Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Und es kam Doktor Herzfeld vor, als ob er kaum geschlafen, als er hoch fuhr. Er hatte gerade eine lange Geschichte geträumt, deren intrigenreicher Anfang sich für ihn ins Wesenlose verlor. Sie war ihm nur so weit noch erinnerlich, daß Frau Roggemann mit drei blaugeschürzten Männern, die er nicht kannte – aber er kannte sie eigentlich doch: sie waren die Leute der Teppichreinigungskompagnie »Clarissa«, fein sahen sie nicht aus ... üble Burschen ... einer hatte nur ein Auge und keine Vorderzähne unter dem hängenden ausgefransten Schnauzbart – daß also dieses Quartett trotz seines Protestes alle seine Teppiche aus allen seinen Zimmern geschleift hatte: ... sie müßten geklopft werden!

Um das Teppichklopfen war ein steter Kampf mit Frau Roggemann. Sie war der Meinung, daß es der Lebenssinn eines Teppichs wäre, geklopft zu werden. Er müßte mindestens jede Woche zweimal heruntergezerrt, über eine Stange gelegt und verdroschen werden. Sie sah ihn nur von dieser Seite aus und erkannte ihm keine andere Bestimmung zu, während er der Frau Roggemann hundertmal zu erklären versucht hatte, daß man vielleicht einen Smyrna klopfen könne, – da wäre nichts mehr zu verderben, – aber keine Kula und Täbris und alte Sumaks. Die bürste man – und auch das nicht.

Aber all sein Protest hatte diesesmal nichts genützt. Ja, er hatte sich sogar in den Weg gestellt, schreiend, es wären seine Teppiche, und er hätte darüber zu bestimmen. Sie hatten ihn zur Seite gestoßen und waren mit ganzen Ballen von Teppichen – viel mehr als er besaß – herunter gezogen, um mit Stöcken und Instrumenten seltsamer Art wie Narrenpritschen auf die entrollten Farbenspiele loszuprügeln, daß nur so die kostbaren Fetzen herumflogen, und daß straßenweit ihr taktmäßiges bum bam, bum bam schallte.

Und als Doktor Herzfeld davon aufgewacht war, da hatte das Klopfen gar nicht aufhören wollen, und Frau Roggemann hatte gerufen: »Herr Doktor bum bum, Sie müssen aufstehen, bum bum ... der Kaffee ist gleich fertig bum bum ... ich muß auch noch Ihre Waschsachen in Ihren Koffer packen, bum bum.«

Und Doktor Herzfeld hatte sich hochgesetzt und sich gesagt, daß die Roggemann doch eine ganz niederträchtige Person wäre mit ihrem gemeinen Teppichklopfen ... bis ihm langsam aufdämmerte, daß sie vielleicht gar nicht Teppiche klopfte, sondern gegen die Tür bummerte, um ihn zu wecken.

Und er hatte sich gefragt, warum er in aller Welt denn heute bei tiefer Dunkelheit den Kaffee trinken müsse, und was seine Waschsachen nun eigentlich in einem Koffer sollten, da sie ja auf dem Waschtisch drüben sich ganz wohl zu fühlen schienen? Warum er eigentlich schon vollkommen angezogen wäre, da er doch sich gestern sicherlich ausgezogen hätte? Und, warum er jetzt auf dem Chaiselongue säße mit einer Reisedecke über den Beinen, da er von Rechts wegen doch im Bett liegen müsse? Und aus welchem Grunde die Zentralheizung so sänge und schnurgelte? Bis ihm langsam alles, auch alles zurückkam von gestern, und daß er ja heute früh abreisen müsse, und daß die Zentralheizung so sänge und schnurgelte, weil sie wohl anhübe, sich auf ihre eigentliche Bestimmung zu besinnen ... es war schon beinah warm wieder im Zimmer.

Und er hatte sich gewaschen und war herüber gegangen.

Das Eckzimmer lag im Morgengrauen, und vor den breiten, vielgeteilten Fenstern hingen wie in einem Rahmen die gesenkten Zweige der beiden Kiefern, der letzten klagenden Reste des ehemaligen Waldes, schneegepudert, schneebekrustet mit ihren starren, wulstigen Formen, leicht angerötet von den Strahlen einer sich erhebenden, tief orangefarbenen Sonne, die wie eine durchschnittene Blutapfelsine hinten über die Bäume der Gärten sich emporschob. Es hatte das etwas von einem billigen modernen Japandruck, wie sie in den Vestibülen der Pensionen hängen, letzte aufdringliche, geschmäcklerische Reste einer alten kultivierten Schönheit. Der Himmel war zwar nicht mehr klar, wie ihn gestern der Mond sich gefegt hatte – es gab schon wieder Wolken, viele Wolken, einzelne Gruppen, ja ganze Herden; es gab schon wieder Nebelfetzen – aber hinten, wo die Sonne aufging, war er doch ganz klar, als ob die Sonne sich gesagt hätte: ich will wenigstens Platz zum Aufgehen haben; was nach mir kommt, ist mir gleich, da kann der Himmel voll hängen, daß meinethalben mittags um zwölf die Laternen angesteckt werden müssen, – aber ich will wenigstens einmal mich gezeigt haben; man soll mir nicht nachsagen; daß ich etwa am 28. November 1916 vergessen hätte, aufzugehen, und mich den ganzen lieben, langen Tag überhaupt nicht um Berlin gekümmert hätte, ... wenn es das auch verdient hätte.

Frau Roggemann hatte ein Gutes: sie fand sich mit Tatsachen ab und sprach nicht viel. Sie war nicht wieder schlafen gegangen. Sie hatte die Zimmer aufgeräumt. Sie hatte gepackt. Sie hatte schnell noch etwas gekocht, um es mitgeben zu können. Sie hatte Frühstück gemacht. Sie hatte Doktor Herzfeld zur Zeit geweckt; – wenn er nicht gleich aufgestanden war, dafür konnte sie nichts. Sie hatte angerufen, um einen Wagen zu bestellen. Sie hatte weder gefragt – noch tat sie es jetzt, wohin die Reise ginge, weshalb sie unternommen würde, oder auf wie lange Zeit es geschähe. Sie wußte, daß Herrschaften es sich erlauben können, etwas komisch zu sein, und daß es das Richtigste sei, sie gewähren zu lassen. Und außerdem war Frau Roggemann nicht für überflüssige Sentimentalitäten zu haben. Sie tat ihre Pflicht – liebte sogar irgendwie ihre Arbeit – aber Leben, Wollen und Streben dieser Leute ging sie nach einem ihrer Lieblingsworte einen Dreck an.

Doktor Herzfeld sah auf die Uhr. Langsam war die Sonne ins Zimmer gekrochen mit ein paar ersten, bescheidenen, rotgelben Streifen durch die Schneezweige draußen. Es lohnte kaum noch, sich hinzusetzen. Dabei hatte Frau Roggemann ihm ganz angenehm aufgedeckt, einen Frühstückstisch mit Porzellankanne und dampfender Tasse, mit Eiern und Butter und Brot unter der alten, goldenen Greifenampel. ›Es sieht mit seinem goldroten Sonnenfleck auf der Kanne aus wie ein billiges Stilleben aus der »Jugend« um 1900,‹ sagte sich Doktor Herzfeld. ›Wo ist die Zeit hin, da man so etwas restlos schön fand. – Merkwürdig, draußen ist immer noch Krieg. Und diese beiden armen Jungen; auch da hat sich nichts geändert. Nur die guten Dinge sind am nächsten Morgen nicht wahr, die hat man immer geträumt. Die schlechten bleiben. Doktor Herzfeld ging, die Tasse in der Hand, im Zimmer auf und nieder und blieb mal hier, mal dort mit seinen Blicken hängen. Er kannte das, es war ihm stets schwer, Abschied zu nehmen; er wußte es, überall anders war die Welt kalt, nirgends würde er so ein warmes Zimmer finden; wenn er dort in seinem alten Mahagonisessel saß vor dem runden Tisch mit der blanken Platte, in der sich die goldene Greifenkrone spiegelte, war der Kreis seines Lebens geschlossen, – und doch trieb's ihn fort, er mußte ja fort, die schwarze Katze spielte wieder mit ihm.

Es war ihm, als ob er all das nie wieder sehen sollte: diese Welt, die sein Eigen war, die er sich ganz allein zusammengebaut, von der jegliches Ding nur einmal bestand, mit ihm gleichsam stand und fiel, an der er mit zärtlicher Inbrunst hing, um die er geworben hatte, und die so langsam Stück für Stück mit ihm verwachsen war, daß es ihm schwer wurde, sie aus seinem Leben fortzudenken. Jedes war an einem bestimmten Tag in seinem Kreis aufgetaucht, hatte seine Stelle gefunden, sich eingefügt, und es war dann gewesen, als ob es nie wo anders sich befunden, und nie mehr wo anders hingehen dürfe; ... und doch waren es alles nur geliehene Güter, die durch Jahrhunderte fort immer einer dem anderen gereicht hatte. Wie alte Bücher in Bibliotheken, die auf dem Vorderblatt ganze Reihen von einstigen Besitzernamen tragen, so trug auch jedes unsichtbar ganze Reihen von Namen ... von Wohnungen und Werkstätten waren sie auf Auktionen ... von Auktionen zu Trödlern ... von Trödlern zu Wohnungen gewandert und wieder so fort ... von Reich zu Arm und von Arm zu Reich. Da diese Utamaros mit ihren Farben überzüchteter Chrysanthemen, mit den haarschweren Köpfen auf den überschlanken Hälsen, nur Rhythmus in jeder Linie des Körpers bis in die letzte Falte der geblümten Gewandung: Sie waren einst Mädchen der grünen Häuser am Sumidaflusse, ewig lächelnde, käufliche Anmut, die niemand gehörte, die sich jedem gab, erfahren im Spiel der Liebe, im Gospiel, im Fingerraten, im Spiel des Witzes, im Spiel auf der Schamise und in den kleinen Verschen von Mond, Ahornblättern auf dem Weg, Bambus im Schnee, die die Lyrik ihres Landes sind, und deren Melancholie und Musik sie sich hingaben; – und sie werden es bleiben: ewig lächelnde, käufliche Anmut, die sich ebenso dem nächsten geben wird. Und doch hängt man daran so, als ob man sie nie verlieren könnte. Japonnaisery for ever! ... »Erst komme ich ... dann kommen die Dinge ... dann kommen die anderen« ... das war Doktor Herzfelds Wahlspruch, den er sich gern vorsprach.

Da oben die alten Onkel und Tanten, die Großväter und Urgroßväter ... es waren alles für damals reiche Leute, die sich malen ließen, in Seidenmiedern und Schals, mit Lockenbauten und Malachitschmuck, in Vatermördern und Jabots, mit blauen und grünen Spenzern, mit gepuderten Haaren und genialisch wirren Haarstrudeln, mit Koteletten und Ziegenbärtchen – malen ließen gleich familien- und generationsweise, alle einander ähnlich, gewißlich sehr unproblematisch, – und doch jeder irgendwie ein ganzer Kerl ... klug oder beschränkt, spöttisch, fein, mild, oder eisern und unausstehlich, ... aber irgendwie ein ganzer Mensch, anders wie diese Wassersuppen von heute, selbst wenn sie gelbe Migränegesichter hatten wie der da oben: der Urgroßvater.

