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Fortsetzung

Am nächsten Morgen betrachtete Liesel heimlich ihren Mann, der munterer als am vorhergehenden Tage aussah. Er nahm die Morgenzeitung und las, der Mörder sei gefunden worden. Der verwitwete Taglöhner Zeno Stux, der sich hier seit einem Jahre aufhielt, stammte aus Niederwaldbach, der Heimat Franz Moorbruchs. Er hatte zugegeben, daß er den Sattlergehilfen kannte. Stux galt bei seinen Landsleuten als gewalttätig, trunksüchtig und arbeitsscheu. Vor Jahren hatte er eine schwere Blutschuld auf sich geladen. Damals wurde er von einem Forstgehilfen beim Schlingenlegen ertappt und gestellt; er widersetzte sich und brachte dem jungen Beamten einen schweren Stich bei, an dessen Folgen der junge Mann starb. Nachdem Stux fünf Jahre im Zuchthaus verbüßt hatte, zog er im Lande umher. Seit einem Jahre arbeitete er in einem Holzsägewerk.

Verdächtig erschien, daß er nach Angabe seiner Mietwirtin in j-enen Wochen, in denen der Mord geschah, häufig spät heim kam und mehr Geld ausgab als sonst.

Espel blickte auf.

»Gott sei Dank,« sagte seine Frau, »jetzt fällt uns eine Last von der Seele. Wenn es nun auch noch ein paar unruhige Wochen gibt, so nimmt es doch ein Ende. Das Verbrechen muß bestraft werden.«

Espel las den Bericht zu Ende. Stux verweigere die Auskunft darüber, wo er an den Abenden um die Zeit der Tat gewesen sei.

Der Buchhalter legte die Zeitung auf den Tisch.

Liesel fragte: »Du hast dich viel darum gequält; nun mußt du doch auch aufatmen, daß der Mörder entdeckt wurde.«

Er gab keine Antwort und verließ bald darauf seine Wohnung.

Als er in dem Wintermorgen über die Wiese ging, marterte ihn sein Gewissen. Nun hatten sie einen Unschuldigen wegen Mord verhaftet.

Vor Dirrs Haus standen die Bäume in dichtem Rauhreif.

Der Professor war verreist; man erwartete ihn erst in einigen Tagen.

Niedergeschlagen wanderte Oskar in die Kanzlei.

Er nahm den Schlüssel zu seinem Schreibtisch aus der Westentasche.

»Ich will die Papiere und das Geld auf die Polizei tragen und alles angeben. Komme, was wolle!«

Der Schlüssel ging nicht hinein.

Er nahm eine Heftnadel, bohrte in den hohlen Schlüssel und versuchte es wieder. Der Schlüssel griff nicht ins Schloß.

Er schickte zu dem benachbarten Schlosser.

Der junge Geselle öffnete mit einem Sperrhaken.

Die Schublade war leer.

Der junge Mensch schraubte das Schloß ab und ging.

Oskar begann rastlos zu arbeiten, so daß keine Sekunde frei blieb, zu denken, was nicht zur Arbeit gehörte. Gewaltsam drängte er jeden Gedanken zurück und holte aus dem Zimmer des Chefs immer wieder neue Arbeit.

Als der Anwalt vom Gericht zurückkehrte, trat hinter ihm der Schlossergehilfe ein und brachte das Schloß.

»Was ist denn da geschehen?« fragte Doktor Müller.

»Es hat jemand mit einem falschen Schlüssel aufgesperrt,« antwortete der Geselle.

Der Chef legte Mappe und Hut weg. »Fehlt Ihnen etwas?« fragte er Oskar.

»Nein!«

»Das muß genau untersucht werden,« sagte der Anwalt, ging in sein Zimmer und wartete, bis der Schlosser sich entfernte.

Oskar verhielt sich ruhig. Es war ja gleichgültig, was nun noch geschah. Er hatte gelogen und mußte weiter lügen. Hier, zu Hause, überall.

Der Anwalt rief ihn.

»Mann haben Sie die Schublade abgeschlossen?«

»Gestern abend.«

»Wissen Sie das sicher? Sperrte das Schloß?«

»Ja. Es ging wie immer.«

»Wer könnte ein Interesse haben, Ihre Schublade zu öffnen? Doch es wird sich ja zeigen, wer hier eingebrochen hat. Vielleicht hat sich der Schlossergeselle auch getäuscht und es hat gar niemand versucht, das Schloß zu öffnen.«

Später als sonst kam Espel herein.

Die Schwiegermutter war da und hatte ihren Gatten mitgebracht. Er feierte heute sein fünfundzwanzigjähriges Dienstjubiläum und war im Büro von Vorgesetzten und Kollegen geehrt worden.

Jetzt sollten auch die Kinder an der Feststimmung teilnehmen. So vergingen ein paar freudige Stunden.

Vater Wolperts strahlte und wäre am liebsten dageblieben, aber seine Frau wollte die ›Kinder‹ am Abend zu einem Gläschen Punsch bei sich sehen.

 

Als Oskar von daheim wegging, begleitete ihn Liesel bis vor die Wohnungstüre. Ihre Eltern blieben noch ein paar Minuten, denn der Sekretär sollte am Nachmittag dem Büro fern bleiben.

Liesel schmiegte sich an ihren Mann. »Ist es nicht, als wäre ein Fluch von uns gewichen, seit das Verbrechen aufgeklärt ist?«

»Ja!« rief Espel und sprang eilig über die Treppenstufen hinunter.

Sie stand oben und sah zwischen die Geländerführung zu ihm hinab.

Er blickte noch einmal hinauf, dann stürmte er aus dem Haus.

Schnell ging er in die Kanzlei.

Wie er abends als Letzter das Zimmer verlassen wollte, kam die Putzfrau herein.

»Verzeihen Sie, Herr Buchhalter! Heut' nachmittag hörte ich, daß bei uns eingebrochen worden ist.«

»Unsinn!«

»Mir soll's recht sein, wenn's Unsinn ist,« erwiderte die Frau, »aber ein Schlosser ist dagewesen, und der hat von einem verdorbenen Schloß geredet, als ihn die Mädels fragten, wie er aus dem Haus gegangen ist.«

»Geschwätz!« murmelte Oskar und wandte sich dem Fenster zu.

Frau Demlein hob die Schultern. »Mich kümmert das Geschwätz ja nicht. Wenn mir einer was sagen möchte, dem wollte ich schon das Nötige beibringen. Aber etwas muß ich Ihnen doch noch sagen. Wie ich heute früh gegen sieben, gleich, nachdem das Haus geöffnet worden war, hier zu arbeiten anfing und in Ihrem Zimmer einheizte, da kam bei der Kanzleitür einer herein.«

»Wer war's denn?«

»Ich hab' ihn nicht gefragt. Ein langer, schlottriger Kerl war's.«

»Was wollte er denn?« fragte Espel.

»Das weiß ich nicht. Vielleicht war's unvorsichtig, daß ich die Kanzleitüre angelehnt ließ. Aber man denkt doch nicht, daß einer um sieben Uhr zum Stehlen kommt. Er fragte mich, ob Herr Espel hier angestellt sei. Ja, sage ich, aber der Herr Buchhalter kommt erst später. Dabei ging ich so hin und her, und wir reden miteinander. Der arme Kerl hat mich gedauert, denn er hatte gewiß noch nichts im Magen. Dort auf der Bank am Ofen saß er und wollte auf Sie warten. Da sagte ich, wenn Sie so lange hier sitzen bleiben, bis ich wieder herauf komme, bring' ich Ihnen eine Tasse Kaffee mit. Wie ich aber dann nach zwanzig Minuten wiederkomme, war er fort. Nicht wahr, Herr Buchhalter, dem Herrn Doktor erzählen Sie's nicht – wenn's nicht sein muß.«

»Ich sage nichts.«

 

Über den Mord auf der Wiese erschienen nun wieder ständige Nachrichten. Zeno Stux leugnete nach wie vor und verweigerte jede Angabe, wo er am Abend der Tat gewesen war.

Ein paar Seiten weiter stand in der Zeitung: »Heute früh wurde von unbekannter Hand in den Briefkasten des Polizeipräsidiums ein Päckchen gelegt, das eine Reihe voll Papieren enthielt, die dem Ermordeten gehörten – dazu vierhundertfünfzig Mark in Banknoten. Offenbar handelt es sich um den geraubten Inhalt der Brieftasche des Sattlergehilfen Moorbruch. Man steht vor einem Rätsel. Sollte das der Versuch eines Helfershelfers des Verhafteten sein, die Untersuchung auf eine falsche Fährte zu lenken und den Anschein zu erwecken, als sei der Schuldige, bei der Festnahme eines Unbeteiligten von Reue ergriffen, bestimmt worden, durch Einsendung der Überführungsgegenstände den Verdacht gegen den Verhafteten zu entkräften?«

Oskar las diesen Bericht mit einem seltsamen Gemisch von Empfindungen.

Gloos hatte ihm die Papiere gestohlen und an die Polizei gesandt. Er wollte offenbar den Unschuldigen retten. Dieser Regung freute sich Espel und schämte sich zugleich der eigenen Mutlosigkeit.

Heute gelang es ihm leichter als gestern, sich harmlos zu geben.

Als er mittags heimkam, fragte Liesel: »Der Mann scheint ja wieder nicht der Richtige zu sein, wenn ein anderer den Raub gehabt hat?!«

Oskar erwiderte leichthin: »Wenn man sich um all das kümmern wollte, hätte man viel zu tun. Warten wir's ab!«

Sie schaute ihn verwundert an.

»Meinst du nicht, wenn ein Mensch die Papiere so lange mit sich herumgetragen hat, müßte sich doch irgend eine Spur von ihm darauf finden lassen. Fingerabdrücke vielleicht.«

Die Blutspuren am Arbeitsbuch Franz Moorbruchs und an dem Briefe seiner Mutter fielen ihm ein. Aber Gloos hatte ja früher nichts begangen. Von ihm besaß die Behörde keine Fingerabdrücke. Ihn überführten diese Zeugen nicht, wenn er sich nicht selber verriet.

Liesel fragte nicht mehr.

Aber als sie auseinander gingen, lud er sie ein, ihn mittags im Büro abzuholen.

