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Der verlorene Sohn.

(1869)

In Bern lebte um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts eine würdige Matrone, Frau Helena Amthor, die Wittwe eines sehr reichen und angesehenen Bürgers und Rathsherrn, der sie nach zwölfjähriger Ehe mit zwei Kindern zurückgelassen hatte, noch in der Blüthe der Jahre und ihrer Schönheit. Gleichwohl hatte sie jedem noch so vortheilhaften und ehrenvollen Antrage, eine zweite Ehe zu schließen, widerstanden und jedesmal erklärt, sie habe nur noch Eines auf Erden zu thun: ihre Kinder zu rechtschaffenen Menschen zu erziehen. Wie es aber zu gehen pflegt, daß allzu ängstlicher Eifer das Gegentheil wirkt von dem, was er bezweckte, so auch hier. Das älteste Kind, ein Knabe, der bei des Vaters Tode elf Jahre und ein kluger, aber sehr eigenwilliger Bursch war, hätte wohl eher eine männliche Zucht bedurft, als die zärtliche, allzu nachgiebige Pflege der Mutter, die diesen Sohn als das Abbild des zu früh ihr entrissenen Gatten vergötterte und seinen oft übermüthigen Wünschen in keiner Weise widerstehen konnte. Die Folge davon war, daß der junge Andreas, je mehr er heranwuchs, je übler sich aufführte und seiner Mutter zum Dank für ihre thörichte Liebe das schwerste Herzeleid machte. Als sie zur Einsicht ihres Fehlers kam, war es zu spät. Die Bitten und Ermahnungen seiner Oheime und selbst die ernstlichen Verwarnungen und Geldbußen, die er sich von Seiten der städtischen Behörden durch tollen Unfug zuzog, konnten seine verwilderte Natur so wenig zügeln, wie die Thränen der bekümmerten Mutter. Und so willigte endlich Frau Helena in das, was ihr nach dem Verluste ihres Mannes das Bitterste war, in die Trennung von ihrem Sohne, den ein Vetter in Lausanne, ein wohlhabender Kaufmann, in sein Haus zu nehmen sich erbot, in der Hoffnung, die neue Luft und regelmäßige Arbeit werde sich dem Verwahrlosten heilsam erweisen. Andreas, der damals eben zwanzig Jahre alt geworden war, ließ es sich gern gefallen, aus dem altehrbaren »Bärenzwinger«, wie er seine Vaterstadt nannte, ins Welschland zu kommen, wo er sich trotz der Aufsicht des Vetters ein weit loseres und lustigeres Leben versprach. Auch nahm er ohne die geringste zärtliche Bewegung Abschied von der Mutter und seinem etwa zwölfjährigen Schwesterchen, dem Lisabethli, und verwahrte die ansehnliche Reisebaarschaft sorgfältiger in seinem Wams, als die mütterlichen Ermahnungen in seinem Herzen. Richtig war auch noch kein halbes Jahr vergangen, als aus Lausanne die Nachricht kam, Andreas sei heimlich aus der Stadt entwichen, mit Hinterlassung einer sündhaften Schuldenmasse in Spiel- und Weinhäusern, und habe eine ihm für das Geschäft anvertraute Summe mit sich genommen, statt deren sich nur eine Anweisung auf die Mutter im Fache seines Schreibtisches vorgefunden habe.

Diese Schuld und alle übrigen bezahlte Frau Helena Amthor ohne Zögern, sprach zu Niemand ein Wort darüber und begegnete unberufenen Fragen nach ihrem Sohne stets mit derselben Antwort: es gehe ihm wohl, und er schreibe von Zeit zu Zeit von seinen Reisen. Auch war das Letztere keine Lüge, da er, so oft ihm das Geld ausging, was nicht selten geschah, sich an die Mutter wandte, die ihn niemals vergebens bitten ließ. Was sonst etwa in seinen und ihren Briefen stand, erfuhr keine sterbliche Seele. Sie sprach den Namen ihres Sohnes nicht mehr aus und fing nie selbst von ihm zu reden an, so daß auch die Anderen sich endlich scheuten, an den Kummer ihres Lebens zu rühren, und Andreas für die ganze Stadt so gut wie todt oder verschollen war. Ihm selbst schien das eben recht zu sein; er äußerte niemals Verlangen, seine Heimath wieder zu besuchen. Als er großjährig geworden war und sich mit seinem Vormunde auseinandersetzen wollte, meldete er kurzangebunden, an dem und dem Tage werde er im »Rebstock« zu Straßburg anzutreffen sein, um die Auslieferung seines väterlichen Vermögens entgegenzunehmen. Der Vormund, ein schon in Jahren vorgerückter Mann, konnte und mochte seinem jungen Mündel nicht so weit entgegenreisen. Also entschloß Frau Helena sich zu der traurigen Reise, eine letzte verschwiegene Hoffnung im Herzen, daß dieses Wiedersehen auf das entfremdete Gemüth des Sohnes einen wohlthätigen Einfluß üben möchte. Als sie aber nach zehn Tagen zurückkehrte, war der Zug von starrer Schwermuth in ihrem Gesicht noch düsterer, als vorher, und Niemand konnte seit der Zeit sagen, daß er sie habe lachen sehen.

Und doch hatte das Schicksal, das ihr so Schweres auferlegte, auch einen Trost ihr an die Seite gestellt, der ein minder wundes Mutterherz wohl hätte beschwichtigen können. Ihr anderes Kind nämlich, das Lisabethli, um acht Jahre jünger als der verlorene Sohn, war ganz so wohlgerathen, so folgsam, liebevoll und die Freude aller Menschen, wie ihr Bruder von alle dem das Widerspiel. Und diese ihre guten und holden Eigenschaften, wenn sie ihr auch im Blute lagen, hatte sie doch auch nicht zum geringsten Theile mit ernstlichem guten Willen in sich gepflegt und erzogen, da die Mutter, besonders in den ersten Jahren, so lange der Andreas noch bei ihr war, es gegen das jüngere Kind ebenso sehr an Strenge übertrieb, wie an Nachgiebigkeit gegen ihren Liebling. Das Lisabethli war noch ein ganz junges Schulkind, als es schon seine verstohlenen Thränen ins Tüchlein weinte über offenbare Zurücksetzungen und sich abhärmte über die Unmöglichkeit, mit aller unermüdlichen Pflichttreue der Mutter auch nur ein freundliches Wort oder eine von jenen Liebkosungen abzugewinnen, mit denen die strenge Frau gegen den wilden Knaben nicht karg war. Dagegen ward aller Kummer über die zuchtlosen Streiche des Sohnes an der lieblichen Kleinen ausgelassen, um die der Bruder selbst sich so wenig kümmerte, als wäre sie gar nicht auf der Welt. Und trotzdem blieb das Kind die Sanftmuth und Heiterkeit selbst, als ob es schon früh mit gereifter Seele das ganze Unglück, das die Mutter aus dem Gleichgewicht brachte, überschaut und sich entschlossen hätte, die Ungerechtigkeiten, unter denen sie litt, wie Launen einer Kranken geduldig hinzunehmen.

Später dann, nach der Flucht des Jünglings von Lausanne und während er mehr und mehr für seine Mitbürger verscholl, besserte sich ihr Verhältniß zu der Mutter, die nie blind gewesen war für den schlichten Adel in der Seele ihres Kindes, aber gleichsam von einer dämonischen Macht beherrscht, ihr eigenes Unheil geschafft hatte. Ihr tödtlich verwundeter Mutterstolz verwehrte es ihr zwar, der Tochter auch nur mit einem Seufzer zu verrathen, wie schwer sie um den Sohn sich grämte. In allem Uebrigen aber gönnte sie ihr jetzt den nächsten Platz an ihrem Herzen, und es war oft, als suche sie ihr zu vergüten, was sie ihr in den früheren Jahren zu Leide gethan oder entzogen hatte. Noch immer war sie sparsam mit Liebesbezeugungen gegen das Kind. Aber wenn sie ihr des Abends vorm Schlafengehen mit der feinen blassen Hand über den braunen Scheitel fuhr, oder sie einmal auf die Augen küßte, oder »mein gutes Kind!« zu ihr sagte, wurde das Lisabethli dunkelroth vor Freude und konnte eine Stunde lang vor Herzklopfen nicht einschlafen. Auch sorgte die Mutter dafür, so viel es sich irgend mit ihrer ernsten Gemüthsart vertrug, dem Kinde alle Ergötzlichkeiten der Jugend zu verschaffen, lud ihre Freundinnen an den Sonntagen in das einsame Wittwenhaus und den schönen Terrassengarten, der dahinter lag, und ließ sie Sommers an Ausfahrten und kleinen ländlichen Festen der jungen Leute theilnehmen; nur in Tanzgesellschaften zu gehen, verweigerte sie ihr beharrlich, so ehrbar und in strengem Bann der alten Sitte es dabei auch zugehen mochte. Es war als sträube sich ein innerstes Gefühl in ihr gegen die Vorstellung, daß die Schwester tanze, vielleicht in derselben Stunde, wo der Bruder heimathlos und freundlos einem verlorenen Leben mit verzweifeltem Entschluß ein Ende machte. Denn daß es dahin kommen möchte, war das Gespenst, das seinen Schatten im Wachen und Träumen über ihre Seele warf.

Das Haus, das den Amthor's schon seit vielen Geschlechtern, gehörte, lag in der oberen Stadt, ein schmales, dreistöckiges, uraltes Gebäude, innen mit holzgetäfelten Wänden und Decken, alten Seidentapeten und schweren Vorhängen wohnlich ausgestattet. Im Erdgeschosse befanden sich die Wirthschaftsräume und die Zimmer, in denen der alte Diener des Hauses und die treue Magd, zugleich Köchin und Beschließerin, wohnten; darüber stieg man zu den Zimmern von Mutter und Tochter hinauf, die nach der Rückseite sich in den Garten öffneten; im obersten Stockwerke endlich hatte der selige Rathsherr seine Bücherei nebst dem Arbeitszimmer gehabt und später Andreas sein Wesen getrieben. Das Zimmer, wo das Bett des Sohnes stand, war all die Zeit, seit er aus dem Elternhause geschieden, nur noch von der alten Magd betreten worden. Die Mutter setzte nie einen Fuß hinein, und auch die Schwester schlich sich, wenn sie hinauf mußte, um etwa ein Buch zu holen, mit verhaltenem Athem an der Thür vorbei, als sei es drinnen nicht recht geheuer.

Nun war es an einem Septemberabend, gerade an dem Tage, wo das Lisabethli ihr neunzehntes Jahr vollendet hatte. Zur Feier dieses Tages hatte die Mutter ihr ein halb Dutzend ihrer liebsten Gespielinnen eingeladen, und unter Gesang und Kurzweil aller Art, wobei die gestrenge Frau Helena die Jugend meist sich selbst überließ, war unvermerkt die zehnte Stunde herangekommen. Die Mädchen aber, die nach dem schwülen Tage noch spät sich im dunkeln Garten ergingen, Arm in Arm, unter wichtigen halblauten Gesprächen, hätten wohl noch die Mitternacht herangewartet, wenn ein Wetter, das sich über dem Flusse zusammenzog, sie nicht nach Hause gescheucht hätte. Auch hatten sich die Mägde mit ihren Laternen schon eingefunden, sie abzuholen, und so wurde unter hastig gewechselten Küssen Abschied genommen, und in dem großen Wohnzimmer an der Terrasse war wieder die gewöhnliche Stille, als das erste Murren des Donners aus der Nacht herüberdrang.

Frau Helena war zu ihrer Tochter getreten, die in der offenen Altanthür stand und über die dunklen Treppen des Gartens nach der Aare hinuntersah, so gedankenlos träumerisch, wie man zu sein pflegt, wenn eben ein festlicher Tag verbraus't und die Seele wieder mit sich allein ist. Sie legte ihr sacht die Hand aufs Haupt, und das Kind lehnte, ohne ein Wort zu sprechen, den Kopf zurück gegen die Schulter der Matrone, als ob sie gegen die heftig flammenden Blitze, die jetzt die schwarze Wolkenwand zerrissen, einen Schutz suchen wollte. Komm herein, Kind, sagte die Mutter; es wird bald regnen.

Die Tochter schüttelte schweigend den Kopf. Sie sah unverwandt nach dem hellen Streifen am Horizont, wo weit hinter der Gewitterschicht die Schneegipfel des Oberlandes auftauchten, in ruhiger Monddämmerung, ein wunderbares Schauspiel. Mütterli, sagte sie, wie groß doch die Erde ist. Da drüben sehen und hören sie nicht, wie es hier tobt. Und noch ferner, wo der Stern eben über dem Rothhorn steht, würden sie es nicht merken, wenn auch unsre ganze Erde in Trümmer ginge.

Die Mutter antwortete nichts. Ihre Gedanken waren – sie wußte nicht, wo, aber wohl, bei wem, den sie jedesmal in bösem Wetter zuerst suchten, ganz wie vor Jahren, wenn der Himmel sich verfinsterte, und sie ihren Knaben noch nicht unter Dach wußte.

Wie der Fluß das Wetter spürt, fing das Mädchen wieder an. Man meint ordentlich, man sehe die Wellen wie von einer Gänsehaut überlaufen, wenn die Blitze so niederfahren. Und doch können sie noch fiedeln und tanzen in der Schenke unten auf dem Inseli. Sind doch gottlose Menschen.