Nein, nach ihm würde keiner mehr sie befragen, keiner mehr zu ihnen persönliche Beziehungen haben. Ja, da war sie – die ganze Gesellschaft. Die Sonne hatte jetzt die Wand hell gemacht und es schien, als ob sie alle die Augen aufschlugen. Sie füllten sich gleichsam zusehends mit Schein und Licht unter ihren Strahlen, fanden plötzlich den über Nacht verlorenen Sinn ihrer Leben wieder.

Doktor Herzfeld hatte es sich angewöhnt, sie an seinem Dasein teilhaben zu lassen, sie als eine höhere Instanz anzuerkennen, trotzdem er sie nie gekannt hatte und fast nichts von ihnen wußte. Irgendwie waren sie ihm sein klügeres, leidenschaftsloses Ich. Er liebte es, sie mit den Augen zu befragen bei vielen Dingen und erwartete Billigung und Mißbilligung von ihnen.

Und so sah er sie auch jetzt an, einen nach dem anderen, junge Frauen, halbe Kinder noch; alte, würdige, faltenreiche Herren: Großväter von Profession, – sie konnten nie etwas anderes getan haben, als Enkel auf den Knien reiten lassen, von frühester Jugend an; Männer mit schmalen aber sinnlichen Mündern und ganz hohen Stirnen wie Schriftsteller, die sicherlich nie mehr als einen Geschäftsbrief, eine Tratte oder ein Rezept dabei geschrieben hatten. Doktor Herzfeld sah sie fast ängstlich an, als ob er von ihnen einen letzten Rat erhoffe, eine Mißbilligung vielleicht, – nun, leicht war es ihm wahrlich nicht, fortzugehen; aber jeder erwiderte seinen Blick, jeder hielt ihn aus, keiner zuckte mit einer Wimper; und jeder schien auch irgend etwas zu sagen ... Und doch gab keiner dem Blick deutbare Worte; selbst die Frauen, selbst Tante Philippine, die immer lächelte sonst, – sie war ein etwas leichtes Tuch gewesen, und ob dieser Unerhörtheit inmitten der gefrorenen bürgerlichen Wohlanständigkeit, lächerte es sie wohl heute noch – Tante Philippine sogar war heute ganz kühl, von oben herab, undeutbar in sich verschlossen.

»A la joie de ne vous revoir jamais,« schoß es Doktor Herzfeld plötzlich durch den Kopf. Das hatte ihm seine Mutter einmal erzählt. 1870, im anderen Krieg, da hatte es ein verwundeter französischer Gefangener hier in der Charité beim Abschied seinen Pflegern zugerufen, während er ihnen immer wieder zärtlich die Hand schüttelte und jene glaubten, daß er ihnen gerührt Dank für ihre Güte sage. »A la joie de ne vous revoir jamais, messieurs!« Unsinn – warum sollte er nicht wiederkommen?! Ach, ja, der Brief an diesen armen Teufel, den Gutzeit, mußte ja noch fort. Er würde ihn gleich mitnehmen. Wie still und tot hinten draußen der Bahnkörper war, mit seinen schwarzen Schienengeflechten im Schnee! Wo waren die Lichter von gestern abend hin, all die bunten, roten, grünen und gelben Signale? wo die kleinen frechen Monde in der Höhe? sie mußten doch noch da sein! Aber sie waren wie verschluckt,– man sah sie gar nicht. Fast alles war leer, weit und breit, nur irgendwo waren ein paar Güterwagen stehen geblieben, als ob man sie vergessen hätte, und da drüben stand noch ein kleines Rudel beschneiter Loren beieinander, ballte sich ineinander, steckte die Köpfe zusammen wie Pußtapferde bei Schneewehen. Alle Lokomotiven waren fortgegangen ... frühstücken in ihre Kantinen, hinten nach dem großen, runden Schuppen hin, wo sie sich von der Nachtarbeit tagsüber ausruhten. Und von all den brüllenden Laternenschwenkern, die liefen und auf die Trittbretter der fahrenden Wagen sprangen, sich an die Puffer klammerten, zwischen die Räder sich stürzten, wenn sie noch kaum standen, war nicht einer geblieben. – Nur ein Mann mit roter Siegellackmütze ging einsam und gelangweilt quer über die Schienen fort, ohne nach rechts und links zu sehen. In dem Bahnteil kamen jetzt keine Züge.

Frau Roggemann erschien mit seinem Mantel und sagte, daß der Wagen schon warte.

Ob sie Geld hätte ... ja ... schön! Aber das wäre nicht genug ... Hier! – Doktor Herzfeld schrieb einen Scheck – sie solle sich das holen, sie wisse ja, wo, und ihm Rechnung legen, wenn er wiederkäme. Seine Adresse würde er ihr schreiben. Sie müsse sie gleich der Post sagen. Solange solle sie die Briefe lagern lassen ... oder er würde sie selbst der Post mitteilen ...

Doktor Herzfeld sah sich noch einmal um im Herausgehen ... da war die Etagere mit den geschnitzten Widderköpfen, und da die große Bronze, das chinesische Rauchergefäß, alt, bauchig und vergrünt; und auf dem Schreibtisch hockte sein Buddha mit dem runden klugen Kopf und dem feisten vorgewölbten Leib ... lebwohl alter Bursche! ...

Der Wagen – eine uralte, halboffene, lederduftende Droschke mit roten abgewetzten Plüschbezügen, ... die man bei Kriegsbeginn aus irgendeinem armseligen Versteck, wo sie schon jahrzehntelang vermorscht und vermottet war, gezogen hatte, stand melancholisch auf der weißfleckigen, leichtgefrorenen Straße unter den Bäumen, und vor ihr schlief ein uraltes, rippendürres, mattes Bräunchen – das seit über zwei Jahren kein Haferkorn mehr gesehen hatte, und das sicher schon zu Glasbrenners Zeiten die Witze aller Schusterjungen und Eckensteher herausgefordert hatte – (oder war das seine Mutter gewesen?). Und nur ein wenig eingeengt durch den Koffer, thronte halbschräg auf seinem Fuhrsitz mit einem richtigen Lackzylinder ein uralter Weißkopf von Kutscher mit einem tomatenroten Gesicht, in dem wie ein Stiefmütterchen eine blauviolette Nase stand. Seit den Jahrzehnten des Chauffeurs hatte man so etwas nicht mehr gesehen – er war wie aus einer alten Berliner Posse auferstanden. Doktor Herzfeld wurde ordentlich warm zumut: das war seine Jugend: – so hielten sie Reihenlang oben in der Heiligengeiststraße, wenn ihn die Mutter hinten am Schlafittchen hielt, und er auf dem Fensterbrett stand und mit den Händen sich gegen die Scheiben stützte und auf die Straße sah, mit diesen Händen da, die damals nicht größer waren, als nun sein kleiner Finger ist ... »herüber ging von einem kleinen Kind – mir wie ein Hund, unheimlich stumm und fremd ...«

»Na, Kutscherkin, so früh schon auf?!« fragte Doktor Herzfeld.

»Ick bin noch von de Nachttour, seit jestern um achte,« sagte der Kutscher, ohne sich zu regen.

»Und wird denn das Tierchen das noch machen können? – bis nach dem Anhalter Bahnhof?« meinte Doktor Herzfeld mitleidig; er stand schon mit einem Fuß auf dem wippenden Trittbrett, er wäre umgekehrt, wenn der Kutscher es verneint hätte.

»Der muß nachher noch bis nach Pankow,« meinte der Kutscher und reckte sich halb beleidigt auf.

»Ach Jott!« rief Doktor Herzfeld, es tat ihm weh: solch ein armes Schindluderchen!

»Dafor is er Pferd,« meinte der weißköpfige Kutscher, ernst und würdig und mit philosophischer Überlegenheit, zog die Zügel an und schnalzte etwas mit der Zunge, um Doktor Herzfeld zu beweisen, daß die Weltordnung nun einmal so und nicht anders wäre; wenn man einmal als Pferd geboren, hätte man auch die Konsequenzen zu ziehen, ebenso wie man das als Mensch, Soldat, Dienstmädchen, Schuster oder Droschenkutscher müßte.

Und das Pferd zog auch die Konsequenzen – aber es zog sie sehr langsam. Schritt vor Schritt, ein Bein vors andere. Es war alt und müde, und gegen seine Natur tat es nichts. Und der tomatenfarbige Kutscher forderte auch nicht mehr von ihm. Endlich war er selbst alt und hatte für Brüchigkeiten vollstes Verständnis. Und Doktor Herzfeld ebenso. Sollte das Tierchen ruhig sich Zeit lassen, zu spät zum Zug würde er deshalb noch nicht kommen.

Komisch, wie das Rollen von Rädern, jedes Gleiten mit rhythmischen Geräuschen, jede Fortbewegung ohne unser Zutun sogleich unser Denken ankurbelt, die Mühle gehen heißt, unsere Gedanken ineinander koppelt zu einer fortlaufenden Kette, Erinnerungen mit Beobachtungen, Beobachtungen mit Träumereien, Träumereien mit Witzworten, Witzworte mit Versen verbindet. Plötzlich ist der Anfang eines Gedichts da, zwei, drei Zeilen. Sie tauchen auf und verschweben, nur um einem Vergleich, der uns neuartig erscheint, Raum zu geben, ... der auch nur wieder von den acht Tönen eines Motivs, das uns aus irgendeinem Konzert im Ohr hängen blieb, abgelöst wird.

Der Fahrdamm war leicht gefroren unter seiner dünnen Schneedecke, und es klang, als ob die Erde darunter hohl wäre, und als ob es über Bohlen ging. Ab und zu, wenn die Hufe eine dünne Eisdecke einer unter der Schneedecke versteckten Pfütze durchschlugen, klirrte und splitterte es wie mit einem hohen, kichernden Gelächter. Die Sonne hatte schon wieder abgedankt, wie ein Monarch, dem die Sache zu dumm geworden war: mochten die Schneewolken sich am Himmel da oben herumzanken, miteinander balgen, und ineinander sich verbeißen, soviel sie wollten, sie war beiseite gegangen; sollte ein anderer da Ordnung hineinbringen! Die Villen standen noch griesgrämig und verschlafen, sie wachen erst um elf Uhr auf. Ihre Dächer waren wie Kaffeekuchen ein bißchen mit Streuzucker gepudert. Und die Gärten um die Häuser versuchten sich mit bescheidenen Mitteln in Schneelandschaften, kamen aber über ein unbehagliches Frösteln nicht hinaus, brachten es nicht viel weiter als zu ein paar Schneeflocken in den Astgabeln ihrer Bäume und zu ein paar dünnen und löcherigen Auflagen in den Wegrändern, auf dem Rasen, unter den Balkonen und auf den Hainbuchhecken an den Zäunen. Nur wo noch von alters her in ihnen Kiefern standen, auf denen sich der nasse Schnee voll und wattig-weich festgesetzt hatte, oder wo es Tannen und fremdländische Koniferen gab mit hängenden Wedeln, auf denen der Schnee sich schwer und gewichtig niedergelassen hatte, da war schon voller und richtiger Winter.