Sie wollte einmal auswärts essen und dann die Eltern besuchen, um zu hören, wie ihnen der Festtag bekommen war.

Er wollte nicht mit sich allein sein.

Als sie dort ankamen, sagte Frau Wolperts: »Die Base Gloos hat uns schreiben lassen, daß ihr Thomas nicht zu ihr gekommen ist. Jetzt ist sie erst recht in Sorge um ihn. – Es wird nichts übrig bleiben, als noch einmal nachzufragen, vielleicht sollte man gleich zur Polizei gehen.«

Espel ließ sich nicht merken, wie ihn dieser Auftrag beunruhigte, und versprach, die nötigen Schritte zu tun.

Seit gestern duzten sich die Schwiegereltern und Oskar. Frau Wolperts sagte: »Wenn du ihn hier triffst, dann bringst du ihn her. Ich möchte ihm den Kopf waschen. So behandelt man seine Mutter nicht. Wir sind doch verwandt mit ihm, und wenn er einen dummen Streich macht, müßte man auch darunter leiden.«

Als Oskar nachmittags in die Kanzlei kam, saß auf der Wartebank eine schlicht gekleidete Dame mit sympathischem, aber ernstem Gesicht.

Sie wartete auf den Anwalt.

Doktor Müller blieb lange aus.

Endlich erhob sie sich und trat zu Oskar an den Tisch.

»Könnte ich ein paar Worte mit Ihnen im Vertrauen sprechen?«

Er verbeugte sich, stand auf und schloß die Zwischentüre.

»Ich darf wohl annehmen,« begann sie, als ihr der Buchhalter einen Stuhl neben seinen Schreibtisch gestellt hatte, »daß Sie schon längere Zeit hier tätig sind und meine Mitteilungen genau so streng geheim halten wie Ihr Herr Chef. Ich kann keine Zeit verlieren ...«

Oskar nannte seinen Namen und versicherte sie seiner dienstlichen Verschwiegenheit.

»Ich heiße Emma Adeiher und bin Lehrerin. Der wegen Mords verhaftete Zeno Stur ist mein Stiefbruder.«

Oskar fühlte, wie ihm alles Blut aus den Wangen wich.

»Ich will nichts unversucht lassen, meinen Stiefbruder möglichst bald von dem Verdachte und aus dem Gefängnis zu befreien. Er hat sonst niemand auf der Welt als mich, und er ist unschuldig.«

»Das weiß ich.«

Emma Adeiher sah ihn verblüfft an.

Der Leidenszug in dem Gesicht der Lehrerin hatte den Bann von seinem Wesen gelöst. In diesem Augenblick war er zu keiner niedrigen Handlung fähig. Nie stand seinem Herzen das Schicksal seines Verwandten Gloos näher, das in seiner Hand lag. Alles, was jetzt getan werden konnte, mußte um der Wahrheit willen geschehen. Noch erblickte er nicht den Weg. Doch das Ziel war ihm klar.

Die Lehrerin, die sah, wie es in ihm rang, fragte: »Sie wissen, daß mein Stiefbruder unschuldig ist? Ich bitte, sagen Sie es mir. Sein und mein Leben hängt daran.«

Oskar sah ihr fest ins Auge. »Vertrauen Sie mir?«

»Ja!«

»Dann gehen Sie jetzt fort von hier und sagen Sie mir, wo ich Sie nach Kanzleischluß treffen kann.«

Einen Augenblick schwankte sie. Dann erwiderte sie: »An den Stufen der Cyrilluskirche.«

Er stand auf und reichte ihr die Hand. »Ich werde kommen.«

Sie schaute ihn ruhig an. Sein Auge wurde hell bei diesem Blick.

»Um sechs Uhr« – sagte sie – »an der Cyrilluskirche.«

 

Espel rief das Einwohnermeldeamt des Polizeipräsidiums an, und nach wenigen Minuten kam die Kunde, daß der Friseurgehilfe Thomas Gloos bei dem Barbier Czipka, Gertrudenstraße 119, in Stelle und Wohnung gemeldet sei.

Nun schickte Oskar einen Dienstmann nach der Gertrudenstraße. Zwei Zeilen überbrachte er Thomas Gloos, die ihn zu Professor Dirr riefen.

Vorher hatte Oskar den Professor ans Telephon gebeten und angefragt, ob ihm gegen sieben Uhr sein Besuch erwünscht wäre.

Dann schickte er das Bürofräulein zu seiner Frau und ließ ihr sagen, sie möge ihn erst später erwarten.

Eine Viertelstunde vor Kanzleischluß ordnete Oskar seinen Schreibtisch und prüfte noch einmal den Schlüssel an den Schubladen, ehe er diese abschloß. Dabei zog er die Lade mehr heraus als sonst. Sie bekam das Übergewicht und fiel zu Boden.

Da entglitten ihr zwei Dokumente; das Arbeitsbuch Franz Moorbruchs und der Brief seiner Mutter.

Gloos hatte also Ruhe und Überlegung genug besessen, unter den Papieren zu wählen und das zurückzulassen, was ihm vielleicht gefährlich werden konnte.

Mit einem Gefühl des Ekels stieß Oskar die Schublade in den Tisch.

Die Papiere steckte er zu sich.

Ungeduld trieb ihn nach der Cyrilluskirche.

Dort begrüßte er die Lehrerin und ging dann neben ihr her. Sie vernahm nun alles, was seit jener verhängnisvollen Mordnacht geschehen war.

Er verschwieg nichts.

Als er zu Ende war, blieb sie stehen.

Er sah, wie ihre Augen flammten.

»Wollen Sie nun auch mich hören?«

Er nickte, und ein banges Gefühl beschlich ihn.

»Ich will nicht als Stiefschwester eines Unschuldigen zu Ihnen reden – nur als Mensch zum Menschen. Sie glauben, etwas Besonderes getan zu haben. Mir erscheint das anders. Ihre Pflicht wäre gewesen, der Polizei mitzuteilen, was Sie wußten.«

»Aber meine Familie ...«

»Wenn Sie nur Ihrer Familie leben wollen, versündigen Sie sich an anderen Menschen.«

Die klaren Worte trafen ihn tief. Zugleich aber empörte es ihn, daß sie so entschieden urteilte.

»Sie verkennen alles, was menschlich ist!« erwiderte er. »Die Tat und der Täter und mein Verhalten dabei lassen sich nicht mit dem gewöhnlichen Maß messen. Es gibt Ausnahmefälle ...«

»Konnten Sie voraussehen, daß ein Unschuldiger in schwerste Not geriet, und mit ihm noch jemand?«

Scheu blickte er zur Seite.

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander.

Dann blieb sie stehen und begann: »Ich bin auf dem Land aufgewachsen als Tochter eines Grenzwächters, der ein trauriges Leben hinter sich hatte. Er war der Sohn eines bekannten Malers und von seinen Eltern für die Kunst bestimmt worden. In seiner Studienzeit verlor er Vater und Mutter, die einer Gasvergiftung zum Opfer fielen. Damit war für ihn alles vorbei. Nach vielen Versuchen, sich einen Lebensunterhalt zu schaffen, wurde er Zollwächter in einem Grenzdorf, wo er die Lehrerstochter heiratete und mit ihr und mir, dem einzigen Kinde, lebte. In einer Nacht traf ihn die Kugel eines Schmugglers. Als mein Vater starb, war ich in einer Schule in der Kreisstadt untergebracht worden. Meine Mutter heiratete einen Grenzbauern. Der Sohn dieser Ehe war mein Stiefbruder. Von einem müden Mann und einer früh gealterten Frau nicht genügend beaufsichtigt, wurde er beim Schlingenlegen ertappt und stach den Forstbeamten nieder.«

Sie senkte den Kopf etwas und schwieg einen Augenblick. »Man verurteilte ihn zu fünf Jahren Zuchthaus. Meine Mutter starb in dieser Zeit, und der Vater folgte ihr. Ich war damals hier Lehrerin. Begreifen Sie, wie ich unter diesen Ereignissen litt?«

Oskar schwieg und senkte den Kopf.

»Ich konnte meinen Stiefbruder nicht verachten und verwerfen. Ich wußte ja, daß ihn mangelnde Erziehung auf Abwege gebracht hatte. Und er hing an mir! Sooft ich in den Ferien heimgekommen war, fühlte er sich glücklich. Er wäre ein guter Mensch geworden, wenn ich bei ihm hätte bleiben können. Als er aus dem Zuchthause kam, hörte ich lange nichts von ihm. Eines Abends traf ich ihn vor meiner Wohnung. Es fiel ihm schwer, Arbeit zu finden. Aber er hat sie gesucht vom ersten Tage an, und er hat sie gefunden und sich erhalten bis zu dem Tage, an dem er verhaftet wurde. Nun ist alles zerschlagen und vorbei für ihn. Er hat gearbeitet, und nur in den Abendstunden kam er zu mir. Es dauerte lange, bis ich ihn so weit brachte. Meinen Hausleuten sagte ich, er sei ein Verwandter von mir, der sonst niemand auf der Welt habe. Jeden Pfennig, den er erübrigte, brachte er mir, und ich habe das Geld für ihn angelegt. Jetzt ist alles zerschlagen; er wird in Elend und Verachtung sinken, auch wenn er wieder frei wird. Und ich weiß, daß es sein größter Kummer ist, daß er mir durch sein unverschuldetes Unglück Schande bereiten könnte. Er wird meinen Namen nicht nennen; er wird sich lieber verurteilen lassen, ehe er bekennt, wo er an jenem Abend gewesen ist. Er wird von hier fliehen, wenn er wieder los kommen sollte. Aber ich will ihn nicht im Stiche lassen – und wenn ich meine Stelle verlieren müßte.« Sie standen vor dem Tore des Professors Dirr.

 

Der Professor empfing sie in seinem Bücherzimmer. Er sah verwundert auf, als die schöne Frauengestalt eintrat.

»Fräulein Emma Adeiher,« sagte der Buchhalter, »die Stiefschwester des zu Unrecht Verhafteten.«

Die Stirne des Gelehrten verdüsterte sich.

Dann bot er beiden einen Sitz.

