibfuchs wieder füllen. Dann, noch die Brust geschwellt von dem Hochgefühl seiner rhetorischen Leistung, blickte er umher und sah draußen auf dem Sträßchen den stillen Gesellen, der eben im Begriff war, weiter zu gehen.
He, Selbitz! rief er ihm zu, herein zu uns! Das Vaterland erwartet, daß Jedermann seine Schuldigkeit thue. Sie müssen durchaus auf das Wohl des Dichters und den Sieg der großen Sache mit mir anstoßen.
Hier ist einzuschalten, daß Selbitz auch darin sich von allen Commilitonen unterschied, daß er mit Niemand schmollirt hatte, was man ihm natürlich sehr verdachte und als Hochmuth auslegte.
Auf die Anrede des Seniors schwieg er ein paar Augenblicke, dann sagte er: Ich bedauere, Ihnen den Gefallen nicht thun zu können. Thun Sie Ihren Gefühlen keinen Zwang an, aber erlauben Sie auch mir, zu thun, wie mir zu Muth ist. Adieu!
Holla! donnerte der Andere, der nicht gewohnt war, daß man einer freundlichen Einladung von ihm nicht Folge leistete, Sie wollen auskneifen? Daraus wird nichts. Hier geblieben, sag' ich, und mir Bescheid gethan! Ich werde sogleich auf unsern großen Gottfried Kinkel einen Salamander reiben lassen. Wie? Haben wir nicht Alle mit Uhland gesprochen: »Wenn jetzt ein Geist hernieder stiege, zugleich ein Sänger und ein Held« – und jetzt, da dieser Geist gekommen ist, sollten ihm unsere Herzen nicht entgegenschlagen?
Er sah sich wieder triumphirend im Kreise um, die Seinigen stimmten ihm mit einem begeisterten Gemurmel bei.
Berengar war einen Schritt in das Gärtchen hineingetreten und heftete seine ruhigen Augen auf das Gesicht des Sprechers.
Ich theile Ihre Ansicht nicht, sagte er, und seine weiche Stimme war, so leise er sprach, bis in den letzten Winkel des Gartens vernehmbar; daß der Mann, den Sie feiern, ein Sänger ist, bestreite ich nicht. Auch über den Werth seiner Dichtungen erlaube ich mir kein Urtheil. Im Übrigen vermag ich ihn weder als Mann der Wissenschaft noch als Politiker so hoch zu schätzen wie Sie, und ich pflege nur auf das Wohl eines Mannes mit anzustoßen, der meine volle Achtung genießt.
Die Überraschung über diese freimüthige Ketzerei gegen den, der uns Allen als ein unantastbarer großer Charakter erschien, versetzte selbst dem Senior den Athem.
Was? keuchte er endlich aus seiner breiten Brust hervor, Sie halten Kinkel und die Schaar, die er dem Feind der Freiheit entgegen führt, nicht für Helden?
Nur so wie jenen Schiffsjungen, der aus dem Mastkorb ins Meer sprang mit dem Ruf: »Ich sterbe für Seine allergnädigste Majestät, Georg den Dritten.«
Hohngelächter, Tumult, Ohorufe. Berengar sah ruhig in das Gewühl hinein.
Meine Herren, sagte er, es kann ja sein, daß ich mich irre, aber es ist nun einmal meine Ansicht, daß eine nutzlose Aufopferung für eine gute Sache nur schaden kann, da sie den Verdacht erweckt, ihre Anhänger seien beschränkte Köpfe – oder etwas Schlimmeres: Phrasenhelden oder eitle Aspiranten auf die Märtyrerkrone. Was Kinkel betrifft – ich habe einmal in seinem Colleg über Kunstgeschichte hospitirt, da hörte ich ihn sagen: »Der größte Triumph des Geistes über die Materie ist, daß der Künstler mit etwas rothem mineralischem oder Pflanzenstoff das Schamerröthen der Jungfrau und die heroische Glut in den Wangen des Jünglings auf die Leinwand bannen kann.« Darauf bin ich nicht wieder in seine Vorlesung gegangen. Ich wollte Wissenschaft lernen, kein poetischen Floskeln hören. Und so ist mir der ganze Mann verdächtig geworden, auch wo er politische oder patriotische Floskeln von sich giebt.
Er giebt mehr von sich als schöne Worte, rief eine heftige Stimme, da die Anderen schwiegen. Er steht mit der That für seine Überzeugung ein. Er wäre sich als ein Feigling erschienen, wenn er zurückgeblieben wäre.
Nun, versetzte Berengar, ob Jemand in den Augen der Welt lieber als ein Feigling erscheinen will oder in seinen eigenen als Dummkopf, ist Geschmackssache. Für so thöricht halt' ich ihn aber nicht, daß er glauben sollte, mit seiner Hand voll undisciplinirter Leute ein preußisches Heer über den Haufen zu rennen. Da hätte er zu Hause bleiben sollen und auf bessere Zeiten warten, um dem Vaterlande zu dienen. Ich finde, .daß der alte Spinoza Recht hat: suum esse conservare scheint mir in solchen Zeiten die oberste Menschenpflicht.
Das Credo aller Schlafmützen, Ofenhocker und Philister!
Meine Herren, erwiderte der Andere sehr gelassen, erhitzen wir uns nicht mit schnöden Worten. Sie Alle, wie Sie hier sind, hegen die gleichen liberalen Gesinnungen und sind doch auch zu Hause geblieben, ohne Philister zu sein. Denn Sie werden mir zugeben: Vernunft ist eine gute Sache. Nun, Vernunft ist nie gewesen, was man genial nennt, vielmehr alle Zeit sehr vernünftig, id est nüchtern, wie man sie schilt, oder – philisterhaft. Sagen Sie doch, was hat der Mensch Besseres als sein Selbst, his noble Self wie die Engländer sagen! Wer keins besitzt, der ist übel dran, der muß Einem, der eins hat, Heerfolge leisten, wie unsere werthen Commilitonen, die hinter Gottfried Kinkel herlaufen. Wir Anderen – nun, ich hoffe, wir Alle werden noch einmal Gott danken, daß wir feige, selbstsüchtig oder philisterhaft genug waren, diese Donquixotiade nicht mitzumachen, sondern selbst zu denken und darnach zu handeln. Übrigens nichts für ungut. Ich habe nur meine Meinung aussprechen wollen. Guten Abend!
Er griff an den Schirm seiner grauen Mütze, nickte ein paar näheren Bekannten zu und verließ das Gärtchen. Dann sahen wir ihn langsam der Stadt zuschreiten.
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Als er uns aus dem Gesichte war, erhob sich ein verworrenes Durcheinanderreden, aus dem aber mehr der Ärger heraus klang, daß man sich von diesem »Sophisten« die Laune hatte verderben lassen, mehr der ohnmächtige Versuch, mit ein paar hochtönenden Phrasen sich in die gehobene Stimmung zurückzuschwingen, als das Bemühen, den unwillkommenen Vernunftprediger ernstlich zu widerlegen. Nur das Wort »Philister« wurde ihm noch wiederholt nachgerufen und dann ein Freiheitslied angestimmt, das hier, wie so manches Mal, dazu dienen mußte, unklaren Gefühlen einen harmonischen Ausdruck zu leihen.
»Er selbst« hatte wieder Allen imponirt, nicht am wenigsten auch mir.
Es hatte mir wohl die Frage auf der Zunge geschwebt, ob es nicht auch zuweilen um die Unvernunft »eine gute Sache« sei, zum Beispiel um die jener dreihundert Spartaner, die bei den Thermopylen sich so »nutzlos« opferten; ob nicht die ersten Christen, die sich lieber von Löwen zerreißen ließen, als dem Jupiter zu opfern; vielleicht doch mehr zur Abschaffung des Götzendienstes beigetragen hätten, als die damaligen »Philister«, die sich vor der Gewalt beugten.
Ich war aber im Herzen froh, daß ich's für mich behalten hatte. Denn mir ahnte, er würde auch das widerlegt und auf den Unterschied hingewiesen haben, der zwischen dem Kampf um eine große Idee und dem um ein Mehr oder Weniger von politischer Freiheit gestritten würde, dessen Austrag man, ohne sich selbst untreu zu werden, der Zeit überlassen könne.
Bei der nächsten Gelegenheit jedoch wollte ich ihn darauf anreden, unterließ es aber, da ich ihn einmal in einem Hörsaal traf, wo er sich ausnahmsweise blicken ließ.
Wir kamen neben einander zu sitzen, wechselten aber kein Wort. Ich sah an seiner Miene, daß er nur aus Versehen hier hereingerathen war und die verlorene Stunde bedauerte, was ich ihm freilich nicht verdenken konnte. Es war eine Vorlesung über Ästhetik, die auch ich später nicht mehr besuchte.
Bald darauf aber kamen wir mit einander in persönliche Berührung, da ich eines Nachmittags allein vor die Stadt hinaus gegangen war, in allerlei Seelenkämpfen, die nicht hieher gehören.
Ich sah Berengar's graue Figur schon von Weitem regungslos an einem Zaune stehen, der einen kleinen, von hohen Bäumen überschatteten Bauernhof umschloß. Er blickte so eifrig in das Gehöft hinein, daß er mein Kommen erst bemerkte, als ich dicht an ihm vorbeiwollte.
Da wandte er sich um, nickte mir zu wie einem alten Bekannten und sagte: Macht es Ihnen auch Spaß, eine Komödie mit anzusehen, die vor allen menschlichen den Vorzug hat, daß die Mitspielenden sich nicht schminken und keine Mätzchen machen, um dem ersten Rang oder dem Parterre Beifall abzuschmeicheln, und die überdies kein Entrée kostet? Sehen Sie – und er trat einen Schritt bei Seite, um mich an seinen Platz zu lassen, wo der Zaun am niedrigsten war – ist es nicht hübsch? Ich habe das Stück schon oft aufführen sehen, aber immer mit neuem Vergnügen.
Ich trat an den Zaun heran und blickte über die Latten. Es war ein Winkel des Bauernhofes, wo auf einem kleinen Grasfleck Pferdekrippen standen. Von dem Hafer, mit dem sie gefüllt gewesen, waren nach allen Seiten Körner versprengt, und ein kleiner Hühnertrupp hatte sich hier versammelt und war eifrig bemüht, auch nicht ein Körnchen verloren gehen zu lassen.