Und plötzlich kam ein Stück Wald zwischen all den Gärten, echter alter, unerschlossener Kiefernwald noch, der seit bald zwanzig Jahren aus irgendwelchen Gründen seine Käufer nicht gefunden hatte und nicht in gärtnerische Anlagen umgerodet worden war, und der nun wie ein letzter, lebendiger Rest einer vergangenen Zeit sich hier aufbewahrte. Und dieses schmale Waldstück war ganz eingesponnen in Schnee, der in freischwebenden Brücken von Ast zu Ast, von Baum zu Baum sich schwang, der die Windseite der Stämme ganz dick verpelzt hatte und der selbst am Boden kaum von den vergilbten Farrenwedeln unterbrochen wurde. Hier war nichts verloren gegangen, zu Wasser geworden, verweht worden, jede Flocke des ganzen gestrigen Tages und der Nacht hatte sich hier bewahrt und zueinandergefügt bis das Bild fertig dastand. Und zwischen dem beschneiten Waldstück durch die Stämme hindurch winterte die Wasserfläche eines Sees, schob sich die langgeschwungene Kurve seines Ufers.

Doktor Herzfeld schaute auf. Der Wagen ruckelte irgendwie, und das hatte ihn geweckt. Er war in Gedanken weit ab gewesen, hatte wieder nur auf dieses dumpfe und geheime Sausen gelauscht, das durch die Welt lief, – und plötzlich kam es ihm zum Bewußtsein: dieses Stück Wald da war ja seine ganze Jugend, das waren über dreißig Jahre seines Lebens und weit darüber hinaus. Wie war er damit verwachsen und verbrüdert, mit diesen toten, kiefernstarren Strecken hier draußen und mit den dunklen Seen dazwischen, die von dem Amphitheater ansteigender Kronen umrahmt waren; an dieser Armut hing er mit allen Fasern, ein nordischer, karger, harter Mensch wie er eigentlich von Hause her war, ... trotz seiner Mittelmeerseele. Sie hatte ihn durch ein ganzes Menschenleben begleitet, diese Armut hier, und er hatte sich immer wieder zu ihr zurückgeflüchtet.

Welch ein Komplex von Erinnerungen! Die frühesten lagen vierzig Jahre und länger zurück. Er kannte hier in diesen weiten Waldstrecken mit ihren Seen und den hohen Havelufern über dem träge schleichenden Wasser, oh, hier kannte er jeden Weg, liebte die melancholischen Schönheiten, längst bevor Leistikow seine großzügigen Formeln dafür gefunden hatte, hatte jede Veränderung, jeden neuen Pulsschlag mit ihnen mitgespürt.

›Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich hier im Gras mich gelagert habe, botanisierend, Käfer und Schmetterlinge sammelnd, mit Jugendfreunden, die mir längst abhanden gekommen sind, und von denen sich später jeder irgendwo anders im Wald der Welt verirrt hat.

Hier habe ich meine ersten, schweren Ungewißheiten verweint, und hier haben sich mir zum erstenmal, während die grünen Sterne über den Kiefern zaghaft aufblitzten, Rhythmen geformt, sehr, sehr schlechte, sehr, sehr erlebte Verse.

Hier habe ich, ich kann kaum ausdenken wie oft, in Armen, oh, in wieviel Armen gelegen, die alle doch weicher waren als das Moos, auf dem wir ruhten, damals, als man nichts wie seine Jugend hatte.

Und hier hätte ich mir beinah mal da oben, wo nachher der Taifun des Lunaparks tobte, in einer Winternacht, in der wie heute der nasse Schnee dicht in den Bäumen lag, eine Kugel durch den Kopf gejagt, ... und trotzdem, trotzalledem, selbst wundgeschlagen vom Schicksal wie ich es war, wäre ich doch damals mit mehr Glauben an die Welt aus diesem Dasein gegangen, in dem ich, und nur ich eben, unter die Räder gekommen bin, als ich es heute tun würde, wo ich den bitteren Geschmack nicht mehr von den Lippen bekomme. Damals war ich ein wundgeschlagener Hund, und die Welt, das Leben, das mich mit dem Fuß beiseite stoßen wollte, hatte trotzdem recht in seiner Unbändigkeit und Fülle, die nicht nach dem einzelnen fragte. Heute habe ich recht und die Welt ist ein Hund.

Der Wagen war weiter gezuckelt.

Oh, richtig, da drüben war früher ein Gasthaus, wo ich Triumphe feierte, den ersten und letzten Preis meines Lebens – Doktor Herzfeld kicherte in sich hinein – bei einem Kinderfest gewann, als Quartaner, im Sackhüpfen: eine Flasche fuchsrote Limonade, die wie Tinte mit Sirup schmeckte, und eine Karte vom Grunewald, die ich so lange hatte, bis ich sie mal verlor.

Da hinten war dann der Birkenschlag, der in jedem Frühjahr seine Stämme neu mit Weiß und Schwarz anstrich und seine Hängezweige unermüdlich mit Blättchen besteckte, die ganz und gar lichtgrün waren.

Und dort unten, wo sie später die künstlichen Seen gemacht haben, ausgebaggert haben, da waren die Torflöcher, zu denen man – die Stiefel lagen am Ufer! – mit nackten Füßen über die nassen Mooshügel, auf die harten Grasflecke sprang und nicht länger verweilen durfte, bis auch die zu schwanken begannen und nachgaben, ... um dann endlich an die ersehnte Stelle zu kommen, wo es Salamander gab: graue unscheinbare Weibchen, und Männchen mit feuerfleckigen Bäuchen und Zackenkämmen wie kleine Drachen. Verdammt, da hieß es zugreifen, um die schlüpfrigen, quabbligen Kerlchen ganz schnell unter den Wasserpflanzen vorzuziehen. Hand war besser als Hamen. Zweiunddreißig Stück an einem Vormittag! – Man wußte zwar nicht recht, was man damit sollte nachher, aber das war doch ein beseeligender, nie später wieder erreichter, geschweige denn überbotener Rekord.

Und meine Brombeerhecken am Seeufer, richtige undurchdringliche Dornröschenwälle, zu denen ich immer an Juniabenden ging, um die surrenden Wolfsmilchschwärmer zu fangen, die über den weißen Blüten in der Luft wie angenagelt standen, ... sie sind, seltsam genug, noch ehe Menschenhand dazu kam sie auszuroden, eines Jahres in einem besonders harten Winter erfroren, genau wie die Ginsterbüsche an den Havelufern.

Gewiß, – ich habe Abende über Rom gesehen, vom Pincio herab, wenn der Himmel brannte, in uralter, blutiger Schwermut, mit einem Schein wie ein Hirtenfeuer aus Ölbaum und Steineiche; ich sah ihn oft über der Ebene von Heidelberg aufleuchten, warm, rosenfarben und golden, daß alle Lieder des Wunderhorns darin erklangen ... aber was waren das gegen jene Abende, die wir beide, Rehchen, da oben am Hang lagen, der Himmel über uns grün, rot und golden flammte, und das Wasser des Sees von einem unsichtbaren Hauch leicht aufgerauht war, und nur an einzelnen Stellen sich dieses grüne, rote und goldene Leuchten mit doppelter Kraft spiegelte, während sonst die ganze Fläche schwer, schwarz und ölig lag, und auf seinem Spiegelgrund noch einmal die reglose, dunkle, schöne Kurve des Waldes nachzeichnete. Dann fingen die obersten Zweige in den gerundeten Kronen der Kiefern die allerletzten Sonnenstrahlen und glühten auf, braun-golden wie flüssiges Kupfer ... bis langsam und allmählich alles ineinander schmolz und in die ersehnte, tiefblaue Nacht sich wandelte. J'y pense.

Ja, und die eine üppige Oase, der kleine stille Laubwald, verborgen in der sonnendurchglühten, kiefernstarrenden Einsamkeit, Rehchen, wo sich sonst niemand hinverirrte!

Und dann diese wundervollen, schmalen Uferwege unter Erlen, zwischen den aufsteigenden, von Nadelbäumen überreckten Hängen und zwischen den breiten Schilfgürteln der Seen hindurch Rehchen! – so schmal, daß man hintereinander gehen mußte – du vor mir. Und wo Schritt für Schritt, zwitschernd, schreiend und schimpfend in dem undurchdringlichen Gewirr der Schilfhalme, der Rohrspatz, der Vogel Kärrekik neben uns herflog ... uns geleitete!‹

Doktor Herzfeld fuhr auf, denn der Hufschlag hatte einen anderen Klang bekommen, auch die Räder, die bisher ganz still und gleitend weitergerollt waren, sprangen und hüpften jetzt bei jeder neuen Unebenheit der Pflasters. Oh, da war ja schon die Brücke mit ihren Eisenkonstruktionen, durch die der Rauch der darunterhinfahrenden Züge hinaufschlug und zu Fetzen zerrissen wurde. Er hatte gar nicht gemerkt, daß er die Villenkolonie schon eine Weile hinter sich gelassen hatte. Nirgends auch nur ein Fleckchen weißen Schnees mehr, nur Matsch, grauer, zäher Matsch, der alles weit und breit in hoher Kruste von einem undefinierbaren Aggregatzustand, der ständig zwischen fest, breiig und flüssig wechselte, überzog. Trotz der paar zusammengekehrten Dreckwälle schien sie an keiner Stelle auch nur um ein merkliches sich vermindert zu haben. Pferde und Menschen und Straßenbahnen quälten sich mühselig weiter ... Und lang und breit – nicht mehr im Licht des Wintertages und überwölbt von einem weiten Schneehimmel wie draußen Wald, Gärten und Villen; sondern Halbdunkel und eingeengt durch die Felsschluchten seiner hohen Häuserreihen, in nebelgraue Tiefen sich verlierend – öffnete sich mit seinem Reitweg, den Fahrdämmen, den breiten Bürgersteigen und den schwarzgegitterten Vorgärten, mit all seinen wild geschwungenen und getürmten Häuserscheußlichkeiten: die architektonische Schreckenskammer des Kurfürstendamms, ... naß, triefend und überaus unfroh.

Gott, – was ist innerhalb zweier Jahre aus dieser Straße geworden und aus ihren Menschen! Überhaupt wie dürftig sie aussahen, häßlich, neidisch, vergrämt und leichtsinnig zugleich, heruntergekommen in der Kleidung und abgehungert, selbst die Reichen, ... bis auf ein paar ausgefressene Schweine in Pelzen. Kinder gehen in die Schule, lust- und lärmlos, ganz kleine Dingerchen mit Dreiergesichtern. Sie sollten noch zwei Stunden in den Federn bleiben, und doch patschen sie schon halb erdrückt von Riesenschulmappen durch den zähen Schmutz.

Selbst die Frauen sind nicht mehr schön. Das ist traurig. Sie wissen nicht mehr, was ein Schuh ist; tragen schlecht veränderte Kleider. Die Luxusvögel von einst sehen aus, als ob ihnen die Motten in das bunte Gefieder gekommen sind. Das hätte nicht schwinden dürfen. Man nimmt ihnen und uns alles, wenn man ihnen die Möglichkeit nimmt, schön zu sein. Man raubt uns damit eine der wenigen Illusionen, die in diesem Augenblick einem das Leben noch lebenswert machen. Da trippelt so eine, geht selbst auf Einkäufe. Ich habe sie früher oft gesehen. Sie war ehedem vor drei Jahren noch wie eine seidene Abendwolke, leicht und duftig und von sorgloser Selbstverständlichkeit. Und jetzt sieht sie aus wie ein aufgeschminktes Heimchen. Man bekommt wirklich schon nasse Füße, wenn man sie nur ansieht, wie sie fröstelnd mit ihren dünnen Schuhen dahinpatscht. Nun ja, das Wetter ist nicht kleidsam, Madame; aber selbst wenn wir das abrechnen, bleibt's noch traurig genug.