»Ich weiß, Herr Professor,« begann Oskar, »daß Sie mir nicht zürnen, wenn ich noch einen anderen zu Ihnen herrief. Ich hoffe, er kommt. Ich erzählte dem Fräulein alles, darunter manches, was Sie nicht wissen, Herr Professor. Der Mörder hat mir inzwischen die Überführungsgegenstände zugeschickt und sie dann heimlich wieder aus meinem Büro geholt – bis auf diese zwei.«

Er legte das Arbeitsbuch und den Brief der Frau Gloos auf den Tisch. Dirr nahm die Dokumente und las den Brief.

Dann legte er beides wieder auf den Tisch.

»Was haben Sie mit ihm vor, Fräulein?« fragte er.

»Ich will ihm zusprechen, daß er sich freiwillig stellt.«

»Und wenn er das nicht täte?«

»Dann wünsche ich, daß er festgenommen wird. Oder soll die Wahrheit nicht an den Tag kommen?«

Der Professor sah Oskar an. »Was ist Ihre Meinung?«

»Die Wahrheit soll siegen.«

Ein trübes Lächeln flog um Dirrs Mund.

Er ging an die Nebentüre, öffnete sie und winkte hinaus.

Es dauerte eine Weile; dann kam ein Weib, jung an Jahren und früh gealtert vor Entbehrung und Leiden, mit einem kränklichen Kind im Arme herein. Oskar betrachtete die beiden erschüttert, und die Augen der Lehrerin trübten sich.

»Das ist die Schwester des Mannes, den man unschuldig verhaftet hat,« sagte der Professor zu dem scheuen Geschöpf.

»Er hat für sich seine Geliebte und ihr Kind geschickt,« sagte er zu Oskar und der Lehrerin.

»Er hat's für uns getan!« stöhnte das Mädchen und brach nieder vor Emma Adeiher.

Oskar wandte den Blick verzweifelt weg.

Von krampfhaftem Weinen geschüttelt, lag das Mädchen vor der Lehrerin.

Emma hob langsam die Hand und legte sie auf den fahlblonden Scheitel des Mädchens. »Stehen Sie auf. Wir wollen ruhig reden.«

Zitternd richtete sich die zusammengesunkene Gestalt halb auf. »Er hat's für uns getan!« sagte sie nochmals.

Jetzt war die Fremde ganz aufgestanden und hatte sich mit dem Kind im Arm auf einen Stuhl gegenüber der Lehrerin gesetzt.

»Mein unschuldiger Bruder darf nicht zugrunde gehen,« sagte Emma und schaute das mitleidswerte Wesen mit Blicken an, die milder waren als ihre Worte. »Lassen Sie mir das Kind. Ich will dafür sorgen, und ich will auch Ihnen helfen, soviel ich es vermag.«

Da drückte das junge Weib ihr Kind an sich.

»Mein Kind soll ich Ihnen geben – und Sie bringen seinen Vater aufs Schafott! Eher spring ich mit dem Kind ins Wasser.«

Bleich stand die Lehrerin da.

»Beruhigen Sie sich!« sagte Dirr zu der vor Erregung Zitternden. »So ist es nicht gemeint.«

Emma Adeiher unterbrach ihn: »Ich kämpfe wie sie um einen, der sonst niemand hat auf der Welt – und er ist unschuldig.«

Da hob das abgezehrte, verkümmerte Geschöpf den Kopf und preßte ihr Kind an sich.

»Schuldig oder unschuldig,« sagte sie, »von der Lieb' wissen Sie wohl nichts?«

Ihr bleiches Gesicht beugte sich hinunter auf ihr Kind. Ihre Lippen preßten sich auf den winzigen Mund, und mit einem Lächeln, in dem die Erinnerung längst versunkenen Glückes lag, flüsterte sie: »Er hat uns lieb gehabt.«

Der Buchhalter wandte sich ab.

Die Lehrerin strich sich mit der Hand über die Augen.

»Ich will Sie nicht zugrunde richten,« sagte sie. »Ich schweige.«

Sie wendete sich zur Türe und ging hinaus.

Das junge Mädchen stand betroffen und blickte ihr stumm nach.

Der Professor ging rasch hinaus und wollte sie zurückhalten. »Bleiben Sie! Das Mädchen ist ruhiger geworden. Wir wollen weiter sprechen; wir müssen einen Weg finden, der Wahrheit, Recht und Liebe vereinigt. So dürfen Sie nicht aus meinem Hause gehen.«

Sie wendete sich um und schaute ihm in die Augen.

Eine so zwingende Macht lag in ihrem Blick, daß er verstummte. Er begriff, hier waltete ein Wille, der keinen Widerspruch duldete, der stark genug war zu dem, was wenige können – alles zu opfern.

Er stand noch stumm, als schon die Gartenpforte klang.

Mit Empfindungen, die sich in dieser Stunde nicht klären konnten, ging er in das Zimmer zurück.

»Wir wollen morgen, wenn wir alle ruhiger geworden sind, weiter sprechen,« sagte er zu Espel; dann wendete er sich der jungen Wäscherin zu: »Sie bleiben diese Nacht hier im Fremdenzimmer.«

Willig ging sie in das Zimmer zurück, aus dem sie gekommen war. Ihr Haß gegen die Lehrerin war gebrochen. Unbewußt fühlte sie das Gewaltige heraus aus den Worten: »Ich schweige.«

Espel wanderte heimwärts.

Er war noch nicht völlig zu sich gekommen, als er vor seinem Hause stand.

Liesel empfing ihn blaß und geängstigt.

Da faßte er ihre Hand, führte sie in das Zimmer und erzählte ihr alle Qual und Unrast, die er in diesen Wochen erlebte.

In ihr löste sich alles in Liebe auf. Sie dachte nur an ihn und hoffte, daß er bald von all dem Traurigen befreit werden möge.

Am anderen Ende der Stadt lag das abgehärmte Weib mit dem Kind im Arm; hier am Rand der kahlen Wiese der zermarterte Mann und seine Frau. Sie alle schlummerten traumlos.

Weit draußen im kleinen Vorstadthaus lag ein Weib ohne Schlaf in stillem, hartem Seelenkampf – die Lehrerin, die alles der Menschenliebe geopfert hatte, und in seiner Gelehrtenstube saß ohne Schlummer der Professor, der so lange gewähnt, er sei des Lebens Meister.

Nun glühte ihm die Stirn von seinen Rätseln.

 

Am anderen Morgen, nachdem Espel in seine Kanzlei gegangen war, kleidete sich Liesel an, um das Haus zu verlassen. In diesem Wirrwarr wollte sie Rat bei ihrer Mutter suchen. So sehr sie den gewalttätigen Willen der Mutter scheute, wenn sie gereizt wurde, so hoch schätzte sie ihre Lebensklugheit, die in allen schwierigen Lagen immer das Rechte getroffen hatte. Und sie brauchte ja nicht mehr zu fürchten, daß sie aus Abneigung gegen Oskar falsch beurteilte, was ihn anging, denn er stand ja jetzt bei ihr in Ehren.

Frau Wolperts rief wiederholt, während ihre Tochter erzählte: »Das ist ja wie im Theater.«

Endlich war Liesel fertig. Da sagte die Mutter: »Für einen Weiberverstand ist das zu viel. Das muß ein Mann entscheiden.«

Liesel schaute ungläubig auf.

Wenn jetzt auch die Mutter versagte, dann gab es überhaupt keinen Rat.

Die Sekretärin griff zu Hut und Mantel und kleidete sich an.

»Wohin willst du denn gehen?« fragte die Tochter ängstlich.

Frau Wolperts lachte. »Da fragst du noch? Zu deinem Vater geh' ich.«

Liesel traute ihren Ohren nicht. Ihr Vater, den die Mutter sonst immer als willenlos behandelte, sollte entscheiden? War denn ihre Mutter auch so verwirrt, daß sie nicht mehr wußte, was sie sagte?

»Ich seh' dir an, was du denkst. Du meinst, weil ich oft für den Vater rede und an seiner Stelle handle, hätte ich keine Achtung vor seinem Urteil und seinem Verstand? Ja, in kleinen Dingen, wie sie einem das Leben alle Tage bringt, da hab' ich als Frau mehr Verständnis. Aber wenn es sich darum handelt, was Recht ist in einem großen Fall, dazu sind wir Weiber nicht berufen. Da gehört ein ganzer Mann dazu, und das ist dein Vater. Der hat noch nie etwas getan und gesagt, was nicht streng rechtlich gewesen wäre. Komm!«

Noch nie in ihrem Leben hatte Liesel einen so tiefen Blick in das Herz der Frau getan, die ihre Mutter war. Mit frohem Erstaunen erkannte sie das feste sittliche Gefüge dieser Ehe, in der ein mutiges und lebenskluges Weib dann schlicht zur Seite trat, wenn es sich um eine Frage handelte, in der sie den bescheidenen, stillen, vom tiefsten Rechtsgefühl durchdrungenen Mann als überlegen anerkannte.

Frau Wolperts rief ihren Mann heraus.

»Michael,« sagte sie, »sieh, daß du dich früher frei machen kannst! Wir haben etwas Wichtiges, das du entscheiden sollst.«

Er schaute einen Augenblick vor sich hin.

Dann ging er hinein und kam nach wenigen Minuten zum Ausgehen gekleidet wieder.

Sie wanderten durch abgelegene Straßen nach den Parkanlagen hinunter. Dort, auf einsamen Wegen, erzählten Liesel und ihre Mutter alles, was geschehen war.

Der Sekretär hörte aufmerksam zu.

Dann kehrte er nachdenklich um, und die beiden Frauen gingen schweigend neben ihm her.

Nun standen sie vor dem Haus des Rechtsanwalts Müller.

»Zuerst,« sagte er, »muß Oskars Chef alles erfahren. Dann werden wir hören, was er meint.«

Der Sekretär gab seiner Frau und Liesel die Hand. Seine Tochter bangte vor der schweren Stunde, der ihr Mann entgegenging. Aber sie fühlte, daß es hier keinen Widerspruch gab.

So ging sie still mit ihrer Mutter heim.

Der Sekretär mußte eine Weile warten, bis dringliche Arbeiten erledigt waren.

Dann erhob sich Wolperts.