Sehen Sie nur, sagte er ganz ernsthaft, ist es nicht höchst drollig, wie diese beiden aufgeplusterten Hennen dem Hahn nicht von der Seite weichen, wie zwei Odalisken, die sich die Gunst des Sultans streitig machen? Die große weiße da fühlt sich augenscheinlich als die Schönere und Begünstigtere. Wie sie den Schweif hoch trägt und sich dicht an den Gebieter herandrängt, sogar darüber das Fressen versäumt, als hätte sie eine idealere Natur und edlere Wünsche! Während ihre Rivalin, die kleine graue, sich ganz unbefangen stellt und die Körner aufpickt, die ihr der hohe Herr zeigt. Dabei ist der kokette Schlaukopf bemüht, sich von seiner besten Seite zu zeigen, indem er sich bückt und den Bürzel hebt. Und richtig, das Manöver glückt. Seine Hoheit läßt sich in Gnaden zu ihr herab. Sehen Sie nur in dem Blick der Anderen die Empörung über das verschmitzte Geschöpf. Sie möchte die Feindin am liebsten mit dem Schnabel zerhacken, aber der Gebieter schreitet so majestätisch an ihr vorbei, daß sie ihren Grimm hinunterschluckt, ein paar Mal mit den Flügeln schlägt, als wollte sie sagen: »Was kümmert mich dieser ganze elende Handel! Ich bin doch die Sultanin Valide!«
Ich mußte lachen. Er hatte das Alles so ernst vorgebracht wie ein Kritiker, der über eine dramatische Handlung berichtet.
Sie sind ein feiner Kenner der Hühnerpsychologie, sagte ich. Sie müssen tiefe Studien in dieser Wissenschaft gemacht haben.
Gewiß, erwiderte er. Es lohnt sich auch mehr, die Vorgänge in der Thierwelt zu studieren als die comédie humaine. Bei denen da ist Alles echt. Der Kothurn, auf dem so ein Hahn über seinen Misthaufen schreitet, ist ihm angewachsen. Thiere sind eben nicht eitel und wollen nichts Anderes vorstellen als was sie sind. Denn daß sie sich möglichst schön machen in der Zeit der Liebe, um dem Weibchen in die Augen zu stechen, ist etwas weit Natürlicheres als die Geckerei, mit der junge Männer allen Weibern gegenüber zu glänzen suchen. Und im Übrigen weiß kein Thier etwas von den hundert conventionellen Vorurtheilen, mit denen sich die Menschen das Leben sauer machen und um ihr Selbst bringen. Der alte Goethe hatte gut predigen: »Höchstes Glück der Erdenkinder ist nur die Persönlichkeit.« Um eine solche zu besitzen und immer reiner zu entfalten, dazu gehört freilich Courage. Und die große Masse unserer theuren Mitmenschen – pah!
Er zuckte die Schultern und wandte sich von dem Zaune weg, um den Weg fortzusetzen. Plötzlich wandte er sich zu mir und fragte: Was studieren Sie?
Ich bekannte, daß ich mit der classischen Philologie begonnen hätte und jetzt entschlossen sei, zur romanischen überzugehen.
Philologie! sagte er. Wo sich's drum handelt, zu wissen, was die Menschen vor tausend Jahren gedacht, gesagt und gesungen haben! Wo man stolz und glücklich ist, in einem würdigen Pergamen eine Stelle zu entziffern, die beweist, daß Horaz an einer gewissen Stelle einer gewissen Ode nicht adhuc, sondern ad hoc geschrieben hat! Aber, Bester, ist nicht die Welt voller Probleme, die wichtiger sind als die Feststellung einer Lesart? Wenn Ihnen Jemand erzählte, auf dem Mond gebe es Leute, die über die Quadratmeile, auf der sie geboren sind, ihr Leben lang nicht hinauszukommen wünschen, weil sie es sich zur Aufgabe gemacht haben, zu zählen, wie viele Kiesel sich in diesem kleinen Bezirk befinden, würden Sie diese sonderbaren Schwärmer für nützliche Mitglieder der Mondgesellschaft halten?
Ich weiß Alles, was sich gegen diesen ehrenrührigen Vergleich sagen läßt, der auf beiden Beinen hinkt. Denn Beschäftigung mit Äußerungen des menschlichen Geistes ist immer von Interesse und nicht unfruchtbar. Und doch – eben weil der Mensch leider seinen Beruf, Krone der Schöpfung zu sein, so selten erfüllt, thut man gut, sich lieber mit den anderen Räthseln abzugeben, die einem die Sphinx des irdischen Daseins vor die Nase hält.
Er blickte tiefsinnig vor sich hin und schwieg eine Weile. Dann: Ich bin nicht so eingebildet, mich für einen Normalmenschen zu halten. Nicht allen Bäumen ist eine Rinde gewachsen. Aber ich habe nur vor dem Menschen Respect, der sich wenigstens eine eigene Rinde wachsen läßt, sich nicht in ein Futteral steckt, das ihm von Anderen als die bequemste, anständigste und kleidsamste aufgeschwatzt wird. Wie kann mich denn ein Wesen interessiren, das in so und so viel Exemplaren vorhanden ist und sich die größte Mühe giebt, den übrigen so ähnlich als möglich zu werden! Unsere theuren Commilitonen zum Beispiel – es mögen recht wackere Jungen darunter sein, aber sie alle setzen ihre Ehre darein, unter der Fuchtel des Comments nicht zu mucksen, blindlings zu pariren einem Gesetz, das sie selbst nicht einmal mitberathen haben, sondern das von so und so viel Generationen ähnlicher Jünglinge ihnen überliefert worden ist. Wenn sie freilich nur auf diese Art sich selbst als etwas Wichtiges und Ungemeines vorkommen, so muß man ihnen ihr Vergnügen gönnen. Aber mit ihnen umzugehen, erregt die grenzenloseste Langeweile. Da ist das Studium einer Froschseele noch ergötzlicher. Da ist –
Verzeihen Sie, unterbrach er sich plötzlich, das sind alles Gemeinplätze, die ich vor Ihnen auskrame. Ich wollte Ihnen nur erklären, weßhalb ich mich etwas einsiedlerisch halte. Man hat mir gesagt, Professor X., bei dem Sie auch verkehren, habe sich erstaunt und mißbilligend darüber geäußert, daß ich mich nicht bei ihm habe sehen lassen, obwohl er mit meinem seligen Vater befreundet war. Ich bring's aber nicht übers Herz, in so einen conventionellen gesellschaftlichen Kreis einzutreten. Es ist mir da schon oft passirt, daß ich wirklich eingeschlafen bin und als der ganz unmögliche Geselle erschien, der ich auch wirklich bin. Denn da ich von früh an einen Hang zum Beobachten gehabt habe, hat sich mein Menschenblick so geschärft, daß ich in einer Viertelstunde so ziemlich weiß, wie ich mit jedem Menschen daran bin. Und dann interessirt er mich nicht weiter, das heißt, sein Menschliches. Denn seine Kenntnisse und Talente gehen mich ja nichts an.
Und was haben Sie für eine Wissenschaft oder Kunst zu Ihrem Lebensberuf gewählt? erlaubte ich mir zu fragen.
Eine sehr unzünftige, sagte er, still vor sich hin blickend: mich in der Welt, in die ich unbegreiflicher Weise nun einmal hineingeschneit bin, nach Möglichkeit zu orientiren, also wenn Sie einen Namen dafür wollen: Welt- und Selbsterkenntniß. Talente, die mich befähigten und antrieben, etwas zu schaffen, besitze ich nicht. Leidenschaften ebensowenig, bis auf die einzige: die der Neugierde; durch die allein unterscheiden wir uns von den Thieren, oder wenn Sie es höflicher ausdrücken wollen: durch Wißbegier. Denn gemeine Neugier finden wir auch bei Hunden und Affen, je menschenähnlicher sie sind. Alles Unentdeckte, Verschleierte reizt mich, bis ich es enträthselt habe. Es ist oft nicht der Mühe werth. Aber die geistige Arbeit, die dazu nöthig war, ist der einzige Luxus, der mich reizt, bis auf das Rauchen echter Havannahcigarren. Darf ich Ihnen eine anbieten?
Er zog ein abgegriffenes Etui aus der Tasche, aus dem er eine Cigarre nahm, die über meinem eigenen Rauchwerk weit erhaben schien. Ich dankte aber. Ich rauchte nie im Spazierengehen. Dann zündete er sich selbst die Cigarre an und sagte: Adieu! Ich habe Sie schon zu lange aufgehalten. Sie wollten wahrscheinlich einen einsamen Gang machen, ich weiß, daß Sie ein angehender Dichter sind, verzeihen Sie, wenn ich Sie in einer lyrischen oder dramatischen Stimmung gestört habe. Auf Wiedersehen!
Er bog rasch in einen Seitenpfad ein, ehe ich ihn noch versichern konnte, daß seine Gesellschaft mir erfreulicher gewesen sei, als die meiner Muse, die sich damals eben spröde gegen mich benahm, da sie mich in allerlei sehr undichterische Zukunftssorgen verstrickt sah.
*
Dann vergingen Wochen, ohne daß ich ihm wieder begegnete.
Ich hätte es wohl gewünscht, denn gerade die kühle Ruhe, mit der er alle Dinge und Menschen immer mit eigenen Augen betrachtete, zog mich an, da sie zu meiner jugendlich sentimentalen Art im schroffsten Gegensatz stand. Ich sagte mir aber, daß er seine »Neugier«, weß Geistes Kind ich etwa sein möchte, in dieser Viertelstunde hinlänglich befriedigt haben würde, um eine Fortsetzung der Bekanntschaft zu wünschen, und war meinerseits zu stolz, mich ihm aufzudrängen.
So war ich nicht wenig überrascht, als ich ihn eines Nachmittags, da ich aus einem Colleg nach Hause kam, auf meiner »Bude« vorfand.
Er war gekommen, um mir Grüße von einem gemeinschaftlichen Berliner Bekannten zu bringen, und hatte, da er mich nicht antraf, auf mich gewartet.
Er saß auf meinem harten kleinen Sopha und hatte in einem Büchlein gelesen, das er auf meinem Tische gefunden. Ich pflegte es sonst einzuschließen, da es meine Gedichte enthielt, sauber abgeschrieben, die ganze Ernte von drei lyrischen Jahren, nachdem ich das Unkraut, so gut ich es zu beurtheilen verstand, ausgeschieden hatte.
Verzeihen Sie, sagte er, indem er das Buch zumachte und wieder auf den Tisch legte, daß ich so indiscret war, Ihre poetischen Confessionen zu belauschen. Eigentlich ist es ja keine unerlaubte Neugier, die Nase in eine Sammlung handschriftlicher Gedichte zu stecken. Goethe sagt ja:
Dichter lieben nicht zu schweigen,
Wollen sich der Menge zeigen,
Lob und Tadel muß ja sein.
Aber Sie brauchen nicht zu befürchten, daß ich Sie nun mit Kritik behellige. Dazu fühle ich mich nicht berufen.
Ich lachte, ein wenig verlegen.
Geniren Sie sich nicht, sagte ich. Loben und tadeln Sie frisch drauf los. Ich kann Beides vertragen.
Er schüttelte den Kopf.
Ich werde mich hüten, etwas zu thun, was ich nicht verstehe. Vor Poesie und Allem, was gleich ihr incommensurabel ist, habe ich einen heiligen Respect. Ich will nur bemerken, daß ich an einem kleinen Spruch, der sich unter Ihren »zahmen Xenien« befindet, Wohlgefallen gefunden habe, da er ganz meiner eigenen Gesinnung entspricht.