Die Läden sind geschlossen, die meisten; und auch hier gibts schon Trödlergeschäfte. Alle Scheußlichkeiten der zwei letzten Generationen häufen sich in dem Schaufenster auf, umkränzen ein Konversationslexikon. Ja, ja, die Bildung. Simon Kohn: Gelegenheitskäufe, – das ist Pleonasmus!

Soldaten sind hier nicht zahlreich. Diese Gegend hier draußen ist nicht militärisch gesonnen! Ach, da überholt ein langes feldgraues Auto das Pferdchen. Trotzdem es die ganze Straßenbreite für sich gehabt hätte, schießt der Benz, ohne Hupen, von rechts hinten ganz dicht am Wagen vorbei, saust dahin in zwei hochaufspritzenden Schmutzfontänen, die dem Kutscher, dem Pferd, der Droschke und dem Fahrgast ihr reichlich bemessenes Deputat keineswegs vorenthalten. Warum sollte es das auch nicht tun?! In dem Auto sitzt nämlich, zurückgelehnt, ein Aktenstück vor der Nase, ein himbeerfarbiger, unerhört martialischer Major, der zum Generalstab fährt, würdig und geheimnistuerisch zugleich.

Eigentümlich, sagt sich Doktor Herzfeld, je wärmer und sicherer solch ein Herr sitzt, desto kriegerischer und eiserner sieht er aus. Die Offiziere, die von draußen kommen, geben sich gar nicht so martialisch – und man sieht ihnen meist an, daß ihnen leben und leben lassen viel genehmer ist, als Krieg spielen. Ob sich nun solch ein Mensch da ein einziges Mal in seinem Leben sagt, daß ein Müllkutscher – beiläufig: ein simpler Müllkutscher! – für die menschliche Kultur zehnmalmehr bedeutet, hundertmal wertvoller ist als sämtliche Generalstäbe dieser Erde, von denen er, Major Graf Y, irgendwo ein armseliges Partikelchen ist, das vor den höflichen Grobheiten seines direkten Vorgesetzten, des Generalleutnants von und zu Knesendorf-Wurzelbach zusammenknickt. Eigentlich sieht er böse aus. Man kann nämlich dreißig Ahnen haben und doch ein Pferdeknecht sein.

»Morgen, morgen Dokterchen.« Doktor Herzfeld fuhr zusammen. Ach, richtig, – das war ja einer von seinen Entmündigungsknaben von ehedem. Er hatte jetzt seine immerhin etwas fragliche Eleganz von einst in einen ganz anderen Stil gebracht. Er trug nunmehr einen fabelhaften Ulster mit Gurt, schwankte in ihm wie eine Riesenglocke dahin, aus der die Beinchen mit den gelben Schuhen und den rehfarbenen Gamaschen wie ein Schwengel hingen. Der Stolz seines Lebens war, daß er den gleichen Schneider wie der große Wibson Dibson hatte und einen Jackettanzug mit Riegel von eben demselben Stück grüngesprenkelten Homespun trug, wie ihn jener neulich in dem Riesenmonstrefilm »Das schwarze Perlenhalsband« kreiert hatte. Überhaupt sah er ihm zum Verwechseln ähnlich.

Auf Monocle, das er einst bevorzugt, legte er aber keinen Wert mehr. Jetzt trug er eine runde Hornbrille. Eine gekniffte Saffianmappe hatte er unter den linken Arm geklemmt, und während er die Rechte mit den leicht gekrümmten Fingern sehr jovial zum modfarbigen Hütchen hob, spähte er dabei eifrig aus, ob nicht vielleicht ein Droschkenauto zu erwischen sei. Seinethalben zehnfache Taxe – er mußte nämlich zu einer »Konferenz«.

Dieser Entmündigungsknabe hatte vordem in seinem Leben bisher nie etwas geleistet. Aus dem einfachen Grunde, weil er nämlich noch nie etwas gearbeitet hatte; sondern sich – die Crux seiner näheren und ferneren Familie – ehrlich durch Pump und Spiel vom Geld anderer Leute ernährt hatte. Aber er hatte mit Kriegsbeginn die neue Zeit (oder die große Zeit, wie man sie nannte) in ihrer tiefsten Wesenheit vom ersten Augenblick an erfaßt.

Er hatte sich völlig umgestellt ... jetzt arbeitete – – er. Er war sofort kriegswichtiger Betrieb geworden, aus dem Nichts heraus (solche Sachen, wie sich Druckposten suchen, das hatte er Dümmeren überlassen), er war und blieb reklamiert vom ersten Tag an. Einmal, als man versucht hatte, ihn einzuziehen, war er nach acht Tagen wieder in Berlin aufgetaucht. Er war zu wichtig. Man konnte ihn hier nicht entbehren; er hatte Konferenzen und Telephonate, und er hatte Telephonate und Konferenzen den ganzen lieben langen Tag. Er war sogar schon dreimal »geschäftlich« in der Schweiz gewesen. Er kaufte alles, was sofort greifbar war. Seine Spezialitäten waren Käse und Gummi. Eigentlich hatte er jedoch damit begonnen, im August 1914 die Vorräte einer falliten Seifenfabrik durch Schiebung an sich zu bringen und sie mit zweitausend Prozent Gewinn wieder später abzustoßen. Heute tat's ihm leid. Jetzt könnte er dreitausend Prozent und mehr damit machen. Pro forma ließ er in der Wilsnackerstraße Granaten drehen, zusammen mit einem anderen der Entmündigungsknaben, der gleichfalls das Nützliche der Reklamation mit dem Angenehmen des Verdienens verband. Er ließ sich wohl deshalb allgemein Herr Direktor rufen.

Seine Duellphantasien von einst hatte er sich längst abgeschminkt. Er lebte jetzt nur in Realien. Butter ist eine Realie, Gummi ist eine Realie – und Platin auch.

Mit Elli, Milli, Gerti, Hedi sah man ihn nicht mehr öffentlich. Er war nunmehr mit der Tochter eines Justizrats verlobt.

Doktor Herzfeld nickte der wandelnden Glocke nochmals freundlich zu: dieser Junge verstand die Welt! Seltsam, dachte Doktor Herzfeld, wie diese Entmündigungsknaben sich alle durchwanden; sie waren eigentlich alle noch da oder wieder da. Und die, die so dumm waren, daß man eine Ulmer Dogge mit ihrem Verstand vergiften konnte, saßen, wenn man sie hörte, in wichtigen Ämtern, leiteten Kriegsgesellschaften. Einer, ein guter Junge, aber keine Null, sondern ein Minus, disponierte über Millionen. Etwelche waren Leutnants und anscheinend zur Hebung des Fremdenverkehrs ständig nach Berlin kommandiert. Andere taten sich etwas darauf zugute, daß sie einen ›Jagdschein‹ hatten. Für sie gab's überhaupt keine Gesetze, die die übrigen doch noch wenigstens zu umgehen trachteten. Sie erklärten ganz offen wie der Steinklopferhannes: »mir kann nix g'schehen«.

Wirklich und wahrhaftig, diese Entmündigungsknaben, diese Lausejungen von einst, das waren überhaupt die zukünftigen Könige vom neuen Berlin. Doktor Herzfeld überließ es ihnen gern und neidlos. Eigentlich waren sie jetzt schon die Könige, ... wenn auch nur erst heimliche und ungekrönte ... Die anderen, die Offiziere, die Beamten, die Reichen von vordem, die redeten sich nur noch ein, daß sie es waren. Sie waren schon längst von jenen abgesetzt worden; sie wußten es nur noch nicht.

Ach, hier drüben war ja ein Stück Heide gewesen, vor vierzig Jahren, mit Kiefernkuscheln und großen Strecken von blühender Erika, vor vierzig Jahren! Ein Lerchennest hatte er dort einmal gefunden am Boden mit sieben gesprenkelten Eiern, nicht viel größer als eine Bohne jedes. Nur ein einzigesmal möchte ich, daß mich eine Freude wieder so durchzuckte wie damals.

Und da rechts in der Querstraße hatte er mal gewohnt in dem Hause, wo Hermann Gutzeit noch heute unten hockt. Ach Gott, – der arme Kurt! Richtig, den Brief müsse er auf der Bahn einstecken! Ob Hermann Gutzeit nun in der nächsten Sonntagsnummer der Deutschen Warte ein Gedicht haben wird, »Meine Heldensöhne«, in dem sich »Franze« und »Schanze«, »Granaten« und »Taten« reimen werden? Da lag immer eine riesig große Südseeschnecke im Vorgarten, ein Tigerkopf, wie man sie nennt, weil sie etwas wie fletschende Zahnreihen im blutigen Fleisch zeigt. Ob sie noch da liegt? Sie war alt und verregnet, aber das Schönste dabei am ganzen Haus, denn sie steckte voll von Erinnerungen an die Korallenmeere der Südsee mit ihren Opalfarben. Was mochte aus dem Institut für orthopädisches Turnen geworden sein, wo Viola Maisberg unter Kommandorufen kleine Mädchen des beginnenden Buckels und der schiefen Hüfte entwöhnte? Was aus den beiden alten Malfräuleins und aus ihrer Mal- und Kunstgewerbeschule mit dem märkischen See beim Sonnenuntergang am Brahmaputra, und den Holztellern in Brandmalereien von üppigen Mohnblumen und enzianfarbigen Schwertlilien? Was aus Edith Meier, des mausgrauen Fräuleins Klavierschule, »eine, zweie, dreie, viere«? Die hatte er mal vorbeihuschen sehen. Sie sah wie ein Spirit aus. Ach, für all so etwas hatte jetzt niemand Geld und Lust. Es ging ihnen wohl recht übel. Sie konnten sich gewiß nicht umstellen, wie die Entmündigungsknaben. Weder ihre Kunst noch sie selbst finden jetzt Liebhaber. Ihre Zeit ist vorbei. Das ist traurig, aber unabwendbar. Sie sind zwischen die Puffer gekommen. Sie verhungern langsam in Kriegsküchen. Genau so wie zehntausend andere, alte, brave, strebsame Mädchen, die sich bisher irgendwie mit irgendwelchem Unterricht durchgewurstelt hatten.

Ach, Goldschmidt! – So früh schon? Er hat zehn Morgenzeitungen unterm Arm. Gut, daß er mich nicht sieht, er würde mich sicher fragen, wohin ich reise. Er muß fragen. Er ist so indiskret, der arme Kerl. Eigentlich sieht er miserabel aus. Er trottet, bei jedem Schritt mit dem Kopf wackelnd, wie ein alter Spitz, der neben einem Rollwagen herläuft. Und was war das noch vor drei Jahren für ein quecksilbriges Bürschchen, wie der Tischler Hähnchen bei Angely, »alleweil derjenige welcher«. Überhaupt – wie schlecht die Menschen aussehen. Vorgestern habe ich ein Kriegsalbum durchgeblättert, Bilder aus dem Kriegsanfang. Sie sind gar nicht schlimm. Es ist ein fast sympathischer Krieg. Es gibt keine Toten da. Kaum ein toter Russe. Höchstens mal ein malerischer Verwundeter mit einem blitzweißen Armverband und eine gesprengte Brücke, und eine zerschossene Straße, und ein zerstörtes Fort, das sich erstaunte Soldaten begucken. »Unsere dicke Berta« steht drunter. Sonst sind alles sehr behagliche Bilderchen, auf Vergnüglichkeiten und Idyllen gestimmt.

