Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Frau Espel ging noch einmal durch die sauberen, behaglichen Räume der neuen Behausung. Dann kam sie zu ihrem Mann in das Wohnzimmer, wo über dem Familientisch eine Lampe mit dunkelgrünem Schirm brannte.

»Nun, Oskar, wie gefällt's dir?«

Sein blasses Gesicht überflog ein helleres Lächeln. Er faßte sie bei der Hand, zog sie neben sich auf das Sofa und legte den Arm um ihre Schultern. »Du bist eine kleine Zauberin,« sagte er gerührt und strich ihr liebkosend über das Blondhaar. »Mit bescheidenen Mitteln hast du trotz der harten Zeit alles so schön gemacht. Wir wohnen hier so angenehm, wie ich es nie erwartet hätte.«

Ihre Augen leuchteten. »Ich möchte, daß du alles vergißt, was dich in der Großstadt so heruntergebracht hat. Du warst im Geschäft immer zu viel angestrengt und konntest dann nicht einmal daheim in der unruhigen Straße Ruhe finden. Das hat ja auch der Arzt gesagt. Hier in dem stillen, ruhigen Häuschen am Stadtrand bei der besseren Luft wirst du dich bald erholen, und wir werden glücklich sein.«

Sie legte den Kopf an seine Schulter und schaute liebevoll zu ihm auf.

»Glücklich!« wiederholte er sinnend, als ob er sich selber überreden wollte, den letzten Zweifel aufzugeben. Er war doch in der letzten Zeit unter der drückenden Arbeit ein rechter Hypochonder geworden. Das sollte nun hier alles anders werden.

Oskar Espel trat zum Fenster und öffnete einen Flügel. Kühle Nachtluft strömte erfrischend herein. Von der Wiese, über die ein schmaler Fußweg führte, drang herber Grasduft wohltuend zu ihm herauf. Kein Lärm, kein Geräusch mischte sich in das Behagen, das sie beide empfanden.

»Komm!«

Sie schloß leise die Fenster und ging mit ihm nach dem Tisch. Mit Wangen, die vor Freude glühten, breitete sie eine Reihe von Papieren und ihr Aufschreibebuch vor ihm aus.

»Jetzt sieh einmal meine Rechnungen durch und sag' mir, ob ich verschwenderisch gewesen bin.«

Eine Weile blieb es still.

»Liesel, wahrhaftig, du kannst zaubern. Aber du wirst nun auch müde sein.«

»Ja, das ist wahr, ich sehne mich nach Ruhe, denn morgen möchte ich wieder frisch und munter sein zu neuer Arbeit.«

Fröhlich ging sie in das Schlafzimmer. »Geh' du nur auch bald zur Ruh'! Du brauchst sie so nötig wie ich.«

Er winkte mit der Hand und setzte sich wieder in die Sofaecke.

Oskar fühlte sich wirklich glücklich. Eine so heitere, kluge und brave Frau konnte man weit und breit suchen. Mit seinem bescheidenen Gehalt, den er als Anwaltsbuchhalter bezog, wußte sie trotz der Schwere der Zeiten alles mögliche zu bestreiten; das hatte sie jetzt wieder bei der Einrichtung der neuen Wohnung bewiesen.

Er seufzte. War es nicht traurig, daß er ihr so viel Sorge machte? Seine Schwächezustände stammten von strenger Arbeit nach hartem, mehrjährigem Kriegsdienst – von der Erfüllung der Pflicht für sie, für sich und das Geschäft. Es war nicht leicht durchzukommen, wenn man von Haus aus keine starke Natur besaß.

Jetzt aber sollte es anders werden! Nun sollte Liesel zum Dank für ihre Sorge und Mühe einen gesunden Mann haben, dem sie keinen Kummer an den müden Augen ablesen mußte.

Hier in der ruhigen, friedlichen Gegend mußte er sich erholen, und sie würden glücklich sein. Er fühlte eine angenehme Müdigkeit durch seinen Körper ziehen; ein gesundes Schlafbedürfnis, das er lange nicht mehr so empfunden, überfiel ihn. Heute nacht würde er gut schlafen und morgen ruhig und gestärkt erwachen.

Leise schlich er an die Türe zum Schlafzimmer. In dem dunklen Raum hörte er Liesel gleichmäßig tief atmen; sie genoß den wohlverdienten Schlummer.

Oskar trat in das Wohnzimmer zurück und löschte die Lampe. Dann ging er noch einmal an das Fenster und schaute in die stille Nacht hinaus.

Leichte Nebel, die an den herannahenden Herbst mahnten, zogen über die Wiese, vom Licht des zunehmenden Mondes beschienen. Weiß und hell hob sich der schmale Fußpfad, der aus der Stadt in Windungen ins Freie führte, vom dunklen Grund.

Da erblickte Espel zwei Männer. Sie kamen aus der Richtung der Häuser her und gingen ruhig nebeneinander. Fast gleich groß, beide schlank und hager, schritten sie langsam dahin. Da blieb der eine stehen. Der andere sprach auf ihn ein. Der erste wandte sich um, als wolle er nach der Stadt zurückkehren.

Da sah Espel, wie der andere von hinten den Arm erhob. Einen Augenblick funkelte etwas silbern im Mondschein und bewegte sich rasch nach dem Rücken des halb zur Seite Gewendeten herunter.

Der Mann schrie laut und lief davon.

Der andere verfolgte ihn.

Oskars Knie wankten. Lähmender Schreck hemmte seinen Atem. Entsetzlich! Das war ein heimtückischer Überfall! Mord! Er wollte das Fenster aufreißen und rufen, die Leute im Haus wecken. Und doch konnte er kein Glied rühren, keinen Laut hervorbringen. Seine Finger umspannten willenlos die Fensterklinke.

Der Fliehende, der schwer getroffen sein mochte, lief langsamer. Ein paarmal schrie er laut, dann brach er lautlos zusammen und fiel auf das Gesicht.

Nun lief der andere heran und beugte sich über ihn. Ob er noch einmal auf ihn einstach, oder den an der Erde Liegenden beraubte, konnte Oskar nicht wahrnehmen.

Das Blut brauste ihm in den Schläfen. Er zitterte, und Angstschweiß trat auf seine Stirne. Die Augen umflorten sich; mit äußerster Anstrengung hielt er sich aufrecht.

Jetzt sah Espel, wie sich der Mörder langsam emporrichtete und sein Opfer verließ. Nach einigen Schritten begann er zu laufen und rannte quer über die Wiese ins Dunkel.