»Oskar! Liesel hat der Mutter und mir alles gesagt ...«

»Das hab' ich nicht gewollt, daß ihr auch noch mit mir in Sorgen kommt.«

»Es ist besser so, Oskar. Die Mutter kann sich's eher zurecht legen, wenn es sie nicht plötzlich überrumpelt. Sie war immer so stolz auf die Ehre ihrer Familie. Komm! Wir wollen jetzt mit deinem Chef sprechen.«

»Ich würde mich zu Tod schämen.«

»Komm!« wiederholte der Sekretär. »Es ist höchste Zeit, daß er es erfährt.«

Oskar betrachtete seinen Schwiegervater verwundert. Es ging ihm jetzt wie vorhin Liesel bei ihrer Mutter. Die Sicherheit im Auftreten des kleinen Mannes bannte jeden Widerspruch.

Sie gingen hinein.

Und wieder erzählte Oskar. So hart ihm manches fiel, er empfand doch während des Redens die Wohltat der Erleichterung.

Der Anwalt vernahm mit Erstaunen die abenteuerlichen Vorgänge. Als Oskar die Unwahrheiten bekannte, die er wegen dem Einbruch sich hatte zu Schulden kommen lassen, runzelte der Chef einen Augenblick die Stirn. Aber er verzieh schnell; dem erfahrenen Verteidiger war nichts fremd und keiner der Irrwege unbekannt, auf die Menschen in ungewöhnlichen Lebenslagen geraten.

Als Oskar seine Erzählung beendet hatte, sagte Müller: »Nun bin ich auch mit hineingezogen in den Wirbel, der Sie alle erfaßt hat. Da bringt uns die Juristerei nicht weiter. Das sind Menschheitsfragen.«

Eine Weile sann er nach.

»Wir müssen zweierlei bedenken,« begann er dann wieder, »den Rechtsstandpunkt und das Mitleid. Das Mitleid spricht für den Mörder, seine Geliebte und ihr Kind. Aber es spricht noch mehr für den Unschuldigen und seine Schwester. Den rechten Weg weist das Rechtsgefühl. Es verlangt unweigerlich, daß wir gegen den Täter vorgehen und den Unschuldigen befreien. Das Rechtsgefühl rief Sie nach dem Mord auf. Es bestimmte Ihren Willen und drängte Sie zum Handeln. Was Sie getan haben, war ein Übergriff in eine Machtsphäre, die nicht die Ihre war. Das hat sich an Ihnen gerächt. Alle Qual und Unrast dieser Wochen rührte von der Einmischung in den Bereich jener Mächte her, die vom Staat mit der Verfolgung von Missetaten betraut sind. Ich tadle Sie darum nicht, denn Ihr Tun erwuchs ja aus einem besonders feinen Rechtsempfinden.«

Er schwieg wieder eine Weile.

Dann erhob er sich. »Ich will zum Staatsanwalt gehen und mit ihm sprechen.«

Oskar zuckte zusammen. Und doch sagte er sich, daß der Anwalt nicht anders handeln durfte.

Da läutete das Telephon.

»Rechtsanwalt Müller hier ... Wie sagen Sie? – Wer ist dort? ... Die Gefängnisverwaltung? Wer will mich sprechen? ... Der Untersuchungsgefangene Thomas Gloos, sagen Sie? ... Der Friseurgehilfe Thomas Gloos, der heute nacht bei Ihnen wegen Diebstahl eingeliefert wurde? – Wegen Diebstahl, verstehe ich recht? – So, so, wirklich wegen Diebstahl? – Ich komme, sobald ich mir Erlaubnis verschafft habe.«

Oskar hatte sich während dieses Gesprächs erhoben und stand bleich bis in die Lippen da.

Der Sekretär saß ruhig und blickte gespannt auf den Anwalt.

»Sonderbar,« sagte Doktor Müller, »was mag da vorgegangen sein? Wegen Diebstahl eingeliefert? Jedenfalls gehe ich sofort in das Gefängnis.«

 

Emma Adeiher trat vor das Schulhaus. Als sie etwa hundert Meter weit gegangen war, kam ein schlanker Mann auf sie zu, der sie fast noch um Kopfhöhe überragte.

Es war Professor Dirr.

»Verzeihen Sie,« sagte er, »wenn ich Sie hier erwartet habe. Ich möchte gerne mit Ihnen über das sprechen, was Sie gestern nicht mehr hören wollten.«

Unbefangen entgegnete sie: »Es schien mir, daß es nicht die rechte Stunde nach den erregten Vorgängen für Rat und Entschluß war. Und ich hatte mir den einzigen Weg gewiesen, den es für mich nach dem Erlebten gab.«

»Ihr Gelöbnis, zu schweigen, war tapfer. Ich glaube nicht, daß viele dazu imstande gewesen wären. Nein, nein, ziehen Sie die Stirn nicht in Falten. Ich muß Ihnen das sagen. Aber es ist nicht das einzige, was ich Ihnen zu sagen habe.«

Er wartete, bis sie aus dem Menschenstrom in die schmale Gasse eingebogen waren, die hier zwischen einer Mauer und einer langen Bretterwand dem Stadtrand zuführte.

»Gestatten Sie, daß ich eine nüchterne Wahrheit ausspreche. Wir irren, so lange wir streben. Ich habe viel über den schwierigen Fall nachgedacht, der uns gestern abend beschäftigte, und ich bin zur Nachprüfung all meiner bisherigen Anschauungen und zu einer Wandlung gelangt. Man darf nicht der übrigen menschlichen Gesellschaft zuliebe hart und ungerecht gegen die Irrenden und Fehlenden werden, aber man darf auch um der Verbrecher willen nicht hart und ungerecht gegen das Leben werden. Das Leben hat Anspruch auf Gerechtigkeit, die Menschen meine ich, die Schicksal, Veranlagung, Erziehung, Glück auf dem geraden Wege erhalten haben.«

Sie gingen eine Weile ruhig nebeneinander her. Die Bretterwand hörte auf. Ein schneebedecktes Feld lag vor ihnen.

»Sie haben sich zum Schweigen verpflichtet, Fräulein Adeiher.«

Sie senkte zustimmend den Kopf.

»Aber ich,« sagte der Professor, und seine tiefe Stimme bebte, »ich habe mich nicht zum Schweigen verpflichtet.«

In ihren Ohren brauste das Blut, und ihr Herz pochte unstet.

Ein Mann wie Dirr verließ nicht plötzlich alles, was er als richtig erkannte. Und wenn er es täte, wäre es darum weniger richtig gewesen? Durfte sie fordern, daß er tat, was er später bereuen mußte? Was das Leid nur von einer Brust hob, um es auf eine andere zu legen? Wenn sie anders handelte, mußte das kranke Weib mit dem Kinde unglücklich werden.

»Ich werde reden,« sagte der Professor, während sie über den Schnee der kleinen Häuserkolonie zuschritten, die dort zwischen Stadt und Wald lag. »Von mir, den kein persönlicher Anteil verpflichtet, wäre es feig, wenn ich mich durch Ihr Schweigen gesichert fühlte. Ich müßte mich vor dem Buchhalter schämen, der Wochen hindurch all den Ansturm widerstreitendster Ereignisse und Empfindungen ertragen hat. Das Schicksal hat ihn abgelöst und einen anderen an seine Stelle in den Kampf für die Wahrheit geschickt. Ich gehe jetzt zu dem unglücklichen Friseur. Seine Wohnung habe ich von dem Mädchen erfahren. Ich hoffe, ihn zu überzeugen, daß er mit mir zur Behörde kommt.«

Der Professor war stehen geblieben, weil sie sich der Häusergruppe näherten, in der die Wohnung der Lehrerin lag.

Bittend sah sie ihn an.

Sein Gesicht wurde ernst. »Ich werde für Sie vom Leben zu retten suchen, was gerettet werden kann. Wider die Wahrheit wächst kein Glück.«

»Auch nicht das eigene,« fügte er noch leise hinzu.

Dann zog er den Hut, verbeugte sich und schritt zur Stadt zurück.

Ehe die Lehrerin ihre Wohnung erreichte, wendete sie sich um.

Fern im weißen Schneefeld sah sie den Mann stehen, der nach dem Walde hinüberschaute.

Schwer fiel ihr die Erkenntnis auf die Seele, was den Sinn des Professors so umgewandelt hatte, daß er nun tat, was ihm noch gestern nicht richtig schien.

Als ob sie selbst das arme Weib verraten hätte, so niedergedrückt und befangen schritt sie ihrer Wohnung zu.

 

Als Sekretär Wolperts in seine Wohnung heimkehrte und den Schwiegersohn mitbrachte, fanden sie dort bei den zwei Frauen die Base Gloos von Segeltshausen. Die Sehnsucht nach ihrem Sohn hatte sie wieder in die Stadt getrieben.

Die beiden Frauen erschraken, als ob sie das schlechteste Gewissen von der Welt hätten, als die Base vor ihnen stand. Als einfache Menschen, die sonst nicht mit Lug und Trug umgingen, wären beide Frauen doch bereit gewesen, in einer kleinen Sache der Base etwas vorzutäuschen, bis man ihr allmählich das Ärgste enthüllen konnte.

Aber keine von ihnen hätte auch nur eine Silbe von dem Ungeheuerlichen herausgebracht, was geschehen war. Der Sohn des alten, armen, vertrauensseligen Weibleins ein Verbrecher, ein Mörder! Das Wissen um dieses entsetzliche Unglück drückte Liesel so nieder, daß ihr beim Anblick der Base Tränen in die Augen traten. Und auch ihre Mutter stand ratlos vor der Frau, die bedrückt in der Sofaecke saß.

»Ich will zu meinem Thomas,« hatte sie gesagt, wie sie gekommen war.

Das stand bei der Sekretärin fest, die Base durfte nicht zu ihm kommen, durfte nicht erfahren, was mit ihm vorging.

Wenn Espel das alte Bauernweiblein betrachtete, sah er ein, daß man ihr nichts sagen durfte. Der Schreck hätte ihr Herz zum Stehen gebracht.

Der Sekretär schien gleicher Meinung zu sein, denn er wich während des Mittagessens den Fragen der Base immer wieder aus. Sie aber drängte in unerschütterlicher Ruhe: »Ich will zu meinem Thomas. Wo wohnt er? Wer von euch führt mich hin? Wann gehn wir zu ihm?«

Man hätte ihr ja vortäuschen können, er sei nicht mehr in der Stadt; er sei fort und niemand wisse, wohin.

