Franz Hessel
Laura Wunderl
Franz Hessel

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Peterchen

Sie hat einen Spirituskocher und die Beethovenmaske. Die Wände ihrer Kammer sind mit grünem Rupfen bespannt, und das schräge Dachfenster, das den Raum zum Atelier macht, ist mit einem verhältnismäßig weißen Nesseltuch verhangen. Dieser Vorhang schließt allerdings nicht mehr ganz, so sehr sich Peterchen bemüht, ihn mit ihrem Malstock zuzuschieben, und so kann der Tag immer ein wenig hereinlugen.

Aber wenn dann die Dämmerstunde kommt, verschwimmt die störende Spalte mit der Umgebung und alles »geht gut zusammen«, wie die Maler sagen.

Um diese Zeit setzt Peterchen Wasser aufs Feuer für den Tee und erwartet ihre Gäste. Sie hat immer viel Besuch. Obwohl von den andern manche weit mehr Raum haben und nicht so hoch in der Dachluke hausen, kommt man doch am liebsten zu Peterchen, Tee trinken. Bald sind alle Sitze besetzt: Auf dem Schlafdiwan ein Schriftsteller zwischen zwei Malerinnen. Auf dem Feldstuhl ein Musiker. Ein Kunsthistoriker auf dem Schemel am Ofen. Die lange Cora schiebt die beiden großen Polsterkissen gegeneinander, lehnt ihren Tituskopf zurück und ruht. Peterchen selbst aber liegt auf dem Fell vorm Diwan und reicht den Freunden Tee und Zigaretten.

Sie heißt eigentlich Else Petersen. Als sie nach München kam, nannte sie sich sogar Elsa. Die lange Cora sagte eine Zeitlang Lisbeth zu ihr; aber daran konnten sich die andern nicht gewöhnen. Sie brauchten was Kleineres. Und so hieß sie eines Tages Peterchen. Niemand wusste, wer sie zuerst so getauft hatte.

Immer gibt es bei Peterchen was zu essen und zu trinken. Wie sie mit ihrem schmalen Wechsel so gut haushalten kann, bleibt den andern rätselhaft. Wenn einer kein Geld mehr zum Abendbrot hat, kommt er zu ihr, und sie kocht ihm einen ganzen Schmaus auf ihrer Spiritusflamme.

In ihrem Schrank sind stets noch ein paar Datteln und Nüsse, etwas Milchschokolade und Bäckerei, die ein wenig nach der Schublade schmeckt. Im Winter schmoren Bratäpfel auf dem Kochofen. Und immer hat sie Vorrat an Tee, Kaffee, Butter und allem was eben Not ist. Also dass man ihre Truhe dem Ölkrüglein der biblischen Wittib vergleichen möchte, zumal Peterchens junges Leben schon von einer 52 Art Witwentum verschleiert ist, wenns auch nur ein Traumglück ist, was sie verlor.

Peterchen war nicht von jeher zufrieden gewesen, mit Stillsitzen und Teekochen. Es gab eine Zeit, da hatte sie es auf das Leben selber abgesehen.

 

Sie ist aus einer kleinen Stadt an der Ostsee und hat schon als Schulmädchen bei Fräulein Döpperling in der Domstraße das Blumenmalen erlernt. Onkel Ferdinand, das Haupt der Familie, der sich in seinen Mußestunden für Kunst interessierte, eine Loge im Stadttheater hatte und bisweilen mit gastierenden Schauspielern dinierte, nahm lebhaften Anteil an dem Talent seiner jüngsten Nichte und war durchaus dafür, dass man sie später nach München schickte. Der Vater, der selbst nie auf einen grünen Zweig gekommen war, gab in allen Familienangelegenheiten dem ältern Bruder nach. Onkel Ferdinand hatte die drei älteren Schwestern gut untergebracht: eine war Lehrerin, die andere Erzieherin und die dritte Buchhalterin in einem großen Geschäft. So blieb nur die kleine Else. Für die wollte er ein übriges tun.

Und sie malte und malte und wartete auf München.

Sie malte alles ab, ihre Stube in sämtlichen Beleuchtungen, die Schwestern im Garten, den Vater abends bei der Lampe. Bei den Sonntagsspaziergängen der Familie hatte sie immer das Skizzenbuch für alle Fälle mit, und an freien Nachmittagen ging sie mit Gerät über Land und malte Mühle, Bach und Busch. Und wenn sich dann ein Primaner oder ein junger Mann ihrer Staffelei näherte, warf sie ihm einen so entrüsteten Blick zu, dass er entmutigt weiterging. Er konnte sich aber auch denken, dass man keinen Kleinstadtflirt brauchte, wenn man später nach München durfte.

Als sie dann noch ein halbes Jahr Selekta durchgemacht hatte, ohne die Liebe eines Lehramtskandidaten zu erwidern, der um ihre Hand anhielt, kam sie endlich, endlich im Herbst nach München.

Mit klopfendem Herzen legte sie dem Meister eine Auswahl ihrer besten Arbeiten vor. Ihr Fleiß fand Anerkennung, und sie wurde in die Malschule aufgenommen.

Die erste Zeit wanderte ihr Blick nur von der Leinwand zum Modell und vom Modell zur Leinwand. Und im Abendakt zeichnete sie den Körper eines jungen Burschen mit so strenger Sachlichkeit ab, dass der Meister bei der Korrektur eine Weile hinter ihrem Schemel stehen 53 blieb und ihr lächelnd zusah. Er mochte sie überhaupt sehr gern, nannte sie kleines Fräulein und liebes Kind. Und die andern folgten seinem Beispiel und verwöhnten Peterchen. Die jungen Maler boten ihr Zigaretten an und sahen schmunzelnd ihren Rauchversuchen zu.