Inzwischen hatte das Geschrei des Überfallenen die Schläfer geweckt. An vielen Fenstern sah man Leute. Haustore klangen; Hunde rannten bellend heraus; Menschen riefen durcheinander. Irgend ein Tor feuerte in gutmeinender Absicht einen Schuß ab.

Lang hingestreckt lag der Ermordete im Mondlicht.

Nun fanden sie ihn.

Gleichzeitig reckten sich Arme und Hände aus der Wiese herauf nach Oskar. Der Bann war gebrochen; er ertrug das Alleinsein in der Finsternis nicht mehr. Angstschauer schüttelten ihn. Er wankte ins Zimmer und schaltete den elektrischen Strom ein. Dann trat er wieder zum Fenster.

Scharf sah man von unten seine Gestalt, die sich von der Helle abhob.

Von unten rief es herauf: »Dort! Schaut hin!« – »Dort ist ein Zeuge!« – »Er muß alles gesehen haben.«

»Wer ist der Mann da oben?«

»He da! Fenster öffnen!«

Willenlos schloß er mit zitternder Hand das Fenster auf. Gleichsam wie ein Angeklagter am Pranger stand er da, er hätte mit einem Zuruf das Entsetzliche verhindern können. Bebend stand er vor der aufgeregten Schar da unten.

»Wer sind Sie?« – »Was haben Sie gesehen?« – »Warum haben Sie nicht geschrien?«

»Ich wär' zum Fenster heruntergesprungen!« rief jemand drohend.

Fäuste ballten sich.

Nun trommelte es unten an der Haustüre. Schutzleute begehrten Einlaß. Jetzt kamen sie über die Treppe herauf.

Frau Espel schreckte aus ihrem tiefen Schlaf auf.

Als sie wach geworden war, hörte sie Lärm an der Wohnungstüre; das Bett ihres Mannes war unberührt. Sie kleidete sich notdürftig an. Als sie in das äußere Zimmer kam, lag Oskar am offenen Fenster auf dem Boden.

Er war bewußtlos.

 

Schutzleute halfen ihr, ihn auskleiden und zu Bett bringen.

Ein Arzt wurde geholt. »Eine schwere Nervenerschütterung,« sagte er nach der Untersuchung. »Zunächst kann man nichts tun, als ihn ruhen lassen. Es ist traurig, daß der Mann, der diesen Platz aufsuchte, um Ruhe zu finden, diese grausige Tat mit ansehen mußte.«

Beim Gehen versprach der Arzt, in früher Morgenstunde wiederkommen zu wollen.

Drunten verliefen sich allmählich die Leute.

Eine Gerichtskommission hatte sich an der Stelle der Tat eingefunden. An dem Ermordeten fand man im Rücken zwei tödliche Stiche. Seine Brieftasche war leer. Der Mörder hatte mit den vermutlich darin befindlichen Geldmitteln wohl auch alle Ausweise über die Person seines Opfers an sich genommen.

Kleinere Menschengruppen standen noch eine Zeitlang auf der Wiese beisammen und schwatzten über das Ereignis. Viele sahen immer noch nach der Wohnung Espels hinauf und nörgelten dabei allerlei. Ohne Ahnung von dem Unglück, das die Tat über ihn selbst gebracht hatte, gab man ihm die Schuld, daß der Anschlag nicht mißlungen oder der Mörder auf der Stelle der Tat gefaßt worden war. Jeder wußte genau zu sagen, wie es gekommen wäre, wenn zufällig er zu dem Fenster hinausgesehen hätte.

Espel schlief. Fast lautlos atmend, so lag er in den Kissen. Seine junge Frau wachte bei ihm.

Immer wieder dachte sie an ihre Worte: »Wir werden glücklich sein.« Und nun lag ihr armer Mann so elend da. Hatte sie mit ihrer Freude, mit ihrer kleinen, unschuldigen Eitelkeit über das geschaffene Heim das Schicksal herausgefordert? Warum mußte er hier, wo er Ruhe und Frieden finden sollte, die gräßliche Tat erleben? Sein Gemütsleben, das ohnedies so weich und empfindsam war, litt nun gewiß dauernd, denn er trug an allem schwerer als andere Menschen.

Verzweifelt legte die junge Frau ihre Stirn auf den Bettrand. Tränenlos, leise stöhnend erwartete sie über dem unerwarteten Schlag nichts mehr vom Glück, das sie so tief herbeigesehnt. Seufzend dachte sie, wir beide sind doch nur zum Elend geboren.

Die Stille und das Dunkel der Nacht vertieften ihre leidvolle Stimmung. Vielleicht erwachte Oskar nicht mehr. Vielleicht blieb sein Verstand verwirrt. Schmerzender als ihr eigenes Schicksal empfand sie sein trauriges Los, denn sie liebte ihn im tiefsten Herzen.

So kam der Morgen heran und der Tag, an dem sie gehofft, daß er erquickt aufstehen sollte.

In aller Frühe hörte sie im Treppenhaus des nur von wenigen Mietern bewohnten Gebäudes die Leute lebhaft plaudern. Die ganze Nachbarschaft schien rebellisch. Jedes unverstandene Wort quälte sie. Galt doch all das, was da geredet wurde, mehr oder minder ihrem Mann, störte ihm die Ruhe, erschwerte ihm die Genesung.

Später, als sie ans Fenster trat, um es ein wenig zu öffnen und frische Luft einzulassen, sah sie unten eine größere Menschenmenge, die schwatzend und gestikulierend hin und her flutete. Manche lachten und scherzten sogar, und geputzte Damen befanden sich darunter. Dann und wann deutete drunten jemand nach ihren Fenstern.

Als Frau Espel am Fenster erschien, richtete jemand ein Opernglas gegen das Haus. Liesel wich zurück und schaute rasch nach Oskar um, wie wenn all die dreisten Blicke und Reden da unten ihn treffen und immer wieder neu verwunden müßten. Am liebsten wäre sie auch hier wieder fortgegangen.

Betrübt und ratlos stand sie noch so, als es ungeduldig an die Wohnungstüre pochte. Den Klang dieses harten Knöchels kannte sie. Es war ihre Mutter. Liesel griff an den Kopf und sah hilflos vor sich hin. Auch das noch!

Neue Quälereien, an die sie bisher nicht gedacht hatte, standen ihr bevor.