Welchen meinen Sie?
Ich hab' ihn gleich auswendig behalten:
Was hilft's, nach dem Applaus der Welt
Mit vorgebundner Maske schielen,
Da der allein nie aus der Rolle fällt,
Der immer wagt, sich selbst zu spielen.
Das ist durchaus richtig, und es macht Ihnen in meinen Augen Ehre, daß Sie so früh schon dahintergekommen sind. Young in limbs, in judgment old. Ich fürchte freilich, Sie haben das nur in Bezug auf Ihre poetischen Bestrebungen gesagt, und fahren dabei fort, im socialen Verkehr sich die übliche conventionelle Maske vorzubinden, um es mit der sogenannten guten Gesellschaft nicht zu verderben. Denn ich habe bemerkt, daß Sie kameradschaftlich mit Leuten umgehen, die nicht der Mühe werth sind.
Mag sein. Ich weiß selbst, daß sie keine bedeutenden Köpfe sind. Mir aber sind sie lieb, und wie ich's damit halte, darüber habe ich ein anderes Sprüchlein gemacht, das Ihnen wohl nicht aufgefallen ist.
Vielleicht doch. Sie meinen doch den Vers:
Was ist's für ein Mann? Wie ist er begabt?
Was leistet er, das ihm Ehre macht? –
Hab' wirklich nicht drüber nachgedacht,
Hab' ihn nur schlechtweg lieb gehabt.
Auch das ist mir im Gedächtniß geblieben, weil es mir eben so gegen meine Natur geht, wie ich dem anderen zustimme. Ich verstehe das nicht. Wie kann man etwas lieben, was man nicht kennt, was daher auch vielleicht gar nicht liebenswürdig ist?
Nun, mir scheint, eben dies Unbekannte, Unbewußte ist bei der Liebe das Reizvollste, der dunkle Naturgrund, das Elementare. Daß die Liebe höher ist als alle Vernunft, hat schon ein Höherer gesagt. Aber Sie werden es natürlich bestreiten, da Sie nichts höher verehren als die Vernunft.
Gewiß, lieber Freund, bestreite ich's, denn wohin die unvernünftige Liebe führt, sehen wir alle Tage im Verkehr mit den Weibern. Die Natur hat es zur Erhaltung des Menschengeschlechtes weise so eingerichtet, daß die sogenannte Liebe, die nichts ist als der Instinct im Blut, auch den sonst Vernünftigen übertölpelt. Und da auch die Weiber selbst und die bürgerliche Gesellschaft ein ungeheures Interesse daran haben, daß es so bleibe, sind all die verschiedenen Künste in Schwung gekommen, um dem Naturtriebe eine größere Würde zu verleihen, als er beim Thiere besitzt. Von früh an werden die jungen Mädchen dazu dressirt, die Männer nicht eher zur Vernunft kommen zu lassen, als bis sie unwiderruflich ins Netz gegangen sind. Die ganze weibliche Erziehung zielt auf nichts Anderes ab, als eine Komödie einzuüben, die das eigentliche Wesen der Spielerinnen hinter einer anziehenden conventionellen Maske verbirgt, ihr wahres Selbst so wenig als möglich durchblicken läßt. Erst mit dem Gürtel, mit dem Schleier, wie Schiller sagt, reißt der holde Wahn entzwei. Wenn die letzte Hülle fällt, ist's wie im Schauspiel nach dem Fallen des Vorhangs, dann kann man hinter die Coulissen sehen und sich besinnen, ob dies Stück auch wirklich die Lampen werth gewesen sei. Ist Ihnen nie aufgefallen, wie tief der Doppelsinn des Luther'schen Ausdrucks ist: »ein Weib erkennen«? Und da hierzu nöthig ist, daß man heirathet, werde ich als Junggesell mein Leben beschließen.
Ich sah ihn groß an.
Es fällt mir nicht ein, sagt' ich, mit Ihnen über das Wesen und den Werth der Liebe zu disputiren. Wir sprechen allzu verschiedene Sprachen. Aber daß man darum auf das Glück der Ehe verzichten müsse, weil es möglich ist, sich in seiner Wahl zu täuschen, werden Sie mir nicht einreden können. Haben Sie niemals ein Ehepaar kennen gelernt, das in vollem Glück mit einander lebte?
Gewiß. Wenn auch nicht oft und meist nur da, wo Eins dem Anderen sein eigenes Wesen, den besten Theil seines Selbst, zum Opfer brachte. Doch auch, wenn das nicht nöthig wäre, wenn ich eine bessere Hälfte fände, die auf meine Eigenart einginge (– das jetzt so viel gebrauchte Wort hörte ich aus seinem Munde zum ersten Mal, und es gefiel mir sehr –), ich könnte mich dennoch zu einer Ehe nicht entschließen. Mein väterliches Vermögen reicht gerade hin, daß ich von den Zinsen unabhängig leben, meinen Trieb der Wißbegierde auf Reisen und sonst schrankenlos befriedigen kann. Mit einer Frau wäre ich zu allerlei Verzicht gezwungen, und wäre es nur darauf, importirte Cigarren zu rauchen, und hätte ich Eine ohne Vermögen geheirathet und bekäme das Haus voll Kinder, so stände ich bald gegenüber der wirklichen Misère. Eine Reiche aber, die das gegen mich geltend machte, ertrüge ich nicht, und etwas zu erwerben – wer honorirt einen bloßen Wissenstrieb? Oder sollte ich mich an ein Amt binden, zu dem ich allenfalls die paar Kenntnisse erschwingen könnte, um dann Vorgesetzten blindlings zu variren, oft auch gegen den Protest meines besseren Selbst? Nein, lieber Freund, ich muß mich nun einmal verbrauchen, so wie ich bin, als ein gänzlich unnützes Mitglied der menschlichen Gesellschaft, der ich ja übrigens nicht zur Last falle.
Und fürchten Sie nicht, doch einmal in eine ganz unerwartete Verliebtheit zu verfallen, die alle Ihre Grundsätze über den Haufen wirft?
Freilich. Auch mir wird nichts Menschliches fern bleiben. Aber wo ich so eine Gefahr wittere, nehme ich eilig die Flucht. Was die sinnlichen Bedürfnisse betrifft, die gemeinen, die ich ja auch mit meinen Mitmenschen gemein habe, so helfe ich mir so gut ich kann. Das erstemal, daß ich in diesem Punkt eine Erfahrung machte, geschah's in meinem ersten Primanerjahr, schon damals aus purer Neugier. Ich erlebte freilich, wie die Meisten, eine große Enttäuschung. Später, wenn das Blut mir zu schaffen machte, bewahrte mich mein Reinlichkeitsbedürfniß, das mir meine gute Mama anerzogen hat, vor dem Hinabsteigen in den Sumpf. Aber Sie können mir glauben, das braucht es auch gar nicht. Es sind immer gute Seelen vorhanden, die sich bereit finden lassen, einem Männchen, das sein Weibchen sucht, aus der Noth zu helfen. Wenn dabei keine höheren Pflichten verletzt werden, keinem Theil ein Schaden geschieht, warum soll man sich bedenken, zu thun, was man nicht lassen kann?
Ich sehe es Ihnen an, Sie finden das unmoralisch. Es mag es ja auch sein nach dem Moral-Codex der bürgerlichen Familienordnung. Aber Sie werden zugeben, daß auch auf diese Pfahl- und Spießbürger das Heine'sche Wort zutrifft:
Ich glaube, sie trinken heimlich Wein
Und predigen öffentlich Wasser.
Oder sind Sie noch so jung, daß Sie nicht ahnen, welcher unglaublichen Heuchelei sich die Durchschnittsmenschen befleißigen, um ihrer Erbsünde munter fortzufröhnen und dabei immer die dehors zu wahren? Man sieht sie in sittlicher Entrüstung den Stab brechen über jeden armen Sünder, der seinem natürlichen Triebe folgt, und doch haben sogar die edlen Frauen, und diese erst recht, in ihrem innersten Herzen einen Zug zu großen Verführern, weil der schwache Mensch und das schwächere Geschlecht insbesondere immer die Kraft bewunderten, selbst die rein physische. Daß die Großen der Welt, weil sie auch sonst Machthaber sind, einen Freibrief haben, in dieser Hinsicht sich Alles zu erlauben, was ihnen gefällt, versteht sich von selbst. Aber selbst ein Don Juan, von dessen Unthaten man sich öffentlich mit Grauen erzählt, – im Stillen nähme keine Frau sich's übel, wenn sie in den Verdacht käme, zu seinen Opfern zu zählen. Mütter und Schwestern der Anwesenden natürlich immer ausgenommen.
Oho! sagte ich, das kann ich denn doch nicht ruhig mit anhören, daß Sie das ganze weibliche Geschlecht nach Einzelnen, und wenn es die Mehrzahl wäre, auf eine so niedrige Stufe stellen. Auf die »edlen« Frauen – Sie haben das Wort freilich ironisch gemeint – findet Ihr cynisches Urtheil nun einmal gewiß keine Anwendung, und ich kann Sie nur bedauern, wenn Sie niemals solchen begegnet sind, hinter denen »im wesenlosen Scheine das Gemeine lag«.
Er stand ruhig auf, nahm seinen Hut und sagte: Sie sind wirklich noch sehr jung. Ich will Ihnen die Illusionen nicht rauben, die Sie glücklich machen und, wie es scheint, zu dem Métier des Dichters gehören. Große Dichter verlieren diese Illusionen freilich früh genug. Erlauben Sie mir immerhin, zu wünschen, daß auch Sie einmal zu diesen gehören und erkennen mögen, Cynismus im Urtheil, wenn auch nicht in der Form, sei ein nothwendiges Schutzmittel gegen die Phrase. Leben Sie wohl!
Er hielt mir die Hand hin, in die ich etwas widerstrebend die meine legte, und ging aus dem Zimmer.
*
Dies war das letzte Gespräch, das ich mit »Ihm selbst« hatte.
Ich muß auch bekennen, daß ich einer Gelegenheit zu weiterem Verkehr eher auswich. So weit entfernt ich war, mich an Lebenserfahrung und Klarheit des Urtheils ihm gleichzustellen, das beliebte Argument in unserer Debatte: Werden Sie erst älter! verletzte doch auch mein »Selbstgefühl«. Ich war der Meinung, in Betreff gewisser sittlicher Grundgesetze könne und müsse man a priori zu einer sicheren Überzeugung gelangen, und die meine sei der seinigen an Adel und Tiefe weit überlegen. Daß er mich nicht wieder aufsuchte, nahm ich ihm durchaus nicht übel. Er hatte seine »Neugier«, auch einmal einen »angehenden Poeten« kennen zu lernen, hinlänglich gebüßt. Ein Experiment zu wiederholen, aus dem er nichts mehr zu lernen hatte, war nicht seine Art.
So gingen wir, wenn wir uns auf der Straße begegneten, höflich grüßend an einander vorüber.