Es gab ja genug Ausreden, mit denen man ein einfältiges Mütterchen beruhigen konnte. Aber niemand fand den Mut zu der Lüge um das einzige Leben, das sie auf der Welt besaß.

Man hatte gegessen, und ein wortkarges Gespräch schleppte sich hin.

»Gehen wir jetzt zu meinem Thomas?« fragte die Base und griff nach der Tischkante, um sich daran aus dem Sofasitze empor zu helfen.

»Ja!« sagte der Sekretär und stand auf.

»Ich gehe mit,« sagte Oskar.

Die Alte schaute befriedigt vor sich hin, wie wenn es nicht anders möglich gewesen wäre. Wozu war sie denn gekommen, als um ihren Thomas zu sehen?

»Was wollt ihr denn?« fragten die beiden Frauen, als die Base ins Nebenzimmer gegangen war, um sich anzukleiden.

»Wir müssen aus dieser Qual heraus!«

Liesel griff geängstigt und besänftigend nach Oskars Hand.

Der Sekretär blickte seine Frau an.

»Wir werden ja sehen,« sprach er ruhig.

Auf der Straße ging die Frau still zwischen den beiden Männern. Die lärmenden Geräusche der großen Stadt schien sie nicht zu hören. Sie blickte nicht nach den Menschen und noch weniger in die Warenfenster der Altstadtläden, an denen sie der Weg vorüberführte.

Da gingen sie in die Gertrudenstraße zu dem Barbier Czipka, bei dem Thomas Gloos nicht mehr sein konnte, denn er saß im Gefängnis.

Wenn Czipka das sagte und die Base es hörte?

Espel griff hinter dem Rücken der Frau nach dem Arm des Schwiegervaters.

Sie hatte es bemerkt und fragte: »Sind wir da?«

»Nein, noch nicht.«

Oskar wagte keinen zweiten Versuch mehr, Wolperts heimlich ein Zeichen zu geben. Er ärgerte sich über ihn, der so ruhig weitermarschierte.

Jetzt standen sie vor dem Hause an der Gertrudenstraße.

Der Sekretär legte die Hand auf die Klinke des Friseurladens. »Wartet einen Augenblick. Ich will hinein gehen und fragen, daß wir nicht gleich zu dritt kommen.«

Nach einer Minute kam er wieder heraus.

»Er ist da,« sagte er.

»Wer?« rief Espel.

»Der Thomas.«

Da lachte Oskar laut, und die Base war glücklich, daß man sich mit ihr freute.

Sie traten in das kleine Friseurgeschäft, das um diese Stunde meist leer war.

Die Türe zum Nebenzimmer war angelehnt.

Jetzt trat ein langer, blasser junger Mensch heraus.

»Mutterl!« rief er. »Ja, Mutterl, du bist da?«

»Thomas!« sagte sie still und schaute ihm in die Augen. »Thomas!«

Der Sekretär rückte an seiner Brille. Oskar wäre am liebsten davongelaufen, um endlich all dem Jammer zu entkommen.

Die Base saß in einem Drehstuhl, den ihr Sohn vom Spiegel weg gegen die Mitte des Zimmers gekehrt hatte; er stand neben ihr.

Die Mutter sah weder seine Unruhe noch seine Krankheit, sah nicht sein sonderbares Wesen. Sie sah nur ihn und fand ihn schön, gesund und froh, weil sie selber in diesem Augenblick glücklich war.

Die beiden sprachen wenig miteinander. Sie sagte hie und da ein paar Worte, strich ihm mit den zitternden Fingern über den Kopf und die Wangen und ließ die Hand einen Augenblick auf seiner Schulter ruhen. Kein Vorwurf wegen seines Schweigens kam über ihre welken Lippen und keine Frage. Sie war zufrieden und glücklich.

Er lauschte nach dem Nebenzimmer. In seinen Augen lag ein unsteter ängstlicher Ausdruck, wenn sie dorthin gingen. Fast wie Verzweiflung flackerte es in seinem Blick. Wenn er die Mutter ansah, vertiefte sich die Röte auf den Backen.

»Mutter,« sagte er endlich, als er wieder nach dem Nebenzimmer gehorcht hatte, »wir haben viel zu tun.«

»Ich weiß schon, was es zu tun gibt in der großen Stadt und in einem so schönen Geschäft.«

Sie sah sich im Laden um, und ihr Auge liebkoste all die bescheidenen Gegenstände, die um ihren Sohn waren.

Dann erhob sie sich und holte aus der tiefen Tasche des Unterrocks ein Päckchen mit Leckerbissen hervor, die für den Sohn bestimmt waren.

Wie er die Gabe aus ihrer Hand nahm, zitterte er leicht und hielt sich an der Sessellehne fest.

Sein Gesicht war grau geworden.

Aber sie merkte nichts.

»Gehst du denn schon?« fragte er, während er wieder scheu nach dem Nebenzimmer blickte.

»Oh,« sagte sie wichtig, »ich weiß, daß du viel zu tun hast. Ich bin zufrieden. Ich hab' dich gesehen. Es geht dir gut, und du hast eine schöne Stelle. Jetzt fahr' ich wieder heim.«

Sie streichelte ihm schnell mit beiden Händen noch einmal das Gesicht, faßte seine beiden Hände und ging dann geschwind nach der Türe. Sie wollte es ihm leicht machen und verbergen, wie hart ihr der Abschied fiel.

Als sie draußen war, hob er beide Arme hoch, als ob er etwas festhalten wollte, das er für immer verlor.

Dann ließ er die Hände schlaff herunter hängen, senkte den Kopf und wankte in das Nebenzimmer.

Die Alte ging still, vergnügt und wortlos zwischen den beiden Männern her und fuhr noch am selben Abend heim.

Oskar hatte an diesem Tag das Unmöglichste erlebt. Er dachte über des Rätsels Lösung nach und begriff nichts. Dann betrachtete er seinen Schwiegervater und beneidete ihn um die Ruhe, mit der er seines Weges schritt.

Der Sekretär dachte nicht viel, während sie so gingen. Er sah einmal nach der Uhr und überlegte, ob er der Base noch eine Tasse Kaffee unterwegs anbieten sollte. Aber sie wollte ja fort. So unterließ er es. Er freute sich darauf, heute an dem freien Nachmittag die Zeitungen nachlesen zu können.

 

Als eine halbe Stunde später Professor Dirr bei dem Friseur Czipka eintraf und den Gehilfen sprechen wollte, wurde ihm gesagt, Thomas Gloos sei nicht da.

Wo er denn wäre?

Czipka betrachtete sich den Herrn genau. Es war niemand, der in seinem Laden verkehrte.

Da raunte der Friseur dem Fremden zu: »Sie haben den armen Teufel ins Gefängnis gesteckt, aber ich glaube, daß es ein Irrtum ist. Bei mir war immer die Kasse offen, und es hat nie ein Pfennig gefehlt. Ich traue ihm keinen Diebstahl zu.«

Dirr stand betreten da.

Kam ihm das Schicksal zuvor?

Er wollte dem Unglücklichen zur Seite bleiben, wie er sich gelobt hatte.

So ging er in das Gefängnis.

 

Im Gefängnis war eine halbe Stunde vor ihm Rechtsanwalt Müller eingetroffen.

Er kam mit einer Sprechkarte, die ihm der Ermittlungsrichter auf seine Erklärung ausgestellt hatte, daß Gloos ihn zu sprechen verlangt habe.

»Was hat er denn getan?« fragte der Verteidiger, während der Aktuar das Kartenblatt ausfüllte, den Amtsrichter.

»Er hat heute nacht vor einem Weinlokal einem eben herausgekommenen Gast den Beutel aus der Manteltasche zu nehmen versucht. Wenn er es in der Absicht getan hätte, erwischt und verhaftet zu werden, hätte er es nicht besser anstellen können. Ein harmloser, fast verhungerter Bursch, den das Elend anscheinend halb besinnungslos gemacht hat.«

Sollte er es in der Absicht getan haben, verhaftet zu werden, dachte der Anwalt, während er über die Brücke nach dem Untersuchungsgefängnis wanderte.

Als er eintrat, sagte man ihm dort im Aufnahmezimmer, Gloos sei eben zurückgekommen. Zwei Kriminalbeamte hätten ihn nach seiner bisherigen Arbeitstelle geführt und dort in seiner Gegenwart seine Habe durchgesucht. Es sei aber nichts von Bedeutung vorgefunden worden. Der Verdacht, daß er vielleicht einer der in der letzten Zeit aufgetretenen Taschendiebe sei, hätte sich nicht bestätigt.

Ein Aufseher, der eben von seiner Abteilung zurückkam und diese Worte hörte, rief: »Der und ein Taschendieb? Der ist zu dumm zum Stehlen. Ich glaube, den könnte man zum Rasieren verwenden, weil der Bader krank ist.«

»Möglich. Ich will aber erst den Herrn Amtsrichter fragen,« erwiderte der Verwalter.

Dann führte man den Anwalt in den ersten Stock und dort in ein Verhörzimmer am Ende des Gangs.

Dann brachte ein anderer Aufseher den Untersuchungsgefangenen Thomas Gloos aus der Zelle. Er ließ ihn eintreten, grüßte den Rechtsanwalt und ging hinaus, um im Gang zu warten. Es bestand kein Anlaß, die Unterredung mit dem bekannten Verteidiger zu überwachen.

»Sie haben mich hierher bitten lassen?« sagte der Rechtsanwalt und betrachtete den blassen jungen Menschen aufmerksam.

Gloos antwortete verlegen: »Allerdings, Herr Doktor. Aber ich bitte um Entschuldigung. Es ist nicht notwendig, daß ich Sie bemühe. Es handelt sich um eine Kleinigkeit. Ich bin ja unschuldig.«

Doktor Müller schaute ihn erstaunt an.

»Aber Sie haben mich doch hierher bitten lassen?«

Der Gefangene dachte: »Ja, das weiß er nicht, daß ich inzwischen meine Mutter gesehen hab' und daß ich jetzt wieder leben will. Zuvor, ja, da wollte ich alles sagen, aber das kann ich doch jetzt nimmer, es würde meiner Mutter das Herz abdrücken.«

Laut sagte er dann: »Ich habe geglaubt, sie mutzen mir alles Erdenkliche auf, aber sie haben nichts gefunden bei mir. Und wegen der Kleinigkeit, da komm' ich schon allein durch.«

Doktor Müller trat dicht vor Gloos hin, der mit gesenkten Augen an der Wand stand. »Sonst haben Sie mir nichts zu sagen?«

»Nein!«

»Gar nichts?«

Er schüttelte den Kopf.