Frau Sekretär Wolperts, ihre Mutter, war gegen die Ehe mit Espel gewesen. Sie wollte nicht haben, daß ihre Tochter einen Beamten heiratete. Hatte sie doch die Enge genügsam erfahren. Um ihre Tochter vor der »ewigen Fretterei« zu bewahren, hatte sie ihr einen netten Geschäftsmann in der Nachbarschaft zugedacht. Aber mit dem von der Mutter ererbten festen Charakter kämpfte Liesel für ihre Liebe.

Seitdem fand die Mutter an dieser Ehe nichts Gutes, obwohl Frau Wolperts sonst eine gute, vernünftige Frau war. Aber sie wollte recht behalten. All das Glück dieser wenigen Jahre hatte sie nicht bestimmen können, ihrer Schwarzseherei zu entsagen. Von dem Augenblick an, da Oskar an den Folgen der Überarbeitung litt, kam bei ihr trotz aller Besorgtheit und Teilnahme ein gewisser Triumph nicht aus den bitter verzogenen Mundwinkeln.

Heute glänzten ihre Augen förmlich.

»Was ist denn das?!« rief sie beim Eintreten scharf und suchte den von ihr unzertrennlichen Schirm in eine Ecke zu lehnen, der dort ein paarmal umfiel. Zornig geworden, stieß sie ihn erbittert in den Winkel.

»Oskar ist krank,« sagte Liesel mahnend und trat ein paar Schritte zurück.

Frau Wolperts zerrte jetzt an den Bändern ihres Kapotthutes, bis es ihr gelang, die Schleife zu lösen und den Hut abzulegen.

»So! Krank ist er?«

Sie schloß die Augen halb und sah ihre Tochter erbittert an. »Eine Schande!« murmelte sie. »Der Vater kann sich heute gar nicht im Büro sehen lassen. In allen Zeitungen steht es zu lesen ...«

»Was denn, Mutter?«

»Was? Du mußt es doch wissen! Bringt da irgend ein Kerl den anderen um – natürlich in ›dieser‹ Gegend – ich hab's ja gesagt, wie kann man in diese Gegend ziehen! Bringt da irgend ein Kerl den anderen um – und wer steht im Zusammenhang damit, wie wenn er selber dabeigewesen wäre? Unser Schwiegersohn! Fettgedruckt kann man's in allen Morgenblättern lesen. Ein Mord und unser Schwiegersohn! Herr Anwaltsbuchhalter Oskar Espel.«

Liesel betrachtete die aufgebrachte Frau verblüfft. »Aber wie kann man denn deswegen Oskar in die Zeitung bringen?«

Frau Wolperts lachte gereizt. »Wie man das tun kann? Alles kann geschehen, wenn man in einer solchen Gegend wohnt und sich in alles hineinmischt.«

»Aber Oskar hat sich doch in gar nichts eingemischt.«

»Der! Sich in nichts hineinmischen? Einer, der immer mehr aus sich machen möchte als ihm zukommt.«

»Mutter, das ist nicht wahr!«

»Es ist so!«

Die Sekretärin öffnete mit einem raschen Griff die Wohnzimmertüre. Ihr Auge flog mit blitzschnellem Orientierungsvermögen über alles hin. Der hübsche Raum schien sie für den Augenblick milder zu stimmen.

Sie trat an das Fenster und blickte hinunter.

Eben stand wieder eine Gruppe vor dem Haus. Die Leute deuteten nach den Fenstern herauf.

Rasch riß sie den einen Flügel auf und schimpfte hinunter: »Was ist denn das für eine Maulaufreißerei am hellen Tag? Können anständige Leute in dieser Gegend nicht unbelästigt wohnen? Hier ist kein Theater, verstanden!«

»Gesindel!« murrte sie halblaut im Zurücktreten.

Unten war man zum Teil verblüfft, zum Teil belustigt. Ein paar junge Leute klatschten in die Hände und riefen: »Bravo!«

Liesel fühlte sich beschämt.

Frau Wolperts drehte sich befriedigt nach ihr um. »Weißt du, der Gesellschaft bist du nicht gewachsen. Da mußt du erst länger mit Menschen zu tun gehabt haben.«

Dann ging sie wieder an das Fenster und betrachtete – diesmal hinter dem Vorhange – die Wiese.

Von Neugierde erfaßt, begann sie: »So, da draußen auf dem Weg war's?! Das steht ja ganz genau in der Zeitung. Aber sag' nur doch, wie ist's denn eigentlich zugegangen. Das muß ja entsetzlich gewesen sein.«

»Ich weiß gar nichts.« Liesel setzte sich auf einen Stuhl. »Ich war müde.«

Ihre Mutter nahm gegenüber Platz und schaute sie scharf an. »Natürlich – von einer solchen Hetzerei!«

»Ich bin allein ins Bett gegangen. Oskar blieb noch ein wenig auf. Plötzlich hörte ich Lärm. Wie ich heraus kam, lag er bewußtlos auf dem Boden. Da waren auch schon die Schutzleute da.«

»Was? Schutzleute in der Wohnung – gräßlich!«

»Er muß das Entsetzliche mit angesehen haben und darüber erschrocken sein.«

»So ein Mannsbild!« murmelte Frau Wolperts. »Und jetzt?«

»Jetzt liegt er drinnen wie tot. Der Doktor will in der Frühe wiederkommen.«

Die Sekretärin war ruhig geworden. Sie betrachtete die Möbel, Deckchen und Bilder.

»Hübsch hast du alles gemacht,« sagte sie anerkennend.

Dann ergriff sie die Hand ihrer Tochter.

»Komm jetzt! Kopf in die Höh'! Du schaust elend und übernächtig aus. Jetzt möcht' ich ihn einen Augenblick sehen, und dann machen wir uns einen kräftigen Kaffee. Ich hab' Bohnen mitgebracht, und die Frau Inspektor – die bei uns im ersten Stock wohnt – hat mir aus Mitleid ein Quart Milch heraufgebracht. Denk' dir, so ein Geizkragen, und ein Quart Milch! Da kannst du sehen, was die Leute für eine Freude dabei haben, daß man so blamiert ist.«

»Aber Mutter, man ist doch deswegen nicht ...«

»Na, darüber will ich jetzt nicht weiter reden.« Frau Wolperts erhob sich rasch und trat so geräuschlos, wie man es ihrem kantigen Wesen gar nicht zugetraut hätte, in das Schlafzimmer. Ihr Schwiegersohn lag mit bleichem Gesicht wie leblos im Bett.