Eben hören sie auf; es wird auch ihnen zu arg geworden sein, sagte die Mutter. Kein Mensch ist so verhärtet, daß nicht die Stunde käme, wo er's hörte, wenn Gott ihn warnen will. Aber komm jetzt ins Zimmer. Es fallen schon Tropfen groß wie Haselnüsse.

Seht doch, Mutter, sagte das Mädchen und hielt die Mutter fest, da unten ist etwas nicht richtig. Die Thür der Schenke wird aufgerissen, Leute drängen sich heraus, ein Mädchen ist dazwischen, nun blitzt was wie eine Degenklinge – horch! sie schelten auf einander ein. O was für wüste Gesellen!

Der Donner rastete gerade, und man konnte deutlich vom Fluß herauf über die Terrassen einen verworrenen Wortwechsel hören, dazwischen das Klirren zerschlagener Krüge und Gläser, während eine einzelne Clarinette, unbekümmert um den Hader und Lärm, sich in wahnsinnigen Läufen und Trillern erging.

Ich gäbe gleich hundert Kronen, sagte Frau Helena mit gerunzelter Stirn, wenn die Lasterhöhle da unten von der Stadt geschlossen würde. Sie könnten mich wahrhaftig dahin bringen, auf meine alten Tage in ein anderes Haus zu ziehen, nur um das nicht mehr sehen und hören zu müssen.

Und gerade in den liebsten Stunden, fiel das Mädchen ein, wo sonst Alles ruhig ist und man einmal recht sinnen und sich was träumen lassen könnte. Seht nur, es zieht sich jetzt vom Hause weg über den Steg. Um Gotteswillen, sie gehen mit Waffen gegen einander los. Einer ist an das Geländer gedrängt – das Frauenzimmer wirft sich dazwischen – er hat die Arme wieder frei – wenn sie ihn in den Fluß stürzten –

Nun aber ist's genug, sagte die Mutter gebieterisch; nun gehst du von der Thür weg. Das ist kein Schauspiel für Christenmenschen, wenn andere über einander herfallen schlimmer als reißende Thiere. Lies mir noch den Abendsegen, und dann wollen wir schlafen.

Ein jäher Blitz fuhr in die Tiefe, der plötzlich die Häuser unten an der Aare, die Schenke auf der Insel und die hochgehenden Wellen taghell erleuchtete. Man sah einen Augenblick den dunklen Menschenknäuel, der auf dem schmalen Brückensteg sich geballt hatte, die rothe Feder auf dem Barett eines hochgewachsenen Jünglings, der gegen die Uebermacht sich wehrte, nur von einem Weibe unterstützt, der ein weißes Tuch um den Kopf flatterte; Klingen blitzten auf, und Geschrei des Weibes um Hülfe drang über die stille Straße am Ufer – dann brach aus den Wolken, zugleich mit dem Donner, der wie Einsturz eines himmelhohen Hauses klang, ein prasselnder Regen hernieder, und schwarze Nacht verschlang das wüste Handgemenge auf der Brücke, daß nichts mehr übrig blieb, als das rothe Licht aus dem Fenster der Inselschenke.

Die Frauen hatten sich entsetzt ins Zimmer zurückgezogen, und während die Mutter mit langsamen Schritten über den teppichbelegten Fußboden hin und her wandelte, saß das Lisabethli am Tisch, die Hände über dem Buch gefaltet, das vor ihr aufgeschlagen lag, die Augen in einen großen Blumenstrauß versenkt, der in einem schönen venetianischen Glase stand, ein Geschenk ihres Pathen zum heutigen Tage. Ans Lesen konnte sie nicht denken, da das Wetter ihre Stimme übertäubt hätte; minder noch an Schlaf; denn das Bild des wilden Raufhandels stand noch immer ängstigend vor ihrer Seele. Sie horchte unverwandt hinaus. Ach Gott, betete sie fast unbewußt, laß doch Alles gnädig ablaufen! – Eben flammte wieder ein Blitz durch das Fenster und die Spalte der Thür, die nur angelehnt war, um den Hauch der Gewitternacht in das dumpfe Zimmer zu lassen, da war es ihr, als sähe sie draußen auf der obersten Terrasse einen Schatten vorüberhuschen, der einen Augenblick hinter den Scheiben des Fensters auftauchte und dann wieder verschwand. Mutter, rief sie halblaut, wir wollen die Thür zuschließen; es ist Jemand über die Mauer gestiegen und –

Sie konnte nicht ausreden, da wurde die Thür aufgestoßen, und ein Mann stürzte in das Zimmer. Um Gottes Barmherzigkeit, rief er, indem er halb in Erschöpfung, halb in der Geberde eines Flehenden vor Frau Helena in die Kniee sank, wer Ihr auch seid, edle Frau, rettet einen unschuldig Verfolgten! Sie sind mir auf den Fersen; wohin – rief er, indem er sich wieder aufraffte und das triefende Haar mit einer blutbefleckten Hand sich aus den Augen strich, – wohin berg' ich mich, was beginn' ich, um Euer Herz zu rühren? Wenn Ihr wüßtet, wie sich Alles zugetragen, wie ganz und gar ohne meine Schuld ich in diese entsetzliche Lage gekommen bin, als ein Mörder verfolgt zu werden – o edle Jungfrau, – und er wandte sich zu dem todtbleichen Mädchen, das mit Schauder auf dem Barett des Fremden die rothe Feder wahrgenommen, – wenn Ihr einen Bruder habt, der Euch theuer ist, der vielleicht gleich mir jetzt in der Fremde um Gastfreundschaft bitten muß, flehet Eure gestrenge Frau Mutter an, mich nicht in die Nacht hinauszustoßen, wo der Himmel weiß welche Schmach meiner wartet. Bei dem Haupte Eurer eignen Söhne, edle Frau –

Schweigt, unterbrach ihn die Matrone, mit einer dumpfen, bebenden Stimme, die dem Flehenden noch furchtbarer klang, als das Grollen des Unwetters. Sie sah dabei so entgeistert den Flüchtling an, daß die Tochter zu ihr hinflog, sie zu stützen, wenn die Ohnmacht sie überkäme. Aber es ging vorüber.

Mach die Altanthür zu, herrschte die Frau mit hastiger Stimme, indem sie sich auf die Lehne eines Sessels stützte; dann rufe den Valentin. Sag ihm kein Wort. Aber eile dich! Mir ist, ich höre Stimmen über die Terrassen herausdringen.

Das Mädchen hatte im Nu die schwere Altanthür verriegelt und war zur andern hinausgeeilt. Der Fremde blieb ein paar Augenblicke mit der Mutter allein.

Ihr rettet mir Ehre und Freiheit, sagte er stammelnd, vielleicht das Leben. Aber glaubt, edle Frau, was Ihr thut, thut Ihr keinem Unwürdigen, keinem Verworfenen, und meine eigene Mutter, die das Leben ihres Sohnes mit all ihrer Habe loskaufte, wenn er unter Räuber fiele, wird Eure hochherzige That –

Ihr sollt kein Wort mehr sprechen, fiel die Matrone ihm ein. Was ich thue, thue ich nicht Euch. Ihr blutet – unterbrach sie sich, da ihr Blick auf eine Stelle an seiner Achsel fiel, wo durch das schwarzseidne Wams große Blutstropfen quollen.

Es ist Nichts, erwiederte er rasch, seinen Handschuh auf die Stelle pressend. Ich spür' es kaum. Wollte Gott, was ich dafür zurückgegeben, wäre nicht gefährlicher. Aber ich fürchte –

Das Lisabethli trat ein, hinter ihr der alte Diener des Hauses. Valentin, sagte die Frau, Ihr geht mit dem fremden Herrn ins Obergeschoß und bringt ihn zu Bette, – in dem Zimmer – Ihr wißt schon. Niemand darf erfahren, daß er im Hause ist; der Donate werd' ich es selber einschärfen. Ihr versteht Euch ja auf das Badergeschäft. Seht dem Herrn die Wunden nach, im Schranke oben ist Leinwand – es liegen auch noch Hemden in der Lade – er soll gehalten werden, als wäre er mein eigner Sohn. Fort! Es kommen Schritte!

Sie horchten Alle mit klopfenden Herzen. Wirklich wurde es durch alles Regengetöse von Stimmen laut draußen im Garten. Im nächsten Augenblicke hatte der alte Diener den Fremden aus der Thür geschoben, und Mutter und Tochter standen sich allein gegenüber.

Mein Kind, sagte die Mutter mit zitternder Stimme, geh einstweilen zur Donate hinunter. Ich werde lügen müssen, und möchte nicht, daß deine Ohren es hörten.

Mutter, sagte die Tochter, laßt mich bei Euch. Ich verginge drunten vor Angst. Glaubt doch nicht, daß Euch irgendetwas übel anstehe, zumal in meinen Augen, was Ihr thut, um ein Menschenleben zu retten.

Indem klopfte es dreimal an die verriegelte Thür. Im Namen des Gesetzes! rief eine tiefe Stimme, öffnet!

Wer klopft so spät? entgegnete Frau Helena, und ihre Stimme klang so gelassen, als wäre nichts vorgefallen.

Der Weibel mit der Schaarwache! war die Antwort. Oeffnet, oder man sprengt die Thür.

Geh, Lisabethli, sagte die Mutter mit so lauter Stimme, daß draußen jedes Wort zu verstehen war. Ich muß sagen, das sind neue Sitten in unsrer alten Stadt Bern, daß die Wache in ein friedliches Bürgerhaus bei Nacht und Nebel einbricht. Ich hoffe, Ihr werdet Euch genügend ausweisen können über den Anlaß dieses Besuchs, Weibel, herrschte sie dem Eintretenden entgegen. Ihr wißt, wer ich bin, und daß ich in meinem ehrbaren Hause kein Gesindel herberge, dem die Häscher auf dem Nacken sitzen.

Der Weibel, der mit hastigem Blick sofort alle Winkel durchspäht hatte, blieb betroffen vor der hohen Gestalt der Matrone stehen und senkte vor ihrem festen Blick die Augen. Vergebt, Frau Amthor, murmelte er, indem er seinen beiden Knechten winkte, draußen zu bleiben, und den Knauf seines Dolches verlegen in der Faust drehte, wir sind einem verwegenen Burschen auf der Spur, der drunten auf dem Inseli Unfug und Mordhändel gestiftet hat. Hier herauf haben ihn, als ich mich näherte, die Leute von der Schenke fliehen sehen, in großen Sätzen über Mauern, Hecken und Beete, und richtig fanden wir die Spuren, bis in Euren Garten hinauf; auch einen seiner Handschuhe dort am Fenster. Darum habe ich's für meine Pflicht erachtet –

Bei mir einzubrechen, als ob mein Haus eine Zufluchtsstätte für Mörder wäre? unterbrach ihn die Matrone und sah ihn mit so festem Blicke an, daß der bärtige Mensch wie ein ertappter Sünder auf den Teppich starrte, verlegen über die nasse Fußspur, die er auf das Muster gedrückt. Geht Eurer Wege, und seht ein andermal besser zu, bei Wem Ihr anpocht. Und morgenden Tags werde ich bei Schultheißen und Rath mich beschweren, daß die Stadt den Unfug und die Unzucht auf dem Inseli duldet, und dann der ruhigste Bürger in der Nachbarschaft nicht sicher ist, bei nachtschlafender Zeit von der Wache heimgesucht und der Hehlerei bezichtigt zu werden.

Der Mann wollte noch eine Entschuldigung vorbringen, aber die gebieterische Handgeberde der Frau, die ihm die Thüre wies, ließ ihn nicht zu Worte kommen. Mit gesenktem Haupte entfernte er sich. Er war kaum über die Schwelle, so schob das Lisabethli den Riegel wieder vor, sank dann aber auf einen Sessel und seufzte tief auf, so sehr hatte die Angst während dieser kurzen Scene ihr zugesetzt.

Bleib du hier, sagte die Mutter nach einer Pause. Zünd eine Kerze an, ich will hinaufgehen.

Mütterli, wagte das Kind schüchtern einzuwenden, wollt Ihr nicht lieber – Ihr seid ohnehin so blaß, es greift Euch zu stark an.

Frau Helena antwortete nichts, nahm ihrer Tochter den Leuchter aus der Hand und ging mit starrem Gesicht, als ob nicht viel Schlimmeres mehr kommen könne, aus dem Zimmer. Sie war eine strenge Frau, eine stolze Frau, die sich immer zu gut dazu hielt, sich zu einer Lüge herabzulassen. Nun hatte sie sich doch erniedrigt, in ihren eignen Augen und vor ihrem Kinde, um eines fremden Menschen willen, der kein anderes Anrecht auf dieses Opfer hatte, als daß er sie bei dem beschworen, was ihr tiefster Kummer war.

Die Thür, aus der sie gegangen, blieb halb offen; das Lisabethli hörte, wie mühsamen Trittes sie die Stufen erstieg, wie sie mehrmals ausruhte, als müsse sie Athem und Muth schöpfen zu dem schweren Gang in das Gemach ihres verlorenen Sohnes, das sie seit Jahren nicht mehr betreten hatte.

Er liegt in der Ohnmacht, sagte der alte Valentin, der ihr auf der Schwelle entgegenkam. Ich hab' ihn verbunden, aber wie ich ihm ein frisches Hemd anzog, fiel er mir wie todt unter den Händen hin. Ich will kalt Wasser holen, es hat sonst keine Gefahr, nur das Blut, das wie aus einem Brunnen vorschoß, hat's ihm angethan.

Er hastete die Treppen hinab, und die Frau trat ins Zimmer.