Die lange Cora nahm sie in der Pause auf den Schoß und lud sie zu sich zum Abendbrot ein. Und wenns dann spät wurde, wollte sie sie nicht fortlassen, sie sollte bei ihr schlafen. Sie wollte sie auch schöne Phantasietänze lehren, die sie sich in einsamen Nächten ausgedacht hatte. Und sie tanzte ihr vor und warf den Kopf in den Nacken, wie die Mänade auf dem Relief an der Wand.

Aber das Leben selber wollte sich noch nicht einstellen und Peterchen beschränkte sich einstweilen auf die neue Weltanschauung.

Zu Weihnachten fuhr sie nach Hause, fühlte, wie viel sie nun von ihren Angehörigen trennte, und berichtete darüber an Cora.

Die Familie wunderte sich über ihre eigentümlichen Beobachtungen und erfuhr, dass es in der guten Stube kalte und warme Töne gab. Sie redete bei Tisch von den Japanern und verdross Onkel Ferdinand, der doch auch etwas von der Kunst zu wissen glaubte, indem sie weder von Rafael noch von Meissonnier, sondern von lauter Unbekannten sprach. Einmal erschreckte sie auch den guten Vater durch eine freie Äußerung auf moralischem Gebiet. Er zog daraufhin den Onkel zu Rate. Aber der beruhigte ihn mit überlegenem Lächeln: Er war Kenner, hatte auch einmal »gelebt« und sah es jedem Mädchen an, wie weit sie war.

 

Als Peterchen wieder nach München kam, hatte der Karneval schon angefangen. Ihr Debüt war ein Atelierfest in Phantasiekostümen. Sie riss ein Stück ihres grünen Rupfens von der Wand und bekleidete sich. Durchs Haar wand sie natürliche Blumen. Es wurde zwar sehr wild getanzt, aber da der Stil auf dem Programm stand, beschränkten die Faune, Panisken und Waldschrate ihre mythologischen Vorrechte auf künstlerische Andeutungen.

Zuletzt führte Cora Solotänze auf zur Flöte eines am Boden hockenden Jünglings. Man trennte sich um vier Uhr nachts. Es war schön gewesen. Aber eigentlich hatte sich Peterchen den Karneval doch etwas anders gedacht. Man würde alles vergessen, hatte sie gemeint, man würde leben. 54

Diesem Bedürfnis mochte eher der Bauernball entsprechen, zu dem Peterchen sich holländisch kleidete. Der kleine Paul Dühren, den sie bei Cora kennenlernte, gab ihr die Haube und die Nadeln. Von ihrer Zugeherin bekam sie den roten Rock.

Sie ging an Coras Arm durch die festliche Dämmerung des Saals und die Menschenmassen und dann die Treppe hinauf zu den Tischen.

Oben saßen in einer Ecke ein paar Fuhrleute in blauen Kitteln und tranken Sekt. Sie winkten die Mädchen heran, und der größte von ihnen gab Peterchen aus seinem Glase zu trinken. Während sie trank, setzte er sie ganz einfach auf sein Knie, und redete mit den andern. Seine Stimme war ihr unangenehm. Sie sah zu Boden, um nicht dem scharfen Blick seiner Augen zu begegnen. Sie musste immerzu seine Lackschuhe und durchbrochenen Seidenstrümpfe betrachten, die unter den wüsten Fuhrmannshosen elegant und verwundert hervor schauten.

Als er das Gesicht wieder zu ihr wandte und mit ihr sprach, fühlte sie, wie ihr das Blut zu Kopf stieg. Mit einmal hob er sie auf und trug sie die Treppe hinunter in den Tanzsaal. Er tanzte sehr korrekt und leicht und hielt das ganze Peterchen mit drei Fingern fest. Als aber der Tanz zu Ende war, küsste er sie mitten auf den Mund und lachte.

Da lief Peterchen weg, lief in den Nebensaal, setzte sich unter den Maibaum und schämte sich.

»Bist du traurig, Meisje?« fragte der kleine Paul Dühren, der hinzukam.

Sie blickte auf: »Was ist Meisje?«

»Na so heißt Mädchen auf Holländisch, und du bist doch ein holländisches Mädchen!«

Ach ja, sie war eine Holländerin, und es war Karneval und im Karneval brauchte man sich auch nicht zu schämen. Nun wollte sie wieder lustig sein und tanzen.

Sie tanzten zusammen. Sie waren von derselben Größe. Und weil gerade ein Ländler gespielt wurde, legte er ihr die Arme ums Mieder und sie musste die Hände auf seine Schultern legen. Ein strohblonde Strähne fiel ihm beim Tanzen immer wieder auf die Nase. Das war drollig anzusehen. Es war ein lieber Bub.

Sie liefen Arm in Arm ins Bierstübel hinunter. Als sie im Winkel beieinander saßen, lachten und winkten ihnen alle zu, die vorüberkamen. Peterchen musste über alles lachen, was der Kleine vorbrachte. 55

Es kam so kurios bei ihm heraus. Und wenn sie ihm in die Augen sah, wurde er rot.

Sie stellten fest, dass er einen Monat jünger war wie sie; und dann ließen sie sich zusammen photographieren.

Alle Tänze tanzten sie miteinander. Und an den Tischen der Freunde bekamen sie aus einem Glase zu trinken und wurden Brüderlein und Schwesterlein genannt. Sie mussten sich feierlich und öffentlich einen Kuss geben. Dabei wurde wieder das Brüderlein rot.