Aber eines daran war unsagbar trostlos: All diese Menschen da gab es nicht mehr. Nicht etwa, daß sie alle gefallen; nein – hoffentlich atmet jeder von ihnen noch im rosigen Licht ... so nicht; aber die Typen waren verschwunden und gewandelt, weggewischt aus Deutschland: Da lagen in Kirchen, in Wolldecken gehüllt, dicke Landsturmleute mit vergnügt verquollenen Gesichtern; übermütige Husarenleutnants, platzend vor Laune und Gesundheit, saßen lachend mit Kasinowitzen auf Kaffeehausstühlen und hieben sich ihr Reitgertchen gegen die blanken Lederstulpen; Soldaten rückten zur Front ab wie zur Parade; Pflegerinnen waren ganz verliebte frauliche Süße und weiße Schürze. Es war eigentlich dickster Frieden, der Krieg spielte, ohne zu ahnen, was das bedeutet ... Und all das, was in diesen Menschen lag, diese ganze selbstverständliche, unbewußte Lebenssicherheit, mit der alle die durch die Welt einst gingen, die das materielle Problem des Daseins gelöst hatten, und für die das philosophische nicht vorhanden war, sie ist weggewischt worden, eliminiert worden aus dem Leben von Millionen. Und kaum einer, kaum eine ist ausgeschlossen. Armer Kerl, der Goldschmidt!

Der einzige von den Ditopassabeln (außer Hauptmann Grübenau), dem eigentlich der Krieg wirklich bekommen war (die anderen taten nur so), war Mister Young, der alte Sprachlehrer. Er war Zivilgefangener in Ruhleben, war erlöst, daß er seinen Schülern keine Stunden mehr zu geben brauchte, und sein old England, das seit zwanzig Jahren nicht an ihn gedacht hatte, schickte ihm mehr zu essen, Christmas Kakes und Marmeladen, als er je bekommen hatte. Und doch litt auch Mister Young, denn er hatte Freunde hier gehabt, die jetzt seine Feinde geworden waren, und die ihm das zu Kriegsanfang bitter genug bewiesen hatten. Und dann erschauerte seine feine und zivilisierte Menschlichkeit bei dem Gedanken, daß sich Leute in der Welt dazu hergäben, mit richtigen Flinten auf andere, die ihnen nie etwas getan hätten, einfach ohne Warnung zu schießen. »Der Zustand, in den ich mir befinde,« hatte er Doktor Herzfeld geschrieben, »ist durchaus nicht übel zu nennen; ich habe einen Shakespeareklub in die Lager gegründet; nur die Umstände, die ihn herbeigeführt, sind beklagenswert und verachtungswürdig.«

Wie sich von hier an die Straße mit Wagen füllte, mit Lärm, mit Menschen füllte. Wo kamen die alle her? Man sah sie doch gar nicht aus den Nebenstraßen zufluten oder aus den Häusern kommen. Sie mußten wie in der griechischen Sage aus den Steinen wachsen. Matsch und Menschen hatten sich aus sich selbst vervielfacht. Und von oben flockte wieder nasser Schnee herunter, der sich sogleich in Wasser löste, sowie er irgendwo hintraf.

Ach, da war ja die Sezession, da hinten in dem Einbau. Die moderne Malerei war ein wenig verwirrend. Vielleicht war etwas in ihr?! Sicherlich, – denn noch keine Zeit hat ganz umsonst gelebt. Aber es wäre gut gewesen, wenn man alles sofort nach fünf Jahren ein zweites Mal gesehen hätte! Und da hinten im Nebelgrau der nebelgraue, unförmige Turm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche auf seinem zu kleinen Unterbau. Immer wenn er ihn sah, – es war wie eine Zwangsvorstellung, – mußte Doktor Herzfeld an ein liegendes Kamel denken, das trompetend den langen Hals hochreckt.

Oh, das Café, das kleine Café mit seinem berühmten Richard! Wo war seine Boheme hin?! Zerspellt bis auf ganz wenige. Wie viele von ihnen, seinen Freunden, da gefallen waren! Und gerade die zehn Gerechten, die auf die tausend Ungerechten kamen. Wieviele Selbstmord begangen hatten! Nur ein paar unverbesserliche Morphinisten hatte man gleichsam dem Café noch als Aushängeschild gelassen, damit es für den Spießer doch etwas zu sehen gäbe. Und auch die hatte man reichlich erst durch die Lazarette gezerrt. Der große alte Mensch mit dem blonden, angegrauten Bart – er schien längst aus der Grenze der pflichtigen Jahre, und in Wahrheit war er auch fünfundvierzig gewesen, als der Krieg begonnen, – er, der seinen Namen mit Recht trug – (denn er war groß und innerlich gerade wie ein Baum), – er, der stets so kindhaft erschien und doch so klug und warm war, und der so vornehme und verträumte, katholisierende Bücher geschrieben hatte, – wenig, aber reinste Literatur! ... – der war noch letzthin in Rußland auf einem Patrouillengang gefallen. Und der kleine früh, sehr früh Ergraute, ein Prädestinierter, mit müden Blicken, der schwer unter den Brutalitäten des Lebens litt, den hatte es gleich am Anfang gepackt. Und so viele, so viele noch sonst! Kleine, Werdende, Namenlose, die nichts wie ihren Daseinshunger und ihre Illusionen besaßen, Leute, die der Krieg so viel anging wie ein Erdbeben auf dem Mars, die blaß vor Wut wurden, wenn sie einen Offizier sahen, die Brechreiz bei dem Wort Krieg bekamen, ... gerade für sie waren die Todesurteile ausgeschrieben worden. Es war kein reines Vergnügen mehr, hier hinzugehen: auf den Wiener Stühlen machten reklamierte Schieber mit ihren Mädchen sich breit, und die Frauen und Töchter der Philister saßen dazwischen und fanden das Publikum »interessant«.

Oh, da drüben Ansbacher-Augsburger-Straße! Da irgendwo herum mußte auch Amélie de Beautemps jetzt wohnen. Sie war dem Zug nach dem Westen gefolgt ... Lene Held. Doktor Herzfeld wurde heiß vor Erregung, als er den Namen innerlich aussprach. Er hatte sie nie mehr gesehen, seit jener Schicksalsnacht, aber sie hatte zwei-, dreimal an ihn geschrieben. Erst wollte sie Geld haben, und dann, plötzlich, Ende 1914, hatte sie ihn feierlichst, auf rosa Moirépapier gedruckt, eingeladen, doch häufiger Gast in ihren Salons zu werden, in denen man immer für seine hübsche Unterhaltung und reichliche Zerstreuung Sorge tragen werde. Was wußte sie auch davon, was in ihm damals vorgegangen war!

Und doch mußte Doktor Herzfeld jetzt laut lachen, – er kam sich närrisch vor, als er sein eigenes Gelächter hörte: auch sie also hatte – wie die Entmündigungsknaben – der Krieg emporgehoben. Sie war arriviert. Sie sollte, wie er gehört, einen sehr würdigen, silberweißen Matronenkopf jetzt haben und schwarze Kantenschals in ihren Appartements tragen; und sie hatte sich Würde und Titulatur einer Regierungsratswitwe zugelegt – so ungefähr wie Casanova den Adel. Sie sollte mit der Polizei, die bei ihr ein- und ausging, sehr gut stehen und ihr sehr vertrauenswürdig sein; und man sollte in ihrem Hause, wenn man nicht nach dem Preis fragte, jedes Raffinement haben können – auch das der Küche. Dabei hatte sie sich selbst, für ihre eigene Person sozusagen, fast völlig vom Geschäft zurückgezogen: sie leitete nur, stand als Seniorchefin dem Ganzen vor; – und es ging ihr über die Maßen gut dabei. Sie hatte mit der Zeit noch eine Vorder- und eine Gartenhauswohnung für ihr Institut hinzugenommen. Es war eben seit Jahr und Tag Hochkonjunktur für sie. Ihre Festivitäten waren schon auf Wochen im voraus überzeichnet, von Herren, die aus der Etappe kamen, oder in Berlin geschäftlich zu tun hatten.

Es verkehrten nur wohlhabende, ältere und jüngere Mitbürger in ihren Räumen. Sie hatten jede Freiheit bei ihr. Sie konnten ihre Damen in die Salons einführen. Sie konnten dort sich mit ihren Damen treffen. Oder sie konnten dort die Bekanntschaft sehr netter, junger, überaus diskret angezogener Damen machen, die vorgaben, Gattinnen oder Töchter von Bankdirektoren zu sein, und – nur einer plötzlichen Neigung folgend, – diesen Becher der Lebenslust leerten. Das und die Diskretheit waren ihre Nuancen. (Das Geldliche regelte Amélie de Beautemps. Dazu waren sie zu vornehm.)

Auch sah sie es nicht ungern, wenn ab und zu bei ihr eine Bank aufgelegt wurde. Nicht zu viel; das machte unnütz die Polizei scharf – und zog auch die Kunden von ihrem eigentlichen Geschäft ab. Lockte Berufsspieler und andere unsichere Kantonisten heran. Und wer viel verlor, kam nicht wieder.

Doktor Herzfeld lachte immer noch vor sich hin: Ja, ja, man muß eben wirklich etwas gelernt haben, um in dieser Welt heute weiter zu kommen. Mit Klavierspielen, Turnen oder kunstgewerblichen Handarbeiten kann man ebenso wie mit Schreibmaschine jetzt verhungern ... ti tatata tum tati!

Was gab's denn da?! An der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche war ein Auflauf. Eine Schaffnerin der Straßenbahn, die sich anscheinend (nach ihrer Ausdrucksweise zu schließen) als Markthelferin in der Großmarkthalle vorher betätigt hatte, hatte einen dicken Herrn vom Trittbrett gestoßen, – weil er trotz ihres »Verbots« aufsteigen wollte, – so daß er sich zweimal im Schmutz überschlagen hatte und nun wie ein Schokoladenbonbon aussah. Sie stützte sich auf ihre Rechte als Beamtin, keifte was von Beamtenbeleidigung; – aber das respektlose Publikum nahm gegen sie Partei.

»Guten Tag, Doktorchen.« Doktor Herzfeld grüßte in ein Droschkenauto hinein, das an ihm vorüberfuhr, nach der Corneliusbrücke hinaufsauste. »In die weichen Kissen drückt ... sie ihr Lockenhaupt und blickt ... spöttisch auf den großen Haufen ... derer die zu Fuße laufen ...« sprach er vor sich hin. Noch vor zwei Jahren war diese kleinste Schauspielerin die dritte Besetzung für dritte Rollen gewesen, und heute hieß sie Mia Lia oder sonst wie, hatte sich auf Infantil umgestellt, die Haare auf Pagenkopf gebracht, war Filmdiva und trug ein Rittergut in Pelzen und Diamanten am Leibe. Sie war ein neuer Typ von Frau. Früher hatte man so etwas brüsk ein Brechmittel genannt, jetzt sprach man von einer diabolischen Schönheit. Aber Doktor Herzfeld war ihr dankbar, denn sie hatte ihm einen der wenigen restlos-heiteren Augenblicke der beiden letzten Jahre gewährt. »Ich höre, daß Sie zum Kino wollen?« hatte er gefragt. »Ja,« meinte sie und drückte (Salonschlange mit Geist, Causerie II. Akt) unter Mundspitzen die Augen ein, »es ist die einzige Form, um sich künstlerisch voll auszuleben. Auf der Bühne hat mich unbewußt immer eines gestört –« große Pause, Atemholen bis in die Zehenspitzen, ganz leicht hingehaucht, mehr geweht als gesprochen und doch voller Betonung, »das: – Wort!«

Und doch hatte Mia Lia ihre Zeit besser verstanden als alle die anderen. Denn man mochte sagen was man wollte, das Kino hatte sich von Monat zu Monat beim deutschen Volk mehr eingepöbelt, hatte gleichsam alle Kräfte, die anderen Dingen durch den Krieg entzogen wurden, in sich aufgesogen.