Da lag der Fremde auf dem Bett, die Augen geschlossen, den Mund wie von Schmerzen halb geöffnet, daß die Zähne vorschimmerten. Von seiner sehr bleichen Stirn war das blonde Haar zurückgesträubt und troff von Blut und Regenwasser. Am Boden lag das Barett und das seidne Wams und ein ganz mit Blut getränktes Hemd, das der Diener mit einem reinen vertauscht hatte. Frau Helena erbebte bis in die Kniee, als sie an diesem Fremden die feine Leinwand wiedersah, die sie selbst für ihren Sohn gesponnen, und die Buchstaben, die sie eingestickt hatte. Sie heftete, um sonst nichts im Zimmer sehen zu müssen, ihre Augen fest auf das junge Gesicht, das trotz seiner Todtenblässe einen harmlosen, knabenhaft gutmüthigen Ausdruck hatte. Daß er guter Leute Kind sein mußte, hatte sie rasch an seiner Kleidung erkannt, und der Ton, mit dem er sie um Rettung angefleht, klang ihr noch beweglich im Ohr. Ein mütterliches Gefühl überkam sie, und große Thränen rollten über ihr welkes Gesicht. – Dann kam der alte Diener wieder herein mit einem Kruge frischen Wassers und wollte sich daran machen, dem Ohnmächtigen die Schläfe zu waschen. Laßt das mir! sagte die Herrin und nahm ihm den Schwamm aus der Hand. Holt den guten Essig aus der Credenz und auch eine Flasche von unserm alten Wein. Wenn er wieder zu sich kommt, wird ihn nach einer Stärkung verlangen. – Nun wusch sie ihm das Blut aus den Haaren und hielt ihm den eiskalten Schwamm vor die Lippen. Darüber kam er zu sich, schlug die Augen auf, und wie er die edle Frau, seine Retterin, an seinem Lager erkannte, wollte er sich aufstützen und zu reden anfangen. Sie aber nöthigte ihn mit sanfter Gewalt, liegen zu bleiben und sie gewähren zu lassen. Es ist mir schon besser, seufzte er halblaut, indem er nach ihrer Hand haschte, um sie an seine Lippen zu drücken. O wie viel thut Ihr an mir! Wenn meine Mutter Euch sähe! Und Ihr kennt mich nicht einmal und müßt das Schlimmste denken. Laßt Euch nur erst sagen, wie das Alles kam.

Heute nichts mehr, unterbrach ihn die Frau und legte ihm sacht die Hand auf die Lippen. Ihr habt zu viel Blut verloren, das müßt Ihr erst wieder einbringen. Ich überlasse Euch jetzt meinem alten Diener, der wird die Nacht bei Euch wachen. Ich hoffe, Ihr sollt schlafen und morgen schon wieder halb genesen sein. Gute Nacht!

Sie ging aus dem Zimmer, ohne noch einen Blick auf all die Geräthe zu werfen, die ihr so bittere Erinnerungen wecken mußten. Wie sie aber draußen auf der dunklen Stiege war, lehnte sie einen Augenblick den Kopf an die Mauer und schluchzte sich verstohlen aus. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann hob sie den Kopf wieder strack in die Höhe und ging zu der Tochter hinunter. Der Valentin meint, es habe keine Gefahr, sagte sie. Laß uns schlafen gehen.

Mutter, sagte das Mädchen, glaubt Ihr, daß er ein Mörder ist? Er hat so was in seinem Wesen, als ob er keinem Thier was anthun könne, geschweig' einem Menschen.

Und doch wieder, wie ist er in die Schenke auf dem Inseli gerathen? sagte die Mutter, wie für sich.

Weil er ein Fremder ist, fiel die Tochter eifrig ein. Er sprach kein Schweizerdeutsch, habt Ihr wohl gehört, Mütterli?

Es ist unnütz, sich darüber Gedanken zu machen, brach die Mutter kurz ab. Komm zu Bett, Kind. Das Wetter ist auch vorübergezogen.

Damit gingen sie schlafen, nachdem die Tochter erst noch den Abendsegen gelesen hatte. Aber es war lange nach Mitternacht, und keines von beiden hatte ein Auge geschlossen. Das Lisabethli sah immer die treuherzigen, vom Schrecken verstörten Augen des Fremden, wie er sie zu Hülfe rief, um die Mutter ihm geneigt zu stimmen, und das Blut an seiner Stirn, und die rothe Feder, und hörte dann auch wieder die Stimme des Weibes, das sich auf der Brücke zwischen die Streitenden warf. Frau Helena aber horchte nach oben. Denn gerade über ihrem Schlafzimmer war das Gemach, wo jetzt der Verwundete lag, und sie dachte, wie manche Nacht sie hier bis an den Morgen wach gelegen, um zu warten, wann Andreas von seinen Gelagen heimkehren würde, und wenn der taumelnde Schritt endlich sich vernehmen ließ, hatte sie Thränen statt Schlaf gefunden. Nun war es oben still genug. Nur das kurze Hüsteln des alten Valentin war von Zeit zu Zeit zu hören. Frau Helena saß in den Kissen aufgestützt und versuchte zu beten. Herr mein Gott, betete sie, laß ihn draußen in der Fremde eine Mutter finden, die ihm beisteht in aller Noth, und wenn Niemand sich seiner mehr erbarmt, laß ihn den Weg zu seiner rechten Mutter zurückfinden, daß ich nicht sterbe, eh' ich seine Hand in meiner gehalten habe!

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Der Tag schien erst falb und neblig durch die kleinen runden Scheiben ins Gemach, als Frau Helena schon ihr Bett verließ und sich rasch in die Kleider warf.

Schlaf noch eine Stunde, Kind, sagte sie zu dem Lisabethli, das sich ebenfalls regte. Ich will indessen hinaufgehen und nach unserm Gaste schauen.

Das Mädchen aber ließ es auch nicht mehr ruhen. Heimlich stand sie auf, fuhr in ihr Gewand und schlich auf den Zehen der Mutter nach. Auf der Treppe begegnete ihr die Donate, die ein Schüsselchen trug.

Er hat nicht viel von der Morgensuppe gegessen, sagte die treue Alte. Fürchtig schwach ist er noch, und die Hand schlottert ihm nur so, wenn er den Löffel hält. Aber sonst ein ganz feiner Mensch, Jungfer, und ich verrath' ihn gewiß nicht, eher biss ich mir die Zunge im Munde ab.

Das Mädchen erwiederte nichts, sondern schlich vollends hinauf. Da konnte sie, da die Thür, um das Knarren zu vermeiden, nur angelehnt war, den Fremden in seinem Bette liegen sehen, den Kopf eben ein wenig aufrichtend, um Frau Helena zu grüßen, die vor ihm stand und fragte, wie er geschlafen habe.

Ich weiß es nicht, edle Frau, sagte der Jüngling. Mein treuer Wächter da wird es besser wissen, ob ich mich ruhig gehalten, oder Unsinn geschwätzt und mit Händen und Füßen herumgefochten habe. Aber geträumt habe ich beständig, die lieblichsten Dinge, gar nichts von Blut und Wunden. Und wie ich Morgens zu mir kam, gab es mir gleich wieder einen Stich ins Herz, daß ich Euch gestern so erschreckt habe, und daß Ihr noch gar nicht wißt, wem Ihr die unsägliche Gutthat erwiesen habt. Nein, fuhr er eifriger fort, ihre Hand ergreifend, als er sah, daß sie ihm wieder die Rede abschneiden wollte, jetzt laß' ich Euch nicht so fort, wenn es auch für mein Fieber heilsamer wäre, ich spräche vierundzwanzig Stunden keine Silbe. Es macht mich toll, so dazuliegen und den barmherzigen Samariter da und vor Allem Euch selbst denken zu lassen, Eure Müh' und Pflege komme einem Menschen zu gut, der besser aufs Spittelstroh gehörte unter Strolche und Raufbolde, die der Büttel halbtodt auf der Gasse gefunden. Daß es so mit mir gekommen, verdank' ich meinem grünen Vorwitz, der immer meint, mit frischem Muth und gutem Gewissen sei noch Keiner in des Teufels Küche gerathen. Mein Vater hat oft genug den Kopf dazu geschüttelt und mich gewarnt: Faß kein Pech an, wenn du saubere Finger behalten willst, und wenn du nicht mit heulen magst, misch dich nicht unter die Wölfe. Und wie ich von Augsburg fortreis'te, wie hat mir's meine Mutter auf die Seele gebunden, nur in guten Häusern einzukehren und alle bösen Gesellen zu meiden. Das Ei war wieder einmal klüger als die Henne. Denn seht, edle Frau, ich bin von Haus aus ein munterer Kamerad und meine Vaterstadt, so schön sie ist, und auch lustig zu Zeiten, und ich nicht der Letzte bei aller Kurzweil, dennoch war sie mir zu eng, und ich wollte die Welt sehen, zumal aber lockte mich die Schweiz, von der mir der Vater oft erzählt hatte. Er hat hier in Bern seine Lehrzeit bestanden, im Hause des reichen Tuchwirkermeisters Aufdembühel, den Ihr gewiß kennen werdet. Und dann hat er sich in seiner Vaterstadt gesetzt und meine Mutter gefreit und auch ein großes Gewerbe begonnen und doch immer gern hieher gedacht, sodaß, als ich ihm meine Wünsche vortrug, er gar nichts dawider hatte. Ich glaube fast, er meint, es sei da so ein Töchterli im Haus, und da taugt' ich eben hin, da ich in Augsburg fünfundzwanzig Jahr alt geworden bin und noch immer ungestraft in alle blauen und schwarzen Augen gesehen hab'. Also ritt ich vor zwei Wochen fort und in der besten Laune immer gen Süden und über den schönen Bodensee zu Schiff, und gestern Abend, da es eben dunkelte, zog ich in meinem Gott vergnügt durch das Thor beim Bärengraben ein, gedachte aber nicht gleich dem Herrn Aufdembühel, so wie man sagt, mit der Thür ins Haus zu fallen, sondern stellte mein Pferd im Storchen ein und machte mich dann auf, durch die Stadt zu schlendern, wie ich es immer halte, wenn ich irgend wo fremd ankomme, daß ich erst Straßen auf und ab mir Alles anschaue, um Art und Gelegenheit jedes Ortes recht mit Muße kennen zu lernen. Gestern aber bekam mir's übel, daß ich mich aus der Herberge so fortschlich und nicht einmal erst einen Imbiß nahm. Denn nach dem scharfen Ritt und in der großen Schwüle, da das Wetter immer noch nicht sich entladen wollte, spürte ich plötzlich einen starken Durst und meinte, ich müsse wie ein Zunder verglimmen, wenn es mir nicht bald gelänge, einen Krug Wein zum Munde zu führen. Erkundige mich also, da ich gerade unten in der Stadt bei der Insel vorbeikam und aus der Schenke die Tanzweisen hörte, bei einem wohlgekleideten Bürger, ob da ein trinkbarer Wein geschenkt würde. Der Wein sei wohl gut, gab Der zur Antwort, aber die Gesellschaft desto schlechter. Wenn er nach meinen Kleidern schließen dürfe, so werde ich dort eben nicht meines Gleichen finden. In einen Stall voll Kühe und Ziegen ging' ich, gab ich lachend zur Antwort, wenn dort in irgend einem Melkkübel rother Wein flösse. Und so ließ ich den Biedermann stehen, der mir bedenklich nachsah, und ging stracks über den Brückensteg auf die Schenke zu.