Die großen Lichter loschen aus. Es spielte nur noch die Bauernkapelle. Man lag unter den Tannen am Boden. Brüderlein hatte seinen Kopf in Peterchens Schoß gelegt, und sie kraute und zauste sein dünnes seidiges Haar.

Dann zog auch die späte Kapelle ab, und man brach auf. In der Garderobe sah Peterchen den Fuhrmann, den Fremden, einer üppigen großen Dachauerin ihren eleganten Abendmantel um die Schultern legen. Er bemerkte Peterchen und nickte nachlässig und von ferne.

Sie kroch traurig in ihr Capes. Brüderlein begleitete sie und wunderte sich, dass sie nicht mehr so lustig war wie vorher. Sie ist wohl nur müde, meinte er und verabredete mit ihr ein Stelldichein im Englischen Garten auf den nächsten Nachmittag. Im Torweg küsste er sie.

Kaum war Peterchen allein auf der Treppe, so kamen ihr die Tränen, und die kleine Wachskerze, die sie vor lauter Traurigkeit schief hielt, weinte mit.

Und weinend schlich sie in ihre Kammer, nahm die Tagdecke vom Diwan, und indem sie sich ihr Bett bereitete, fielen viele Tränen auf die Linnen.

Sie schlief erst ein, als es schon heller Tag war, und träumte von dem Fremden. Er hatte sie im Arm und auf den Knien und sprach mit den anderen. Sie wartete immer, ob er sich nicht umwandte und ihr wieder so ganz frech einen Kuss gäbe mitten auf den Mund.

Und dann kams ihr vor, als stünden vorm Bett seine Lackschuhe, elegant und viel zu spitz, neben ihren Reformstiefeln (schier wie ein Naumburger »Gegenbeispiel« neben seinem »Beispiel«). Aber als sie die Augen rieb war nichts dergleichen mehr da.

Peterchen drehte sich lebensmüde nach der Wand herum und verschlief den ganzen Nachmittag und das Rendezvous mit dem Brüderlein.

Gegen Abend klopfte es. Sie schrak auf: Das war er, der Fremde. Gewiss. Er kam, ihr Gewalt anzutun, kannte kein Mitleid. 56

Es klopfte noch einmal heftiger. Bebend schlich sie an die Tür: Brüderchen stand da mit einem Blumenstrauß.

Peterchen schlich ins Bett zurück. Er setzte sich zu ihr. Die Blumen lagerten auf der Bettdecke. Ihr war, als hätte er sie gepflückt im Garten, auf der Wiese. Und es wäre wieder Sommer und alles gut.

»Wer ist nicht zum Stelldichein gekommen?« fragte das Brüderlein.

»Ich habs verschlafen, ach ich bin krank.«

War sie krank, so durfte er sie hegen und pflegen. Er verstand gelinde zu streicheln und die Tränen von den Wangen zu küssen. Er küsste sie zart auf Augen und Stirn, das arme Schwesterlein.

Und als sie immer noch ein wenig zitterte, legte sich Brüderlein zu ihr und bettete sie an seiner Brust.

Peterchen wurde müder und immer müder. Als sie aber die Augen schloss, fühlte sie wie der Fremde, der Gewaltige, auf ihr kniete und alles mit ihr tat was er wollte.

Und als sie die Augen wieder aufschlug, war das gute Brüderlein bei ihr und war so sanft, dass ihr wieder die Tränen kamen. Er sang ihr Kinderschlaflieder ins Ohr, bis sie eindämmerte. Dann stand er behutsam auf, deckte sie zu, ging an den Spirituskocher und kochte einen linden Tee für das arme Schwesterlein.

 

Bald war es eine ausgemachte Sache, dass die beiden zusammengehörten. Alle fanden sie sehr niedlich. Traf man ihn allein, so fragte man: »Wo ist Peterchen?« Lud man sie ein, so hieß es: »Sie bringen doch ihr Brüderlein mit?«

»Wir passen am Ende ganz gut zusammen«, dachte Peterchen.

Auch für ihr Studium war Brüderlein gut. Er war schon weiter in der Malerei, schon bei den Finessen (und auf die kommt es in der Kunst an) und konnte ihr allerlei beibringen. Sie machte Fortschritte. Der Meister lobte sie.

Nun gingen die beiden auch nicht mehr ins Wirtshaus essen, sondern bereiteten ihre Mahlzeiten auf Peterchens Spirituskocher. Und während sie am Feuer stand, zeichnete sie Brüderlein. Und wollte sie ihn zeichnen, so kochte er.

Es ist am Ende doch gut für mich, das mit Brüderlein, dachte Peterchen. 57

Aber es dauerte nicht lange, so fühlte Peterchen sich recht unwohl. Und einmal wurde sie mitten im Abendakt ohnmächtig. Und in den ersten Frühlingstagen merkte sie, dass sie in der Hoffnung war, und bekam einen großen Schreck. Was werden die zu Hause sagen, wenn gegen Weihnachten statt der Tochter ein Brief ankommt: Ich krieg eben ein Kind, kann nicht heim reisen.

Drei Tage trug sie das Geheimnis still mit sich herum und hoffte immer noch auf eine Wendung des Geschicks. Als die aber ausblieb, sagte sie es eines Abends dem Brüderlein, der sich gerade auf ihrem Bett eine Hose flickte.

Brüderlein dachte einen Augenblick nach und die dünne Strähne fiel ihm auf die Nase. Dann blickte er auf und sagte: »Ja Peterchen, dann bekommen wir eben ein Kind. Das ist gut für dich und mich. Ich hab mir immer ein Kind gewünscht. Und ich sehe nicht ein, warum wir nicht ebensogut Kinder haben sollen wie die Bürger mit ihrer gesetzlich geschützten Liebe.« Und dann setzte er ihr noch viel auseinander über die Frauen und dass alle Frauen Kinder haben müssten und womit das zusammenhinge. Und er meinte, wenn sie beide fleißig wären, würden sie schon für das Kind sorgen können, selbst wenn die Familie sie im Stiche ließe.