Wie sie ihn so beim Tageslicht sah, gab es Liesel einen Stich ins Herz, und auch ihre Mutter war ernst und ruhig.

»Du hast dein Kreuz,« sagte sie im Hinausgehen. »Was meinst du, wenn wir ihm Kakao machen würden?«

»Er soll schlafen, sagte der Doktor. Wir wollen warten, bis der da war.«

Die Sekretärin gab sich zufrieden und hantierte geschäftig auf dem Herd. Seit sie von dem Bett des Kranken kam, war sie stiller.

Nun setzten sie sich miteinander an den Küchentisch und tranken.

»Der Kaffee ist gut, was?« sagte Frau Wolperts bei ihrer dritten Tasse und erwartete ein lobendes Wort.

Liesel mußte trotz ihres Elends lächeln und legte die Hand über den Tisch hinüber auf die knochigen, hageren Finger der Mutter. »Ja, du verstehst das.«

Die Sekretärin schien befriedigt. »Darauf habe ich immer gehalten – das wißt ihr.«

Sie waren eben mit dem Frühstück fertig, da erschien ein Mann in Zivilkleidung, der sich als Kriminalbeamter auswies. Er war enttäuscht und ungehalten, daß Herr Espel noch immer nicht zu sprechen sei. Die Aufschlüsse, die er von ihm zu erhalten hoffte, konnten von besonderer Wichtigkeit für die Entdeckung des Mörders sein.

Während die Frauen noch mit dem Beamten sprachen, fand sich der Arzt ein.

Zusammen betraten sie das Schlafgemach.

 

Der Beamte bat, zugegen sein zu dürfen, wenn Espel seine ersten Äußerungen machte, weil diese für die Beurteilung der Klarheit seines Erinnerungsvermögens von Wert sein konnten.

Aber die Geduld aller wurde auf eine neue Probe gestellt. Oskar schlief noch, und der Arzt lehnte es entschieden ab, die Ruhe zu unterbrechen; der Schlaf schien ihm für das Befinden des Kranken von größter Bedeutung.

Frau Wolperts hielt es unter diesen Umständen für angezeigt, bei ihrer Tochter zu bleiben, und ließ ihrem Gatten Botschaft in sein Büro sagen, er möge heute mittag hierher statt in sein eigenes Heim kommen.

Der Sekretär, der wegen der Spannung zwischen Frau und Schwiegersohn selten Gelegenheit fand, das Haus seiner Tochter zu betreten, ergriff den heutigen Anlaß mit Vergnügen. Denn er hing an seinem Kind und mochte auch Oskar gern; das durfte er aber seine Frau nicht merken lassen, wenn er nicht den Frieden im engsten Familienkreis gestört wissen wollte.

Er kam umso lieber, als er von den Nachrichten, die der Zeitung zu entnehmen gewesen, beunruhigt war. Die Nachtberichterstatter hatten durch ihre ersten Umfragen nur den Namen des Zeugen am Fenster feststellen und nichts Näheres ermitteln können. Wolperts wußte daher nicht, ob und wie weit sein Schwiegersohn und etwa auch seine Tochter in die dunkle und grausige Geschichte verwickelt waren. Zu seiner eigenen Ungewißheit hierüber kamen noch die Fragen seiner Kollegen, die ihn mit ihrer Neugierde während des Vormittags gequält hatten. Auch sein Vorgesetzter war in sein Zimmer gekommen und hatte sich über das Wie und Was erkundigt, ohne daß der Sekretär den geringsten Aufschluß geben konnte.

So eilte er denn noch vor Schluß der Amtsstunden hierher.

Liesel wäre glücklich gewesen, ihre beiden Eltern in ihrem neuen Heim bei sich zu sehen und so das noch nie genossene Vergnügen zu haben, alle Angehörigen an ihrem Tisch zu sehen, wenn nicht ihr Mann im Zimmer daneben noch immer in tiefem Schlaf gelegen wäre. Jede Vermutung darüber, wie er erwachen würde, war müßig. Der Arzt, der kurz vor Mittag noch einmal vorgesprochen hatte, weil es ihm nicht eher möglich gewesen war, hob auf Fragen nur die Schulter und sagte zu, gegen Abend wiederzukommen.

So verlief das gemeinsame Mittagessen der drei Personen, obwohl es Frau Wolperts mit besonderer Sorgfalt selbst zubereitet hatte, recht still und gedrückt. Eins nach dem anderen stahl sich immer wieder weg, trat unter die Türe und warf einen besorgten Blick nach dem Bett, in dem der Leidende bewußtlos ruhte.

Bald nach Tisch kam Rechtsanwalt Doktor Müller, Oskars Chef, der seinem langjährigen treuen Beamten sehr zugetan und nicht minder auf ihn angewiesen war. Das Fernbleiben Espels war von Liesel frühzeitig durch ein paar Zeilen entschuldigt und dem Anwalt aus den Zeitungsnachrichten einigermaßen erklärlich geworden. Aber der Zusammenhang zwischen dem Unwohlsein und der Tat auf der Wiese schien für Doktor Müller trotz allem dunkel, und so trieb ihn, den beliebten Verteidiger, doppeltes Interesse hierher.

Auch er trat auf den Zehen vor das Bett und betrachtete eine Weile die stillen Züge des leidenden Mannes.

»Er fühlte sich schon seit längerer Zeit angegriffen,« sagte der Anwalt, als man wieder in das Wohnzimmer zurückkehrte. »Ich suchte ihn zu entlasten, so weit es möglich war. Ich habe seinetwegen noch ein Fräulein aufgenommen, um die geringeren Arbeiten mehr auf das Personal verteilen zu können. Aber Sie wissen ja selber: man kann ihm nichts abnehmen, er will alles selber tun. Daß seine feinfühlige Natur ein so entsetzliches Ereignis niederwerfen mußte, ist mir begreiflich, aber ich hoffe auf seine geschulte Willenskraft, die viel über den körperlichen Zustand vermag. Selbstverständlich soll er sich nun auf alle Fälle schonen und gründlich erholen.«

Er ging mit langsamen Schritten wie ein Mann, den selbst ein Unglück getroffen hat, hinaus. Man sah ihn dann unten auf der Wiese den Tatort besichtigen und verschiedenen Gruppen zuhören. Sein Interesse als Kriminalist konnte die eigene Sorge doch nicht ganz ersticken.

»Vielleicht bekommt er den Mord zu verteidigen,« sagte Frau Wolperts. »Dann kommt dein Mann gar nicht von der Geschichte los.«

Liesel schaute die Mutter geängstigt an.