Wie ich aber die Thür aufmachte, sah ich, daß mein treuer Eckart mich nicht umsonst gewarnt hatte, und daß ich in einem Stall beim unvernünftigen Vieh mehr gute Sitte und Manier gefunden hätte, als dort. Ob es eine Diebesherberge ist, weiß ich nicht, aber die Meisten drin sahen aus, als ob sie entweder dem Galgen entlaufen wären, oder mit aller Macht ihm nachliefen, Männer und Dirnen, und alle sahen mich scheel an und stießen sich mit den Ellenbogen, wie ich eintrat, als wollten sie sagen: Was ist das für ein Hahn, der sich unter die Krähen wagt? Ich aber, da ich mich schämte, den Hasenfuß zu machen, auch meinte, ein Fremder dürfe ungestraft sich Manches herausnehmen, wobei ein Ansässiger Haare lassen muß, setzte mich kecklich in einen Winkel, wo noch eine Tischecke frei war, und lasse mir eine Maß Rothen bringen. Und weil ich mich still verhielt, schien man sich auch bald an mich zu gewöhnen, zumal die Meisten sich schon halb von Sinnen getrunken hatten und in ihre lallenden Discurse vertieft waren, oder ihren Dirnen schön thaten. Unter diesen war Eine, wohl die Sauberste, wenigstens am reinlichsten gekleidet und blank gezopft, sonst aber auch eben nur ein lüderliches Tuch, wie alle andern. Die tanzte nicht, sang auch nicht, und der Wein schien ihr nicht zu munden. Sie saß einem großen starken Menschen auf dem Schooß, der Kleider trug, die ehemals fein gewesen waren, jetzt aber von Regen- und Weinflecken verschändet. Auch sein Gesicht mußte einmal nicht übel gewesen sein, ehe er die rothe Narbe hatte, quer über die Stirn bis an die Nasenwurzel, und die rothunterlaufenen Augen und den struppigen Bart. Ich mußte das Paar immer anschauen, wie er, mit einer verdrossenen Miene, als ob Glück und Unglück ihn gleichmäßig anekelten, die Würfel auf den Tisch rollen ließ und, wenn er gewonnen hatte, sein Mädchen so mit dem Kopf gegen die Schulter stupfte, daß sie das Geld einstreichen sollte. Sie nahm dann einen langen Dolch, der vor ihnen auf dem Tische lag, und kehrte mit der blanken Schneide die Münzen beiseite, wie man Kehricht mit einem Besen wegfegt. Dabei sprachen sie beide kein Wort, während seine zwei Spießgesellen, verwegene junge Kerls mit rothen Gesichtern und gläsernen Augen, beständig auf französisch und spanisch fluchten und mit der Faust auf den Tisch schlugen. Das schien aber die Dirne endlich zu langweilen, und wie sie so mit herzhaftem Gähnen sich umsah, fielen ihre Augen auf mich, den sie erst gar nicht gewahrt hatte. Denn als ich eintrat, schlief sie gerade ein wenig auf der Schulter ihres Galans. Nun mußte ihr wohl meine Kleidung auffallen, oder der Ring, den ich am Finger trug, oder ich gefiel ihr sonst; genug, sie fing ein dreistes Augenspiel mit mir an, machte mir auch hinter dem Rücken ihres Liebhabers allerlei Zeichen mit der Hand, aus denen ich nicht klug wurde, und da ich auf nichts einging, vielmehr nur rascher meinen Wein trank, um mich schleunig wieder davonzustehlen, sprang sie endlich, als ob der Sitz ihr unbequem würde, von den Knieen des trübsinnigen Spielers herunter und setzte sich ungescheut neben mich auf die Bank, den Kopf zurückgelehnt, wie um besser zu schlafen; heimlich aber blinzelte sie mir zu und rückte ihren Fuß neben den meinen. Der mit der Narbe schien alsbald Unrath zu wittern, rief ihr mit strenger Stimme auf französisch zu, sie solle sich den Augenblick da fortsetzen, und als sie sich stellte, als ob sie schliefe, fuhr er wüthend auf und befahl mir, mich meiner Wege zu scheren; er hätte wohl gesehen, wie ich dem Mädchen Zeichen gemacht und sie ihm vom Schooße weggelockt hätte. Ich, der ich über den groben Gesellen innerlich vor Wuth schäumte, blieb gleichwohl ganz gelassen, sagte, daß mich hier Niemand gehen heißen dürfe, da ich Niemand im Wege sei und meinen Wein bezahle, wie Jedermann. Darüber gerieth er außer sich, riß die Dirne mit Gewalt von der Bank weg und rief dem Schenkenwirth, warum er sein Haus nicht rein halte von verdächtigen Gästen, die nur kämen zu spüren und zu spähen, nannte mich einen Spion und Galgenzuführer über den andern und griff mich endlich, da sein Mädchen meine Partei nahm und auf ihn losschimpfte, vorn am Wams, wobei er mir die Krause zerriß. Nun sah ich freilich wohl, was ich mir eingebrockt hatte, zumal auch seine Zech- und Würfelbrüder sich gegen mich stellten und der Wirth, der von dem Gesindel lebt und friedliche Bürger nicht zu schonen braucht, mir mit dürren Worten erklärte, ich hätte in seinem ehrbaren Haus, das nur manierliche Gäste aufnähme, nichts zu suchen. Gut, sagte ich, so will ich nicht länger das allgemeine Vergnügen stören, warf Geld auf den Tisch und wollte mich aus dem Handel ziehn, bei dem Ehre in keinem Fall zu holen war. Als ich aber schon den Thürgriff in der Hand hatte, hängt sich plötzlich das Mädchen an mich und raunt mir zu, sie mitzunehmen, sie habe die Gesellschaft satt und wir wollten mitsammen ein wenig spazieren gehn. Allez-vous en, sagt' ich, je ne veux pas de vous, und was ich sonst an welschen Brocken zusammenstoppeln konnte. Und dabei fing eben draußen das Unwetter an, und drinnen tobte es ebenfalls immer toller, da ihr Liebhaber ihr nachgestürzt kam und sie mir von der Seite reißen wollte, und die Andern schrieen und wetterten dazwischen lauter als der Donner draußen, und sie immer an mich festgeklammert, wie eine wilde Katze, die sich in einen Baum eingekrallt hat, daß mir mitten im Zorn und Aerger einen Augenblick bange wurde und ich dachte: Wenn dich so deine gute Mutter sähe! Indem kam ein so heftiger Blitzstrahl, daß selbst das wüste Volk einen Augenblick zurückfuhr, die Musikanten aufhörten und die Schenkwirthin laut ein Wettergebet zu plärren anfing. Das machte ich mir zu Nutz, das zudringliche Schätzchen abzuschütteln und das Freie zu gewinnen. Aber wie ich schon wieder auf der Brücke war und Gott dankte, so mit einem blauen Auge davongekommen zu sein, ras't plötzlich der ganze wilde Schwarm mir nach, jetzt mit blankem Eisen, und kriegen mich mitten auf dem Steg in ihre Mitte, und wenn sie nicht alle vor Trunkenheit unsicher auf den Füßen gestanden hätten, wäre das mein letztes Stündlein gewesen. Dazu kam mir das welsche Schätzchen tapfer zu Hülfe, und als sie sah, daß ihr alter Liebhaber, der mit der Narbe, mir den Dolch in die Schulter stieß, schrie sie wie unklug hell auf, drängte mich ans Brückengeländer und deckte mich mit ihrem Leibe. Ich aber, nun es mein Leben galt, hatte im Nu meinen kurzen Stoßdegen aus der Scheide und focht wie rasend um mich, daß Alle zurückwichen, bis auf meinen Hauptfeind, den Rausch und Liebe verblendeten. Und so rannte er auf mich zu, und da er sich nicht duckte, geradewegs in meine Klinge, daß er nur noch einmal aufbrüllte wie ein geschlagener Stier und dann lautlos aufs Gesicht stürzte. Sofort war Alles todtenstill, man hörte nur noch den Donner und unter der Brücke das Rauschen des Flusses. Aber wie ein paar neue Blitze kamen, konnte man deutlich auf der Straße am Ufer die Schaarwache sehen, die auf die Insel losmarschierte. Schafft ihn in den Kahn, hörte ich den Einen seiner Gesellen rufen. Er ist hin! rief der andere; das Beste wäre, man würfe ihn gleich in den Fluß. – Indem aber hatte das Mädchen schon zugegriffen und den leise Wimmernden bei den Schultern gepackt. Allons, rief sie, dépêchez-vouz. Voilà les gensd'armes! On nous attrappera tous. Und da ward ein Getümmel auf dem schmalen Steg, den Verwundeten beiseite zu schaffen, daß Niemand mehr sich um mich bekümmerte und ich im Schutz der Finsterniß und bei dem Prasseln des Regens unangefochten das Weite suchen konnte. Das Uebrige wißt Ihr, edle Frau. Und nun bedenkt selbst, wie es mir ergangen wäre, wenn der Himmel Euer Herz nicht gerührt und Ihr mir Euren Schutz versagt hättet. Unauslöschliche Schande wäre mein Theil gewesen, als Händelstifter, vielleicht Mörder, ergriffen in einem schlechten Hause, kein ehrlicher Mann als Zeuge für meine Unschuld, und der Herr Aufdembühel, statt meinem Vater zu melden, er freue sich, daß sein Sohn die alte Gastfreundschaft erneuere, hätte mich höchstens im Thurm aufgesucht und den Kopf ungläubig zu meiner Rechtfertigung geschüttelt, während ich in Euren Augen lese, daß ihr mich nicht für einen windigen Lügner haltet, sondern Mitleiden mit meiner vorwitzigen Jugend habt und mir Eure Hand nicht entziehen werdet.

Nach dieser langen eifrigen Erzählung, die ihn sichtbar erregte, da sich ihm der mögliche schlimmere Ausgang lebhaft vor Augen stellte, sank der Jüngling wieder auf sein Kissen zurück und schloß mit einem tiefen Seufzer die Augen. – Seid guten Muthes, sagte Frau Helena, und ihre schwarzen Augen schimmerten feucht. Es soll Euch unter meinem Dache an nichts fehlen, und da ich Euch einmal hier gebettet habe, würde ich Euch halten wie einen eigenen Sohn, auch wenn nicht Alles an Euch mir sagte, daß ich Euren Worten Glauben schenken darf. Valentin meint, in einer Woche würdet Ihr Euer Wundbette wieder verlassen können. Bis dahin fordre ich nur Eins, daß Ihr mit Euch machen laßt, was wir für gut finden, und nicht durch Ungeduld oder irgend trübe Gedanken Euren Zustand erschwert. Wenn es Euch recht ist, da Ihr selbst den Arm nicht brauchen könnt, schreib' ich an Eure Mutter, wo Ihr Euch befindet und daß es keine Gefahr mit Euch hat.

O meine gütige Wirthin, rief der Jüngling und ergriff den Aermel an Frau Helena's Gewand, seine Lippen darauf zu drücken, Ihr thut in Wahrheit an mir wie eine Mutter, da Ihr auch das noch aus freien Stücken mir antragt, um was ich kaum zu bitten wagte. Und doch weiß ich, welche Wohlthat Ihr meiner lieben Mutter damit erweis't. Denn freilich sitzen die beiden Alten nun daheim wie zwei Vögel im Nest, deren Junges den ersten Flug thut, und ich hatte auch gelobt, sobald ich am Ziel wäre, ihnen Nachricht zu senden. Wenn Ihr nun aber von mir schreibt – an Frau Martina Brucker, Augsburg, in der Zeuggasse – so bringt es ihr glimpflich bei und verschweigt lieber noch den Anlaß, bis ich selbst Alles umständlich nach der Wahrheit ihr berichten kann. Denn sie ist gar schreckhaft, und da ich ihr einziges Kind bin, hat sie mich ängstlicher behütet, als eine Tochter, und ich daher mich auch stets in Acht genommen, ihr so wenig Kummer als möglich zu machen. Wenn sie nun von ihrem Kurt hört, welchen Einstand er am ersten Abend in Bern hat zahlen müssen, sie hat keine ruhige Stunde, – bis sie mich auf dieser gefährlichen Luft wieder entronnen weiß. Aber Ihr werdet schon sehen, wie das zu machen ist. Ihr wißt ja wohl, was man einer Mutter sagen kann, damit der Trost größer sei, als der Schrecken.

Er verfärbte sich während der letzten Worte, und Valentin kam eilig heran, ihn mit stärkenden Wassern anzustreichen, und gab seiner Herrin nicht undeutlich zu verstehen, daß sie schon zu lange sich hier aufgehalten. Sie gab ihm leise noch die nöthigen Aufträge und schlich dann auf den Fußspitzen hinaus. Draußen im Flur fand sie das Lisabethli.

Du hast gehorcht? fragte sie mit strenger Miene.

Verzeiht mir's, Mütterli, erwiederte das Kind. Ich konnt' es nicht lassen, ich hab' hören müssen, wie das Alles gekommen ist. Gott sei Lob und Dank, ich habe Recht gehabt, er ist unschuldig.

Komm hinab, Kind, sagte die Mutter. Du hast hier nichts zu suchen. Wenn Jemand kommen sollte, ich bin nicht zu sprechen. Ich muß mich hinsetzen und an seine Mutter schreiben.

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Es kam aber doch ein Besuch, den weder die alte Donate abweisen, noch das Lisabethli allein empfangen konnte: der Großweibel selbst, der ansehnlichste Mann in der Stadt nächst dem Schultheißen und mit Frau Helena weitläufig verschwägert. Er kam, um von Seiten des kleinen Raths Entschuldigungen zu bringen wegen der nächtlichen Ruhestörung, auch zu sagen, daß dem Unfug auf der Insel hinfüro wirksam gesteuert werden solle, und zwar durch Schließung der Schenke, die schon lange den Vätern der Stadt ein Dorn im Auge sei. Was den blutigen Handel der verwichenen Nacht betreffe, so liege ein Schleier darüber, den zu lüften bis zur Stunde noch nicht gelungen sei. Beide Gegner in dem ruchlosen Streit seien wie in den Erdboden versunken, ihre blutige Spur vom Gewitterregen hinweggespült, ihre Namen und Herkunft nirgend zu erforschen. Nur ein Kahn, der an der Brücke angekettet gewesen, sei heut Morgen eine Stunde abwärts von der Stadt herrenlos den Fluß hinabtreibend angehalten worden, und der Wirth von der Herberge zum Storchen habe gemeldet, daß gestern Abend ein Pferd bei ihm eingestellt worden sei, dessen Reiter sich nicht mehr habe blicken lassen.

Bei diesen Eröffnungen wechselte Frau Helena mehrmals ihre Farbe, ließ sich aber keine Silbe entschlüpfen, die ihre Mitwisserschaft verrathen hätte, und hütete sich eben so wohl, ein Wort zu sagen, das geradezu eine Unwahrheit gewesen wäre. Als sie dann wieder allein war, schrieb sie den Brief an die Frau Martina Brucker in Augsburg, schwieg wohlbedacht von Allem, was die Aufführung des Sohnes verdächtigen konnte, und gab zum Schluß in herzlichen Worten das Versprechen, seiner wie eine leibliche Mutter zu pflegen, da sie, wie sie mit einem stillen Seufzer hinzusetzte, vom Himmel nicht gewürdigt sei, einen eigenen Sohn unter ihrem Dache zu herbergen.