So redete Brüderlein, und weil er nichts von Heiraten und dergleichen sagte, so sagte Peterchen auch nichts davon. Denn das wäre gewiss abgeschmackt und bürgerlich gewesen.

Die nächste Zeit sprach er nun immerzu von dem Kind: Wie frei sie es erziehen wollten. Wie natürlich es aufwachsen würde. Wie sie ihm später ohne Prüderie sagen müssten, wie es entstanden wäre, und so weiter und so weiter. Und Brüderlein kaufte Bücher über Mutterschaft und las ihr daraus vor.

Und schließlich konnte sie nicht einen Augenblick mit ihm allein sein, so sprach er davon. Das wurde dem armen Peterchen zu viel, und sie lief oft zur Cora, um nur nicht Brüderleins Vorträge anhören zu müssen. Sie vertraute der Freundin das Geheimnis an.

Cora sagte, sie sollte sich nicht um Brüderlein kümmern, das Kind gehörte der Mutter. Und auf den Vater käme so gut wie nichts an. »Er muss in einem Moment, wo wir Frauen nicht selbstständig handeln können, einsetzen. Und dann könnte er ebensogut verschwinden, sterben, wie so und so viele Tiermännchen in der Zoologie.« 58

Das gefiel Peterchen wohl. Als Brüderlein das nächste Mal wieder von dem ewigen Thema anfing, sagte sie, er sollte sich gefälligst nicht so wichtig machen mit seiner Vaterschaft. Und sie müsste jetzt viel allein sein: das wäre für sie und ihr Kind notwendig. Und sie wollte ein paar Monate allein aufs Land gehn.

Brüderlein hörte sanft zu, ehrte das Bedürfnis nach Einsamkeit und war mit allem einverstanden.

 

So fuhr sie denn eines Morgens mit Koffer, Staffelei und Malkasten nach Schleißheim. Sie mietete beim Schmied eine kleine Kammer, vor der ein Balkon mit Weinlaub war. Fleißig malte sie Birken, Torf und Bauernkinder. Und »Feld mit Bahnkörper« und »Abend im Kiefernwalde«.

Abends wenn sie schlafen ging, war sie müde und ganz glücklich. Sie dachte an die Kunst und das freie Leben in der Sonne mit ihrem Kind. Aber wenn sie morgens aufwachte, war ihr oft zag zumut und sie dachte: Ich bin ein armes Mädchen und allein auf der Welt. Was soll aus mir und meinem Kinde werden? Und traurig schlich sie auf ihren Balkon und sah ins Wasser des Kanals hinunter.

Das Wasser ruhte in Morgensonne. Nur drüben am Wehr sprudelte es ein wenig. Blüten fielen von den Bäumen auf die Straße und das Gras. Die Schuluhr schlug. Die Kinder kamen gelaufen. Flachshaarige Buben tummelten sich. Die kleinen Mädchen saßen nieder ins Gras, streckten ihre braunen Beine ins Wasser und zupften Sternblumen.

Da dachte Peterchen an die eigene Kinderzeit, den Garten daheim und die Straßenjungen am Zaun. Und weiter an all die schlanken Sekundaner und Primaner, die ihr heimlich zusahen, wenn sie malte, und die jungen Leute aus dem Geschäft des Onkels, die ihr gern den Hof gemacht hätten, und an den Lehramtskandidaten zuletzt.

Und nun hatte sie die alle sehr lieb, und es tat ihr leid, dass sie hart gegen sie gewesen war. Aber sie sollten auch bedenken, wie schlecht es ihr seither gegangen mit dem bösen Fremden und dann mit dem Brüderlein, der nicht das große Erlebnis war, und jetzt mit dem Kind, mit dem Kind.

Unter so traurigen Umständen war es doch ganz erfreulich, dass Brüderlein alle Samstag heraus kam zu ihr. Er übernachtete in der Schlosswirtschaft und blieb bis Sonntag Abend. Nun redete er auch 59 nicht mehr so viel von dem Kind, sondern gab nur hübsch auf Peterchen acht, dass sie ordentlich aß und sich Bewegung machte.

An solch einem Sonntag saßen sie beide im Garten vor der Schlosswirtschaft beim Abendbrot. Und während Brüderlein mit der Kellnerin sprach, schaute Peterchen über das Bosket auf die Münchner Chaussee. Da kamen drei Reiter geritten. Das war etwas Außergewöhnliches. Im allgemeinen gab es da nur die vielen Sonntagsradler zu sehen.

Die Reiter kamen näher. Und nun wurde auch Brüderlein aufmerksam, und so konnte er nicht bemerken, wie das Schwesterlein rot und blass und wieder rot wurde.

Denn, der zur Rechten ritt, das war niemand anders als der Fremde. Er kannte Peterchen gleich und nickte ihr zu. Und als die Herren abstiegen und ihre Pferde dem Knecht übergaben, drehte er sich um und winkte mit der Hand, in der er Handschuh und Reitpeitsche hielt.

Das sah Brüderlein und fragte ganz verwundert: »Grüßt der dich? Kennst du den Herrn?«

»Ja.«

»Woher denn?«

»Auch vom Bauerball –«

Und ehe sie weiter erzählen konnte, kam der schreckliche Fremdling mit klirrenden Sporen an ihren Tisch, grüßte Brüderlein mit einer sehr vornehmen und minimalen Neigung des Kopfes und reichte Peterchen die Hand.