Der Anwalt beugte sich vor und fragte halblaut: »Auch wegen keines anderen, der hier ist?«

Wieder dachte Gloos: »Wegen dem bin ich ja da; aber ich kann dir jetzt nichts mehr sagen.«

»Nein!« murmelte er.

»Gut. Ich will Sie zu nichts überreden. Ich komme gern wieder, wenn Sie mich sprechen wollen. Denken Sie daran!«

Er trat in die andere Ecke und zog die Glocke.

Man hörte den Schritt des Aufsehers.

Da trat Gloos rasch zu dem Rechtsanwalt heran. »Morgen vielleicht, Herr Doktor ... ich ...«

Der Wärter trat ein, grüßte den Verteidiger und führte Gloos in die Zelle zurück.

»Reismann!« Der Verwalter rief ins Nebenzimmer, wo einer der Aufseher an einem Tisch saß. »Wenn Sie mit dem Essen fertig sind, holen Sie den Thomas Gloos und bringen ihn nach der Zelle 93 zu dem Zeno Stux. Der Herr Gefängnisarzt hat heute gesagt, man solle es einmal versuchen und einen harmlosen Menschen zu ihm hinein setzen, daß er nicht tiefsinnig wird und etwas anstellt. Da ist dieser Trottel gerade recht.«

»Paß auf!« sagte der Wärter Reismann, während er Thomas Gloos in die Zelle 93 brachte. »Du kommst jetzt zu einem Raubmörder hinein. Du brauchst dich aber nicht zu fürchten. Dir tut er nichts. Aber wenn du was merkst, daß er sich selber was antun oder sonst was Verdächtiges vorhaben sollte, dann machst du sofort Lärm. Du darfst dafür auch die Leute rasieren und bekommst eine kleine Vergütung. Verstehst du?«

Es war richtig, was vorhin im Aufnahmezimmer ein anderer Aufseher gesagt hatte: der Untersuchungsgefangene Gloos war ein seltsamer Kauz. Denn er lief neben Reismann her, während sie nach der Zelle 93 gingen, wie wenn er im Traume wandelte.

Mit dem konnte der Raubmörder nichts ausmachen.

 

Als Rechtsanwalt Müller vor das Gefängnis hinaus trat in die Winterdämmerung, ging dort ein hochgewachsener schlanker Mann auf und ab.

Es war Professor Dirr.

Die beiden Herren kannten sich.

Sie begrüßten sich, und der Professor trat auf den Verteidiger zu. »Können Sie mir nicht sagen, Herr Doktor, wie man hier Einlaß bekommt? Es ist ein Mann hier, den ich sehen möchte, aber ich habe keine Sprechkarte.«

»Darf ich wissen, wer es ist, Herr Professor?«

»Der Friseurgehilfe Thomas Gloos.«

»Bei dem war ich eben.«

»Sie kommen von ihm?«

»Ja. Er hatte mich zu sich gebeten.«

»Als Verteidiger?«

»Ich mußte das annehmen. Aber jetzt wollte er nichts davon wissen. Er scheint sich irgend etwas anders überlegt zu haben.«

Jeder mit seinen eigenen Gedanken, gingen beide nebeneinander her.

Dann kamen sie ins Gespräch, das bald so vertraut wurde, wie es zwischen Männern natürlich war, die hier ein gemeinsames Interesse verfolgten.

»Ich hoffte, ihn zu bestimmen, daß er mir seine Tat gestehen und mich ermächtigen würde, davon dem Staatsanwalt Mitteilung zu machen,« sagte Doktor Müller. »Der unschuldig verhaftete Zeno Stux wäre dann freigelassen worden.«

Der Professor erklärte: »Ich wollte das auch erreichen. Ich glaube, wir suchen Gloos umsonst zu helfen, solange nicht die volle Wahrheit ans Licht gekommen ist. Dann –«

»Dann kommt die Hilfe zu spät,« entgegnete der Anwalts indem er den Gedankengang seines Begleiters fortsetzte. »Es ist ein verlorenes Leben.«

»Das andere mit in den Abgrund zieht.«

»Mein Buchhalter hat schwer genug darunter gelitten.«

Dirr blieb stehen. Sie waren am Rande der Stadt angelangt. Nebel stiegen auf. Aus den Fabrikschloten stieg der Rauch empor.

»Ich bin nun in einen seltsamen Widerspruch der Pflichten geraten,« begann der Rechtsanwalt. »Für mich steht auf der einen Seite klar und bestimmt die Pflicht, von dem Verbrechen Anzeige zu erstatten und einem Unschuldigen zur Freiheit zu verhelfen; jede ihm davon entzogene Minute ist ein Unrecht. Aber es scheint, daß niemand in diesen Fall verwickelt wird, ohne daß er in Gewissensbedrängnis gerät. Von dem Augenblick an, da Gloos mich zu sich gebeten hat, muß ich mich als sein Vertrauensmann betrachten, dem ich pflichtgemäß zum Schweigen verbunden bin. Man kann ja darüber rechten, ob sich diese Schweigepflicht auch auf das bezieht, was ich erfahren habe, ehe er mit seiner Bitte an mich herangetreten ist. Aber in seinem Fall läßt sich das eine nicht vom anderen trennen. Jedes gesprochene Wort geht bei ihm aufs Ganze, und er hat mich nicht ermächtigt, zu reden. Er hat angedeutet, mir morgen zu sagen, was ihn drückt. Ich möchte ihn nicht um die Vorteile des Geständnisses bringen, des einzigen Mittels, über das er verfügt, um seine künftige Lage zu verbessern und die schwerste Strafe abzuhalten.«

»Ihre Stellung ist schwierig,« sagte Dirr. »Doch meine Lage ist vielleicht noch eigenartiger.«

Doktor Müller sah ihn fragend an.

»In meinem Hause liegt ein fieberndes Weib, ein sterbendes Kind an der Brust. Jeder Hauch, der beiden von den blassen Lippen weht, ist eine flehende Bitte: Schweige! Schweige um unsertwillen. Er hat's für uns getan.«

»Sie werden ihn nicht mehr wiedersehen,« sagte der Anwalt.

»Sie hoffen alles von mir,« entgegnete Dirr. »So gewaltig ist die Macht ihres Verlangens, daß sich die Schwester des unschuldig Verhafteten verpflichtet hat, zu schweigen ...«

Sie standen am Eingang der breiten, kurzen Straße der Kolonie.

»Dort wohnt sie!« Dirr wies mit dem Stock in die Finsternis.

»Sind wir bis hier heraus geraten?« sagte der Anwalt erstaunt. »Woher wissen Sie?«

Der Professor lächelte.

»Ich habe sie gestern im Gespräch über den Fall hierher begleitet. Sagen Sie, Herr Rechtsanwalt, bindet mich das Schweigegelübde, das Fräulein Adeiher abgelegt hat?«

»Sie?«

Der Rechtsanwalt blickte verwundert auf. »Sie stehen ja in keinen Beziehungen zu ihr und ihrem Bruder. Es kann Sie nicht binden.«

Dirr folgte dem Anwalt, der den Rückweg nach der Stadt einschlug.

»Sie wollten vielleicht die Dame besuchen,« meinte Doktor Müller. »Ich bitte, lassen Sie sich durch mich nicht stören. Ich muß noch einmal in meine Kanzlei.«

»Nein!« sagte der Professor schnell, fast heftig. »Nein! Nein!«

Sie gingen eine Weile still nebeneinander.

Dirr ahnte nicht, daß Fräulein Adeiher oben am Fenster stand und hinaus sah.

»Ihr Schweigegelübde bindet mich nicht.« Der Professor sprach es vor sich hin. »So dachte ich gestern auch.«

»Denken Sie heute anders?«

»Ja.«

»Alles bindet mich, was sie bindet,« dachte er. »Denn ich bin mit ganzer Seele an sie gebunden.«

»Wie kamen Sie zu dieser Meinungsänderung, Herr Professor?«

»Nicht nur Sie, Herr Doktor, sind Anwalt,« sagte Dirr, »wir alle sind Anwälte der Menschheit. Das Leben schafft zu viel Schuld, Unrecht und Not, als daß die Welt mit den Beiständen auskommen könnte, die sich dieses Amt als Beruf gewählt haben. Wir alle, die wir Nächstenliebe, Mut, Erkenntnis, Kraft dazu in uns fühlen, stehen in einer Reihe und warten nur des Augenblicks, da uns das Schicksal aufruft: ›Hier ist ein Bruder, eine Schwester, die deiner Hilfe bedarf – tritt für sie ein!‹ Es gibt keine heiligere Lebensaufgabe als diese. Es gibt keine schönere Art der Arbeit, nichts Nützlicheres, nichts Notwendigeres. Mich hat Emma Adeiher zu ihrem Anwalt bestellt. Nicht als ob sie einer Stütze, eines Vertreters bedürfe. Aber es gibt Fälle, in denen die Geschlechter einander ergänzen müssen. Gerade die stolzesten Frauen sind die hilfebedürftigsten. Ich glaube, sie können sich als die demutvollsten fühlen, wo sie die Hand eines Führers suchen und brauchen. Ich glaube, sie kann die ganze Milde des Weibes in sich erschließen, wenn das Leben befiehlt: ›Hier sei Magd; hier kannst du nicht Herrin sein!‹«

Der Anwalt vernahm mit Erstaunen, was ihm der reife Mann an seiner Seite unbewußt gestand. So blühte überall aus Verderben und Leid neues Leben auf.

Still ging er neben dem anderen her.

Erst als sie wieder Geräusche hörten und Licht sahen, begann Dirr: »Ich habe es mir überlegt. Ich kann nicht reden, wenn das Fräulein schweigen will.«

Der Anwalt dachte, wie seltsam doch das Leben mit den Menschen spielte.

Als sie sich verabschiedeten, sagte Doktor Müller: »Ich werde morgen früh den Versuch wiederholen, mit Gloos eine Aussprache herbeizuführen. Wenn es irgendwie angängig erscheint, werde ich Sie von dem Ergebnis verständigen.«

Der Professor ging durch die Parkanlagen nach seiner Behausung.