Diesen Brief trug sie am Nachmittag selbst auf die Post, von der Tochter begleitet, ohne die sie überhaupt selten das Haus verließ. Keine von Beiden sprach ein Wort von ihrem heimlichen Gast, und doch hatte keine einen andern Gedanken. So auch am Abend, wo sie schweigsam an ihren Spinnrädern beisammen saßen. Nur ganz spät noch, als die Donate kam und erzählte, das Fieber sei stärker geworden, der Kranke finde keinen Schlaf und spreche beständig wirre Sachen, nenne einmal übers andere den Namen seiner Mutter und begehre aufzustehen, sein Pferd zu satteln und nach Hause zu reiten, – da berathschlagten sie, ob es möglich oder zu verantworten sei, keinen gelernten Wundarzt ins Geheimniß zu ziehen, sondern sich auf die Erfahrung und Wissenschaft des alten Valentin zu verlassen, der vor vierzig Jahren eine halbe Lehrzeit bei einem Bader bestanden hatte, ehe Herr Amthor ihn in seine Dienste nahm. Frau Helena ging endlich selbst hinauf und besichtigte die Wunde. An der war nichts Aengstigendes zu ersehen, auch versicherte der getreue Pfleger, das Irrereden, das die Magd so erschreckt, stamme aus der Vollblütigkeit des Jünglings, und er stehe dafür, binnen vierundzwanzig Stunden werde alle Gefahr vorüber sein. Frau Helena wußte, daß der Alte seine wenigen Worte abzuwiegen pflegte, eh er die Zähne halb von einander that, um sie auszusprechen. Sie stand eine Weile am Bett des Fiebernden, der sie nicht erkannte, nur einmal halb, als er zufällig eine ihrer Hände ergriff, sie Mutter nannte und mit plötzlich erheiterter Miene anfing, ihr traulich zuzusprechen, sie solle nicht glauben, daß er sein Herz an die Tochter des Herrn Aufdembühel gehängt habe, sie wisse ja, er wolle nicht heirathen, wenn er Keine finde, die ihr gliche, und dann wieder auf Französisch eine heftige Scheltrede an das Dirnchen von der Inselschenke, sie solle ihm vom Halse bleiben, sie schütte ihm ja allen Wein über sein Wams, den Ring vom Finger könne sie ihm doch nicht wegäugeln, und was der Fieberphantastereien mehr waren. Aus allen aber hörte die kluge Matrone, die die Menschen wohl kannte, mit stiller Rührung nur das Zeugniß einer guten, unverfälschten Seele und fühlte ihre mütterliche Neigung zu dem fremden jungen Blut, das der Himmel ihr so wundersam zur Pflege übergeben, von Stunde zu Stunde wachsen, daß sie es sich fast übelnahm, wie dieser Jüngling sich an die Stelle in ihrem Herzen drängte, die sonst der Gram um den Verlorenen ganz allein eingenommen hatte.

Diese Nacht war noch unruhig, so auch der folgende Tag. Aber genau, wie Valentin vorhergesagt, stellte sich in der dritten Nacht eine wohlthätige Ruhe ein, und als am Morgen darauf Frau Helena ihren Gast besuchte, sah er ihr mit ganz klaren Augen entgegen und bewegte ihr zur Begrüßung den wunden Arm, der zwar noch unbehülflich, aber in bester Heilung begriffen war. Die Frau nickte ihm freundlich zu, keine Thorheiten zu begehen und nicht vor der Zeit sich für gesund zu halten, und der Jüngling, obwohl ihm schon wieder der frischeste Lebensmuth von den Lippen lachte, versprach allen Ernstes, wie ein unmündiges Kind mit sich machen zu lassen. Als aber Mutter und Tochter Abends bei der Kerze saßen und das Lisabethli sich am Spinett eine Tanzweise einübte, die damals eben aus Welschland herübergekommen war, klopft es sacht an die Thür, und auf das erschrockene »Herein!« der Frauen, die eines so späten Besuches sonst nicht gewärtig waren, trat ihr junger Gast ins Zimmer, auf Valentin's Arm gestützt, der mit stillem Achselzucken zu verstehen gab, er habe den Ungehorsamen nicht länger bändigen können und wasche seine Hände, dafern es üble Folgen haben sollte. Kurt aber, dem über die blassen Wangen eine Freudenröthe ging, da er sich zum ersten Mal wieder der Wundhaft entronnen sah, ließ seinen Wärter los, beugte mit lustiger Anmuth vor der gestrengen Hausfrau ein Knie und bat um Gnade, daß er sich trotz des Verbots schon wieder auf die eigenen Füße gestellt habe. Er wolle auch nichts weiter, als seinen Retterinnen eine gute Nacht bringen und der Jungfrau, die er seit jenem Schreckensabend nicht wiedergesehen, für die Mühe Dank sagen, die sie sich mit dem Zupfen von Charpie und dem Zuschneiden der Verbandstreifen gemacht habe. – Es war nicht möglich, seiner muntern und doch herzlichen Art zu widerstehen, und selbst das Lisabethli, das heute bei seinem Eintritt fast noch mehr erschrocken war, als in jener Gewitternacht, fand bald ihre natürliche Unbefangenheit wieder und konnte mit klugen und scherzhaften Worten auf seine zutraulichen Reden erwiedern. Auf einen Wink der Mutter trug sie eine Schüssel mit Früchten und Backwerk herbei, und der Gast, der die Tage über gefastet hatte, ließ sich, nachdem er Valentin's Erlaubniß eingeholt, nicht lange bitten, mit seinen weißen Zähnen in eine der saftigen Frühbirnen einzubeißen.

Edle Frau, sagte er, ich kann Euch nicht schildern, wie wohl mir an diesem Tische ist. Als ich damals Euer Licht über die Terrassen herableuchten sah und meine flüchtigen Schritte danach hinlenkte, ließ ich mir nicht träumen, daß ich hier so heiter und wohlgeborgen sitzen und mir gütlich thun würde. Ihr müßt wissen, daß ich ein recht verzogener Haussohn bin, und auf der Reise hierher, so sehr mich die Ungebundenheit und alles Neue anzog, in den armseligen Herbergen bei der besten Schüssel und dem feurigsten Wein mich nach dem saubern Tischtuch zurücksehnte, auf das unsere Magd zu Hause die einfache Kost auftrug. In kein Bette habe ich mich unterwegs legen mögen, ohne meinen Mantel über das Leintuch zu breiten. Nun finde ich es bei Euch fast wie bei meiner lieben Mutter, nur kostbarer, und daß ich dort Sohn und Tochter in Einem sein mußte, während ich hier nur als ein Geduldeter sitze, weil gerade Euer Sohn, wie mein alter Freund da mir gesagt, auf Reisen ist, während eine Tochter Euch geblieben, wie meine Mutter sie sich lange umsonst gewünscht hat.

Bei dieser Rede schlich der alte Diener, den die Erwähnung des fernen Sohnes verlegen machte, aus dem Zimmer, das Lisabethli aber kam der Mutter zu Hülfe, indem es schalkhaft sagte, man wünsche sich oft sein eignes Kreuz, und wenn die Mutter ehrlich sein wollte, so würde sie sich auch eine andere Gesellschaft aussuchen, als so ein unkluges Töchterli, das nichts als Tand und Narrethei im Kopf habe, den halben Tag verklimpere, den Braten zu braun und die Suppe zu blond mache und ein Heidengeld koste für Tücher und Bänder. – Worauf die Mutter mit einem halben Lächeln bemerkte, das Bild sei zwar ähnlich, aber doch wohl ein wenig ins Schwarze gemalt, und wenn auch, so müsse eben Jeder es hinnehmen, wie der Himmel ihn für seine Sünden strafe. Und indem sie dies sagte, wurde ihre Miene wieder ganz kummervoll, da sie daran dachte, daß sich das nur allzu ernstlich an ihr bewähre. Die jungen Leute aber merkten es kaum, sondern fuhren in dem muntersten Ton fort, sich einander kennen zu lernen, da ihnen doch wiederum war, als kennten sie sich schon Jahr und Tag, und als das Lisabethli vom Spinett aufstand, nachdem sie dem jungen Mann eben nur die drei landüblichsten Tänze vorgespielt hatte, schlug es vom Münsterthurm Mitternacht, ohne daß Eins von ihnen gedacht hätte, sie wären länger als eine kleine Stunde beisammengewesen.

Nicht viel anders erging es die nächsten Tage und Abende, nur daß die Zeit den beiden jungen Leuten, und wohl auch der Mutter, täglich länger däuchte, bis die Hausthür geschlossen wurde und sie nun, vor jedem Besuche sicher, in der Wohnstube beim Licht sich zusammenfinden und die halbe Nacht verplaudern konnten. Es war Allen zu Muth, als wäre es immer so gewesen und könne nie wieder anders sein, und daß sie ein Geheimniß dabei zu hüten und eine Gefahr abzuwenden hatten, gab ihrem unschuldigen Beisammensein noch den Reiz des Verbotenen, dessen auch die strenge Frau Mutter sich nicht ganz erwehrte. Sie war klug genug zu sehen, daß noch eine andere Gefahr dabei war, als die, daß ihr heimlicher Gast von irgend einem Nachbarn ausgespäht werde und die Lüge, mit der sie ihn in ihren Schutz genommen, an Tag kommen möchte. Das Lisabethli, das bisher nur selten und dann nur auf kurze Stunden mit jungen Leuten verkehrt hatte, lebte nun mit diesem Fremden schon elf Tage unter Einem Dache, und wenn die Mutter ihn liebgewonnen hatte, seit sie seiner redlichen und feinen Seele auf den Grund gesehen, war es von der Tochter wohl zu viel verlangt, daß sie sich gegen all seine guten Gaben und Tugenden blind machen sollte. Er freilich, so zutraulich er sich benahm, schien sein Herz gut und sorgsam verwahrt zu haben, und in all der ungebundenen Laune der langen Abende entschlüpfte ihm kein Wort gegen das Jüngferchen, das anders als brüderlich geklungen hätte. War es aber wirklich so und standen diesem Strichvogel die Gedanken nicht nach Nesterbauen, so war es ja nur um so schlimmer für das Kind und die Pflicht der Mutter, so rasch als möglich ein Ende zu machen. Sie schalt ihre Schwäche, daß sie es nicht übers Herz bringen konnte, ihren Gast, der nun wieder völlig reisefertig war, an den Aufbruch zu erinnern, da ihn selbst gar nicht danach verlangte. Sie fühlte, wie viel sie entbehren würde, wenn sie nicht mehr für einen Sohn zu sorgen hätte, nicht mehr hören sollte, wie der Fremde sie treuherzig »Frau Mutter«, oder gar mit ihrem Töchterchen in die Wette »Mütterli« nannte. Auch hatte sie vor sich selbst die Ausrede, daß es sich übel schicke, einen Gast zur Abreise zu treiben. Und so war es ihr wohl und weh zugleich, als endlich ein Brief aus Augsburg eintraf, von beiden Eltern geschrieben, der am Schluß es dem Sohn einschärfte, die Gastfreundschaft der edlen Frau, der er sein Leben verdanke, ja nicht zu mißbrauchen, sondern sobald seine Wunde geheilt sei, den Rückweg anzutreten und der bekümmerten Mutter erst wieder zu zeigen, daß es wirklich keine Gefahr mehr habe und die Strafe für seinen Fürwitz diesmal noch gnädig genug gewesen sei.

Als der junge Kurt diesen Brief seinen beiden Pflegerinnen vorgelesen hatte, sprach eine lange Zeit Keines ein Wort und hernach, bis sie sich um Mitternacht trennten, auch nur von ernsthaften oder gleichgültigen Dingen. Daß es die letzte Nacht sei, die sie so miteinander verplaudert, wußte Jedes und wollte doch Keines sich eingestehen. Auch saßen Mutter und Tochter noch lange auf und machten sich allerlei zu schaffen, da es sie gar nicht nach Schlaf verlangte. Das Lisabethli ging einmal hinaus, um der Donate noch einen Auftrag zu geben. Als sie wieder hereinkam, hatte sie ein Blatt Papier in den Händen und so weiße Farbe im Gesicht, wie das Blatt selbst.

Mütterli, sagte sie mit stockender Stimme, das hat mir die Donate eben eingehändigt. Es ist von ihm. Wollt Ihr es zuerst lesen?

Lies es nur, sagte die Mutter. Es kann nichts Unrechtes sein.

O Mutter, flüsterte das Mädchen, ich kann nicht lesen, es schwimmt mir vor den Augen. Ich weiß, daß es ein Abschied ist.

So gieb! sagte Frau Helena und entfaltete den Brief. – Er fragt dich, sagte sie nach einiger Zeit, ob du nicht dawider wärst, wenn er bei mir um dich anhielte. Er thue es schriftlich, denn wenn du ihn nicht wolltest, wie er leider fürchten müsse, da du ihm immer nur ein ganz lustiges Gesicht gemacht, so wolle er dir nicht mehr unter die Augen treten, sondern abreisen ohne ein Lebewohl und sein unseliges Herz so weit als möglich von hinnen tragen.

Das Mädchen antwortete nichts, und die Mutter schwieg auch eine ganze Weile. Plötzlich fühlte Frau Helena die Arme ihres Kindes an ihrem Hals und ihre nassen Augen an ihrer Wange und das weiche Mündchen stammelte dicht an ihrem Ohr: Ich wäre gestorben, Mütterli, wenn er mich nicht lieb gehabt hätte! – Da zog die Mutter sie auf den Schooß, wie sie ihr Kind seit den frühsten unmündigen Jahren nicht mehr gehalten hatte, drückte sie fest an ihr Herz und sagte mit bebender Stimme: Gott segne euch, meine guten Kinder. Ihr habt mir viel wieder gut zu machen!