In den Herbstferien machte ich eine Reise den Rhein hinauf und durchwanderte die Schweiz. Als ich nach Bonn zurückkam, hörte ich, »Er selbst« habe die Universität verlassen. Wohin er sich gewendet, wußte Niemand. Er hatte ja, wie schon gesagt, keinen eigentlichen Freund.
Dann gingen fünf, sechs Jahre hin, ohne daß ich je seinen Namen wieder hörte oder auch nur anders als flüchtig an ihn gedacht hätte. Einen herzlicheren Antheil konnte er nicht erregen, da er selbst allem Menschlichen nur beobachtend und kritisirend gegenüberstand, und selbst keines Menschen bedurfte.
So war ich nach München gekommen, hatte geheirathet und ein Jahr lang ein Leben geführt, das all meinen Neigungen entsprach. Es war im September; vor Kurzem hatte ich mich aus der Sommerfrische wieder in die Stadt geflüchtet, da der Herbst sich unfreundlich ankündigte. Dann aber hatte sich die Sonne noch einmal hervorgethan, und ich benutzte die herrlich klaren Abende zu weiten Spaziergängen.
Eines Sonntag Abends kehrte ich von Sendling zurück und schlenderte etwas müde und durstig im Gewühl der Spaziergänger mit, die gleich mir draußen vor der Stadt sich aus dem Staube gemacht hatten und jetzt ihrem häuslichen Herde zustrebten, wenn sie nicht in einem der zahlreichen Biergärten seßhaft wurden.
Auf einmal höre ich meinen Namen rufen, und wie ich aufblicke, steht eine lange Gestalt in grauem Sommeranzug und grauer Mütze vor mir, in der ich sofort »Ihn selbst« erkannte.
Er war völlig unverändert, nur der Bart ein wenig gekürzt und in den Augen etwas wie ein warmer Schimmer, der ihm sonst fremd war.
Selbitz! rief ich, sehr erstaunt. Ist es möglich? Sie hier?
Nicht nur möglich, sondern wahr und wirklich, sagte er und drückte freundschaftlich meine Hand. Berg und Thal kommen nicht zusammen, wie es heißt, aber die Menschen. Merkwürdig ist nur, daß wir uns nicht schon früher begegnet sind. Ich bin schon den ganzen Sommer über Ihr Mitbürger gewesen.
Im Sommer, sagte ich lachend, treffen Sie keinen Münchner, qui se respecte, in München. Da ist man »am Land«. Aber warum haben Sie sich in meinem Hause nicht nach mir erkundigt?
O, sagte er, ich wußte freilich, daß Sie jetzt in Isar-Athen hausen, als Hofpoet und – nein, ich meine nichts Böses damit. Sie werden dadurch keinen Schaden an Ihrer Seele gelitten haben. Aber dann – Sie sind verheirathet – glücklich, wie ich hoffe – und ich, wie Sie mich kennen, ich passe nicht zum Gast an einem Familientische, wo ich fürchten muß, durch ein unbedachtes offenherziges Wort – Sie würden es cynisch nennen – die Gefühle der jungen Hausfrau zu verletzen.
Nun, sagte ich, daraufhin könnten Sie's immer wagen. Wir gehören zwar nicht zur Bohême, was schon meine Stellung als »Günstling« nicht erlauben würde, aber an Zwanglosigkeit fehlt es in meinem Hause nicht. Und so will ich natürlich auch Ihnen keinen Zwang auferlegen. Aber wenn die Frage erlaubt ist – die Berechtigung der Neugier werden Sie am wenigsten leugnen wollen –: was haben Sie die Zeit her getrieben?
Mich herumgetrieben, ein bischen überall in der Welt, und nebenbei meine alte brodlose Kunst getrieben, mich zu orientiren, keines der vielen Spielzeuge, die den Menschen von Mutter Natur in die Hand gegeben werden, ununtersucht zu lassen, um zu sehen, ob die Puppe mit Sägespänen oder Werg ausgestopft sei.
Und haben Sie besonders interessante Entdeckungen gemacht?
Nichts, was nicht andere Augen bereits vor mir gesehen hätten. Ich sah's aber mit meinen, was denn doch manchmal ein anderes Resultat gab. Bald nach Bonn habe ich eine kleine Spritztour um die ganze Erde gemacht, eine Dummheit. Es ging viel zu eilig, um sich längere Zeit an irgend einem Ort, wo gelandet wurde, Studien halber aufzuhalten, und für bloße land- und meerschaftliche Eindrücke fehlt mir das Organ, das ist mir Alles zu sehr blauer Dunst, dem ich die »gemeine Deutlichkeit der Dinge« vorziehe. Sie freilich, der Sie als Poet verpflichtet sind, um alles Exacte officiell den goldenen Duft der Morgenröthe zu breiten, werden mich einen kalten Fisch schelten, daß ich an allen Tropenwundern ungerührt vorbeisegelte. Aber ich kann nun einmal nicht aus meiner Haut. Flügel an den Schultern außer den zwei Armen erscheinen mir unorganisch.
In diesem Eigensinn meiner Eigenart bin ich noch bestärkt worden, als ich nach der unfruchtbaren Weltumsegelung in Paris vor Anker ging. Da habe ich drei Jahre Medicin studiert, viel gelernt und es beinah zu einem rite promovirten Doctor gebracht. Aber mich dauerten die armen Patienten, die sich mir dann anvertraut hätten. Ich würde in jedem einzelnen Fall so gewissenhaft alle Symptome studieren, eh' ich das geringste Recept schriebe, daß der Kranke darüber zehnmal die Geduld verlieren und das Zeitliche segnen könnte. Ich bin nun einmal kein praktischer Character, sondern ein spintisirender Tagedieb.
Und was hat Sie nach München gelockt?
Wieder nur die Neugier. Ich wollte mir Ihre berühmten Naturforscher einmal in der Nähe besehen, bei Liebig Chemie, bei Bischof Physiologie und bei Pettenkofer Typhuskunde studieren.
Sind Sie von Ihren Studien befriedigt?
Sehr! Vortreffliche Leute. Ich werde wohl noch ein paar Semester zu ihren Füßen sitzen müssen. Aber nun erzählen Sie mir von sich. Sie wissen, für schöne Literatur bin ich fast ebenso verdorben, wie für schöne Landschaften. Wie ist's Ihnen ergangen mit Ihrer Muse, seitdem Sie Ihre Eingebungen in das bewußte kleine Buch eingeschrieben haben? Hoffentlich hindern Sie die Rücksichten gegen den königlichen Gönner und Brodherrn nicht, ohne höfische Maske »immerdar sich selbst zu spielen«.
Wahrhaftig nicht! sagte ich lachend. Aber warum soll ich Sie von Dingen unterhalten, für die Ihnen »das Organ« fehlt, wie Sie selbst gestehen? Lassen Sie uns wenigstens erst dort in dem Gärtchen einen Augenblick rasten und einen Trunk thun. Ich bin ziemlich weit herumgelaufen, und die Zunge klebt mir am Gaumen.
*
Es war einer der bescheidneren Biergärten, in den wir eintraten, ohne zudringliche Blechmusik und nur von wenigen Gasflammen erhellt. Unter den niedrigen Kastanienbäumen, die schon meist ihr Laub verloren hatten, saßen ehrbare Bürgerfamilien, kleine Kaufleute oder Handwerker mit Kind und Kegel, Hunde liefen dazwischen herum, Weiber mit allerlei Waaren und Burschen, die Cigarren feilboten, drängten sich zwischen den dicht besetzten Tischen. Es schien auf den ersten Blick unmöglich, einen freien Platz zu entdecken.
Berengar aber, da ich mich schon wieder nach dem Ausgang wenden wollte, faßte meinen Arm. Er spähte mit seinen scharfen Augen über die Menge hinweg und sagte plötzlich: Kommen Sie, da hinten sehe ich noch ein paar leere Stühle. Und die Gesellschaft dort scheint auch nicht zu verachten.
Er glitt rasch durch das labyrinthische Gewühl, und ich folgte ihm in einigem Unmuth, da die Luft hier durch schlechte Cigarren und menschliche Ausdünstungen verdorben war und es mir gerathener schien, ein anderes Local aufzusuchen.
Als ich aber dort anlangte, wohin er mich hingesteuert hatte, bereute ich nicht, ihm gefolgt zu sein.
Es saßen nur drei Personen an dem runden Tisch, der nicht der sauberste war und Spuren vergossenen Biers, Brodreste und Papierfetzen trug. Eine kleine, dicke Frau mit falschen blonden Löckchen zu beiden Seiten des breiten, gutmüthigen Gesichts, sonntäglich aufgedonnert mit einem bunten Federhut und einer verblichenen Plüschmantille, saß zwischen einem jungen Paar, offenbar in der heitersten Laune, und horchte auf die Unterhaltung des jungen Mannes zu ihrer Linken, der eifrig in sie hinein redete. Er machte den Eindruck eines kleinen Commis oder Ladenjünglings, der Sonntags den Stutzer spielte, mit frisch gebranntem Haar und einer in Gold gefaßten Lorgnette, die er alle Augenblicke auf die Nase setzte, um einen Vorübergehenden zu betrachten. Dabei bemühte er sich, durch sein witziges Geschwätz die Aufmerksamkeit des jungen Mädchens zu erregen, das an der rechten Seite der Frau saß, aber kaum mit einem flüchtigen Zucken ihres Mundes sich für die geistreichen Einfälle ihres Verehrers dankbar erwies.
Dieses Mädchengesicht war es nun in der That werth, daß wir uns in dem Dunst und Gewühl niederließen. Denn selten war mir in München, wo es doch unter dem geringeren Volk an auffallenden Rasseköpfen nicht fehlt, eine Erscheinung begegnet, die mich nur entfernt so sehr an südliche Schönheit, italienische oder spanische, erinnert hätte.
Ich werde mich hüten, sie näher zu beschreiben. Nur die wundervoll mandelförmig geschnittenen Augen muß ich erwähnen, die fast immer zur Hälfte von den breiten Lidern bedeckt waren, so daß der graue Augenstern nur selten voll in dem bläulichen Weiß hervortrat; der reizende kleine Mund war nicht jugendlich roth gefärbt oder von einem Lächeln verschönt, sondern fest geschlossen, mit einem herben Ausdruck, fast verächtlich, oder im besten Fall müde und gleichgültig. Das Ganze unter einer Überfülle glanzloser schwarzer Haare, auf denen ein altes Strohhütchen ohne sonderlichen Aufputz schief befestigt war, so tief in die blasse Stirn herein gezogen, daß es aussah, als sei es der jungen Holden mehr darum zu thun, sich vor der Welt zu verstecken, als Bewunderung ihrer Schönheit herauszufordern.