In seiner Seele war Ruhe. Für ihn schien es nur eine Richtschnur zu geben. An sie hielt er sich.

Erst als er in das Fremdenzimmer trat, befiel ihn wieder eine gewisse Unruhe.

Das Mädchen lag im Bett.

Da Dirr näher trat, erkannte er, daß die Arme fieberte. Sie redete wirr und schwelgte in der Freude einer Sorglosigkeit, die sie nur selten in ihrem Leben gekannt hatte.

Mit einem Mal wurde sie still. So lag sie lange.

Dann fuhr sie auf und flüsterte: »Was hast du getan? Thomas, wie hast du das tun können? Du hast uns ja alle drei elend gemacht.«

Schlaff sank sie in das Kissen zurück, und das Fieber schüttelte ihren schwachen Körper.

Als Dirr auf den Korridor trat, um für die Nacht Vorkehrungen zu treffen, weil er bei der Leidenden wachen wollte, stand Emma Adeiher vor ihm.

»Verzeihen Sie meinen Besuch zu dieser Stunde. Ich wollte fragen, ob Sie Neues von meinem Bruder erfahren konnten. Und ich möchte, wenn Sie es erlauben, heute nacht bei der Kranken bleiben.«

Er geleitete sie in sein Studierzimmer und erzählte ihr, was vorgefallen war.

Während sie noch sprachen, klopfte das Dienstmädchen.

»Ein Herr ist draußen. Er war schon neulich hier. Ich habe den Namen nicht deutlich verstanden.«

Der Professor trat an die Türe.

Es war Oskar Espel.

»Allen nimmt uns diese schwere Nacht die Ruhe,« sagte er und führte Espel herein.

Auch der Buchhalter schilderte, was er erlebt hatte.

Aber seine Nachricht, daß er Gloos in dem Friseurladen getroffen, wurde durch die Mitteilung des Professors überholt und verwirrt, der von des Anwalts Besuch im Gefängnis berichtete.

Sie alle dachten nicht an die Möglichkeit, daß er zur Durchsuchung seiner Habseligkeiten vorübergehend in die Wohnung zurückgeführt worden war.

Espel ging, mehr beunruhigt als getröstet, wieder fort. Er hatte sich zu dem späten Besuch entschlossen, weil er hoffte, irgend etwas zu hören, das zur Lösung der Lage beitragen konnte.

 

Zeno Stux lag in seiner Zelle auf der Pritsche und starrte mit offenen Augen in die Finsternis. An seine Schwester dachte er, und wie es ihr jetzt wohl ging. Wenn man herausgebracht hatte, daß sie miteinander verwandt waren, dann mußte sie traurige Stunden erleben. Ja vielleicht kam es dann so weit, daß sie es in ihrer Stellung nicht mehr aushielt. Konnte man ihr auch persönlich nichts anhaben, so war es doch möglich, daß man sie merken ließ, daß er, ihr Stiefbruder, ein mit Zuchthaus bestrafter Mensch war, der nun im Verdacht stand, einen Raubmord auf dem Gewissen zu haben. Nein, er wollte nicht sagen, wo er zu der Zeit gewesen sei, da der Mord auf der Wiese geschehen war. Lieber blieb er zeitlebens im Zuchthaus. Denn so viel wußte er doch, zum Tod konnten sie ihn nicht verurteilen. Dazu fehlte es an Beweisen.

Der Mensch, den man zu ihm in die Zelle gesperrt hatte, schlief auch nicht. Er hockte auf seinem Bett und fand offenbar keine Ruhe. Warum der wohl hereingekommen war? –

Da hörte Stux, wie der Mensch aufstand und zu ihm her kam. Den trieb gewiß die Unruhe um, und er wollte plaudern. Unwillig wandte Stux sich ab. Nein, reden mochte er jetzt nicht; er schloß die Augen und stellte sich schlafend.

Ein Lichtschein fiel von außen herein. Gloos stand mitten in der Zelle und zitterte. Wieder einmal war es ihm verzweifelt zumute. Er dachte an den Menschen, den er umgebracht hatte und sah überall sein verzerrtes Gesicht vor sich. Was draußen geschehen war, mußte nun doch einmal dazu führen, daß alles zusammenbrach. Einmal mußte die ewige Unruhe ein Ende nehmen. So oder so. Deshalb war er ja auch zu dem Entschluß gekommen, zu stehlen, um verhaftet zu werden. Einmal im Gefängnis, wollte er mit dem Verteidiger reden und ihm alles bekennen. Da holte man ihn nochmals heraus, und dann hatte er seine alte Mutter gesehen. Jetzt wollte er wieder leben! Den Mord konnten sie ihm nicht nachweisen, und bald würde er wieder frei sein, denn der Diebstahl wog nicht schwer. Dafür büßte er höchstens mit ein paar Wochen. Wenn er nur gewiß gewußt hätte, daß von draußen nichts aufkam. Fort wollte er, wo anders hin. Das Mädchen mit dem Kind konnte ihm ja nachreisen, denn für die beiden mußte er sorgen. Und die alte Mutter möchte er auch beruhigen, ihr schreiben, daß es ihm gut ging.

Im letzten Augenblick hatte er bei dem Friseur eine kleine Feile eingesteckt. Niemand hatte es bemerkt. Damit wollte er das Gitter durchfeilen. Jetzt erst recht, denn damit käme auch der arme Kerl aus dem Gefängnis, der jetzt unschuldig eingesperrt war. Das schien Gloos eine gute Tat, wenn er den dazu brachte, daß er mit ihm ausbrach.

Mit dem wollte er jetzt reden, ihn soweit bringen, daß er einverstanden war. Denn zuvor wußte er ja nicht, wie der sich benahm, wenn er am Gitter zu feilen versuchte.

Nun schien der Mond gerade auf das Gesicht des Genossen. Der lag still da und rührte sich nicht. Wenn der wüßte, daß der Mensch jetzt neben ihm stand, der den Mord begangen hatte. Vielleicht wäre der ihm an den Hals gesprungen. Elend und vergrämt sah der arme Kerl aus. Unschuldig war er, und um seinetwillen mußte er leiden. Wenn er den Genossen wachrüttelte und ihm alles gestand?

Wenn nur die Mutter nicht gekommen wäre! Die sollte nun doch nicht erfahren, daß ein Mord auf seinem Gewissen lastete.

Gloos hustete laut und betrachtete dabei den Schlafenden. Leise zuckte der mit den Augen; er verstellte sich bloß; er schlief ja gar nicht.

»Kamerad,« flüsterte Gloos, »du schläfst ja doch nicht. Gib Antwort! Du heißt doch Stux! Zeno Stux! Warum willst du nicht mit mir reden?«

Er beugte sich zu dem Liegenden herab.

Der hob die Hand. »Laß mich in Ruh. Ich will nichts hören.«

Gloos tappte nach seiner Hand und hielt sie mit festem Druck.

»Kamerad! Ich kann nicht schlafen. Sag', möchtest du nicht frei werden?«

Unwirsch erhob sich Stux halb auf der Pritsche. »Red' kein dummes Zeug und leg' dich hin.«

Stux riß seine Hand los.

Gloos sagte leise: »Sei doch nicht so dumm. Ich hab' eine gute Feile. Wenn du nur willst, sind wir heut' nacht noch draußen.«

»Nein, so will ich von da nicht fortkommen! So nicht. Ich mag nicht. Ich hab' nichts verbrochen. Mich müssen sie auch so wieder gehen lassen. Beweisen kann man mir nichts; wenn ich auch nicht sagen mag, wo ich gewesen bin, so ...«

Stux sprang heftig auf, schaute Gloos scharf an und sagte: »Wenn du mich aushorchen sollst, da bist du an den Unrechten geraten. So dumm bin ich nicht, daß du mir die Zunge ziehen könntest. Nochmals sag' ich dir, ich hab' nichts auf dem Gewissen. Ich bin unschuldig. Und auf den Leim, mit dir auszubrechen, geh' ich nicht. Daraus möchten sie mir dann wohl einen Strick drehen. Laß mich in Ruh', sag' ich.«

»Ich weiß, daß du unschuldig bist,« erwiderte Gloos. »Du hast keinen umgebracht. Aber ich weiß einen, dem das Gewissen keine Ruh' läßt.«

»Mich geht das nichts an. Und wenn du jetzt nicht still bist, dann schaff ich mir Frieden.«

»Red' doch nicht so laut. Ich will dich nicht aushorchen. So gemein bin ich nicht.«

Wieder suchte er die Hand des Erregten zu erfassen und ihn ruhiger zu stimmen. »Kamerad, hast du eine Geliebte gehabt?«

»Nein. Aber eine Schwester. Sie ist gestorben.«

»Die hast du wohl auch gern gehabt?«

Stux gab keine Antwort.

»Denk' dir, du müßtest für deine Schwester sorgen, und denk' dir, sie bekäme ein Kind ...«

Stux stieß den Friseur fort. »Hör' auf mit dem Geschwätz.«

Aber Gloos redete hastig weiter: »Ich mein' ja nur, ich sag' das ja nur, damit du mich besser verstehst. Denk' dir: Einer hat eine Geliebte und ein Kind von ihr, und er ist arbeitslos und krank. Und da braucht er Geld, und er kennt keinen Menschen, der ihm was geben könnte. Da geht er in ein Wirtshaus und sieht da einen, der Geld hat, einen Fremden. Und der zählt sein Geld, so daß du's siehst. Und da steht der arme Kerl auf und geht zu dem Fremden an den Tisch, macht sich mit ihm bekannt und hört, daß der ein Nachtquartier sucht. Und da lockt der Mensch, der kein Geld hat, den Fremden mit fort. Und der geht mit, weil er meint, er bekäme eine Schlafstelle. Der andere aber wollte ihn nur dort haben, wo kein Mensch um den Weg war, über den Fremden herfallen und ihm sein Geld nehmen. Tun wollte er ihm nichts. Verstehst du? Nur das Geld wollte er haben. Da merkte er, daß der andere weglaufen wollte. Da zog er das Messer. Kamerad! Ich hab' das getan! Nicht du! Du bist unschuldig, ich muß dir ...