»Wie gehts? Sie auch hier draußen?«

Sie wohnte hier, antwortete sie ängstlich.

»Hier gibts wohl viel zu malen?«

»Ja«, sagte Brüderlein und fing an, von Torf und Moos zu reden.

Aber der Fremde kümmerte sich nicht um ihn, sondern sagte zu Peterchen: »Na wenn Sie mal nach München kommen, müssen Sie mich besuchen, aber schreiben sie mir vorher ein Wort.« Er reichte ihr seine Karte, machte dem Brüderlein die gleiche Verbeugung wie vorher und ging zu seinen Freunden ins Herrenstübchen.

»Das ist wohl ein Adliger«, fragte Brüderlein, »er ist so elegant.«

Sie gab ihm die Visitenkarte und sagte mit matter Stimme: »Brüderlein, mir wird so schlecht, ich muss nach Hause.«

Er blickte sie erstaunt an, dann nahm er ihren Arm und führte sie heim. Sie konnte kaum gehen, so schwindlig war ihr. 60

Er legte sie zu Bett, gab ihr Medizinalwein, und als ihr etwas besser wurde, fragte er: »Wie ist das nur gekommen?«

»Ach, ich habe mich so erschrocken, als er mit der Peitsche auf mich zukam.«

»Ja – aber er war doch ganz freundlich –«

»Er sah furchtbar aus, nicht wahr? Ach, wir wollen nicht mehr von ihm sprechen.«

Das hielt auch Brüderlein für geraten. Aber ihr Zustand machte ihm Sorge. Wenn die kleinste Überraschung sie angriff, dann wars am besten, er zog zu ihr aufs Land.

Sie meinte erst, das täte wohl nicht not, und es wäre doch das einzige Mal, dass ihr so etwas zustieß. Aber er hatte ernstliche Bedenken und wollte lieber vorbeugen als abwarten.

Kurz: Am nächsten Tage packte er in München seine Siebensachen und mietete sich in Schleißheim beim Kaufmann ein.

Und es traf sich gut, dass er ganz nahe bei der Stelle, wo Peterchen »Feld mit Bahnkörper« malte, eine Baumgruppe zu malen fand, so dass er von der Arbeit bisweilen nach ihr umschauen konnte. Und wenn sie einen Tag nicht wohl war, setzte er sich an ihr Bett und malte »Bildnisstudie«.

Gab es Einkäufe zu machen, so musste immer Brüderlein nach München fahren. Sie mochte nicht in die Stadt: Ihr war bang vor dem Fremden.

 

Aber einmal an einem heißen Julimorgen dachte sie an die schönen Pfirsiche in dem Obstladen am Münchner Hauptbahnhof. Sie konnte nicht abwarten, dass Brüderlein hinfuhr und ihr welche mitbrachte. Sie wollte gleich selbst hin. Brüderlein wusste aus seinen Büchern, dass Frauen in der Hoffnung solche Gelüste haben, und brachte sie auf die Bahn.

Unterwegs kam ihr der Fremde nicht aus dem Sinn. Sie hatte seine Visitenkarte in der Schoßtasche, öffnete von Zeit zu Zeit den Druckknopf und betrachtete das weiße Blatt:

Hermann Fahlmer
Heßstraße 20 Gartenhaus. 61

Aber dann stellte sie sich geschwind wieder die Pfirsiche im Korb vorm Laden vor, und das Wasser lief ihr im Munde zusammen.

Aus dem Bahnhof ging sie eilig in den Laden und kaufte ein. Aber kaum hatte sie zwei Pfirsiche verzehrt, so dachte sie nur mehr an den Fremden: Hermann war sein Vorname.

Sie ging in das vegetarische Restaurant, um Cora zu treffen, und den Nachmittag mit ihr zu verbringen. Als sie eintrat, war Cora schon fort.

Zwischen Wirsing und Auflauf beschloss sie, nachher zu ihr zu fahren. Cora wohnte in der Georgenstraße am freien Feld. Die Bahn zu ihr fuhr an der Heßstraße vorbei. Davor fürchtete sich Peterchen und ging vorerst in den Hofgarten Kaffee trinken. Sie las die »Jugend« und den »Simplicissimus« und in den »Neuesten« sämtliche Annoncen und sogar das Feuilleton. Von der Theatinerkirche schlug es vier.

Peterchen brach auf und stieg in den Tram. An der Pinakothek musste sie umsteigen. Aber anstatt auf die korrespondierende Bahn zu warten, ging sie schnell und scheu die Heßstraße hinauf, schlich in das Haus Nr. 20, und ehe sie sich besann, hatte sie schon an der Tür des Fremden geschellt. Es dauerte eine Weile, dann wurde am Guckloch geschoben und er selbst machte ihr auf.

»Sie sind es. Das ist ja sehr erfreulich«, sagte er und ließ sie eintreten. Er war ohne Jackett in einem gelbseidenen Hemd.

»Aber«, fuhr er fort, indem er die Tür hinter ihr schloss, »warum haben Sie mir nicht geschrieben?«

Peterchen ließ den Kopf sinken.

»Ja sehen Sie, heut stehe ich nur eine halbe Stunde zu Ihrer Verfügung.« Er bat sie, näher zu treten und führte sie in ein elegantes Studio. Unterm Schreibtisch lag ein weißhaariger Hund. Auf dem Anrichtetisch standen Kuchenschüsseln um ein Samowar.

»Sie erwarten Gäste«, brachte Peterchen hervor, »ich störe –«

»Meine Gäste kommen erst um fünf. Wollen Sie nicht ablegen?