Der Sekretär, der die Schärfe seiner Frau oft nicht verstand, schüttelte mißbilligend den Kopf, drückte seiner Tochter die Hand, trat noch einmal unter die Nebenzimmertüre und sah nach Oskar. Dann ging er traurig fort.

Als Liesel gegen Abend wieder einmal in das Schlafzimmer trat, lag ihr Mann mit offenen Augen im Bett. Sein Blick war auffallend streng. Als er sie sah, milderte sich der herbe Ausdruck seines Gesichtes ein wenig; er lächelte.

Schweigend, um nicht die Mutter aus der Küche herbeizurufen, ging sie froh und doch voll Bangen an das Bett und setzte sich auf den Rand. Sie beugte sich tief über Oskar. Ihre Lippen berührten sich.

Dann sahen sie einander lange, ohne zu sprechen, an.

»Fühlst du dich besser?« fragte sie innig.

Er schaute sie nachdenklich an, wie wenn er sich weit zurück besinnen müßte.

»Ich bin auf einmal zusammengesunken,« sagte er dann langsam. »Zwei Männer kamen von der Stadt her und gingen ruhig nebeneinander. Sie waren fast gleich groß; beide schlank und hager. Da blieb der eine stehen. Der andere sprach auf ihn ein. Der erste wandte sich um, als wolle er nach der Stadt zurückkehren. Da hob der andere von hinten den Arm; in seiner Hand funkelte etwas silbern. Er stieß damit nach dem Rücken des halb zur Seite Gewendeten. Ich hörte einen Schrei und sah, wie der eine davonlief. Der andere verfolgte ihn. Ein Mord war geschehen. Aber ich konnte nicht helfen, ich konnte mich nicht rühren. Ich war ganz starr und willenlos vor Schrecken. Der Fliehende, der schwer getroffen sein mochte, lief langsamer. Ein paarmal schrie er heftig, dann brach er zusammen. Der andere kam heran, beugte sich über ihn. Ich weiß nicht, ob er noch einmal auf ihn einstach, oder ob er den am Boden Liegenden beraubte. Dann verließ er sein Opfer. Nach ein paar Schritten fing er zu laufen an und rannte über die Wiese ins Dunkel. Dann kamen Leute und schrien zu mir herauf. Ich sollte das Fenster öffnen. Ich habe es getan. ›Dort ist ein Zeuge!‹ rief jemand. Sonst weiß ich nichts mehr.«

Den Blick an die Wand geheftet, hatte er vor sich hin gesprochen, gleichmäßig und sicher – wie wenn er es dort ablese.

Unauslöslich hatten sich die Vorgänge ihm eingeprägt.

Ergriffen hörte sie ihn an. »Fürchterlich! Es muß dich schrecklich getroffen haben!«

Er schaute sie wie geistesabwesend an.

»Dort ist ein Zeuge ...« wiederholte er mit einer gewissen Feierlichkeit und setzte sich dabei mühelos gerade auf, indem er die Hand an die Bettdecke legte, als ob er diese zurückschlagen und aufstehen wollte.

»Was willst du tun?« fragte die junge Frau besorgt. Sie empfand fast ein Grauen vor dem seltsamen Ausdruck seiner Augen. Einen Augenblick dachte sie daran, die Mutter zu rufen.

Da sank er langsam wieder zurück.

»Es geht noch nicht,« sagte er leise.

»Herr Doktor Müller war da. Du sollst dich schonen und gründlich erholen.«

Er lächelte. »Ich brauche nicht viel Erholung. Ich bin nur noch müde; doch das geht bald vorüber.«

»Du bist doch noch recht matt und angegriffen.«

»Ich habe keine Zeit zur Erholung.« Lauter und entschieden sagte er: »Ich muß Zeugnis ablegen.«

»Sie werden schon kommen und dich fragen, was du weißt. Sie waren schon da und kommen wieder.«

»Wer?«

»Von der Polizei.«

Er wehrte mit der Hand ab. »Das ist Nebensache.«

»Was willst du denn dann tun?«

»Er hat mich aufgerufen.«

»Wer hat dich aufgerufen?«

»Der Ermordete! Dreimal hat er nach mir geschrien: ›Dort ist ein Zeuge.‹ Die Leute haben es später nur ihm nachgesprochen. Das wollte er mir sagen.«

Liesel bekam vor seinen eigentümlichen ruhigen und festen Worten und dem starren Blick seiner Augen Angst. Sie konnte sich nicht mehr beherrschen und rief: »Mutter!«

Man hörte ein Blechgeschirr klirren.

Frau Wolperts trat ein.

Die Sekretärin steckte mit einer halb verlegenen Bewegung den Schürzenzipfel in den Gürtel und sagte dann so freundlich, wie es ihr im Augenblick möglich war: »Na, wie geht's? Haben Sie endlich ausgeschlafen?«

Er streckte ihr unbefangen die Hand hin: »Ich danke Ihnen, Schwiegermutter, für Liesel und für mich, daß Sie da sind!«

Ihr farbloses Gesicht rötete sich. Seine Anerkennung freute sie.

»Das Abendessen ist fertig. Eine Brennsuppe für Sie. Ich glaube, die wird Ihnen schmecken.«

Wieder schaute er sie befriedigt an. »Es freut mich, daß Sie da sind, Schwiegermutter. Liesel wird jetzt Ihre freundliche Hilfe öfter brauchen; wir werden Ihnen dankbar sein, wenn Sie uns helfen wollen.«

Sie machte eine Bewegung, als wollte sie den Dank abwehren. »Sie sind krank. Da ist's doch selbstverständlich, daß ich hier und da nachschaue, solange Sie krank sind.«

Ungeduldig erwiderte er: »Das ist es nicht. Ich bin gesund; es war nur ein Nervenchok, wie er den Gesündesten treffen kann. Es handelt sich um etwas anderes.«

»Du meinst, du müßtest nacharbeiten im Büro?« fragte seine Frau. »Nein! Nein! Du brauchst nicht nachzuarbeiten. Herr Doktor Müller hat ausdrücklich gesagt, daß du dich nicht überanstrengen und dich vollkommen erholen sollst.«

[Buchseite fehlt. Re.]

schief gegenüber und streckte den Kopf gegen ihn vor. »Überlassen Sie das ruhig der Polizei, die dazu da ist. Sie geht das gar nichts an. Das ist wieder nichts als Wichtigtuerei von Ihnen.«

Sie lachte spöttisch. »Er einen Mord aufdecken und fällt um wie ein schwächliches Frauenzimmer, wenn er ein paar auf der Wiese raufen sieht.«

»Mutter!« Liesel schaute betroffen nach ihr und legte die Hand wie schützend auf Oskars Arm.