Wie alt sie sein mochte, war nicht leicht zu errathen. Nach dem zarten Rund der Wangen und der feinen Haut zu schließen, schien sie nicht über siebzehn Jahre zu haben. Aber die seltsame, fast düstere Stille ihres Ausdrucks ließ sich mit einer so unreifen Jugend nicht in Einklang bringen; man mußte auf drei- oder vierundzwanzig schließen. Fast sah es aus, als habe das junge Kind schon irgend etwas Furchtbares erlebt, das einen tiefen Schatten über ihre Seele geworfen, sie gleichsam versteinert hätte.
Wie diese Mutter zu dieser Tochter kam, war gleichfalls räthselhaft. Auch die kleine rundliche Frau mußte in ihrer Jugend sehr hübsch gewesen sein, aber von jener vulgären Art, die, nachdem die erste Blüth vergangen, jeden Reiz verliert und nur durch eine gewisse Behaglichkeit und Gutmüthigkeit des Ausdrucks noch anziehen kann. Auch war die Hand, mit der sie den vor ihr stehenden Bierkrug erfaßte, breit und geröthet und trug die Spuren niedriger Arbeit. Die Tochter hatte weiße Händchen wie eine Prinzessin, und den Krug berührte sie nur, wenn die Mutter ihn ihr hinschob, auch dann gewöhnlich nur, um ihn zurückzuweisen.
Ich begriff sehr wohl, daß Berengar sich zu diesem schönen Räthsel hingezogen fühlte.
Doch that er, als sei es ihm nur um die Mutter zu thun. Mit einer höflichen Verbeugung trat er an den Tisch heran, zog die Mütze ab und fragte, ob die beiden Stühle nicht etwa belegt seien und die Damen erlaubten, daß wir uns zu ihnen setzten.
Natürlich, es sei ja noch Platz genug. Vetter Alois – sie deutete auf den jungen Menschen – werde ein wenig rücken. Es sei ihnen eine Ehr', die Herren schienen Fremde zu sein – ob wir schon lange in München wären? Es gefiele uns hier gewiß – und erst in acht Tagen, wenn das Octoberfest anginge – –
Selbitz unternahm es, uns Beide vorzustellen, während wir uns setzten, er neben dem Mädchen, ich an der Seite des Vetters, dem unser Eindringen in den engen Familienkreis sehr unerwünscht zu sein schien. Wir erfuhren, daß er Commis in einem größeren kaufmännischen Geschäft sei, dessen Firma er, als er seinen Namen nannte, mit großem Selbstgefühl anführte, als erwarte er, deßhalb gebührend hochgeschätzt zu werden. Er betrug sich gegen uns mit geflissentlicher Kälte, zog die Brauen hoch, erwiderte unsere Verbeugung nur mit einem unmerklichen Nicken des Kopfes und nahm eine lange Virginiacigarre aus der Tasche, die er in stummer Symbolik gegen mich hinzudampfen begann, wie man eine Fliege, die einen belästigt, abzuwehren sucht. Erst als ich ihn sehr gelassen ersuchte, etwas weiter abzurücken, schob er seinen Stuhl hinter den der Mutter, doch so, daß er das Cousinchen und ihren Nachbar immer im Auge behalten konnte.
Zwischen diesen Beiden ging es ziemlich einsilbig her. Auf alle freundlichen Versuche Berengar's, ein Gespräch anzuknüpfen, erhielt er nur kurze Antworten. Dabei hielt sie die Augen entweder vor sich hin gesenkt oder ließ einmal den Blick flüchtig umherschweifen, als suche sie Hülfe gegen irgend eine Gefahr.
Statt ihrer antwortete dann die Mutter, die gerade so mittheilsam war, wie ihr Kind verschlossen. In der ersten Viertelstunde hatte sie uns ihre ganze Lebensgeschichte anvertraut, daß sie nicht eigentlich eine Münchnerin sei, sondern aus der Vorstadt Au, Tochter eines Spänglermeisters, mit zwanzig Jahren verheirathet, seit drei Jahren verwittwet. Ihr Seliger sei der Hypotheken- und Wechselbanks-Kassierer Aurelius Weinbeerl gewesen, habe ein kleines Vermögen besessen und leider verspeculirt, was er sich so zu Gemüth gezogen, daß er an einem »Zehrfieber« gestorben sei. Seitdem habe sie sich mit ihrer einzigen Tochter Serafine mühsam durchgeschlagen, aber Niemand könne ihr etwas nachsagen, was für eine Hypotheken- und Wechselbank-Kassiererswittwe nicht reputirlich wäre. Ihr Finerl sei in das beste Institut gegangen, habe Französisch und etwas Klavierspielen gelernt und arbeite jetzt in einem großen Geschäft für Kirchenparamente und andere Feinstickerei. Obwohl sie schon nächste Lichtmeß zwanzig Jahr alt werde, sei sie doch noch zu keiner Tanzgesellschaft gegangen, und ihre einzige Erholung sei jeden Sonntag ein Spaziergang mit ihrem Mutterl, der auch nicht immer in einem Biergarten sein Ende finde.
Dann fing die gute Frau an, ihr München herauszustreichen und uns, die wir respectvoll ihrem Geplauder lauschten, auszufragen, was von den vielen berühmten Sehenswürdigkeiten von uns schon besichtigt worden sei, wobei sie die fremden Namen aufs Drolligste entstellte, auch eingestand, daß sie die Kunstsammlungsgebäude nur von außen betrachtet hatte. In den Kirchen dagegen war sie desto besser zu Hause.
Der Vetter, dem diese Unterhaltung freilich nicht sehr anziehend sein konnte, sagte ihr endlich etwas ins Ohr, worauf die Frau nach ihrer Uhr sah und mit dem erschrockenen Ruf: Jessas! schon Sieben! eilig aufstand und ihrer Tochter zuraunte, sie hätte sich ganz verschwatzt, Finerl hätte sie erinnern sollen, daß die Frau Tante zum Tarok kommen wollte. Die Herren sollten sich aber ja nicht stören lassen, wenn sie eiligst heimgingen. Sie danke sehr für die angenehme Unterhaltung, vielleicht hätte sie wieder einmal die Ehr' –.
Worauf Berengar erwiderte, wir würden es uns nicht nehmen lassen, die Damen nach Hause zu begleiten.
Das geschah denn in einiger Hast, ich mit der Mama voran, Berengar und der Vetter mit der Tochter hinterdrein. Auf dem kurzen Wege nach ihrer Wohnung, die im »Thal« lag, erfuhr ich noch, daß Frau Weinbeerl ein Zimmer zu vermiethen habe, die ehemalige Putzstube, die in keinem bürgerlichen Hause fehlen darf. Sie sei jetzt für einen Zimmerherrn hergerichtet, natürlich nehme sie nur einen sehr anständigen von gesetztem Alter, im Augenblick stehe das Zimmer leer, wenn ich Jemand wüßte, würde ihr ein Gefallen geschehen.
Der Miethpreis, den sie nannte, war ein äußerst bescheidener.
*
Als wir uns vor ihrem Hause von den Damen verabschiedet hatten, zugleich von dem Vetter, der mit triumphierender Miene ihnen nach die Treppe hinaufstieg, blieb Berengar noch ein paar Augenblicke vor der Thür stehen und betrachtete das Haus tiefsinnig von oben bis unten, obwohl es sich durch nichts vor den Nachbarhäusern auszeichnete; ich sah aber, daß er sich die Nummer über dem Eingang merkte. Dann schüttelte er, wie wenn er etwas bedauerte, den Kopf und wandte sich zum Weitergehen.
Nun? sagte ich, während wir langsam neben einander hinschritten, haben Sie hinter dem Rücken der Mama mehr Glück damit gehabt als vorher, das schöne stumme Räthsel zum Sprechen zu bringen? Oder hat Vetter Alois es nicht dazu kommen lassen?
Eine Sphinx! sagte er, ohne auf meine Frage zu achten. Eine, wie sie mir in allen vier Welttheilen noch nicht vorgekommen ist!
Nun, wenn Sie ihren Ödipus machen wollen, scherzte ich, – die Gelegenheit dazu ist so günstig, wie Sie nur wünschen können.
Und ich erzählte ihm von der Putzstube, die auf einen anständigen Miether in gesetztem Alter wartete. Wegen der letzteren Eigenschaft werde es Frau Babette Weinbeerl wohl nicht allzu genau nehmen.
Er schien auch hierauf nicht hinzuhören.
Haben Sie wohl bemerkt, sagte er, wie das Mädchen zuweilen bei dem gleichgültigsten Wort, das an sie gerichtet wurde, zusammenzuckte, wie Jemand, der aus einem leichten Schlaf geweckt wird? Dann öffnete sich ihr Mund zu einem leisen Seufzer, und gleich darauf fiel sie wieder in ihre Marmorruhe zurück. Ich habe die verschiedensten, mitunter verfänglichen Themata berührt, auch einmal geradezu gefragt, ob sie schon eine unglückliche Liebe gehabt habe – immer die gleiche schwermüthige Stille. Ich wette meinen Kopf, sie hat einmal irgend ein Gespenst in ihr Leben treten sehen, das ihre junge Seele für alle Zeit erstarren gemacht hat. Überhaupt – wie kommt sie zu dieser Mutter? Daß der Herr Hypotheken- und Wechselbanks-Kassierer Weinbeerl danach angethan gewesen wäre, ein solches Geschöpf in die Welt zu setzen, ist mir auch höchst unwahrscheinlich. Sieht sie doch aus wie ein verwunschenes Königskind aus einem Märchen, das ausgesetzt worden und unter dem Dach eines Bauern oder Schafhirten aufgewachsen ist. Man erlebt doch noch alle Tage etwas, was unsern Forschertrieb in Athem hält. Aber Gott bewahre mich, daß ich an diesem Problem meine Zeit verschwendete. Es würde mehr Zeit und Mühe kosten, als der ganze Spaß werth ist, und in Liebig's Laboratorium kommt bei den intricatesten Experimenten doch jedenfalls etwas heraus für die Wissenschaft. Guten Abend, lieber Freund! Hier bin ich bei meinem Hotel. Wir sehen uns wohl einmal wieder.
Er nickte mir mit einer etwas geistesabwesenden Miene zu und verschwand im Eingang eines der unscheinbarsten Gasthöschen Münchens, das ich bisher nicht einmal dem Namen nach gekannt hatte.
*
Ich war völlig überzeugt, daß ich ihm hier zum ersten- und letztenmal begegnet war. Es that mir wahrlich leid. Seit jener Bonner Zeit war sein Wesen milder und menschenfreundlicher geworden, ich hätte ihn auch gern in meinem Hause gesehen und mit meiner Frau bekannt gemacht, schon um seine absurden Vorurtheile gegen die Ehe zu beschämen.
Doch wie er nun einmal war, mußte ich vermeiden, ihm irgend etwas zuzumuthen, was »Er selbst« nicht aus freien Stücken gethan haben würde.
Zu meiner angenehmen Überraschung aber traf ich schon nach kurzer Zeit wieder mit ihm zusammen.