Diese Nacht über that Keines ein Auge zu; erst gegen Morgen schlummerten sie ein paar Stunden, und die Tochter, die zuerst wieder munter wurde, konnte, so sehr sie ihrem Mütterli die Ruhe gönnte, es doch kaum erwarten, daß sie aufstünde und ihrem Geliebten die Antwort auf seinen Brief überbrächte. Als endlich Frau Helena hinaufkam, fand sie ihren Gast, der nicht minder spät, oder vielmehr früh, die Augen geschlossen hatte, noch in festem Schlaf und setzte sich ein wenig neben sein Bette, das gute junge Gesicht betrachtend, das von Hoffnung und Muth selbst im Schlaf leuchtete. Als er aber immer noch nicht aufwachen wollte, rief sie ihn bei Namen. Da fuhr er erschrocken in die Höhe und fand vor Verwirrung zuerst keine Worte, zumal ihn auch der Gedanke bestürzt machte, ob die Mutter wohl schon von seinem Schreiben wisse, und was sie dazu sagen werde. Aber wenn auch das Antlitz der Frau Helena ernst blieb, so gaben ihm doch schon ihre ersten Worte Trost und Zuversicht. Lieber Sohn, sagte sie, Eures Bleibens ist hier nicht länger. Nach dem, was Ihr meinem Kinde geschrieben, ziemt es sich nicht, daß ich Euch zurede, unsere wohlgemeinte, wenn auch geringe Gastfreundschaft Euch noch ferner gefallen zu lassen. Sobald Ihr Euch gerüstet habt, scheiden wir von einander, und Valentin läßt Euch zum Gartenpförtli hinaus, daß Ihr dann in den »Storchen« zurückkehren und dort Euer Pferd verlangen könnt, wobei Ihr zur Erklärung Eures langen Ausbleibens eine Historie vorbringen mögt, welche Euch die glaublichste scheint. Ich will auch, daß Ihr, eh Ihr das Haus verlasset, mit meinem Kinde nicht anders redet, als wenn sie Euch ganz fremd geblieben wäre. Sie hat Euch herzlich lieb, und auch ich, wie ich Euch ehrlich sage, kann mir nichts Lieberes wünschen, als einen so wackeren Sohn zu gewinnen, da mein leiblicher Sohn – und hier seufzte sie aus tiefster Brust – mir leider verloren ist, wie ich Euch später einmal erzählen werde. Aber ich will nicht, daß Eure Eltern denken, wir hätten Euch hier verpflegt und Euer dankbares Gemüth umgarnt, um etwa eine Tochter an den Mann zu bringen, und Ihr selber könntet es vielleicht bereuen und, wenn Ihr erst wieder in der Welt herumzieht, es kaum begreifen, was Ihr an meinem einfachen Kinde, so lang Ihr Niemand sonst zur Gesellschaft gehabt, Sonderliches habt finden können. Also sollt Ihr von uns gehen, ohne daß ein bindendes Wort von Einem oder dem Andern gesprochen worden, und auch mein Kind soll Zeit behalten, ernstlich ihr junges Herz zu prüfen, ob nicht etwa Mitleid und der Reiz des Abenteuers ihr vorgespiegelt, Ihr seiet der ihr vom Himmel bestimmte Bräutigam. Wenn Ihr dann mit Euren Eltern Euch besprochen und ihre Einwilligung erhalten habt und es ist noch Euer fester Wille, so lasset es uns wissen, schriftlich oder mündlich, und Gott wird dann seinen Segen dazu geben, wenn dieser Bund anders wirklich im Himmel geschlossen ist. Und jetzt verlass' ich Euch, lieber Sohn, und erwarte Euch unten zum Morgenimbiß, denn Ihr sollt mir nicht ungespeis't und ungelabt aus dem Hause gehen, wenn ich auch Euer sehnsüchtiges Herz noch zum Fasten verurtheilen muß.

Sie stand auf, nachdem sie den Jüngling, der in sprachlosem Glück ihr gelauscht, mit mütterlicher Herzlichkeit auf die Stirn geküßt hatte. Aber wenn er auf diesem Zeichen ihrer Zuneigung die Hoffnung schöpfte, daß sie es mit dem Uebrigen nicht so strenge nehmen und ihm erlauben würde, vor der Trennung auch sein geliebtes Mädchen ans Herz zu drücken, so kannte er die ernste Art der Mutter nicht, in deren Seele das Strenge mit dem Zarten wundersam verwebt war. Genau wie sie es ihm angekündigt, ward es beim Abschiede gehalten, und hätte ihm nicht das Lisabethli, als es ihm die Hand reichte, einen Blick dazu gegeben, der ein langes Bekenntniß innigster Lieb' und Treue aufwog, so wäre er, statt mit freudiger Hoffnung, wohl in Zweifeln geschieden, ob er hier ein Herz gefunden habe, das ihm in Tod und Leben angehöre. Einen Ring ließ er oben auf seinem Tisch zurück, in ein Papier gewickelt, das nur eine Zeile an die Mutter enthielt – »dies Andenken einstweilen aufzuheben, bis sie ihm erlaube, es ihrem Kinde anzubieten«. Dem Valentin und der Donate hatte er ihre Pflege so reich vergolten, daß die guten Leute hernach in Bestürzung zu Frau Helena kamen, der Herr Kurt müsse sich wohl vergriffen haben. Als sie aber sahen, daß das Lisabethli verweinte Augen hatte, gingen sie still ihrer Wege und fingen an, sich Manches zusammenzureimen.

Das war um die Mittagsstunde, wo die Meisten in ihren Häusern blieben und Kurt am unbemerktesten aus dem Garten der Frau Amthor entlassen werden konnte. Einige Stunden vergingen, ohne daß weder Mutter noch Tochter auch nur zu einem gleichgültigen Gespräch die Lippen geöffnet hätten. Sie waren aber beide inniger als je um einander bemüht, in hundert kleinen Liebesbeweisen, nur daß sie sich kaum getrauten, einander in die Augen zu sehen, als hätte Jedes ein Geheimniß vor dem Andern. – Als der Tag sich verkühlte, wollte eben die Mutter ihrem Kind, das unten im Garten einsam lustwandelte, sagen, sie mochte Hut und Tüchlein nehmen, um einen Gang mit ihr durch die Stadt zu machen, als Valentin plötzlich mit einem verstörten Gesicht hereintrat und hastig meldete, der Herr Großweibel, der schon vor zwölf Tagen die Frau besucht, frage eben wieder an, ob sie zu Hause sei. Er habe einen sehr wichtigen und eiligen Auftrag auszurichten. Frau Helena, deren erster Gedanke war, Kurt habe am Ende eine Unvorsichtigkeit begangen, konnte dem alten Diener nur noch einschärfen, daß er von dem Besuch dem Lisabethli ja nichts sagen solle, als der stattliche Herr schon eintrat und mit einer Miene, die viel förmlicher und amtlicher war, als bei dem ersten Besuch, die Frau Helena Amthor um geneigtes Gehör unter vier Augen bat. Nachdem er, in das kleine Schreib- und Geschäftzimmer geführt, auf einem Sessel der Frau gegenüber Platz genommen, mehrmals geräuspert und an seiner Kleidung genestelt hatte, fing er in sichtbarer Verlegenheit folgendermaßen an: Ich brauche nicht vorauszuschicken, werthe Frau Schwiegerin, wie nicht nur Euer Geschlecht und Haus, sondern auch Eure eigene Person in unserer guten Stadt von Jedermann, Amtleuten wie Privaten, in Ehren gehalten und Eure Tugenden, gleich dem Namen und Angedenken Eures verlebten Eheherrn, als ein christliches Beispiel zu allem Guten erachtet werden. Daher ist es Aller, so Euch kennen, einmüthiges Bemühen, Euch Kummer fern zu halten und für den, den der Himmel Euch schickt, so viel Menschen möglich Euch Trost zu bieten. Es wird Euch nicht entgangen sein, daß sich Alle so zu sagen das Wort gegeben haben, an die Wunde, die Euch durch Eures Sohnes Aufführung geschlagen ist, niemalen zu rühren, und ich wahrlich, da ich Euch durch Freund- und Schwägerschaft sonderlich verbunden bin, wäre der Letzte gewesen, den Namen Eures verlorenen Sohnes vor Euch auszusprechen, wenn meine amtliche Pflicht Solches nicht von mir forderte. Wollet mir daher diese unliebsame Pflicht nicht erschweren durch Zurückhaltung oder ausweichende Antwort, sondern mir offen bekennen, was Ihr in letzter Zeit von Eurem Andreas erfahren habt, und wo er Eurem Ermessen nach zur Stunde sich befindet.

Wenn Ihr so fragt, erwiederte die Mutter, ohne weder durch ihre Miene, noch durch den Ton ihrer Stimme zu verrathen, wie stark ihr Herz klopfte, so muß ich Euch leider zur Antwort geben, daß es auf Allerheiligen gerade vier Jahr werden, seit ich meinen unglücklichen Sohn das letzte Mal gesehen, und in all der Zeit mich weder mündlicher noch schriftlicher Nachricht von ihm zu getrösten hatte. Laßt mich aber nun fragen, was Euch und die ehrbaren Herren des Raths dazu treibt, von dem Verschollenen zu reden, der, was auch seine Verschuldungen sein mögen, seit neun Jahren seiner Vaterstadt wenigstens keinen Grund mehr zu Klagen gegeben hat.

Der Großweibel räusperte sich von Neuem und sagte, nach einer Pause, in der er sichtbar verlegen die schicklichsten Worte suchte: Höret mich ruhig an, werthe Freundin und Schwiegerin, und erschrecket nicht, wenn meine Mittheilung sonderbar und abenteuerlich klingt. Es ist bis jetzt nur eine Muthmaßung, die, so Gott will, sich in ein Nichts auflösen wird. Ihr entsinnet Euch jener Nacht, wo die Schaarwache bei Euch eindrang, und des wüsten Raufhandels auf dem Inseli, um dessentwillen ich andern Tags Euch besuchte, eines ehrbaren Kleinen Raths Entschuldigungen zu überbringen. Die Schenke, die Euch so viel Aergerniß gegeben, ist seitdem geschlossen und damit der Herd so vielen nächtlichen Unfugs verschüttet worden. Auch haben sich seit jener Nacht durchaus keine Spuren der Uebelthäter und Turbanten entdecken lassen, so daß schon der Verdacht entstund, die Wächter hätten, etwa vom Most entflammt, Gespenster gesehen. Nun aber ward gestern Abend, da wir eben die Sitzung aufheben wollten, eine junge Weibsperson vor uns geführt, die den Todtengräber von Sanct Ursula angegangen war, einen in ihrer Kammer befindlichen Leichnam heimlicherweise zu verscharren, da sie, wenn es aufkäme, daß er in einem Raufhandel den tödtlichen Streich empfangen, als eine landfremde Person fürchte, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Das Wenige an Baarschaft, was die Dirne besaß – die nicht viel Besseres zu sein scheint, als eine französische Courtisane, und kaum zehn deutsche Worte zu radebrechen weiß – hatte sie dem Manne für seinen Hehlerdienst geboten, dann aber, da er pflichtschuldigst Anzeige machte und sie mit sich vor Gericht schleppte, sich mit einer raschen Resolution auch darein ergeben, und betheuerte nun, scharf von uns verhört, ihre Unschuld an dem traurigen Fall. Der Todte, der ihr Liebhaber gewesen und sie seit Lyon auf seinen Fahrten mit sich gezogen, habe in jener Nacht auf dem Inseli Streit bekommen mit einem Unbekannten und sei von diesem auf der Brücke niedergestochen worden. Beim Herannahen der Schaarwache habe sie eben noch Zeit gehabt, den Halbtodten mit Hülfe zweier Reisecumpane in einem Nachen stromab zu entführen und nach der schlechten Herberge zu bringen, wo sie Tags zuvor erst eingekehrt. Die beiden Andern, sobald sie gemerkt, daß nicht viel zu hoffen sei, hätten sich aus dem Staube gemacht, sie aber den Verwundeten getreulich bei Tag und Nacht gepflegt, auch dem Herbergswirth vorgespiegelt, es bessere sich täglich, und wenn er reinen Mund halte, werde der Genesene ihn reichlich entschädigen. Erst da er den letzten Athemzug gethan, sei ihr die Angst gekommen, was nun aus ihr werden solle; denn die letzte Baarschaft, der Spielgewinn aus jener Nacht, sei während der Krankheit daraufgegangen, und sie hätte ihr geringes Geschmeide einem Juden verkaufen müssen, um nur das Grab zu bezahlen. Für ihren ferneren Unterhalt, setzte sie mit gleichgiltiger Stirn hinzu, sei ihr nicht bange, da sie jung und Gottlob nicht garstig sei, wenn sie nur erst hier vom Gericht losgesprochen und wieder in einem Lande sei, wo man ihre Sprache verstehe. Der Todte habe sie zwar gut gehalten, in Kleidern, Essen und Geschenken, aber sie habe doch wenig Freude bei ihm erlebt, da er eines verdrossenen Temperaments gewesen sei, auch nicht so recht ein Franzose, trotz seines Namens, sondern, wie sie glaube, ein Elsässer. Er habe Laporte geheißen, sei vielfach herumgekommen durch mancher Herren Länder, habe ein Offizierspatent von den Holländern gehabt und nie gern von seiner Vergangenheit geredet. In die Schweiz zu reisen sei ihm erst eingefallen, als er nicht mehr gewußt habe, wovon leben. Sie sei aber nicht dahintergekommen, ob er hier irgendwo einen Schatz vergraben habe, oder sonst gute Freunde wisse, die ihm etwas schuldig seien, und bei denen er nur anzuklopfen brauche, um wieder auf eine Zeit flott zu werden. Dieses Alles sei die reine Wahrheit, und mehr wisse sie selbst nicht und könne, auch peinlich befragt, nichts Anderes aussagen.