Er legte ihr Jackett über eine Stuhllehne und betrachtete ihren nackten Hals. »Sie sind ordentlich braun gebrannt, Fräulein – wie heißen Sie doch?«

»Else«, sagte sie, sie wollte Petersen sagen, aber es wurde Else.

»Die Arme auch so braun, Fräulein Else«, fragte er, streifte ihren Ärmel langsam hoch und küsste sie auf den Ellbogen. 62

Peterchen seufzte. Er sagte: »Ja, es ist wirklich schade, dass Sie mir nicht vorher geschrieben haben, Else. Warum haben Sie es denn nicht getan, Kind?«

»Ich konnte nicht.«

Er lächelte, setzte sich zu ihr auf den Diwan und küsste ihren Nacken. Dann stand er nervös auf und steckte sich eine Zigarette an.

»Sie sehen müde aus. Wollen Sie sich nicht ein wenig ausstrecken?« Und er bettete sie sorgsam und schob ihr soviel Kissen unter, dass sie wieder Sehnsucht nach Pfirsichen bekam.

Seine Zigarette roch betäubend. Mit lässiger Hand spielte er an ihren Kleidern herum. Aber als er anfing, die Bluse zu öffnen, sagte sie: »Bitte fassen Sie mich nicht an!«

»Warum nicht?«

»Ich – bin nicht schön – ich – bin schwanger.«

Da musste Herr Fahlmer lachen, er nahm das ganze kleine Peterchen in die Arme, trugs im Zimmer herum und küsste es immer wieder und sagte: »So ein Kind, so ein Kind, und kriegt schon ein Kind!«

Eine halbe Minute lang war Peterchen sehr glücklich. Sie schloss die Augen, jetzt konnte er alles mit ihr tun, jetzt wollte sie gern sterben

Aber er trug sie auf den Diwan zurück und steckte sich eine neue Zigarette an.

»Freuen Sie sich denn auf Ihr Kind?« fragte er.

Peterchen lag nun wieder auf den vielen weichen Kissen, und während ihr das Blut an die Schläfen pochte, sagte sie mit wichtiger Miene: »Es ist das einzige, was ich auf der Welt habe. Ich werde mein Kind sehr lieben. Frauen, die nicht Mütter werden, sind halbe Frauen –.« Sie hätte noch weiter so reden können, allein sie bemerkte, dass er nach der Uhr sah. Ach Gott, er wartete ja auf die andere, auf die, die um fünf kam. Schnell stand Peterchen auf und sagte: »Ich muss nun gehen.« Er brachte sie höflich an die Tür und bat sie bald wieder zu kommen. Auf der Treppe fürchtete und hoffte sie der andern zu begegnen. Aber es kam nur ein Milchjunge vorbei.

An der Bahn kaufte sie sich wieder ein paar Pfirsiche und aß sie traurig während der Heimfahrt. »Nun habe ich nur noch mein Kind«, sagte sie sich mit leiser Stimme vor, wie eine Schauspielerin, die ihre Rolle lernt. 63

In Schleißheim ging sie nicht zuerst zu Brüderlein, sondern gleich nach Haus und zu Bett. Und als er zu ihr kam, drehte sie sich nach der Wand um und sagte: »Bitte lass mich schlafen.« – Brüderlein ging diskret in den Mondschein hinaus.

 

Von diesem Tage an fuhr Peterchen nie mehr in die Stadt. Sie lag den ganzen Tag im Birkenwäldchen zwischen den Halmen des abgeblühten Grases. Zum Malen war sie viel zu müde. Wenn Brüderlein kam, nach ihr zu sehen, schickte sie ihn immer bald wieder fort. Jetzt war sie gern allein. Das Moos roch so stark. Oft glaubte sie Hufschlag zu hören. Reiter reiten vorbei, dachte sie. Dann wieder meinte sie, in ihrem Schoß schon den leisen Herzschlag zu vernehmen.

Cora kam bisweilen heraus und lag mit ihr unter den Birken. Sie nahm Peterchen auf die Knie, flocht ihr die braunen Zöpfe auf und machte ihr allerlei neue Frisuren. Und wenn die kleine Jungfermutter sich zärtlich an sie schmiegte, kam sie sich schier vor wie St. Anna selbdritt.

So vergingen die Sommertage ganz glücklich. Nur in den Nächten hatte Peterchen oft Kummer. Sie träumte schlimme Träume von vielen kleinen Kinderleichen, die rings um sie lagen. Wenn sie dann aus dem Schlaf auffuhr, kam das graue Kätzchen des Schmiedes, das jede Nacht in ihre Kammer schlich, zu ihr ins Bett.

Und weil Peterchen es sehr lieb hatte, schenkte ihrs der Schmied zum Andenken, als sie im Herbst in die Stadt heimkehrte.

 

Nun wohnte sie wieder in ihrem kleinen Atelier. Das Kätzchen saß im Fenster, blinzelte in die Sonne und musizierte im Mond.

Sie sollte täglich spazieren gehen, hatte der Arzt verordnet. Darum holte Cora sie nachmittags ab, und die beiden Freundinnen schritten langsam die Vorstadtstraße hinauf. Vor den Spezereiläden blieben sie stehen und an den Zäunen der Krautgärten. Der Landschuhmacher nickte ihnen zu aus seinem Fenster und die Rentamtmannswitwe Merkl unter ihrer Sonnenblume.

Dann kamen sie auf den Feldweg und hinauf zum Wehr an der Schwaige. Dorfkinder spielten im Wasser und zogen ihre Schiffe.

Die beiden Mädchen setzten sich unter die Bäume des Wirtsgartens, fütterten die Hühner und neckten den großen Truthahn, bis er kollerte und mit den Flügeln den Boden kratzte. Und die Gänse wackelten 64 vorbei und gackerten. Sie kamen Peterchen vor wie Frauen, die schon viele Kinder gekriegt haben und denen das alles nichts Neues mehr ist.