Irgend ein Geschäft führte mich am zweiten Samstag nach unserm ersten Wiedersehen in die Gegend des »Thals«, wo die geheimnißvolle Sphinx wohnte. Ich hätte das Haus aber nicht wiedererkannt, da ich mir die Nummer nicht gemerkt hatte, wenn nicht, als ich eben an der Thür vorbeiging, kein Geringerer als Freund Berengar herausgetreten wäre.
Also doch! rief ich lachend. Ich hatte mir's wohl gedacht. Nun? Ist es Ihnen in der Putzstube des seligen Herrn Weinbeerl behaglich, und sind Sie der Lösung eines gewissen Problems schon nahe auf der Spur?
Er blieb ganz ernsthaft und sagte: Wie Sie mich kennen, brauchten Sie kein sonderlich prophetisches Gemüth zu haben, um zu wissen, daß ich am nächsten Tage aus meinem Gasthof hierher übersiedeln würde. Die Mutter läßt es mich auch nicht bereuen. So viel Gutherzigkeit und sorgsame Pflege, wie bei ihr, habe ich noch in keiner Chambre garnie gefunden, so viele ich auch in beiden Hemisphären kennen gelernt habe. Ich würde mich hier wie in Abrahams Schooß befinden, wenn der nicht mit Nadeln besteckt wäre. Denn Tag und Nacht geht das verwünschte Räthsel mir nicht aus dem Kopf, und wenn ich ihn endlich ganz darüber verliere, kann's mich nicht wundern.
Ich fragte, ob er noch immer nicht dahintergekommen sei, warum das schöne Kind so beharrlich die Augen niederschlage und das Mündchen geschlossen halte.
Er schüttelte den Kopf. Kein Großinquisitor würde mehr Glück damit haben als ich. Es ist auch keine besondere Würde und Höhe, die die Vertraulichkeit entfernte. Sie weicht mir gar nicht aus, kommt sogar, ehe sie in ihr Geschäft geht, Morgens in mein Zimmer, mir das Frühstück zu bringen. Dabei sieht sie auch in ihrem Hauskleidchen entzückend aus und vollends, als ich einmal Abends in das Wohnzimmer kam, ein bischen mit meiner »Phileuse« zu plaudern – das Finerl hatte eben ihr Haar gewaschen, das Einzige an ihr, worauf sie eitel zu sein scheint – nun hatte sie es lose um die Schultern hängen, ein weißes Tuch um den Kopf gebunden – ein Bild zum Malen, sag' ich Ihnen. Aber es genirte sie gar nicht, daß ich sie so traf. Und doch war keine Spur von Koketterie an ihr zu entdecken, nur die gewöhnliche stille, traurige Miene.
Warum ich sie nie lachen höre, hatte ich sie einmal des Morgens gefragt. Wenn sie einen Kummer hätte, vielleicht irgend einen Herzenswunsch, den sie der Mama nicht beichten wolle, mir könne sie ihn anvertrauen. Sie solle mich, obwohl ich noch nicht alt sei, als ihren väterlichen Freund betrachten, der es gut mit ihr meine.
Sie sah mir ganz ruhig ins Gesicht und schwieg eine Weile, als ob sie Mühe habe, den Sinn meiner Worte zu verstehen. Sie danke mir für meine Freundlichkeit, sagte sie dann. Aber sie habe weder einen Kummer noch einen Wunsch und sei auch gar nicht traurig. Wenn sie nicht lache, so könne sie nichts dafür. Es sei ihr einmal nicht danach zu Muthe.
Ich kam nicht weiter mit ihr. Daß sie etwas verbarg und heuchelte, es sei Nichts, war mir klar. Entweder hat sie einmal ein – großes oder kleines – Verbrechen begangen, das sie nicht einmal in der Beichte vom Herzen wälzen mag und sich darum für verdammt hält, oder an ihr ist ein Verbrechen begangen worden.
Ich nahm dann eines Tages die Mama ins Verhör. Die sah mich aber ebenso verständnißlos an, wie die Tochter.
Einen großen Kummer? Ihr Finerl? Da müsse sie lachen. Was fehle ihr denn? Was gehe ihr ab? Sie, ihr Mutterl, trage das Kind ja auf den Händen. Und wenn ich etwa dächte, eine alte Liebschaft gehe ihr nach, es hätte ein schlechter Mensch sie sitzen lassen, davon müßte sie doch zuerst etwas wissen. Das Finerl habe keine Geheimnisse vor ihr und sei auch gar nicht verliebter Natur, sonst würde sie den Vetter Alois anders behandeln, der sich nach ihr todt sehne. Nein, schon als ganz kleiner Fratz habe sie dies ernsthafte Gesicht! gemacht, sie sei halt ein besonderes Geschöpferl, aber der Mann, der sie einmal zur Frau bekäme, könne sich glücklich schätzen, denn so ein Frauerl, wie sie sein würde, so fromm und sauber und häuslich und nie nach einem Vergnügen begierig –
Und so weiter, eine lange Lobeslitanei, in ihrem echten Münchnerisch, das ich ihr nicht nachsprechen kann. Dabei sah der selige Hypotheken- und Wechselbank-Kassierer in Öl aus seinem breiten Goldrahmen von der Wand herab und schien mit seinem dummen Lächeln Alles zu bestätigen, was seine Wittwe sagte.
Die Hauptsache freilich, die er gut wußte, verrieth er nicht. Die erfuhr ich ein paar Tage später von einer Hausgenossin, die auf demselben Flur mit meinen Leuten wohnt.
Ich fand einmal die Thür verschlossen, als ich zu einer ungewohnten Stunde nach Hause kam. Die Mutter war noch auf dem Markt, das Finerl in ihrem Stickereigeschäft.
Also läutete ich drüben an, da ich nicht zu bleiben dachte, sondern nur etwas bestellen wollte. Die Frau Postofficiantin öffnete mir selbst und nöthigte mich, bei ihr einzutreten.
Ohne daß ich irgend dazu Anlaß gab, begann sie von ihren beiden Hausgenossinnen zu erzählen. Sie konnte Mutter und Tochter nicht genug rühmen, ich merkte deutlich, Mama Weinbeerl hatte eine stille Hoffnung gegen sie durchblicken lassen, mich zum Schwiegersohn einzufangen, da ich mein Interesse an ihrem schönen Kinde ja nicht verhehlt hatte. Nun sang auch sie mir dasselbe Lied: der Mann, der sie einmal bekäme, habe sich gut gebettet – und wieder die Aufzählung aller ihrer vorzüglichen Gaben und Tugenden. Das Einzige, woran ein Freier etwa Anstoß nehmen könne, daß ihre Mutter – ich solle es aber ja für mich behalten – sie als »ein lediges Kind« ihrem Manne mit in die Ehe gebracht hätte – wir seien ja alle Menschen, die Babette sei eben sehr hübsch und lustig gewesen, und ihre Mutter hätte mit ihr hoch hinaus gewollt, und da sei der Graf – sie wolle den Namen nicht nennen – gekommen, und wie es dann so gehe – aber das Kind sei ja unschuldig daran, und »überhaupts«, wenn der spätere Gatte ein Auge zugedrückt hätte –
Kurz, ein ganzer Roman, einer von den alltäglichsten. Ob die traurige Miene des Mädchens etwa davon herrührte, daß sie sich den Fehltritt der Mutter zu Herzen nehme? fragte ich. Kein Schein! Das Finerl ahnt nichts davon, das arme Hascherl. Und so dumm wäre ja auch keins, daß es nicht lieber als ein Grafenkind zur Welt gekommen wäre, denn als die Tochter eines Bankbeamten. Ich sollt' aber nur ja mir nicht merken lassen, daß ich was wisse, auch nicht gegen die Mutter. Das Finerl verdiene noch immer den besten Mann und werd' ihn auch gewiß bald kriegen.
Der bedeutsame Blick, den sie mir dabei zuwarf, bestärkte mich in meinem Verdacht, daß nicht Alles ganz richtig an dieser Geschichte, daß sie eigens zu dem Zweck, mich zu beruhigen, wenn ich etwas Ungünstiges gehört haben sollte, so zurechtgemacht war.
Aber das Eine ging klar daraus hervor: irgend ein Geheimniß lastet auf der jungen Seele, vielleicht nur eine übertriebene Vorstellung von der Sündhaftigkeit ihrer Geburt und eine vom Beichtvater ihr auferlegte Gewissenspflicht, für ihre Mutter Buße zu thun.
Dahinter denke ich doch endlich zu kommen. Ich gestehe, daß mich die Sache mehr beschäftigt, als eigentlich vernünftig ist. Was kümmert mich das Schicksal dieses Mädchens, das im Übrigen mich eher langweilt als anzieht? Meine alte Schwäche, mich mit Neugier um alle natürlichen und künstlichen Geheimnisse abzuquälen, verwünsche ich täglich. In Liebig's Laboratorium gilt es alle fünf Sinne zusammenzunehmen und sich nicht durch den Versuch, psychologische Nüsse zu knacken, zerstreuen zu lassen.
Lieber Freund, sagt' ich, wollen Sie wissen, was ich von der Sache denke? Daß Ödipus diesmal das Räthsel der Sphinx nicht lösen und dann das Schicksal erleben wird, das bekanntlich das schöne Ungeheuer all denen anthut, die nicht durch den Schaden ihrer Vorgänger klug werden wollten, nämlich in den Abgrund gestürzt zu werden. Bei Ihnen bedeutet das nichts Schlimmeres, als daß Sie in den Abgrund einer gut bürgerlichen Ehe versinken, wo Sie immer noch weich gebettet sein werden. Denn erstens kriegen Sie eine reizende Frau, und zweitens, wenn nur die Hälfte der guten Censuren wahr ist, eine gut häuslich erzogene, bei der Sie trefflich versorgt sein werden. Die geistige Bildung, die bei Ihrem Finerl vernachlässigt worden ist, werden Sie ja con amore nachholen können.
Er blieb stehen, stieß ein kurzes, höhnisches Lachen aus und rief: Heirathen? Dies Fräulein Weinbeerl? Ein Dutzend Kinder in die Welt setzen und mir die Schlafmütze über die Augen ziehen lasten, damit ich mich um nichts Wissenswerthes in der Welt mehr bekümmere, als welche Knödel meine Frau mir zu Mittag auftischen mag? Sie haben denn doch einen zu niedrigen Begriff von mir, Sie glauben, es sei an diesem müßigen Landstreicher am Ende doch nicht viel verloren, wenn man ihn in ein gewöhnliches Ehejoch einspanne, das eine hübsche Frau – die ersten Jahre wenigstens – mit Rosen bekränzen würde. Nein, Verehrtester, einstweilen halte ich noch daran fest, daß meum esse conservare meine verfluchte Schuldigkeit sei, von der mich alle trügerischen Wohllüste nicht abwendig machen können. Und damit Gott befohlen! Hier muß ich um die Ecke biegen, wenn ich nach der Anatomie kommen will. Verzeihen Sie, den Gefallen kann ich Ihnen nicht thun, ein Münchner Pfahlbürger zu werden, wenn ich auch Werth darauf legte, mich Ihren Mitbürger zu nennen.