Espel schien die scharfen Worte gar nicht zu empfinden.

Still wiederholte er: »Dreimal hat er nach mir geschrien, ehe er zusammenbrach. Und die Leute haben mir seinen Ruf richtig ausgelegt. Ich war der einzige, der alles gesehen hat. Ich muß den Mörder finden.«

Seine Augen glänzten. Sein schlanker, schmächtiger Oberkörper hob sich.

Seiner Frau, die ihn überrascht betrachtete, rieselte ein Schauer über den Rücken. Seine Worte und der Ausdruck seiner Augen riefen einen tiefen Eindruck in ihr hervor. Sie begriff, was ihn in diesem Augenblick bewegte. Im nächsten Atemzug drückte sie Liebe und Sorge nieder; die Angst um seine Gesundheit, das Bangen um Ruhe und Frieden, die Furcht vor der kaum verhohlenen Abneigung ihrer Mutter vor Oskar empfand sie als schwere Last auf der Seele. Sie wußte sich nicht zu fassen und schaute mit einem wirren Blick in das dämmernde Dunkel.

Frau Wolperts wollte die Rechte ihres Kindes schützen. Drohend begann sie: »Das wird man Ihnen schon zeigen, was Sie zu tun und zu lassen haben. Ich werde mit dem Doktor, mit der Polizei und Ihrem Chef sprechen. Es gibt, Gott sei Dank, noch Leute, die da ein Wörtchen mitzureden haben.«

Liesel, die sich trotz aller Tapferkeit nicht mehr beherrschen konnte, schluchzte. Seit gestern war zu viel über sie gekommen.

»Heul' nicht, sag' ich,« rief ihre Mutter. »Ich will dich vor seiner Torheit schützen! Schlimmstenfalls nehme ich dich wieder mit.«

Da verbarg die kleine Frau ihre Angst und ihren Kummer. Über alle Sorge in ihr erhob sich die Liebe.

Ruhig stand sie auf und sah von Oskar zu ihrer Mutter. »Ich bleibe bei meinem Mann,« sagte sie und schloß seine Hand fest in die ihre.

Er schaute lächelnd zu ihr auf. Dann griff er, ohne zu zittern, nach dem Löffel und aß seine Suppe.

Die Sekretärin eilte hinaus und schmetterte – jede Rücksicht auf den Leidenden in ihrem Zorn vergessend – die Türe so ins Schloß, daß der Mörtel aus dem Verband bröckelte.

 

Frau Wolperts saß auf dem Küchenstuhl und aß. Auch ihre Hand zitterte nicht; sie war eine gesunde Frau, der die Erregung des Augenblicks nichts von ihrer Ruhe nahm. Und die brauchte sie jetzt nötiger als je, denn sie sah deutlich, daß sie der heutige Tag für eine Versäumnis strafte. Hatte sie die Heirat ihrer Tochter mit dem Buchhalter nicht zu hindern vermögen, so hätte sie doch viel eher in die junge Familie eingreifen müssen. So sagte sie sich jetzt, es war eine Schuld, die sich nun bitter rächte, daß sie aus Mißmut und einer gewissen Bequemlichkeit die Dinge hier seit Jahren hatte laufen lassen, wie sie eben gingen. Sie hätte sich die Mühe und den Verdruß nicht reuen lassen sollen, vom ersten Tag dieser Ehe an, mitzuwirken und einzugreifen. Sie hätte den Sparren, den ihr Schwiegersohn nach ihrer Überzeugung besaß, bekämpfen müssen. Das hatte sie versäumt, und das rächte sich nun. Und das mußte nachgeholt werden, ehe noch Schlimmeres daraus entstand. Weit genug war es schon. Ernstlich dachte sie ja nicht daran, die jungen Ehegatten zu trennen. Aber er sollte sie kennen lernen. Er sollte sehen, daß man ihn nicht ruhig seinen Narrenweg wandeln und das eigene Kind mit darauf hinüberreißen ließ.

Da hörte sie die Glocke.

Ihr Mann war es, der schüchtern und besorgt in die Küche trat.

»Wie geht's?« fragte er besorgt.

»Gut! Er ist wach.«

»Da muß ich doch gleich hinein ...«

»Nein! Du kannst ihn jetzt nicht sehen. Er braucht noch Ruhe. Er redet noch wirres Zeug.«

Seine ganze Freude zerrann. »Aber du sagtest doch ...«

»Ja! Ja! Es geht besser. Du kannst beruhigt sein. Aber wir können dich drinnen noch nicht brauchen. Es regt ihn noch zu sehr auf – und du mußt selber auch schlafen. Meinst du, ich möchte, daß du auch noch krank wirst? Ihr Mannsleute haltet ja nichts aus. Du gehst jetzt heim. Ich gebe dir dein Abendessen mit. Dein Abendbier kannst du dir vom Wirt mit hinaufnehmen, und dann legst du dich zur gewohnten Stunde ins Bett und schläfst dich aus.«

»Aber ich kann doch nicht schlafen, wenn ich nicht weiß ...«

»Du weißt alles, was du wissen mußt. Und du wirst schlafen, wenn ich dir sage, daß alles in Ordnung ist, und daß es nötig ist, daß du schläfst, für den Fall, daß man dich morgen braucht.«

Das sah er ein und wurde ruhiger.

»Und du? Du gehst nicht mit?«

»Nein! Ich bleibe da.«

Es war ihm so lieb. Denn er wußte, daß seine Frau klug und besorgt war, und daß sie es hier gewiß an nichts fehlen ließ.

»Liesel hätte ich gern gesehen ...« murmelte er bescheiden, während er den Topf nahm, in dem sie ihm sein Essen reichte, nachdem sie einen Papiersack darüber gestülpt hatte.

»Du kannst jetzt Liesel nicht sehen, weil sie nicht von ihm weg darf – und zu ihm sollst du nicht hinein.«

Betrübt trat er wieder auf den Korridor.

Da öffnete sich leise die Schlafzimmertüre. Seine Tochter huschte auf den Gang, drückte ihm fest und warm die Hand und verschwand wieder. Sie hatte ihn kommen gehört. Aber sie wollte ihn nicht zurückhalten, sie wußte ja, wie sehr er an seinen Gewohnheiten hing.