Da packte Stux den schwächlichen Kerl mit beiden Händen am Hals und riß ihn auf die Pritsche nieder.

Plötzlich ließ er ihn wieder los und rannte in der Zelle hin und her.

Er tappte nach dem Wasserkrug, richtete Gloos auf und setzte ihm das Gefäß an die Lippen. »Trink! Kannst du trinken?«

Gloos kam allmählich zu sich und richtete sich zitternd auf.

»Kamerad! Beinahe hättest du mich umgebracht. Ich verzeih dir. Aber wir wollen leben und müssen leben. Du bist unschuldig, und ich hab' eine Geliebte, ein Kind und eine Mutter.«

»Wegen dir haben sie mich dahergebracht, wegen dir.«

»Ich bring' dich wieder fort, Kamerad!« flüsterte Gloos. »Ich feile das Gitter durch. Dann lassen wir uns an den Leintüchern hinunter. Ich weiß, wie's hinausgeht. Erst kommt eine Holzwand mit Stacheldraht. Über die klettern wir leicht hinüber. Dann kommt ein zweiter Hof und eine Mauer.«

Da rasselte es an der Tür.

Stux legte sich rasch auf seine Pritsche und schloß die Augen. Auch Gloos stellte sich schlafend.

Zwei Aufseher mit Laternen traten ein.

»Seid still!« sagte der eine der Wächter gutmütig. »Es sind noch mehr Leute da.«

Dann gingen sie wieder. –

Jetzt hatte Gloos dem, der schuldlos litt, alles gestanden.

Nun wollte er ihm noch zur Freiheit verhelfen. Hinaus wollte er und für Weib und Kind sorgen.

Er begann an dem Gitter zu feilen und achtete nicht auf Stux, der still auf seiner Pritsche lag. Lange hatte er sich bemüht. Nun stemmte er sich gegen die Wand und hob das Gitter aus der Mauer, setzte es wieder ein und kam zu Stux.

»Kamerad! Jetzt ist der Weg frei. Ich will voraus! Du folgst nach. Wenn wir über der Mauer sind, können wir weiter reden.«

»Tu', was du willst.«

Gloos nahm das Leintuch, riß es in lange Streifen und band sie zusammen.

Dann hob er das Gitter wieder aus und lehnte es behutsam in die Ecke.

Noch einmal trat er zu Stux an das Lager.

»Kamerad,« sagte er leise, »komm!«

Stux schwieg. Er begriff, daß Gloos nicht mehr bei Verstand war.

Er hörte, wie er sich an der Mauer hinauf arbeitete, und sich an dem Seil hinunter ließ.

Ein paar Meter weit ging es. Da rief es draußen: »Halt! Wer da?«

Der Nachtposten hatte an der Wand einen beweglichen Schatten gesehen.

Da krachte ein Schuß.

Gloos war nicht getroffen. Aber vor Schreck lösten sich seine Hände.

Klatschend schlug er unten auf das Pflaster.

Aufseher sprangen in den Hof und schalteten die Beleuchtung ein. Der Posten näherte sich.

Einer der Wärter schaute an der Wand hinauf. »Der Halunke – der Raubmörder!«

Ein Mann wendete den Körper des Abgestürzten um. »Der Friseur ist's. Der wird's bald überstanden haben.«

Eine Bahre wurde geholt. Dann trugen sie einen Sterbenden weg.

 

In aller Eile war ein Bett in das Aufnahmezimmer geschafft worden, und Thomas Gloos lag nun dort. Er hatte beide Beine gebrochen, das Rückgrat war schwer verletzt, aber das Bewußtsein hatte er nicht verloren. Der Gefängnisarzt glaubte nicht, daß er den Sonnenaufgang noch erleben würde. Auf Wunsch des Sterbenden hatte man nach dem Rechtsanwalt Müller geschickt. Der hatte den Boten, der zu ihm kam, ersucht, seinen Buchhalter Espel herbeizuholen. Auch der Staatsanwalt wurde gebeten.

Vor dem Aufnahmezimmer standen einige Wärter und unterhielten sich halblaut. Als Espel kam, hörte er seinen Chef sprechen. Mit kurzen Worten hatte Gloos ein Geständnis abgelegt, das rasch protokolliert worden war. Der Rechtsanwalt hatte seinen Buchhalter nur deshalb holen lassen, weil er annahm, Gloos könnte sich im letzten Augenblick noch einmal besinnen und das Bekenntnis verweigern. Für diesen Fall hoffte er, daß der Anblick Espels den Mörder stark erregen und ihn zur Aussprache bewegen würde.

Nun ward Espel gerufen. Man ersuchte ihn, näher zu treten. Mit zögernden Schritten kam er auf das Bett zu, in dem Thomas Gloos lag. Der suchte den Kopf zu heben, ließ ihn jedoch matt wieder sinken. Ein qualvoller Ausdruck trat in die blutlosen Züge. Leise flüsterte Gloos: »Ich habe alles gestanden.«

Erschüttert wandte sich Espel ab.

Wenige Minuten verstrichen, da redete Gloos wirr. Der Arzt beobachtete ihn genau und sagte leise zu dem Buchhalter, der ihn fragend anblickte: »Es geht rascher zu Ende, als ich dachte. Möglich ist es aber doch, daß er noch einmal zum Bewußtsein gelangt.«

Da bat Espel, man möge ihm erlauben, daß er bis zuletzt bleiben dürfe. Der Gefängnisdirektor erfüllte seinen Wunsch.

Nun leerte sich das Zimmer. Mit einem kräftigen Handdruck und vielsagendem Ausdruck verabschiedete sich der Rechtsanwalt von seinem Buchhalter. Der Staatsanwalt war vorher mit dem Gefängnisdirektor gegangen. Nur der Arzt und ein Wärter blieben außer Espel zurück, der neben dem Sterbenden saß und jedes seiner wirren Worte erlauschte.

Aber Gloos kam nicht mehr zu sich. Als die Wintersonne matt heraufkam und der Raum im Zwielicht lag, verhauchte der Sterbende seinen letzten Atem.

 

In der gleichen Nacht saß Emma Adeiher am Bett der Fieberkranken, die in tiefen Schlaf verfallen war. Die Lampe hinter dem grünen Schirm warf mattes Licht über das Bett. Auch das Kind, das manchmal leise gewimmert hatte, war still geworden.

Die Lehrerin saß und lauschte nach der Studierstube hinüber, in der Dirr rastlos, mit kaum hörbaren Schritten, die sie aber doch vernahm, über den Teppich hin und her wanderte.

Da schrillte draußen ein Telephonsignal.

Es war so still im Hause, daß Emma, ohne zu horchen, jedes Wort verstand.

»Dirr hier. Bitte, Herr Rechtsanwalt!«

Minuten vergingen.

Atemlos lauschte der Professor am Hörrohr. Dann erwiderte er: »Es ist erschütternd – ich danke.«

Ein leises Glockenzeichen; das Gespräch war zu Ende.

Noch ein Augenblick verging.

Dann öffnete der Professor die Türe.

»Herr Rechtsanwalt Doktor Müller hat mir seinem Versprechen gemäß mitgeteilt, was sich ereignete. Darf ich Sie bitten.«

Er warf einen Blick nach der Schlummernden und winkte.

Emma erhob sich und folgte ihm lautlos.

»Rechtsanwalt Müller wurde vor einer halben Stunde in das Gefängnis gerufen, Thomas Gloos wollte mit ihm sprechen. Gloos wollte heute nacht aus dem Gefängnis entfliehen; er stürzte auf den Hof. Er hat seine Tat gestanden, wird aber die Nacht kaum überleben.«

Die Lehrerin sah mit einem tiefernsten Blicke auf. Ihre Augen ruhten ineinander, und ihre Hände fanden sich zu einem kurzen, festen Druck.

Ein stilles Gelöbnis war es, vom Mitleid für den Sterbenden aus ihrem Herzen emporgehoben. Ein Gelöbnis, die arme Mutter und das Kind nicht im Elend versinken zu lassen.

Nach langem Schweigen sagte Dirr: »Ihr Bruder wird morgen frei sein.«

Da fanden sich ihre Hände zum zweitenmal.

Emma blickte ihn dankbar an: »Darf ich eine große Bitte wagen?«

»Es gibt nichts, das ich Ihnen versagen könnte,« erwiderte Dirr bewegt.

»Wollen Sie dafür sorgen, daß mein Bruder nicht eher entlassen wird, bis ich ihn abholen kann? Ich bin gewiß, daß er sich mir sonst entziehen würde.«

Der Professor ging ans Telephon.

Emma hörte wieder jeden Laut. Ehe Dirr den Hörer zurücklegte und abläutete, war die schwere Sorge um den Unglücklichen von ihr genommen. Nun standen sie einander nochmals gegenüber.

»Danken Sie mir nicht eher, als bis ich hoffen darf, daß Sie heute nicht zum letztenmal hier gewesen sind,« sagte Dirr mit bewegter Stimme.

»Ich bleibe hier. Die arme Mutter und ihr Kind sollen die kurze Zeit, die ihnen vielleicht noch zu leben vergönnt sein wird, nicht hilflos sein.«

»Wenn sie Ihrer Hilfe nicht mehr bedürfen,« fragte Dirr, »was darf ich dann hoffen?«

Emma blickte ihn frei an. »Ich will mich meinem Schicksal nicht entziehen.«

Da trat er näher an sie heran, und sie legte ihren Kopf an seine Brust.

 

An einem kalten Januartage brauten Nebel über dem Friedhof.

Das Kapellenglöckchen läutete.

Ein Beamter ging voraus. Wärter trugen den Sarg, in dem Thomas Gloos lag. Kein Mensch folgte ihm.

Ein altes Weiblein, Walburga Moorbruch, die Mutter des Ermordeten, war am Grabe ihres Sohnes gewesen.

Da sah sie den kleinen Zug. Weil niemand dem Sarg folgte, ging sie hinterher.

Vielleicht begrub man da einen, der auch eine Mutter hatte, die heute nichts wußte von der schweren Stunde.

So ging sie hinterdrein bis an das Grab und warf drei Schollen hinunter.

Die Sonne schien durch den Nebel. Ein roter Ball stand am Himmel und leuchtete durch das trübe Grau. Strahlen gingen von ihr aus, die neues Leben verhießen.


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