So trennten wir uns.
*
Die Heftigkeit, mit der er sich gegen meinen Verdacht gewehrt hatte, konnte mich nur darin bestärken. Ich hatte einen wunden Punkt berührt, und offenbar fürchtete er selbst, die leichte Herzentzündung könne lebensgefährlich ausarten.
Und wirklich! schon nach wenigen Tagen erhielt ich ein Billet von ihm, folgenden Inhalts:
»Ich nehme auf diesem Wege Abschied von Ihnen, werther Freund, da ich früher, als ich vorgehabt, München verlasse, um eine längst geplante Reise nach Südamerika anzutreten. Daß ich meine naturwissenschaftlichen Studien so plötzlich unterbreche, ist die Schuld einer gewissen Sphinx, die, wie Sie leider richtig prophezeit haben, nicht nachlassen würde, mir aufzurathen zu geben, bis es ihr gelungen wäre, mich in den bewußten Abgrund zu stürzen. Bevor ich vollends den Kopf verliere, ergreife ich lieber schleunigst die Flucht, da ich es vorziehe, eher dem großen Liebig untreu zu werden, als mir selbst.
»Leben Sie wohl! Danken Sie allen Göttern, daß Ihnen keine solchen Räthsel je zu schaffen gemacht haben.
Berengar.«
*
Ich hörte dann wieder lange nichts mehr von ihm, ganze vier oder fünf Jahre. Meine eigenen wechselnden Erlebnisse hatten auch die Erinnerung an den wunderlichen Mann, der mir eine wärmere Theilnahme nie abgewonnen hatte, in mir ziemlich ausgelöscht.
Da sollte sie auf eine sehr überraschende Weise wieder aufgefrischt werden.
In all den Jahren war ich auch dem schönen Gesicht, das ihm so verhängnißvoll geworden, nur ein einziges Mal begegnet, und zwar bald nach Berengar's Flucht, am Arm eines stattlichen Herrn, der seinem ganzen Habitus nach ein Künstler sein mußte. Offenbar Finerl's Bräutigam; denn auf der anderen Seite, als »Elephant«, wie es bei Brautpaaren in München Sitte ist, ging die kleine Mama, im besten Putz und mit sichtbar hochbefriedigtem Gefühl, für ihr Finerl eine so gute Versorgung erwischt zu haben. Vielleicht schon an dem ersten Nachfolger ihres entflohenen »Zimmerherrn«. Sie erkannte mich und grüßte mich mit ihrem guten, traulichen Lächeln, dem ein sehr berechtigter Zug von Mutterstolz beigemischt war. Denn das junge Paar nahm sich in der That auffallend gut aus; der Verlobte war, was man einen schönen Mann nennt, der es nur selbst zu sehr zur Schau trug, das Sphinxchen neben ihm schön wie immer und aufs Zierlichste gekleidet. Doch war der räthselhaft schwermüthige Ausdruck ihres Gesichtes trotz des jungen Liebesglücks nicht geschwunden. Sie sah so unverwandt vor sich hin, daß sie mich erst auf einen Wink der Mutter bemerkte und mich dann gleichmüthig, ohne eine Miene zu verziehen, mit einer leichten Kopfneigung grüßte.
Den Namen des Bräutigams erfuhr ich nicht, auch nichts von den späteren Schicksalen in ihrer Ehe.
So gingen die Jahre hin.
Im Mai zu Ende der fünfziger Jahre kam ich eines Vormittags an die Bonifacius-Basilika und sah vor den Stufen, die in die Vorhalle hinauf führen, einen Haufen Weiber und Kinder versammelt, die eine Gasse zwischen sich frei gelassen hatten. Zwei geschlossene Kutschen auf der Straße, auf deren Bock dicke, würdig blickende Kutscher mit rothen Nasen und Schleifen im Knopfloch saßen, ließen keinen Zweifel darüber, daß drinnen eine Trauung vor sich ging.
Es ist eine meiner Schwächen, daß ich an einem solchen Schauspiel so wenig vorüber kann wie die erste beste Frau Gevatterin. Ein Menschenforscher hat ja auch keine bessere Gelegenheit, sich im Zeichendeuten zu üben, als die Schrift zu entziffern, die auf den Gesichtern der beiden Hauptpersonen in der feierlichsten Stunde geschrieben steht, und darüber zu phantasiren, ob das Leben sie früher oder später auslöschen oder unterstreichen werde.
Also stellte ich mich auch diesmal hinter den lebendigen Zaun der geduldig Wartenden, lauter geringe Leute, da sich's, nach der Zahl der Hochzeitswagen zu schließen, nicht um ein Brautpaar aus den höheren Ständen handeln konnte.
Ich hatte auch nicht lange zu warten. Drinnen setzte die Orgel zu ihrem festlichen Nachspiel ein, die beiden Hochzeitsdiener, die mit den Kutschern geschwatzt hatten, sprangen eilfertig bei Seite und rissen die Wagenthüren auf, in den Zuschauern that sich eine Bewegung kund und ein Gemurmel: Jetza komma's! Und richtig erschien auf dem schwarzen Hintergrunde des großen offenen Portals ein Kirchendiener, wohl um nachzusehen, ob draußen Alles in Ordnung sei.
Hinter ihm aber, sich an den Händen haltend, traten als Vortrab zwei kleine Bübchen heraus, etwa vierjährig, einander so ähnlich, daß man sie für Zwillinge halten mußte. Sie trugen neue schwarze Sammetanzüge mit eben solchen Mützen, die sie aber in der Hand hielten, und unter denen die sehr hübschen weiß und rothen Gesichtchen, von dunklem, schlichtem Haar eingerahmt, ganz vornehm aussahen und an das bekannte Bild der Söhne Eduard's erinnerten. Im Knopfloch der Jacke trug Jeder ein Blumensträußchen, und offenbar waren sie sich der Bedeutung des Tages vollkommen bewußt; denn sie blieben, obwohl der Hochzeitsdiener ihnen zuwinkte, herbeizukommen, während die Frauen, die ihnen zunächst standen, sie mit Liebkosungen und Schmeichelworten belästigten, ruhig stehen, die Eltern abzuwarten, die drinnen noch etwas aufgehalten wurden.
Jetzt aber kamen auch die, und zu meiner großen Überraschung erkannte ich in den Neuvermählten auf den ersten Blick das Finerl, jetzt Frau Serafine, geborene Weinbeerl, verehelichte – ja, wer war ihr Gatte, ihr zweiter Gatte? Denn der erste, der Vater der beiden Bübchen, mußte ja entweder todt sein oder – nein, geschieden konnte er nicht sein, seine Frau hätte ja dann keine zweite Ehe eingehen können.
Und mit wem? Konnte ich meinen Augen trauen, oder war es ein Mittagsspuk, der mich neckte? Der Herr dort in tadelloser Hochzeitstoilette, einen blanken Cylinderhut in der Hand, in einem Frack, der ebenfalls funkelnagelneu zu sein schien, ein Myrthensträußchen im Knopfloch – war das wirklich mein alter Sonderling, »Er selbst«, den ich immer nur im grauen Sommeranzug mit grauer Mütze gesehen hatte?
Es blieb mir kein Zweifel, er war es wirklich. Von dem früheren Grau in seiner ganzen Erscheinung war freilich nichts geblieben, nur ein leichter Schimmer in dem schwarzen langen Kinnbart, aber sein Blick war so seltsam gespannt und wenig hochzeitlich, daß man ihn im Verdacht hatte, er sehe selbst an diesem Tage der »schönsten Feier« die Welt grau in grau.
Er führte mit vornehmer Würde seine junge Frau – sie trug ein helles Seidenkleid, als Wittwe natürlich ohne Kranz und Schleier – die Stufen hinab und ließ einen gedankenlosen Blick über die Zuschauer gleiten. Auf einmal stutzte er. Er hatte mich erkannt und machte eine Bewegung, als wollte er, das Spalier durchbrechend, zu mir hineilen. Doch besann er sich, zuckte nur mit den Achseln, wie um zu sagen: Beklage mich! Ich weiche eben nur der Gewalt! Kein Mensch entgeht seinem Schicksal. – Darauf hob er erst seine Frau, dann die beiden Knäbchen in den Wagen, stieg selber ein, der Diener schloß die Kutschenthür und schwang sich selbst auf den Bock, worauf die Pferde anzogen und davon fuhren.
Ein einzelnes Paar in gesetztem Alter, die Trauzeugen, war in den zweiten Wagen gestiegen und den Neuvermählten gefolgt. Unter dem Publicum wurden Stimmen laut, die sich in Bewunderung der schönen jungen Frau ergingen. Es sei ihr auch zu gönnen, da sie früh schon Wittwe geworden, daß sie wieder einen braven Mann gefunden habe, der auch reich sei und die Kinder liebe.
Dies äußerte eine der Gevatterinnen, die in die Verhältnisse des Hochzeitspaares näher eingeweiht sein mußte. Die Anderen hatten nur ihrer Lust, zu gaffen, gefröhnt.
*
Als ich zu Hause meiner Frau erzählt hatte, was ich eben erlebt, triumphierte sie natürlich. Sie wußte von meiner Bekanntschaft mit dem seltsamen Menschen und hatte es ihm stets gegönnt, daß er für seine gottlosen Ketzereien einmal gründlich Buße thun müsse. Du sollst sehen, sagte sie, er wird wie alle Frischbekehrten noch ein Ehefanatiker, wenn er auch, was ich diesem »Finerl« trotz der sanften Märtyrermiene zutraue, sehr unter den Pantoffel kommt. Am Ende lerne ich ihn nun doch auch kennen, denn sie wird es ihm schon abgewöhnen, cynische Reden zu führen in Damengesellschaft. Wie wär's, wenn du ihm einen Glückwunsch zu seiner Verheirathung schriebst und anfragtest, ob er uns seine junge Frau nicht bringen wolle?
Ich erwiderte, daß wir abwarten müßten, ob er selbst dazu aufgelegt sei. Jedenfalls in den Flitterwochen dürften wir uns ihnen nicht aufdrängen.
Im Stillen zweifelte ich überhaupt daran, daß ich ihm auch als Ehemann näherkommen, ja daß er mich überhaupt aufsuchen würde. Es konnte ihm vielleicht peinlich sein, als ein Abtrünniger von all den Grundsätzen, die er so hitzig gegen mich verfochten, vor mir zu erscheinen.
Darum war ich aufs Höchste erstaunt, als er schon am nächsten Nachmittag bei mir eintrat.
Er war aber nicht im Mindesten verlegen, vielmehr gesprächiger und munterer als je.