Auf der Treppe begegnete ihm der Arzt, der ihn nicht kannte. Der Sekretär wäre gerne mit ihm umgekehrt. Aber er wagte es nicht. So stieg er langsam und bedächtig hinunter und ging schweren Herzens in seine einsame Wohnung.

Frau Wolperts empfing den Arzt.

»Er ist wach,« sagte sie. »Wach ist er – aber bei sich ist er nicht. Er hat Phantasien, Herr Doktor, die man ihm austreiben muß. Denken Sie: Er will den Mörder entdecken! Solch ein Unsinn!«

Der Arzt hörte sie stumm an und wischte mit dem seidenen Taschentuch die Brillengläser.

»Sie halten das für Unsinn?« fragte er dann vorsichtig und sah sie prüfend an.

»Ist's vielleicht nicht so?«

Der Doktor antwortete nichts und ging in das Schlafzimmer.

Liesel machte ihm Platz.

Oskar betrachtete ihn prüfend, gewann Vertrauen und gab dem Arzt die Hand.

Der blieb vor ihm stehen und schaute ihn längere Zeit schweigend an.

Dann wandte er sich zu den Frauen.

»Ich möchte mit dem Patienten allein sein.«

Liesel warf einen ängstlichen Blick auf ihren Mann und ging ungerne hinaus. Sie wäre bei der Untersuchung lieber zugegen gewesen, um Tröstliches zu hören.

Ihre Mutter blieb stehen.

Da rief ihr der Arzt, der bisher einen gutmütigen Eindruck gemacht hatte, barsch zu: »Hinausgehen sollen Sie!«

Sie schreckte zusammen, hob den Kopf trotzig, wollte heftig erwidern, ging aber, als sie seinen sehr grimmigen Blick sah, fort und sagte in der Küche zu ihrer Tochter, daß er ein Flegel sei wie die meisten Männer.

Als die Türe geschlossen war, lachte der Arzt und setzte sich zu Espel an das Bett, griff nach dem Puls und sagte nach einer Weile: »Den Mörder wollen Sie entdecken?«

Oskar sah ihn fest an. »Ja, Herr Doktor!«

»Warum denn?«

Oskar schilderte mit kurzen Worten, was in der vergangenen Nacht geschehen war, und daß er den Mörder finden müsse, um seine innere Ruhe wieder zu erlangen.

»Warum das Unsinn sein soll,« sprach der Arzt halblaut.

»Sie versteht das nicht so,« mahnte Oskar entschuldigend. »Sie ist eine einfache Frau, die immer nur das Nächstliegende sieht.«

»Aber Sie verstehen mich – glaube ich,« fügte er langsam, beinahe bittend hinzu.

Es lag ihm am Herzen, jemanden zu finden, der ihn begriff.

»Ja,« sagte der Arzt, »das ist nun so, mein Lieber, daß man es begreiflich und unverständlich finden kann. Es kommt darauf an, ob es bloß ein augenblicklicher Zustand oder der ernste Wille ist, ob man sich berufen fühlt und an seine Sendung glaubt.«

Oskars Augen glänzten. »Herr Doktor, ich fühle mich berufen.«

»Dann müssen Sie Ihren Weg gehen. Leicht ist das nicht.«

»Darüber bin ich mir klar.«

»Nicht immer ist dort auch schon ein Weg, wo ein Wille ist. Und dann, Sie sind kein Kriminalist.«

»Mein Chef, Doktor Müller, ist Kriminalist. Ich habe bei ihm manches gesehen und gehört.«

Dem Arzte gefiel das klare, ruhige Benehmen Espels. An den Antworten auf seine Einwände erkannte er, daß es sich um keine Grille, um keine Nachphantasie aus dem langen, ohnmachtähnlichen Schlafe handelte. Er betrachtete den schmächtigen, blassen Buchhalter aufmerksam.

»Was wollen Sie denn zuerst unternehmen?«

Oskar schwieg.

»Ich würde vor allem mit meinem Chef sprechen, weil er sachkundig ist,« riet der Arzt.

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil ich das nur allein machen kann. Ich will und muß es allein machen.«

»Sie halten an Ihrer Sendung fest,« erwiderte der Arzt.

»Ja. So ist's.«

Espel blieb unbeweglich im Bett sitzen. Der Doktor erhob sich und trat an das Fenster.

Draußen stand kein Stern am Himmel. Obwohl wenig Licht war, sah man doch drüben auf dem Weg an der Stätte des Mordes Menschengruppen. Leute, die von der Arbeit heimgingen, erörterten den Fall, über den die Abendblätter einiges gebracht hatten.

Den Ermordeten kannte man noch nicht. Vom Mörder fehlte jede Spur.

Der Arzt trat wieder an das Bett. Da sagte Espel: »Bis ich aufstehen kann – morgen – wird man festgestellt haben, wer da ermordet worden ist.«

»Möglich.«

»Sicher. Bei unseren Verhältnissen bleibt kein Mensch lange unerkannt. Man wird seine Photographie überall ausgestellt sehen, und jemand wird ihn kennen. Dann will ich die Spur aufnehmen. Wer ihn kennt, wird ihn irgendwo zuletzt gesehen haben.«

»Das kann lange her sein.«

»Möglich. Das soll mich nicht hindern. Ich gehe seinem Leben nach von dem letzten Anhaltspunkte aus – nach rückwärts und nach vorwärts.«

»Das wird nicht leicht sein. Und Ihnen stehen weder Polizeigewalt noch Polizeimittel zur Verfügung, ja die Polizei wird Sie vielleicht sogar hindern. Die Einmischung eines Unbefugten ist ungehörig.«

»Ich will mich nicht einmischen. Ich werde alles, was ich unternehme, so sorgfältig verborgen halten, daß es niemand als Einmischung betrachten soll.«

Alles, was Espel sagte, war klar und bestimmt.

Leute mit ruhiger Besonnenheit und festem Willen waren des Arztes Leute – mochte der Wille auch auf Absonderliches gerichtet sein.

»Jetzt passen Sie auf!« sagte er.

Oskar sah gespannt zu ihm empor.

»Sie werden heute nacht schlafen!« Es klang wie ein Befehl.

Der Patient senkte langsam, zustimmend den Kopf.

»Sie werden morgen früh nicht aufstehen, bis ich da bin und es Ihnen erlaube!«

Einen Augenblick zögerte der Buchhalter. Dann willigte er ein.