Wie viel Verwundete man hier sieht. Es sind Lazarette in der Nähe. Blinde, die von Einarmigen geführt werden; Einbeinige, sechs, acht Stück hintereinander; auf der einen Seite der Straße langsam, mit Krücken und Stöcken sich hinschiebend, ... trotz der Frühe und des schlechten Wetters. Sie sind nicht traurig, sie sind nicht heiter, sie spaßen sogar miteinander, sie sind ganz verkindischt; und sie sind so – unerhört zwecklos – zur Ziel-, Sorgen- und inneren Anteillosigkeit frühester Jugend zurückgekommen. Sie empfinden ihre Schmerzen – nicht ihr Elend. Ihr Geist ist verstumpft.

Oh, da drüben das »Kaufhaus«, wie ärmlich die Schaufenster! Er war neulich drin gewesen. Wie eine ausgeschleuderte Bienenwabe sah das aus. Kein Mensch geht 'rein. Nur ein paar Frauen mit Marktkörben,– weil man da Muschelfleisch und Heringspaste gestern inserierte. Diese ganze Gegend, die Ladenreihen, das ist gemacht für Trubel, für Warenfülle, für Massen und Massenangebot, sie ist ja nur Fassung dafür. Fällt das fort, so ist es erbärmlich ... wie eine Galerie, in der man die Bilder aus den Rahmen gestohlen hat, und die nur noch ein paar schlecht geschnitzte und schlecht gepreßte Goldleisten ist ... Nehmt dem neuen Berlin seinen Amerikanismus, und ihr habt ein Provinznest übelster Sorte.

Vordem war es das nicht. Da drüben in diesen Straßen da, jenseits des Kanals war seine Schuljugend verflossen. Der alte Westen war gewiß nicht luxuriös, der war sogar bescheiden mit nicht allzu großen Wohnungen. Er hatte ein paar kleine Läden und Destillen in Kellern sogar. Und doch war er ganz Großstadt, hatte den Stil der Großstadt in sich und durch die Menschen, die dort lebten. Man kannte sie alle, den kleinen Menzel (er lebte uns gegenüber), Knaus, Meyerheim, Treitschke, Curtius, Ranke, Hermann Grimm ... und die reichen Leute, die Börsenkönige, die Strousbergs, von deren Füchsen und Equipagen man sprach, als ob sie einem selbst gehörten. Und den großen alten Herrn, der mit dem Plaid über der Schulter in langen Schritten drüben unter den Bäumen am Tiergarten entlang wandelte, – sein Kopf war etwas feiner, zierlicher in der Nase als auf allen Bildern, – wie oft ich ihn gesehen habe: er hieß Theodor Fontane und schrieb Romane, wie meine Mutter sagte. Die Eltern waren gute Leute, aber nicht für gute Kunst. Nur kein Talent in der Familie, so etwas kostet immer Geld, – das war ihnen ererbte Lebensweisheit.

Nun hatte es noch ein paar leidlich ruhige Straßen gegeben, und dann war man mitten im Gewühl. Wo das alles nur hinwollte?! Mürrische Menschen liefen über den braunen Schlamm durch das nasse Zeug, das – eine Weile hatte es aufgehört, – wieder einmal vom Himmel herunterschmutzte. Die Luft war zerrissen von tausend derben Kutscherflüchen. Und Straßenbahnwagen, Bierwagen, Droschken, Rollwagen, Geschäftsdreiräder, Postwagen und Trainwagen ballten sich zu schier unentwirrbaren Ketten und Knäueln zusammen; – die Gäule, schlecht genährt, waren mit ihren überlasteten Wagen dem Schneeschmutz nicht gewachsen. Doktor Herzfeld saß eingerammt in einer lärmdurchtobten Wagenburg. Das sah böse aus. Man konnte den Zug versäumen. Man saß fest. Es fehlt nur noch, daß die Germanenweiber sich mit ihren blonden Flechten an den Deichseln aufhängen, dachte Doktor Herzfeld.

Der Kutscher reckte sich auf seinem Bock auf und wandte den Kopf, wandte das tomatenfarbene Gesicht mit der Stiefmütterchennase dem Insassen zu.

»Davor kann ich nischt!« sagte er sehr ernst und besorgt, »dadavor bin ick nich haftbar.«

»Aber fahren Sie doch hier gleich durch Blumeshof,« rief Doktor Herzfeld, »und dann am Kanal entlang.«

»Det wird det Gleiche sind,« sagte der Kutscher, »da muß man nachher auch über de Potsdamer Brücke.«

»Na, da sind wir dann wenigstens an der Potsdamer Brücke,« rief Doktor Herzfeld.

»Schön,« meinte der Kutscher, in einem Ton, der besagte: man muß Kindern den Willen tun, sonst brüllen sie, – und zupfte an der Leine, und das Pferdchen riß den Wagen nach links und torkelte in die Querstraße hinein.

Oh, diese Kastanienbäume am Kanal. Jetzt sind sie zwar nur schwarzes Krallenwerk, ganz und gar abgefegt, Gerippe von Bäumen, die Selbstmord begehen und sich ins Wasser werfen wollen. Aber nächstes Jahr um den 20. April, um den 1. Mai sind es doch wieder diese lichtgrünen, lastenden Vorhänge, die zum Wasser über die Steinböschung hinabwehen; und auf diesen grünen Tüchern, die den ganzen Schwung, die ganze Kurve des Kanals mit ihrer Bewegung begleiten, stecken sie dann Tausende von weißen Kerzen an. Diese Bäume hier am Kanal, riesig geworden in den bald vierzig Jahren, da ich sie kenne – ob das Ulmen, Linden oder Kastanien sind – sie gehören schon zum Schönsten, das Berlin bietet. So hier auf der Hohenzollernbrücke stehen, der Bendlerbrücke, oder der Corneliusbrücke, gegen Abend nach Sonnenuntergang, wenn der Himmel rot und grün, hart und strahlend, wie er bei uns ist, absolute in sich verbrennende Farbe, ohne Wärme zwischen den fast auf das Wasser herniederwallenden Laubwänden hängt (nur hier und da ahnt man das Dach eines Hauses), und wenn dann von oben schräg herein auf das dunkle, ölige Wasser des alten Kanals, das sich im Widerspiel der Abendglut gerötet hat, so ein gellschreiendes, purpurn-schwarzes Wildentenpaar, gegen das Licht stehend, angeschossen kommt, flügelbreit, mit gestrecktem Hals, ... und dann wie ein herabgeschleuderter Meteorit im schrägen Wurf einfällt, das vier lange, spangrüne, malachitfarbene Furchen über das glatte, dunkle Wasser peitschen ... O ja, an solchen Aprilabenden, da bedauert man, daß man nicht tausend Jahre wird, um das jedes Jahr einmal wieder sehen zu können. Gewiß: manches ist schön hier; – auch das, was der Mensch schafft, – wenn es erst Alter bekommt und geworden ist. Und warum in aller Welt, ist nur das Leben eine so unerhörte Gemeinheit? Nachdem es einen vierzig bewußte Jahre in Eisenzangen wie in einem Nußknacker gehalten hat, hat es einen zum Schluß nur dafür aufgespart, Zeuge zu sein, wie sich die Menschen ohne Sinn und Zweck millionenweise gegenseitig die Schädel zertrümmern.

Die Potsdamer Brücke war ganz frei. Rechts und links in der Potsdamerstraße staute es sich zwar, aber hier, wenn man von der Seite kam, konnte man durch. Das Pferdchen hatte Straßeninstinkt, erfaßte die Situation, strengte sich ein wenig an und überquerte die Dämme in leichtem Galopp. Dann fiel es in seine alte, müde Gangart zurück.

»Na, Kutscherkin,« rief Doktor Herzfeld freundlich, denn jetzt, am Ufer wieder, konnte nichts mehr passieren, »sehen Sie, die Brücke war ganz frei«.

Der Kutscher wandte sich in seiner Pelerine auf dem Bock um, drehte Doktor Herzfeld sein tomatenfarbenes Gesicht mit der Stiefmütterchennase zu und sagte tief verachtungsvoll:

»Det haben Sie vorher ooch nich jewußt!«

Und dann wandte er sich zurück und hätschelte ärgerlich mit der Leine über den knochig-dürren Steiß seines Braunen. Aber der nahm keine Notiz davon. Er war wie Frau Roggemann: in die Privatangelegenheiten anderer Leute mischte er sich nicht.

Welch ein Wahnsinn, fortfahren zu wollen? Wozu entfliehen? Ich werde mich überall wiederfinden. Und Schnee? Schnee? Gewiß – er ist schön, ich liebe ihn, schon weil er so abstrakt und grausam ist, aus reineren Welten sich auf die Erde verirrt hat, ... aber eigentlich ist er doch etwas für Hunde und Kinder. Die haben die rechte Freude dran. Die lachen des Todes, dessen Menetekel er ist. Sie können es noch, aber uns fröstelt er an und grinst er geheimnisvoll aus jedem weißen Laken über einer Wiese, aus jedem verschneiten Baum entgegen.

Ach, man sollte dem Kutscher sagen, daß er umkehrt.

»Kutscher!«

Aber da poltert gerade oben über die Bahnbrücke ein Wannseezug. Der Rauch der Lokomotive wird niedergedrückt und schlägt Doktor Herzfeld voll ins Gesicht ... Dieser violette, scharfe, etwas süßliche Geruch von Reisen, von Bahnhof, der suggestiv wie kein zweiter ist, und der für jeden mit tausend Erinnerungen geschwängert ist – von der ersten Ferienreise nach Swinemünde an bis zur letzten Italienfahrt – dieser Geruch, der in der ganzen Welt der gleiche ist, und der uns auf dem Bahnhof in Mailand mit ebensolcher sehnsüchtigen Gewalt überfällt, wie auf der Gare du nord oder auf der Viktoriastation. Er springt uns an wie ein großer Hund und überrennt uns. Er ist stärker als halbe Entschlüsse. Der tomatenfarbene Kutscher hat sich in seiner Pelerine umgedreht. Er sieht nur mit einem Auge nach hinten, mit dem anderen nach vorn. Das kann er. Das bringt sein Beruf so mit sich.

»Is was?« fragte er mürrisch.

»Ach, gar nichts,« ruft Doktor Herzfeld schüchtern zurück.