Abends auf dem Heimweg begegnete ihnen oft eine schwangere Bürgersfrau. Die sah Peterchen groß ins Gesicht. Und einmal redete sie sie an. Cora stand verlegen daneben. Und als Peterchen nach ihr umsah, bemerkte sie Tränen in ihren Augen.

»Was hast du, Cora?«

»Ach nichts –«

»Warum weinst du?«

»Ach liebes Peterchen«, sagte Cora und küsste sie.

Peterchen musste mit zu ihr und die Nacht bei ihr bleiben. Cora weinte an ihrer Brust: »Ihr, ihr habt doch wenigstens das Leben.« Sie wurde immer zärtlicher und bekam rote Flecken auf den Wangen. Das gefiel Peterchen gar nicht. Sie schlich früh fort, während die andere noch schlief.

Doch auch zu Hause wurde sie nicht lang allein gelassen. Brüderlein kam mit Blumen. Er war in gedrückter Stimmung. Gestern hatte er kein Licht bei ihr gesehen. Aber er wagte nichts zu sagen und ging bald wieder fort in die Pinakothek, kopieren, um Geld zu verdienen.

Peterchen dachte nun auch viel an die Zukunft und ans Verdienen. Sie bekam durch den Meister Empfehlungen und Aufträge und zeichnete Plakate auf dem kleinen Pult am Fenster.

In den ersten Oktobertagen entwarf sie zu wiederholten Malen den Brief, den sie demnächst nach Hause schreiben musste. Sie wollte darin ihr Recht auf freie Mutterschaft betonen und erklären, dass sie sich wohl imstande fühlte, selbst für sich und ihr Kind zu arbeiten, wenn man ihr etwa die Mittel verweigerte. Um Mitleid und Gnade brauchte sie nicht zu bitten.

Sie war auf alles gefasst, und der Gedanke an Sorge und Arbeit tat ihr wohl.

 

Aber es kam anders, als sie erwartet hatte. Nach den milden Herbsttagen gab es auf einmal Sturm. Mitten in der Nacht wurde Peterchen von großen Schmerzen wach. Am Morgen kam der Arzt und machte ein besorgtes Gesicht. Es waren noch keine sieben Monate. Peterchen lag zwei Tage lang in Fieberphantasien: Sie hatten sie zu Hause eingesperrt. Onkel Ferdinand hielt an der Tür Wache und besah, um die Zeit zu 65 verbringen, ein Album Meisterwerke der Malerei. Sie aber wartete am Fenster auf den Fremden, der kommen musste, sie zu erretten –. So oft die Wehen kamen hörte sie Hufschlag.

Und dann an einem Regenmorgen bekam sie ein winziges Kind. Es atmete kaum. Es war ein Mädchen. Die Hebamme gab Brüderlein ein Läppchen mit Zuckerseim. Das sollte er dem Kind um den Mund streichen. Er saß den ganzen Tag vor den beiden Kissen, auf die das neue Geschöpf gebettet war und fuhr ihm vorsichtig mit dem Lebensläppchen über die Lippen. Peterchen sah ihm von ihrem Schmerzensbett zu. Und hatte ihn recht lieb, zum ersten und letzten Mal. Sie war so schwach. Sie wollte aber doch wach bleiben. Sonst stirbt das Kind, dachte sie. Allein sie konnte die Augen nicht aufbehalten.

Als sie erwachte, war das Kind schon fort. Sie weinte, weil man es ihr nicht mehr zeigen wollte, und bekam Schlafmittel, die sie wieder einwiegten.

 

In der nächsten Zeit war der Arzt sehr zufrieden mit ihrem Zustand. Aber Peterchen war kaum ein wenig zu Kräften gekommen, so wurde sie recht unglücklich. Denn nun war sie bis zum Dezember sicher wieder ganz gesund und konnte ruhig nach Hause fahren. Umsonst hatte sie den schönen mutigen Brief entworfen. Nun hatte sie nicht einmal ein Frauenschicksal.

Eigentlich blieb ihr nichts übrig, als eine große Künstlerin zu werden. Sobald sie wieder aufstehn konnte, ging sie in die Malschule und malte etwas wilder und nicht mehr so genau. Aber der Meister machte ihr Vorwürfe und erinnerte sie an ihre früheren Arbeiten, die so »sauber ausgeführt« waren.

Dem Brüderlein ging Peterchens Schwermut zu Herzen. Er sann und sann, ob es da keine Hilfe gäbe. Und schließlich glaubte er es gefunden zu haben, kam zu ihr und sagte: »Peterchen, wollen wir heiraten?«

Sie sah ihn verwundert an: »Warum denn?« Die Strähne fiel ihm auf die Nase und er meinte: »Ich dachte, dann bekommen wir am Ende ein richtiges Kind.«

Da lachte Peterchen zum ersten Mal seit langer Zeit und schickte ihn fort. Und schrieb noch denselben Abend an den Fremden, der sich während ihres Wochenbetts nach ihrem Befinden erkundigt hatte. Sie lud ihn zum Tee ein. 66

Herr Fahlmer erschien im Gehrock und hatte ein riesiges Rosenbukett in der Hand. Er sah sich nach einem Platz dafür um und legte es schließlich auf den Kochofen neben das Mundglas, in dem Peterchens kleine Zahnbürste stak.

Sie lud ihn ein, Platz zu nehmen. Er betrachtete die Sitzgelegenheiten. Auf allen lagen Gegenstände. Blieb nur das Bett übrig. Er zog es vor, herum zu gehen, und ihre Skizzen zu betrachten. Sie konnte ihn dabei über allerlei belehren. Denn von Malerei verstand er nichts.