Was haben Sie wohl gedacht, lieber Freund, sagte er, mir die Hand schüttelnd – er trug jetzt wieder seinen grauen Anzug – als Sie mich gestern die via crucis hinschreiten sahen? Gewiß haben Sie das Sprüchlein des Carlos im Clavigo gemurmelt: »Da macht einmal wieder Einer einen dummen Streich!« Sie haben vollkommen Recht damit gehabt. Aber wenn weise Männer, zu denen ich mich rechne, dumme Streiche machen, so thun sie es wenigstens aus guten Gründen nach reiflicher Überlegung. Ich lief Gefahr, mein edles Selbst zu verlieren, wenn ich mich länger sträubte. Sehen Sie, schon die gemeine Neugier, auch einmal zu erleben, was man einer eigens einem angetrauten Frau gegenüber fühlt, trieb mich dazu an. Und dann – warum soll ich's Ihnen verhehlen? – die ganz unvernünftige Verliebtheit, die mir über Land und Meer auf dem Nacken saß. Auf die Art habe ich zwei, nein, drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Denn das »Problem«, das Räthsel der Sphinx, steckte mir ja noch immer im Kopf, und Sie erinnern sich meiner Doctrin von dem einzigen Mittel zur vollen »Erkenntniß« des Weibes. Also machte ich die Augen zu, biß die Zähne zusammen und that den Sprung ins Dunkle, vor dem mir immer gegraut hatte, um dadurch ins Helle zu kommen, ein scheinbarer Widerspruch, aber das Leben ist ja an Widersprüchen reich, und manche sind noch verhängnißvoller, als die lebenslange Verbindung mit einer unverstandenen, vielleicht überhaupt unverständlichen Person des anderen Geschlechts.
Nun, sagte ich lächelnd, und sind Sie jetzt dem Verständniß näher gekommen? Freilich wär's ein bischen früh, das schon vom Lendemain erwarten zu wollen.
Er sah sehr ernst vor sich hin.
Erlauben Sie, daß ich mir eine Cigarre anzünde? Nein, bitte, keine aus Ihrem Kistchen da, obwohl es ein ziemlich echtes Ansehen hat. Ich bin aber in diesem Punkt immer raffinirter geworden und rauche nur noch zu fünfzig Pfennigen. Nach meiner sorgfältigen Berechnung reicht mein Einkommen auch noch eine Weile dafür aus, trotz des Monatsgeldes, das ich Madame Selbitz zu zahlen habe, und des künftigen Schulgeldes für Hansel und Franzel. Diese beiden Kindsköpfe nämlich haben, ohne es zu wissen, kräftig mitgeholfen, mich ins Netz zu ziehen. Ich habe immer Kinder gern gehabt, und die Bürschchen sind wirklich liebe, kleine Teufelchen. Als ich hieher zurück kam – vor drei Monaten – ich hatte es in Amerika ganze vier Jahre ausgehalten, dann überfiel mich eines Tages das tückischste Europaweh, ich mußte absolut wieder idealistischen Boden unter den Füßen haben. Die alte dumme Verliebtheit, die weder mit Güte noch Gewalt zum Rosten zu bringen war, war mit im Spiel, ich hatte nur noch so viel Widerstandskraft, daß ich nicht gleich von Calais aus nach München dampfte, sondern mich wieder in Paris etablirte. Da giebt's Weiber, die einem das Liebesfieber mit gewissen sympathischen Kuren zu vertreiben wissen, auf die hoffte ich. Sie haben's auch nicht zu Stande gebracht – die halb gesenkten Augen, der kleine Mund, der nie lacht, kurz, das ganze Fräulein Finerl steckte mir unausrottbar im Kopf. Ich hatte aber noch so viel Besonnenheit, daß ich überlegte, wenn's wirklich in den Sternen geschrieben stünde, daß ich meine Freiheit opfern müsse, so sei's doch nöthig, nicht auch noch andere Fesseln mir aufhängen zu lassen, die der Nahrungssorgen. Für alle Fälle müsse ich auf ein Erwerbsmittel denken, mein Vermögen könne so oder so einmal von irgend einer Calamität verschlungen werden, was dann?
Und so beeilte ich mich, in Paris mein ärztliches Examen zu machen. Hier in Deutschland wird es vielleicht zur Praxis nicht ausreichen. Dann kann ich Weib und Kind aufpacken und mich irgendwo anders niederlassen.
Und so kam ich hieher und erfuhr gleich, was Sie wohl auch längst wissen – oder nicht? Nun, Sie leben in ganz anderen Kreisen. Item, Mama Weinbeerl hatte, bald nachdem ihr Kind gut versorgt war – mein Vorgänger scheint ein schlechter Maler, aber ein guter Kerl gewesen zu sein und auch etwas Vermögen gehabt zu haben – kurz, die Alte freute sich noch der Geburt ihrer Enkel, dann legte sie sich hin und starb.
Leider – doch zum Glück für mich – that ihr Schwiegersohn es ihr nach, als die Zwillinge kaum vier Jahr alt waren. Das bischen Vermögen war bald aufgezehrt, aus dem künstlerischen Nachlaß ließ sich nicht viel herausschlagen, so blieb der trauernden Wittwe nichts übrig, als sich nach anderen Hülfsquellen umzusehen.
Die Paramentenstickerei war ein mühseliges Handwerk, das für eine Mutter, die zwei Knaben zu versorgen hatte, nicht viel abwarf. Sie entschloß sich daher, ihre Wohnung zu behalten, die Zimmer und das Atelier, die nun entbehrlich geworden waren, zu vermiethen, doch nur an Damen, da sie um ihren guten Ruf besorgt war.
Und so ging's denn. Es gelang leidlich, to make both ends meet. Es war aber immer ein ärmlicher Zustand, in dem ich sie antraf.
Sie selbst klagte nicht. Sie begrüßte mich freundlich wie einen alten Bekannten, that mir auf alle Fragen Bescheid, doch immer mit derselben verhüllten Schwermuth, die mich schon vor sieben Jahren zur Verzweiflung gebracht hatte.
Ihr Zimmerherr wieder zu werden wie damals, ging nicht an. Sie nahm ja nur Zimmerfräuleins. Und doch kam ich jeden Tag, Hansel und Franzel attachirten sich mehr und mehr an den »Onkel«, endlich bat mich ihre Mutter, meine Besuche einzustellen, weil darüber gesprochen würde. Was blieb mir da übrig, als den bewußten dummen Streich zu machen?
Ich kann nicht sagen, daß ich ihn bereue. Es wäre heute auch noch zu früh dazu. Auch in ihrem Leben ist nichts verändert. Die Zimmerfräuleins sind ausgezogen, die Zwillinge haben sich bei dem Hochzeitsdiner bespitzt und den Magen verdorben, und ich lebe in Erwartung der Aufschlüsse, die da kommen sollen, über das Wesen der Ehe im Allgemeinen und meines Eheweibes im Besonderen. Ich fürchte, ich behalte Recht: le jeu ne vaut pas la chandelle. Und nun habe ich Sie lange genug belästigt. Ich will es nicht so bald wieder thun!
Er stand auf und ließ sich nicht bewegen, meine Frau kennen zu lernen. Ein andermal, sagte er. Wenn die meine mich erst besser erzogen hat. Heute bin ich noch ungenießbarer als je. Der neue Mensch, den ich angezogen habe, sitzt mir noch etwas unbequem. Ich bitte, mich der gnädigen Frau zu empfehlen. Good bye!
Damit ging er.
*
Ich konnte mich der Hoffnung nicht hingeben, ihn so bald wiederzusehn, wenigstens nicht, ehe er sein Problem gelös't haben würde. Ob die Flitterwochen die günstigste Zeit dazu sein möchten, war mir zweifelhaft.
Der Honigmond war aber noch nicht lange vergangen, als mir folgender Brief von ihm gebracht wurde:
»Lieber Freund!
Ich bin nun dahintergekommen. Das lächerliche Ergebniß ist aber nur, daß überhaupt nichts dahinter ist!
Ob es mehr Frauen giebt, die alle obligaten Tugenden besitzen, um, nach der Meinung guter Mütter und Schwiegermütter, im Stande zu sein, ›jeden Mann glücklich zu machen‹, und dabei ihre aufopfernde Selbstlosigkeit so weit treiben, jedes eigene Selbst zu entbehren, weiß ich nicht. Wenn es aber Männer geben sollte, denen gerade damit gedient ist, was ich nicht bezweifle, so gehöre ich nicht zu ihnen.
Ich habe vollauf genug an dem Schatten, den ich selbst werfe, wenn ich in der Sonne spazieren gehe. Mit einem zweiten Schatten weiß ich nichts anzufangen, auch wenn er so reizend anzusehen ist, wie meine mir ehelich verbundene schöne Sphinx.
Vier Wochen habe ich ihr Zeit gelassen, damit herauszurücken, was etwa an heimlicher Psyche in ihr verborgen sein möchte. Auch mein directes Verhör über ihr früheres Leben hat nichts zu Tage gefördert. Wo nichts ist, hat der schärfste Inquisitor sein Recht verloren.
Das aber halte ich auf die Länge nicht aus. Ich würde eine Xantippe, die mir das Leben zur Hölle machte, wenn sie es nur mit eigener Manier thäte, diesem Engel vorziehen, an dessen Himmel ewig ein insipides Blau erglänzt, ohne den Schatten einer Wolke.
Also habe ich mich entschlossen, um mein bischen Selbst zu retten, das Weite zu suchen. Ohne einen Anstoß von außen wäre ich vielleicht nicht so weit, obwohl meine ewige Strohwittwe sich sehr rasch und leicht in die Trennung finden wird. Sie hat mich ja genommen ohne das, was Liebe heißt, weder vernünftige noch unvernünftige. Sie würde auch einen dritten Mann und einen zehnten sich gefallen lassen und ihnen eine treue, selbstlos sich ihrer Pflege widmende Gattin werden. Hansel und Franzel vollends sind noch zu jung, um den Stiefvater lange im Gedächtniß zu behalten.
Aus Hamburg ist gestern bei mir angefragt worden, ob ich geneigt wäre, als Schiffsarzt an einer Expedition zur Entdeckung des Nordpols Theil zu nehmen. Das ist gerade mein Fall.
Ich vermuthe zwar, am Nordpol sitzt auch wieder so eine Sphinx, hinter der nichts ist. Vielleicht auch, wenn wir ihr Räthsel nicht rathen, stürzt sie uns in einen mit ewigem Eise gestillten Abgrund. Alles besser, als hier den glücklichen Familienvater zu spielen, ohne jedes Talent dazu.
Es muß Jedem frei stehen, nach feiner Façon unselig zu werden. Die meine hat wenigstens den Vortheil, daß sie Niemand schadet.
Ich habe mein Vermögen hier bei einer Bank hinterlegt und bei einem Notar ein Document, in welchem ich bestimme, daß Alles meiner Frau gehören soll, wenn ich in Jahresfrist nicht zurück gekehrt bin. Sie selbst weiß nur, daß ich eine weitere Reise mache. Und somit adieu! Denken Sie nicht allzu schlecht von mir und seien Sie glücklicher als
Ihr
Berengar Selbitz.«
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Das war das Letzte, was ich von dem seltsamen Menschen hörte. »Er selbst« blieb verschollen.
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