»Na«, meint der Kutscher und hat sich schon wieder zurückgewälzt, »denn lassen Sie eenen doch in Jottes Namen uff den Jaul achten.«

Merkwürdig, wie sich das Straßenbild ändert. Plötzlich rumpeln von allen Seiten Droschken mit Gepäckstücken heran, vollgepfropft mit vermummelten Menschen. Die Vorderperrons der Straßenbahnen, die hier einbiegen, sind ganz bis oben hin mit Kisten, Packen und Koffern bestellt, zwischen denen die unterernährten, – ein Wort, denkt Doktor Herzfeld, das vordem nur wenige brauchten, das aber inzwischen von der Statistik her Gemeingut der deutschen Sprache geworden ist – die unterernährten und blaurot gefrorenen Gesichter der Menschen herausschauen. Der Fahrer kann kaum den Arm drehen, so ist er eingekeilt. Offene Autos, – mit Eisenkisten hinten beschnallt, – mit Offizieren, die nur mit der scharfen Nasenspitze aus den Pelzkragen gucken, überholen all das kleinliche, erbärmliche Zeug. Der Matsch macht ihnen nichts. Sie kommen durch. Und wenn sie aus hundert Meter die Umwelt unter Dreck setzen sollen. Sie sind von Polen und Flandern her Schlimmeres gewöhnt. Soldaten schleppen Tornister, Gewehre, sind umhängt wie Schlittenpferde. Und was für Packen und Lasten sie noch tragen: Lebensmittel, Stoffballen von draußen. Ganz gebückt sind sie darunter, mit vorquellenden Hälsen, in denen die Sehnen sich straffen und die Adern geschwollen sind, mit ausgedörrten Gesichtern, aus denen die Augen herauszukugeln scheinen. Die Stirnen unter den zurückgeschobenen Mützen sind mit Schweißtropfen beperlt ... aber sie setzen nicht ab: sie marschieren! Der Bahnhof hat eben Menschen ausgeatmet und schickt sich an, gleich wieder Scharen einzuschlucken. Er saugt sie von weither an. Und hier kommen sie schon aus allen Seiten zusammen. Sie scheinen sich zu vervielfachen, während man hinsieht. Hier verschwindet schon der Mann im Bürgerrock. Frauen werden selten. Soldaten, Soldaten, Soldaten. Hier ist schon Krieg!

Oh, da drüben der Hafenplatz ... Tausend Schulwege da vorbei. Es hat sich nicht viel geändert. Ein großer Wasserturm wurde oben auf der Bahn gebaut. Frei nach Nürnberg. Paßt hierher also, wie die Faust aufs Auge. Ein paar neue Signalstationen waren oben hinzugekommen; die Platanen aber mit ihrer wie von Aussatz zerfressenen Rinde stehen noch. Warum ist dieser Baum im Süden so schön und hier nicht? Das Maurische Haus ist noch da, und die anderen, grauen, unfrohen Häuser dahinter sind es auch. Da liegen noch die Berge von Kalkstein am Ufer, Rüdersdorfer Kalk, in denen man oft nach Versteinerungen suchte. Frustra! Nur, daß der Hafen jetzt leer ist, bis auf zwei, drei Zillen, und der Kran still steht, der sich sonst so überaus geheimnisvoll drehte. Manche Dinge aber bleiben doch ganz unverändert vom Wechsel der Jahrzehnte, vom Krieg und vom Frieden: So zum Beispiel die drei Schnapsbrüder, die drei Vagabunden auf der Bank dort. Sie haben sicher schon vor vierzig Jahren dort gesessen. Nur, daß sie noch ein wenig zerlumpter sind, als ehedem. Und daß an ihren, mit Bindfaden zusammengebundenen Schuhen die Sohle und das Oberleder sich noch mehr verzankt haben als früher und gar nichts voneinander wissen wollen. »Ich möchte heute nicht mit solchen Stiefeln spazieren gehen, – nein, das möchte ich nicht! Hier also hat sich nichts geändert. Hier blieb der Dunstkreis von Schubkarren, schwerer Arbeit, Schiffern, Roheit, Vagabunden, Kanalhuren, Schnaps und angeschwemmten Wasserleichen, die in den Winkeln, stillvergnügt, zwischen halbfauligen Äpfeln und Kohlstrünken im leise plätschernden Wasser auf und nieder tauchten.

Und dort drüben blickt schon, schräg hinten, mit ihrem mächtig gewölbten Buckel, die rote Riesenschildkröte des Anhalter Bahnhofs herüber, deren breite, für damals unerhört kühne Rundung ein Mann ersonnen und errechnet hat, der nachher kleine, liebe und bescheidene Bücher schrieb. Seltsam verkehrt: seine Phantasien goß er in statische Formeln und seine Wirklichkeiten preßte er in spießerliche Erzählungen; und sie brachten ihm mehr Ruhm als die kühnsten Neuerungen seines Vorstellungsvermögens, von denen kaum einer außerhalb der Fachkreise wußte. Wäre er aber zudem noch Preisringer gewesen, so hätte ihn das ganze deutsche Volk umjubelt.

Merkwürdig, wieviel Wagen vor dem Bahnhof vorfahren. Ganze Reihen schieben sich durch die zähen, schneeigen Schmutzkrusten heran. Klapp, klapp geht es. Die zugeworfenen Wagentüren zählen wie ein Uhrwerk. Ausgestiegen. Träger Nummer 27. Abgeladen. Ablohnung. Zögern und Achselzucken beim Herausgeben.

Ein richtiger Kutscher hatte schon ehedem nie Münze. Das weiß man von je. Noch aus den armseligsten Zeiten der roten Plüschdroschken zweiter Güte her. Wo es um sechs Dreier oder höchstens um zweieinhalb Silbergroschen ging. Aber jetzt war das anders geworden. Es waren zwar die alten, längst ausrangierten Wagen wieder hervorgeholt worden. Auch der gleiche, uralte Droschkenkutschergreis hat wieder – die jungen halten ja draußen den Kopf hin – sich auf den Bock gesetzt; aber so kleinlich wie ehedem ist er nicht mehr. Ob du ihm einen Zwanzig-, einen Fünfzig- oder einen Hundertmarkschein gibst, er sucht in allen Taschen, verzweifelnd, achselzuckend, nervös-erregt. Und kann zum Schluß die letzten zwei Mark nicht finden ... von den paar lausigen Kröten noch außerdem, den vierzig oder sechzig Pfennigen, redet er gar nicht mehr. Daß er die nicht hat ist Voraussetzung.

Das heißt, um der Wahrheit die Ehre zu geben, es verhält sich nicht ganz so: beim Zwanzigmarkschein kann der echte Kutscher die letzte Mark nicht finden, beim Fünfzigmarkschein die letzten zwei Mark und beim Hundertmarkschein die letzten drei Mark. Und von den anderen, nachschiebenden Wagen brüllen ein halbes Dutzend Kollegen, die anscheinend bestochen sind, um die Lage zu komplizieren, ein Potpourri von Flüchen und Beschimpfungen, so sich gleichmäßig auf Kutscher, Pferd und Fahrgast und auf seine soziale Lage verteilen. »Dusselkopp, kannst du denn mit deinen Flaumenaujust da vorne nich machen, daß de weiter kommst? Andere Leute wollen ooch mit'n Zug mit.«

Unser Kutscher hier aber, der tomatenfarbene mit der Stiefmütterchennase, war viel zu lange bei der Zunft, um diese Situation nicht herbeizuführen. Und Doktor Herzfeld, dem es nicht ganz klar war, ob er mit dem Flaumenaujust gemeint war oder das Pferd – trotzdem er mehr zur ersten Ansicht neigte – lachte und winkte ab und sagte sich das, was an dieser Stelle täglich in gleicher Bedrängnis sich hunderte sagen: Nun gut, wird es drei Mark mehr kosten.

Und erst in diesem Augenblick entspannten sich die Züge des Tomatenfarbenen. Und er öffnete den Mund, daß man seine Zahnstummel sah und rief, ganz munter noch für seine weißköpfige Bejahrtheit, während er schon an den Zügeln zog: »Glückliche Reise, Herr Doktor.« (Denn auf diesen Vornamen hatte er ihn gleich beim ersten Blick eingeschätzt.)

Vorher hätte er sich lieber die Zunge abgebissen als einen Ton zu sagen. Da konnte er nur mit den Achseln zucken.

Der ganze Bahnhof, die Vorhalle, die breiten Treppen hinauf war ein lärmendes, scharrendes, soldatengraues Gewimmel. Es waren vielleicht auch andere da, Zivilisten; aber Doktor Herzfeld sah sie nicht im Augenblick.

Ein kleiner Trupp von zwölf, vierzehn Mann, Soldaten in voller schwerer Feldausrüstung, keuchend und behangen von oben bis unten, der wohl irgendwo von Westen nach Osten mußte, umstand und umringte Doktor Herzfeld plötzlich, und einer fragte: »Wie kommen wir nach dem Schlesischen Bahnhof, und wann kommen wir da weiter?« Und während Doktor Herzfeld über das erste genau Bescheid gab und das zweite nachblätterte, betrachtete er diese Soldaten. Sie sahen alle gleich aus, vielleicht mit verschobenen Gesichtern, aber doch gleich ... mit denselben Augen, auf deren Grund etwas lag, als ob sie wirklich und wahrhaftig am hellerlichten Tage ein Gespenst gesehen hätten.

Er konnte nicht sagen, daß sie etwa roh aussahen, oder vielleicht mordlustig oder gar raubtierhaft-wild und tückisch, wie sie mit Blicken wie taggeblendete Nachtvögel in das Gewühl stierten. Sie sahen nur vertiert aus, gedörrt, verschmutzt, körperlich und seelisch verlaust, jeder Funken Geist in Gesicht und Augen verglommen, sie waren nur noch stumpfe, schwerfällige, von einem müden Lebensimpuls bewegte tierische Maschinen ... diese Schützengrabensoldaten, die Reste einer aufgeriebenen Abteilung, die man jetzt zum Ausruhen ein bißchen in den russischen Winter schickte.

Und sich nun sagen, schoß es Doktor Herzfeld durch den Kopf, während er langsam und dozierend sprach – die Leute schienen den Sinn schnell gesprochener Worte nicht mehr recht auffassen zu können, denn sie umdrängten ihn wie Kinder mit halboffenen Mündern – sich nun sagen: jeder von diesen war noch vor zwei Jahren ein Mensch; der war vielleicht ein Kaufmann, der war Arbeiter, der war Landwirt, der mit der Hornbrille war Student der Mathematik, der Schreiber, jener Kleine da ein Muttersöhnchen, das sich mit Griechisch quälte und heimlich Verse schrieb, ... jeder war vom anderen himmelweit verschieden, war in seiner Art voll von Impuls gewesen, von Streben, von Differenziertheit, war in seiner Art ringend um Licht, und die Seele erfüllt von all den Wirrnissen der Menschheitsgedanken, jeder von denen da ... war ... mal ... ein ... Mensch!

»Wenn jetzt am Schalter viel Gedränge ist« – denn er hatte das Gefühl, als ob er zwangsläufig in irgendein Schicksal verstrickt war, dem er durch die Maschen gleiten müsse – »so nehme ich das als Zeichen, daß ich nicht fahren darf und kehre um.« Und am Schalter war viel Gedränge, eine lange Kette bis herüber, Mann an Mann. Aber nebenan war noch ein Schalter, da gab's die gleichen Karten, und da stand niemand; einfach, weil die Menschen wie die Hammel sich immer einer hinter den anderen stellen. Sowie aber da Doktor Herzfeld sein Billett forderte, hatte er plötzlich einen ganzen Menschenschwanz hinter sich.