Auf diese Aussage der Fleurette, wie das Frauensbild sich nannte, ließ der Schultheiß die Leiche, die in der Herberge noch Niemand vermuthete, alsbald nach dem Spittel schaffen, gestern noch bei später Nacht, und auf einem Schragen in der Todtenkammer aufbahren, um erst über den Befund ein Protocoll aufzunehmen, ehe der Todte, als ein der Stadtgemeinde nicht zugehöriger, an der Mauer des Gottesackers verscharrt würde. Das welsche fahrende Fräulein aber ward einstweilen im Spittelthurm in Gewahrsam gehalten. Als wir uns nun heute Morgen in die Todtenkammer verfügten und der Leichenbeschauer sein Gutachten abgegeben hatte, daß nämlich der Stoß, mit einer breiten deutschen Klinge geführt, zwischen der vierten und fünften Rippe durchgegangen und ein Wunder sei, wie der Verletzte noch so lange sein Leben habe fristen können, kamen seine Kleider und wenigen Habseligkeiten zur gerichtlichen Untersuchung, wo sich denn nichts ergab, was die Aussage des Frauenzimmers ergänzt, noch auch verdächtigt hätte. In dem Offizierspatent war er als ein Monsieur Laporte oder Delaporte aufgeführt; sonst hatte er an Papieren nichts bei sich. Und schon wollte der Gerichtsschreiber das Protocoll schließen, als der Wundarzt auf den Siegelring aufmerksam machte, den der Todte an seiner zusammengekrampften Linken trug. Es war ein dicker goldener Reif, wunderlich geformt, mit einem blutrothen Carneol, und unmöglich ihn abzustreifen. Wie ich aber zufällig, da ich ein Liebhaber von Alterthümern bin, mit einem Licht mich bücke, die Fassung näher zu beschauen, sehe ich zu meinem Staunen und Schrecken, daß in den Stein ein Wappen eingeschnitten ist, das aufs Haar – aber Ihr müßt Euch nicht entsetzen; es kann, wie gesagt, ein Zufall sein – aufs Haar, sag' ich, dem Familienwappen der Amthor gleicht: zwei Balken, die ein Gesimse tragen, dazwischen ein offener Thorflügel und ein Stern über dem Gesims. Das Licht zitterte mir in der Hand, um so mehr, als ich im selben Augenblick auf dem blassen, bärtigen Gesicht, das mir zuerst ganz fremd geschienen, einen Zug bemerkte, wie ihn –ich bitte mir zu vergeben, werthe Frau Schwiegerin, wenn ich Euch wehthue, – wie ich ihn auf dem todten Antlitz meines in Gott ruhenden edlen Freundes, Eures Gatten, gesehen hatte, als ich am Tag der Begräbniß zum letzten Mal an seinem offenen Sarge stand. –

Der würdige Mann, als er so weit in seinem Bericht gekommen war, machte eine Pause, während deren er die Frau, die ihm gegenübersaß, nicht anzusehen wagte; obwohl er die ganze Größe des Unglücks, das über der Matrone schwebte, nicht ermessen konnte. Wußte er doch nicht, daß das Geschick ihrer beiden Kinder davon abhing, ob der fremde Todte ihr leiblicher Sohn war, oder nicht.

Seid getrost, meine liebwerthe Freundin, sprach er endlich und strich sich mit der Hand den kalten Schweiß von der Stirn; ich habe es über mich genommen, von dieser Entdeckung Niemand zu sagen, als dem Schultheißen, den Ihr ja kennt als einen ehrenfesten, Eurem Geschlecht herzlich wohlgesinnten Mann. Ich fragte ihn, ob die traurige Vermuthung nicht etwa in unser Beider Herzen vergraben bleiben dürfe. Es sei wahrscheinlich, oder doch möglich, daß ein Zweig der Amthor's vor Menschengedenken nach Welschland ausgewandert, ihren Namen dort verwelscht in Laporte oder Delaporte, um ihn mundgerechter zu machen, ihr Hauswappen aber beibehalten hätten. Von jenem Zug in dem durch eine tiefe Narbe entstellten Todtengesicht sagt' ich ihm kein Wort, da er selbst, als er hernach mit mir allein das Bahrtuch noch einmal aufdeckte, keine Aehnlichkeit mit dem Andreas fand, den er vor neun oder zehn Jahren mehrmals gesehen zu haben sich entsann. Trotzdem aber war er der Meinung, es dürfe Euch dieser befremdliche Vorfall nicht verhohlen bleiben. Wenn es wider Vermuthen Euer armer Sohn wäre, der hier ein so klägliches Ende gefunden, so dürfe man einer Mutter nicht den bitterlichen Trost entziehen, das Haupt, das sie unter dem Herzen getragen, zur ewigen Ruhe einzusegnen. Auch sei es, wegen amtlicher Formalitäten, unstatthaft, sich mit der Aussage einer fahrenden Dirne zu begnügen, wo man die gültigste Zeugin so nahe habe, zumal man auch bei späteren Todesfällen, Erbschaften und dergleichen leichtlich Ursach finden möchte, gern etwas Gewisses zu wissen, um jedem Hader vorzubauen. Also trieb er mich an, zu Euch zu gehen, den Fall Euch vorzutragen und Euch freundlich zu ersuchen, Ihr möchtet in das Spittel kommen, so heimlich als Ihr nur wollt, um unnütz Aufsehen und Aergerniß zu verhüten.

Damit erhob er sich von seinem Sitz und trat ans Fenster, der Frau Zeit zu lassen, sich zu sammeln und zu einem Entschluß zu kommen. Wohl eine Viertelstunde verging, ohne daß in dem kleinen Gemach ein anderer Laut hörbar wurde, als das Ticken der großen Uhr, eines Brautgeschenks vom Großvater des Lisabethli an seine Schwiegertochter, auf deren bleiernem Zifferblatt das Hauswappen der Amthor eingravirt war. Auch draußen war es still; man hörte nur von Zeit zu Zeit einen Rabenschwarm krächzen, der über die Terrassen hinflog, oder einen überreifen Apfel, der mit dumpfem Prall zur Erde fiel.

Endlich stand die Frau auf und näherte sich dem erprobten Freunde, der mit der Miene des bekümmertsten Antheils ihr in die starren Augen blickte. Ich danke Euch, sagte sie, daß Ihr zu mir gekommen und diese schwere Pflicht mit solcher Schonung erfüllt habt. Sagt dem hochehrbaren Herrn Schultheißen, daß ich etwa um die neunte Stunde mich einfinden werde und bitte, mich durch einen zuverlässigen Mann an der Seitenthür des Spittels erwarten zu lassen, daß mich Niemand bei diesem harten Gang gewahr werde, der davon schwatzen möchte. Das Weitere gebe ich in Gottes Hand; er wird's wohl machen.

Ihr werdet mich selbst am Spittel finden, versetzte der Großweibel. Der Herrgott stärke Euer Herz und Euren Leib und lasse unsre Hoffnung erfüllt werden, daß hier ein Zufall im Spiele sei.

Amen! sagte Frau Helena mit dumpfer Stimme, die völlig hoffnungslos klang.

Darauf verließ sie der Besucher. Sobald sie allein war, sank sie, wo sie stand, in ihre Kniee, und wie eine hohe Flut schlug der Jammer über ihrem Mutterherzen zusammen.

——————

Es war schon völlig dunkel geworden, als die Stimme ihrer Tochter, die im Garten mit der alten Donate sprach, sie aus ihrer Versunkenheit weckte. Bald darauf trat das Lisabethli herein und fand die Mutter vor dem Schreibtisch sitzend, als hätte über Rechnungsbüchern und Briefen die Nacht sie überrascht.

Mütterli, sagte sie, er hat mir noch einen Brief geschickt, ein Knabe brachte ihn an die Donate, er schrieb ihn erst, als er schon vor dem Thore war, da Ihr ihm erlaubt habt, aus der Ferne an mich zu schreiben. Wollet Ihr ihn lesen? Er sagt, daß ich seiner Treue so gewiß sein solle, wie Eurer Liebe, und daß Nichts uns trennen werde, als der Tod.

Sie hielt der Mutter das Blatt hin, die es aber nicht nahm. Laß mich ein wenig allein, Kind, erwiederte sie; ich habe über etwas nachzudenken.

Da ging das Mädchen, froh, ihren Schatz allein besitzen zu dürfen. Die Frau aber blieb wohl noch eine Stunde in dem finstern Zimmer, in den dunkelsten Gedanken, die kein himmlischer Strahl zu erhellen kam. Sie zweifelte keinen Augenblick, daß der Ring am Finger des Todten derselbe sei, den sie ihrem Andreas an den Finger gesteckt, als er das erste Mal mit ihr zur heiligen Communion gegangen war. Auch an einen Zufall, der ihn an eine andre Hand gespielt, glaubte sie nicht. Der da lag in der Todtenkammer des Spittels, die Schwertwunde in der Brust, war Niemand anders, als ihr vielgeliebter, vielbeweinter Sohn. Und der ihn erschlagen hatte, freilich im Kampf um das eigne Leben, dem hatte sie ihre Tochter zugesagt, der sollte vielleicht schon in kurzen Wochen als Bräutigam in ihr verwais'tes Haus treten und mit freudelachendem Gesicht ihr auch das andere Kind entführen, daß sie durch diesen Jüngling um beide Kinder käme. Sie haßte ihn in diesem Augenblick, sie verwünschte die Stunde, da er in ihr Haus gekommen, sie verfluchte ihre eigne Zunge, die ihm Schutz zugesagt und ihre Zusage mit einer Lüge besiegelt hatte, als sie ihn vor den Häschern verleugnete. Und gleich darauf widerrief sie in ihrem Herzen Fluch und Verwünschung; denn sie sah im Geist das treuherzige Gesicht des unschuldig Verfolgten und hörte seine helle Stimme, und ihre eigenen Worte kamen ihr zurück, mit denen sie ihm gelobt, ihn wie eine Mutter zu halten, und die Stimme ihrer Tochter, als sie in der letzten Nacht mit seinem Brief zu ihr kam und sagte: Ich wäre gestorben, Mütterli, wenn er mich nicht lieb gehabt hätte. Sie kannte ihr Kind und wußte, daß dies nicht so in den Tag hinein geredet war. Sie fühlte auch, was sie diesem Kinde schuldig war, das so lange Jahre kaum ein Pflichtteil ihrer Mutterliebe genossen hatte. Konnte es sich nicht bitter gegen den Bruder beschweren, der nach langem, wüstem Herumfahren sich seiner Heimath nur entsann, um neues Elend über seiner Mutter Haupt zu bringen und das Lebensglück seiner Schwester zu vernichten? Nein, sagte die starke Frau bei sich selbst, es darf nicht sein. Niemand ist hier schuldig, als ich; ich bin die wahre Urheberin seines jammervollen Endes, ich mit meiner thörichten Schwäche und Nachgiebigkeit, mit dem Uebermaß meiner Liebe. Niemand soll büßen, als ich. Des Sohnes, den mir Gott zum Ersatz für den Verlorenen hat geben wollen, soll ich mich nicht erfreuen, mein anderes Kind auch noch dahingeben und einsam überbleiben mit meinem durch zwiefache Lüge erkauften Gram!

Sie versank wieder in dumpfes Brüten, bis vom Münster die neunte Stunde schlug. Da schrak sie zusammen, raffte sich aber mit aller Stärke einer einsamen Seele auf und rief dem Lisabethli, ihr die Haube zu bringen, sie habe noch einen Gang zu machen. Das Kind, das sich über die späte Stunde verwunderte, wagte doch nicht zu fragen, hatte auch des Ungewohnten jüngst zu viel erlebt, um lange ihrem Staunen nachzuhängen, zumal ihre eignen Gedanken sie eigne Wege führten. Der alte Valentin aber konnte die Frage nicht zurückhalten, ob er nicht die Laterne anzünden und der Frau voranleuchten solle. Sie schüttelte nur stumm das Haupt, zog den Schleier doppelt gefaltet über das Gesicht und verließ ihr Haus.

Es war kein weiter Gang bis zum Spittel, aber mehrmals meinte sie, ihn nicht zu Ende gehen zu können. Herr mein Gott, betete sie, nimm mich von dieser Erde! Es ist zu viel, zu schwer, wie du deine Magd heimsuchst! – Und doch zog es sie wieder vorwärts, an den Ort, wo sie das langentbehrte Antlitz ihres Verlorenen zum letzten Male sehen sollte.

Als sie auf den Platz trat, wo das alte Siechenhäuschen mit seiner baufälligen Kapelle stand, näherte sich ihr ein Mann in schwarzem Gewand und rief sie leise bei Namen. Sie erkannte alsbald ihren Freund, den Großweibel, wechselte aber weiter kein Wort mit ihm, und der wackere Mann führte sie durch das Seitenpförtchen, das er mit seinem Schlüssel öffnete, ins Innere des Hauses. Sie kamen in einen Saal, wo bei trüber Kerze ein Spittelvogt, der die Wache hatte, auf der Bank eingenickt war. Das Geräusch der Schritte weckte ihn, aber auf ein Zeichen des Großweibels blieb er liegen und sah schlaftrunken zu, als dieser eine zweite Kerze anzündete und dann der Frau voranging. Sie stiegen einige Stufen hinab und kamen durch einen langen Gang an eine Art Kellerthür, die halb offen stand. Ist es Euch lieber, wenn Ihr allein hineingeht, sagte der Mann, so nehmt die Kerze. Ich warte indessen hier im Gange.