Aber ihm wars zu eng im Raum. Und als er seine Tasse ausgetrunken hatte, schlug er vor: »Wollen wir nicht ein bisschen spazieren fahren? Es ist so schönes klares Wetter.«

Nun hatte Peterchen nichts Rechtes anzuziehen. Sie bastelte verschämt an allerlei Fetzen herum, nähte an einem grünen Rock, stopfte an einer lila Bluse. Die war eigentlich zu dünn, aber sie hatte nichts Besseres. Dann garnierte sie geschwind einen Hut. Und als der keine rechte Form annehmen wollte, langte Herr Fahlmer zwei Seidenbänder aus der Schublade und wand sie ihr so um Krempe und Kinn, dass etwas wie eine Babykapuze daraus wurde. Um den Hals legte sie eine Muschelkette. Sie wollte erst eine aus bunten Steinen nehmen. Aber der Fremde, der ja nichts von Kunst verstand, meinte, die Muscheln gingen noch eher.

Über diesen Zurüstungen war es gegen sieben Uhr geworden. Und als ihr Wagen in den Englischen Garten kam, war schon Nacht unter den Bäumen. Hinter dem Kleinhesseloher See küsste der Fremde sie auf den Mund; worauf sie an seine Brust sank und längere Zeit in dieser Stellung verharrte, was er ritterlich ertrug.

Sie fuhren in die Stadt zurück und hielten vor der Bar. Daselbst speiste der Fremde Peterchen reichlich mit guten Dingen als: Mocturtlesuppe, Hummer, Spargel. Anfangs genierte sie sich ein wenig, dann langte sie brav zu. Er betrachtete sie gerührt und etwas gönnerhaft.

Nach dem Tischwein ließ er einen herben Sekt kommen. Von dem wurde ihr eigen zumute: Gar nicht verschwommen, wie sie gefürchtet hatte, sondern so, dass sie »ihr ganzes Leben klar übersah«, wie sie sich ausdrückte: Ja, sie hatte das Brüderlein nur um des Kindes willen geliebt. Nun war sie frei. Nun wollte sie keine Hilfskonstruktionen mehr machen. Sie wollte das Leben selber leben.

»Was ist denn das, das Leben selber?« fragte der Fremde. 67

Wusste er es auch nicht? Peterchen senkte traurig den Kopf und trank mit Tränen das Sektglas leer.

Die Unterhaltung stockte. Schweigend sah sie ihm zu, wie er aus einer Saffiantasche eine gewaltige Havanna holte und dazu einen silbernen Apparat, mit dem seine gepflegten Hände ein Loch in die Zigarre bohrten. –

Und wieder saßen sie in einem Wagen. Und als er sie fester in seine Arme schloss, sagte Peterchen:

»Sie können das vielleicht nicht verstehen. Aber ich, ich habe immer so viel Sehnsucht nach dem Leben gehabt. Als ich ein kleines Kind war, gingen die älteren Schwestern mit mir zum Jahrmarkt vor die Stadt. Sie würfelten in den Buden und kauften Naschereien. Da war auch eine bunte Bude, in der wurde Theater gespielt. Der Eintritt kostete fünfzig Pfennig, und so viel hatten wir nicht. Da gingen wir immer hinten herum an den Zaun und sahen durch die Ritze: Da sah man ein bisschen von den Schauspielern und die Musik konnte man ganz hören. Das nannten wir: Plankenbillett –.«

Peterchen schluchzte und konnte nicht weiter erzählen. Er versuchte sie zu trösten. Als der Wagen vor ihrem Haus hielt, wollte er ihn weiter fahren lassen zu sich: So konnte er sie doch nicht allein lassen – und außerdem war sie wirklich sehr niedlich.

Aber Peterchen schüttelte energisch den Kopf, stieg aus und ging Tränen trocknend ihre vier Stiegen allein hinauf.

 

Als sie nun in ihrem Zimmer stand und bei Kerzenschein den Eukalyptuszweig über ihrem Bett sah und das grüne Tuch vorm Schrank und den Rupfen dahinter und den guten verdrossenen Beethoven an der anderen Wand und das Kätzchen auf dem Fensterbrett im Mond, da wurde ihr mit einmal gut ums Herz. Sie verteilte die frischen Rosen in allerlei Gläser und Vasen, hing ihre Muschelkette an den Nagel, steckte den Spirituskocher an und sah still in die blaue Flamme.

 

Und seitdem ist Peterchen anders geworden.

Sie pflegt ihre Blumen. Im Sommer schwimmen Moosgeflechte und Feldblüten in ihrer Waschschüssel. Und das Zimmer duftet wie eine Wiese am Wasser. Im Winter hat sie Zweige mit roten Beeren in den Gläsern, Mimosen und welke Herbstblätter; und es riecht nach Mandarinenschalen. 68

Wenn es sehr kalt ist und der kleine Ofen nicht mehr genug heizt und draußen die Wasserleitung einfriert, dann ist Peterchen freilich traurig und krümmt sich in Decken und Mäntel gewickelt auf ihrem Schlafdiwan.

Aber am Nachmittag kommen Gäste. Dann wirds wärmer. Man trinkt Tee und isst Kuchen mit Schubladengeschmack.

Mit Peterchens Kunst geht es auch ganz gut weiter. Sie macht jedes Jahr einen kleinen Fortschritt, hat bereits zweimal ausgestellt und ein Porträt verkauft.

Ob sie inzwischen das Leben selber erfahren hat, ja, das weiß ich nicht. 69



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