Und während Doktor Herzfeld nun in dem Gewühl langsam sich die breite Treppe emporschieben ließ, stockend und Herabsteigenden ausweichend, da hatte er eigentlich Berlin schon verlassen: – nun hielt ihn nichts mehr. Wie den letzten Leuchtturm vom Festland sah er noch vor seinem Stand den runden Kahlkopf des kleinen, dicken, freundlichen Buchhändlers, der ihn zu hundert Reisen mit Journalen versehen. Er hatte für ihn etwas von Wahrzeichen. Dann schwand auch dies. (Na, wenigstens den hatte der Krieg noch nicht unter seine Zahnräder gezogen.)

Die Bahnhofshalle war schon nicht mehr Berlin, das war Ferne oder zum mindesten neutraler Boden. Sie war Halbdunkel, weil man Jahre die Glasfenster nicht gereinigt hatte, weil der Tag grau war und weil der Qualm und Rauch der Lokomotiven, – die der angekommenen Züge, die vorn hielten, und die der abfahrenden weit draußen am Hallenende oder vor der Halle – nicht stieg und sich im Geäst der Eisenrahmen verfing, sondern niedersank in der schneefeuchten Luft, die durch das breite Halbrund, durch das Riesentor, das in die Weite führte, hineingeweht wurde. Und sie war erfüllt vom Gewühl, Lärm und dem Scharren zahlloser genagelter Schuhe durcheinander tappender Soldaten, die unter dem gewaltigen Halbrund pygmäenhaft wirkten. Das Draußen mit seinem Blick über Schienenflächen, auf die Signalbrücken, auf Häuserreihen, die Spalier bildeten, erschien von hier aus heller als es eigentlich war und blendete Doktor Herzfeld mit seiner flirrigen Schneeluft.

Oh, da war ja Nummer 27, ein Prachtkerl, würdig und schwitzend, von stiller Menschlichkeit, ein Athlet, ergraut zwischen Koffern, mit denen er jonglierte wie andere mit Bällen. Er hatte es fertig bekommen, in all dem Gewimmel – denn der Zug war schon übervoll und wurde durchrast von Platzsuchenden, die wie angstvolle Hühner die D-Zug-Gänge entlangflatterten – einen Eckplatz für ihn zu belegen, über den er gewacht hatte mit Ausdauer und Grobheit, bis Doktor Herzfeld herangekommen war. Außerdem war er schon allein erfreulich durch sein Vorhandensein, denn seine überreiche Schar von Kollegen war bis auf wenige Dutzend hier zusammengeschmolzen, die sich stolz zurückhielten und sich sehr rar machten. Es war schon ein Glück, – denn alle sonst mußten sich krumm schleppen mit ihren Gepäckstücken, – daß er diese Perle Nummer 27 so einfach und mühelos erwischt hatte. Doktor Herzfeld war ganz vergnügt darüber, bat einen Nachbarn, über diesen Platz fürder zu wachen, und stieg aus, um – schon Gast und Fremder – auf dem Perron noch ein wenig auf und nieder zu gehen. Jetzt war er schon auf Reisen, sein Gesicht war schon anders geworden. Jetzt war er schon ganz Flaneur, rerum novarum cupidus ... Trotzdem um ihn der ganze Maskenball des Militarismus braust, ist im Augenblick der Krieg weit weg von ihm; selbst Kurt, der arme Junge, ist irgendwo ganz hinten unauffindbar in einem Winkel seiner Seele verstaut. Wie gut er's hatte, daß niemand von ihm Abschied nahm, und er von niemand Abschied zu nehmen brauchte wie all die anderen da.

Doktor Herzfeld schlenderte dem Hellen entgegen zur Lokomotive vor bis an die weißen, stöbernden Flocken heran; er liebte es, sich die Lokomotiven anzusehen, die den Zug ziehen sollten, so wie man vor zum Pferd geht und ihm den Hals klopft, ehe man sich in die Equipage setzt. Er versteht von Lokomotiven nichts; aber er hat sie gern, weil sie geheimes Leben haben, weil sie schwer sein können wie Percherons, und schön und schlank und stahlsehnig wie Araber, die man nur aus alten Lithographien kennt: der Hengst Mustafa. Die Lokomotive ist eine elegante, langgestreckte, vielachsige mit freiliegendem Kessel – eigentlich guter, neuer Typ, wenn man denkt, daß die besten im Felde sind. Nun ja, sie könnte etwas mehr gepflegt, etwas sauberer gestriegelt sein! Man hat ihr zu Saufen gegeben, und nun zittert sie schon heimlich in allen Gliedern vor Fieber, wieder hinauszustürmen. Man möchte ihr beruhigende Worte sagen: ja, ja, mein Tierchen! und ihr ein Stück Zucker auf flacher Hand reichen.

Der Heizer mit seinem berußten und verschmierten Gesicht sieht mißtrauisch auf Doktor Herzfeld herunter, er wittert einen Spion. Doktor Herzfeld wendet sich und schlendert, die Hände auf dem Rücken, durchs Gewühl; denn es kommen immer mehr Menschen, die mitwollen, – ganze Scharen von Soldaten drängen in die Gänge hinein, durchstolpern den Zug. Es ist doch wundervoll, in diesem Leben unbeteiligt zu sein, nur Zuschauer.

Ein Coupé erster Klasse, das verschlossen war, wird aufgesperrt, und ein blutjunges Bürschchen von Leutnant geht hinein. Wird ein Prinz sein. Doktor Herzfeld betrachtete ihn mit jener Anteilnahme, mit der er Fossilien stets betrachtet. Er will etwas Merkwürdiges, Besonderes an ihm entdecken; – aber es gelingt ihm nicht. Der kleine Leutnant sieht gelangweilt und sehr unbedeutend aus, wirklich auffallend minderbegabt, nach gar nichts.

Ach, dieses Mädchen in Pumphosen ist ein Schaffner! Es gleicht einem Feldwebel, der sich mit Geschick die Haare hat lang wachsen lassen.

Leute, die früher so fein waren, daß sie zu sich selbst Sie sagten, wie der Onkel im Biberpelz da, schleppen ihre Köfferchen und haben die Fahrkarten zwischen den Zähnen wie Hunde, die apportieren.

Da werden die Pässe der Soldaten visiert und gestempelt. Ein ruhiger Fels in der Brandung der Empfindungen, steht der große, etwas angegraute Vize mit dem Blechschild um den Hals an seinem Gartentisch. Er ist nicht freundlich, nicht unfreundlich: der fragt, jener fragt; er antwortet stets gleichmäßig dienstlich, ... nur abgewogen im Ton nach oben und unten. Für den Zivilisten – er ist in den Hintergrund geschoben, zur fünften Menschengarnitur degradiert – gibt's hier keine Paßkontrolle; aber er soll nur nicht glauben, daß etwa der Herr Staat ihm kein Interesse schenkt, ihn nicht beachtet. Auf jedem ruhen die Blicke der beiden schäbig-gentilen Kriminalschutzleute, die tun, als ob sie zufällig einen Bekannten am Zug treffen wollten. Auch Doktor Herzfeld haben sie schon zu seinem stillen Behagen eingehend inspiziert. Sie scheinen sich nicht ganz klar zu sein, was sie aus ihm machen sollen.

Aber etwas fehlt mir gegen einst, denkt Doktor Herzfeld: wo ist der Kellner hin, der die Karre schiebt und »warme Wierstchen«, »Schinkenbrot«, »Bier«, »Wablezieh« (nie habe ich ergründen können, was Wablezieh eigentlich war) brüllte? Wo der Pikkolo mit dem Bauchladen, dem Tablett vor den Bauch gebunden, auf dem ein halbes Dutzend Apfelsinen herumkollerten, und der immer im Dauerlauf war?! ausgestorben, tot, weggewischt aus der Menschheitsgeschichte. – Schade, er käme mir jetzt zu Paß.

Doktor Herzfeld schlendert in den Wartesaal, Soldaten schlafen da mit den Köpfen auf den Tischen; einer hat sich sogar über drei Tornister auf die Erde gelegt, ... muß sehr müde sein, der arme Kerl! Vielleicht hat man da am Büfett etwas Eßbares; denn er hat eigentlich nichts genossen seit gestern nachmittag. Leer alles, als ob hier Heuschreckenschwärme sich niedergelassen hätten. Nur auf kleinen Tellern wabbeln Kleckschen von scheußlicher Himbeerfarbigkeit.

»Was ist denn das?« fragt Doktor Herzfeld mißtrauisch den in Flecken gepanzerten Kellner, »kann man das essen?«

»Götterspeise,« meint der Kellner und schnalzt mit der Zunge, »vorzüglich!«

Doktor Herzfeld nimmt, zahlt, kostet stehend vor der Theke, überlegt, was geschehen würde, wenn er dem grinsenden Kellner den Bissen ins Gesicht spucken würde, läßt ihn aber doch vorsichtig auf den Löffel und von dort auf den Teller zurückgleiten.

Goethe hat die Götterspeise vorausgeahnt, sagt er sich im Herausgehen (immer Goethe, überall Goethe), als er da schrieb: »Es gibt nichts Armseligeres unter der Sonne als euch Götter!«

Draußen ist Abschied ein Massenartikel. Doktor Herzfeld geht mitten durch diese Rührung, er leidet kein Einzelschicksal, aber ihn würgt das Schicksal aller in der Kehle.

Einsteigen, Losreißen, Weinen, Winken, ... auf wie wenige Formeln das menschliche Erleben doch zurückzubringen ist; und doch glaubt jeder, es würde für ihn allein da oben gekocht. Türen klappen, alles drängt sich an den Zug, als ob man ihn gar nicht fortlassen will; Pfeifen, unmerkliches Anziehen, – didumdada: der Perron mit den tücherschwenkenden und weinenden Menschen schiebt sich langsam nach rückwärts. Ein Mann, rot, keuchend, verzerrt, mit offenem Mantel, mit zwei Kabinenkoffern sich im Rennen abwechselnd gegen die Knie schlagend, will noch einsteigen; es geht nicht mehr – man brüllt ihn an, reißt ihn brüsk zurück.

Doktor Herzfeld schaut ihm durch das geöffnete Fenster friedfertig zu.

Zu jedem Zug, sagt er sich, kommt einer zu spät. Der einzige Witz ist es nun (wenn das wirklich belustigend sein soll) darauf zu achten, daß es stets ein anderer und nie man selbst ist!

Dann zieht Doktor Herzfeld an dem Gurt, das Fenster schnellt hoch, schnappt ein, und Doktor Herzfeld läßt sich in die graugrünen Polster seines Ecksitzes fallen. Und während draußen vor seinen Blicken der dunkle Kanal vorbeigleitet und ein Hochbahnzug – gelb-rot-gelb – auf seinem Eisengerüst sich darüber eilends und lautlos-reptilienhaft hinschiebt, versinkt in seinem Geist alles der letzten Monate und des letzten Tages, schwindet ihm Berlin und seine peinigende Unfrohheit. Jetzt, in diesem Augenblick, ist er ganz Aufnahmeapparat, ganz Empfangsstation wieder, mit wachen Sinnen, rerum novarum cupidus.

* * *


 << zurück weiter >>