Sie nickte, ohne ein Wort zu erwiedern, nahm ihm den zinnernen Leuchter aus der Hand und trat in die Todtenkammer ein.

Es war ein niedriges, mit Quadern überwölbtes Gemach, mit nackten, von Rauch und Alter geschwärzten Wänden, ohne alles Geräth. In der Mitte stand der Schragen, roh gezimmert und nur mit einer Schütte halbvermoderten Strohes aufgepolstert. Darauf ruhte die Leiche, unter einem grauen Bahrtuch, kaum groß genug, die langgestreckten Glieder des Todten zu bedecken, der in seinen Kleidern dort niedergelegt war. Als die Frau mit dem Licht hereintrat, fuhren ein paar Ratten, die an den Stiefeln genagt hatten, aufgeschreckt aus dem Stroh in ihre Löcher. Die Frau merkte es nicht. Ihre Augen stierten nach dem Kopfende des Schragens, wo das Tuch eine hohe weiße Stirn bloßließ, über die eine dunkle Narbe quer bis zu den Augenbrauen hinlief. Sie stellte den Leuchter in die Mauerblende und trat mit dem letzten Rest ihrer Kraft näher heran, die Decke zu lüften. Nur ein Blick in das starre, vom Kampf des Lebens und des Todes noch gefurchte Gesicht des Todten; dann brach sie neben der Bahre zusammen.

Doch war es keine Ohnmacht, die ihre Seele wohlthätig umnebelt hätte. Nur die Füße trugen sie nicht mehr; ihr Geist blieb wach, und ihr Herz fühlte deutlich, wie alle alten Wunden wieder aufbrachen und heiß zu tropfen anfingen. Sie lag auf den Knieen, die Hände im Schooß gefaltet, die Augen unverwandt auf das blasse Gesicht ihres todten Sohnes geheftet, das fremd und fast zornig von ihr abgewandt nach der schwarzen Wölbung sah. Ihr Leben hätte sie darum hingegeben, den letzten armen Rest ihrer Lebenstage, wenn diese Augen sich nur noch einmal geöffnet hätten zu einem Abschiedsblick, diese verfärbten Lippen ein einziges Mal sie Mutter genannt hätten! –

Dem Manne, der draußen im Gange wartete, kam es vor, als ob er ein Stöhnen in der Todtenkammer höre. Wie er es deuten sollte, wußte er nicht. Wenn sie den Sohn erkannt hatte, so durfte er die Todtenklage der Mutter nicht stören. Plötzlich hörte er ihre Schritte wieder der Thüre nahen und sah sie mit dem Licht heraustreten, hochaufgerichtet, als habe kein Schlag sie gebeugt, die Augen steinern und weit offen ihm entgegenblickend. Er wagte nicht zu fragen.

Ich habe Euch warten lassen, sagte sie; es wäre nicht nöthig gewesen. Schon ein Blick genügt für eine Mutter, um die Wahrheit zu wissen. Aber es hat mich angegriffen. Ich habe ein wenig ausruhen müssen.

So ist er's nicht? rief der getreue Freund. Gott sei gepriesen!

In Ewigkeit! sagte die Frau. Laßt uns gehen. Der Ort ist schauerlich.

Sie schritt hastig mit der Kerze voran und ohne Wanken die Stufen wieder hinauf. In der Halle, wo der Wächter saß, stellte sie den Leuchter wieder auf den Tisch und ihre Hand zitterte nicht mehr.

Ihr werdet Sorge tragen, sagte der Großweibel zu dem Schlaftrunkenen, daß morgen früh um fünf Uhr der Todtengräber kommt und die Leiche zur Ruhe bringt.

Das Grab ist schon gegraben, Herr, sagte der Vogt, neben der Stelle, wo vorm Jahr der Hans Frischlein, der Vatermörder, verscharrt worden ist.

Nicht doch, erwiederte der Großweibel, er soll kein unehrliches Begräbniß haben, nur als ein Landfremder nächst der Mauer liegen. Auch hat seine Dirne sich erboten, den Todtengräber zu bezahlen. Wonach sich zu achten, Kilian.

Was ich noch fragen wollte, warf der Mann hin: darf dem welschen Fräulein Wein gereicht werden und eine gebratene Taube, wonach es sie gelüstet? Sie wolle es bezahlen, sagt sie; ist übrigens ganz guter Dinge, und ein paar fremde Gesellen haben sie im Thurm besucht und drei Stunden mit ihr geschwätzt. Auf die Nacht hat der Schließer sie gehen heißen; das Fräulein aber war es schlecht zufrieden, und jetzt eben schickt sie den Schließer zu mir, ob ich sie nicht besuchen wolle, sie habe Zeitlang.

Sie soll in Allem nach Ordnung und Herkommen gehalten werden, murrte der Großweibel. Morgen kommt sie frei, da kann sie ihr gottloses Treiben nach Herzenslust wieder beginnen, sobald sie über unser Weichbild hinaus ist. Gute Nacht, Kilian.

Er wandte sich zu der Frau, die schon bis zur Thür des Saales vorangegangen war und dort im Schatten am Pfosten lehnte. Während er sie hinausführte und auf dem Weg bis zu ihrem Haus ihr das Geleit gab, schalt er auf das zuchtlose Geschöpf, das auch den armen Todten wohl auf dem Gewissen habe und schon wieder den Köder nach neuen Opfern auswerfe, ehe die Erde über diesem letzten sich geschlossen. Wie ihm ein Stein vom Herzen sei, betheuerte er, daß dieser Laporte kein Amthor sei, und wie er hoffe, der echte Andreas werde seiner Mutter noch das Leiden vergüten, das sie so christlich um ihn trage. Ein Ehrbarer Rath aber sei der werthen Frau für die Mühe dieses späten Ganges aufrichtig zu Dank verpflichtet.

Und damit verabschiedete er sich von der schweigsamen Frau, ihr eine wohlschlafende Nacht wünschend.

Der Wunsch ging freilich nicht in Erfüllung. Ein Sturm erhob sich, der die ganze Nacht mit Schnauben und Brausen anhielt, daß es war, als wolle er die Erde aus den Angeln heben. Oben in dem Zimmer, das einst dem Andreas gehört, hatte es einen Fensterladen aufgerissen und tobte nun klirrend und klappernd an den Wänden herum. Das Lisabethli fuhr erschrocken in die Höhe, da sie eben eingeschlafen war. Sie sah die Mutter ohne Licht aus der Thüre gehn und hörte sie die Treppe hinaufsteigen, dann oben dem Spuk ein Ende machen, indem sie das offene Fenster, so gut es ging, verwahrte. Eine Weile wartete das Kind, daß sie wieder herabkommen möchte, schlief aber darüber ein und hätte freilich umsonst gewartet. Denn Frau Helena blieb oben in dem dunklen Zimmer, als ob ihr wohler wäre, auf den Sturm zu lauschen, als auf die Athemzüge ihres Kindes, das aus dem Traum von ihrem Kurt sprach und ihm süße Namen gab.

Gegen die erste Frühe legte sich der Wind; statt seiner kam ein feiner frostiger Regen, der immer dichter wurde und endlich Land und Strom in einen grauen Schleier hüllte. Der Todtengräber, der um die fünfte Stunde mit zwei Gehülfen ein Grab an der Kirchhofsmauer gegraben und einen rohgefügten Sarg hineingesenkt hatte, war eiliger bei dem Geschäft gewesen, als je, und der Sarg stand schräg in der nothdürftigen Grube. Als der Geistliche, der ihn einsegnen sollte, des gräulichen Unwetters wegen sein Amt vergaß, sprach der Mann mit dem Spaten selbst ein Vaterunser für die arme Seele und schaufelte dann hastig die zähen Schollen wieder in das Loch, den Rest seinen Gesellen überlassend. Eben wollte er sich heimtrollen, um in der warmen Stube noch einen kurzen Morgenschlaf zu halten, als er eine Frauengestalt gewahrte, die an einem der Grabkreuze, unfern des neuen Grabes kniete und das mit einem dunkeln Tuch verhüllte Haupt gegen den Steinsockel drückte. Dieses Grab war längst verwais't, das Geschlecht der dort ruhenden außer Landes gezogen. Was mochte die Frau dort zu suchen haben? Da sie aber sich ganz still verhielt und trotz des Regens in Andacht versunken zu beten schien, getraute er sich nicht, sie da wegzuweisen. Einen Augenblick dachte er, es möchte die welsche Dirne sein, die das Grab des Erstochenen bezahlt hatte, hörte aber hernach im Rathhause, die habe bis an die helle Sonne geschlafen und sei erst aufgewacht, als der Büttel kam, sie aus Stadt und Weichbild wegzuweisen.

Einige Tage darauf ward ihm von unbekannter Hand eine ansehnliche Summe Geldes zugestellt, angeblich, um eine vergessene Begräbnißgebühr zu entrichten. Er machte sich weiter keine Gedanken darüber und steckte die unverhoffte Einnahme ein, als wäre das Geld vom Himmel gefallen.

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Was nun folgte, ist bald gesagt. Im nächsten Frühjahr war die Hochzeit des Kurt Brucker und der Elisabeth Amthor, wurde nach dem Herkommen im Hause der Braut gehalten, und die Augsburger Sippe kam stattlich herübergereis't, der Brautmutter und dem Geschlecht der Amthor alle Ehre zu erweisen. Es fehlte an Nichts, was bei einer solchen Gelegenheit üblich ist, und das Lisabethli durfte nicht klagen, daß an seiner Aussteuer gespart, oder der Hochzeitwein nicht vom firnsten gewesen sei. Nur Eines fehlte: das frohe Lächeln auf dem Gesicht der Brautmutter. Sie war freundlich und höflich zu Jedermann, fremden und eignen Bluts, und nickte auch wohl zustimmend, wenn die Gäste ihr sagten, wie das junge Paar gleichsam für einander geschaffen sei, und es sei beiden Häusern zu einer so passenden und ehrenvollen Verbindung Glück zu wünschen. Aber mitten im lauten Freudenlärm des Brautschmauses saß sie in all ihrem Putz stumm und starr wie ein Gespenst, und wenn die Andern von der Familie des Bräutigams, die sie vorher nicht gekannt, sich nach und nach darein fanden und sich in die Ohren zischelten, es sei der Kummer um den verschollenen Sohn, der sie gerade heut so hart anwandle, so war doch Kurt Anderes von seiner Schwiegermutter gewohnt, und es fiel ihm sonderbar auf, daß sie ihm in all den Tagen weder die Hand gab, noch ihn in die Arme schloß, wie sie doch dem Wildfremden gethan, als er ein Gast in ihrem Hause war und halbgeheilt um ihre Tochter geworben hatte. Er wagte endlich, sie darum zu befragen; wenn ihr Herz gegen ihn verändert sei, möge sie ihm den Grund anzeigen, und stehe es irgend in seiner Macht, so wolle er's abstellen, nur daß seine theure Schwiegermutter ihm wieder ein gütiges Gesicht zeige. Die Mutter aber schüttelte den greisen Kopf und erwiederte nur: ihr Kummer gelte nicht ihm, sondern ihrem Schicksal, gegen das sei Menschenwille ohnmächtig; blieb dann auch all die Tage der Hochzeit ernst und schweigsam, wenn auch nicht ungütig. Nur als die Neuvermählten aufbrachen, um in ihre neue Heimath zu ziehen, küßte die Mutter ihre Tochter mit so heftigen Thränen, als ob ihr das Herz im Busen schmelzen und aus den Augen entströmen wollte, und legte dem Eidam, der ihre Hände an seine Lippen drückte, die feuchtkalte Hand auf die Stirn, Worte murmelnd, die Niemand verstand. Dann wandte sie sich rasch ab und verschloß sich, noch ehe die Reisenden aus dem Hause waren, in ihrem Gemach.

Dort verbrachte sie von nun an die wenigen Jahre, die sie noch erlebte, mied alle Gesellschaften, las viel in geistlichen Büchern, und nur den Armen und Nothleidenden stand ihre Thür zu jeder Zeit offen. Als übers Jahr Briefe kamen, die sie dringend nach Augsburg luden zur Taufe eines Enkels, entschuldigte sie sich mit ihrem gebrechlichen Alter, das ihr zu reisen nicht mehr gestatte. Doch sah man sie noch manchmal mit rüstigem Fuß auf einsamen Wegen um die Stadt sich ergehen, den alten Valentin einige Schritte hinter ihr. Sie sprach aber nie mit ihm ein Wort und schien das Reden überhaupt fast zu verlernen. Nur auf dem Todbette, als sie fühlte, es gehe zu Ende, ließ sie den Stadtpfarrer zu sich bitten und blieb einige Stunden mit ihm allein. Was sie ihm da gebeichtet, hat der Geistliche in späterer Zeit einem Urenkel der Frau Helena vertraut, der nach Bern gereist kam, das Grab der Ahne zu besuchen. Das hatte sie sich an der Kirchhofsmauer bestellt, neben dem längst eingesunkenen Hügel, unter dem ihr verlorener Sohn die letzte Ruhe gefunden hatte.

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