»Ich sehe,« sagte der Arzt jetzt befriedigt, »daß Sie ein vernünftiger Mensch sind.«

Dann beugte er sich über das Bett vor und sah Espel ins Gesicht mit Augen, in denen es von Tatkraft blitzte.

»Sie haben einen Bundesgenossen an mir.«

Dem Buchhalter gab es einen Ruck.

»Das heißt,« sagte der Arzt, »ich werde mich Ihnen nicht aufdrängen, ich werde mich auch nicht einmischen in Ihre Sendung. Aber wenn Sie mich brauchen können, dann bin ich bereit.«

Oskar faßte die Hand des Doktors und hielt sie mit festem Drucke in der seinen. Über sein Gesicht ging wieder ein Leuchten, und Wärme trat in seine blassen Wangen.

Als der Arzt hinaus kam, standen die Frauen unter der Küchentüre. Liesel mit sorgenden, angstvoll hoffenden Augen, Frau Wolperts bockig, neugiergedrängt hinter ihr.

»Ich bin zufrieden,« sagte der Doktor und klopfte der jungen Frau auf die Schulter. »Nur Mut! Sie haben einen rechtschaffenen Mann, der von innen heraus gesund ist.«

Ihre Blicke dankten ihm, schimmernd in Tränen.

»Und Sie sind eine wackere Frau.«

Ehe er die Wohnungstüre öffnete, wandte er sich Frau Wolperts zu: »Das sind zwei nette, vernünftige Leutchen, man kann ihnen schon etwas mehr Luft lassen.«

Er schmunzelte, winkte der Grollenden freundlich zu und ging.

»Das wär' mir der Rechte mit seinem Luftlassen!« brummte sie und folgte, innerlich doch einigermaßen mit ihm versöhnt, ihrer Tochter ins Schlafzimmer.

»Was hat denn der Arzt gesagt?« fragte Liesel voll Sorge, Hoffnung und Neugier.

Oskar lehnte behaglich in den Kissen und sah sie ruhig und freundlich an.

»Es ist ein tüchtiger Arzt, Liesel, den eine gute Stunde ins Haus geführt hat. Ich soll jetzt schlafen; morgen früh kommt er wieder.«

Frau Wolperts streckte den Hals hinter ihrer Tochter. »Und sonst?« fragte sie scharf.

Er schien es nicht gehört zu haben. Wenigstens schaute er ganz unberührt und gelassen vor sich hin.

Auch Liesel hätte gern mehr erfahren, aber über allem stand ihr die Sorge um den geliebten Mann, der nun seine Ruhe haben sollte.

»Komm, Mutter! Er will schlafen.«

Sie richtete ihm wie einem müden Kind die Kissen, küßte ihn, drückte ihm die Hand und zog Frau Wolperts hinaus.

Die Mutter ging ins Wohnzimmer hinüber, zündete die Lampe an, setzte sich mit der Abendzeitung ins Sofa und las den Mordbericht.

Hie und da brummte sie.

Liesel saß in der Küche und dachte, ob Oskar wohl schon schlafen und wie er morgen aufwachen würde.

Ein paarmal schrak sie auf, wenn es läutete.

Einmal war's ein Zeitungsberichterstatter.

Einmal ein Kriminalbeamter.

Dreimal klopften neue Hausgenossen, die von der Neugier an die Tür getrieben wurden.

Aber Liesel wies sie alle fort. Er sollte schlafen, hatte der Doktor gesagt.

 

Die Polizei hatte eine hohe Belohnung für die Entdeckung des Täters ausgesetzt. Erschwert wurde die Aufklärung dadurch, daß man den Ermordeten nicht kannte.

Die Annahme Espels, daß der Getötete nicht lange unbekannt bleiben könne, schien sich diesmal nicht zu erfüllen. Schon war der vierte Tag vergangen. Die Leiche des Unglücklichen war nach vorgenommener Sektion bestattet worden, und noch immer hatte man nicht ermitteln können, wer das Opfer des Verbrechens war.

Sein Bild stand in allen Fahndungsblättern, in den gelesensten Tageszeitungen, an den Anschlagsäulen, wo es sich seltsam genug ausnahm neben den Ankündigungen von Tanzmusiken, Festtees und Kabarettvorstellungen. Aber das Leben mischt das Trübste und Tollste.

Der Buchhalter, den der Arzt am nächsten Morgen aus dem Bett entlassen hatte, ging ruhig seinem Dienst nach. Er holte in der Anwaltskanzlei das Versäumte ein, arbeitete mehr als sonst und sprach noch weniger.

Das Personal und seine Bekannten gaben bald die Fragen nach seinem Erlebnis auf, als sie sahen, daß aus ihm nicht mehr als kurze, nichtssagende Worte herauszuholen waren.

Doktor Müller fragte ihn nicht; er kannte ihn und wollte die wunde Stelle im Gemüt des wackeren Mannes nicht ohne Not treffen.

Um seinen geheimen Plan wußten nur der Arzt, Liesel, ihre Mutter und der Sekretär.

Dem gegenüber hatte sich Frau Wolperts ausgesprochen, als sie in ihre Wohnung zurückkehrte. Eine »Narretei« hatte sie Espels Absicht genannt.

Ihr Mann wollte zuerst etwas erwidern, hielt aber an sich und schwieg.

Am darauffolgenden Morgen wartete er ganz wider seine Gewohnheit auf Espel, als dieser ins Büro ging. Er kam an Oskar mit der verlegenen Frage heran, wie es ihm gehe, und begleitete ihn durch ein paar Straßen, ohne daß etwas Besonderes zwischen ihnen gesprochen wurde. Ein paarmal gab er sich einen starken Ruck, als ob er jetzt von dem Mord beginnen möchte. Aber sein Schwiegersohn, der von den eigenen Gedanken beherrscht wurde, merkte das nicht, und Wolperts fand nicht den Mut und das rechte Wort.

Als sie auseinander gingen, drückte er Oskars Hand ungewohnt heftig und ging dann schnell weg, wie wenn er ein Geheimnis verraten hätte und sich darüber schämen müßte.

Die einzige Unregelmäßigkeit, die Espel sich zuschulden kommen ließ, bestand darin, daß er jetzt abends häufig spät heimkam. Er hatte Liesel das vorher gesagt und sie deswegen um Nachsicht gebeten.

Es kam sie sehr hart an, die Herbstabende allein zu verbringen und auf die traulichen Gespräche verzichten zu müssen, die ihr gewöhnlich das Schönste vom ganzen Tage gaben. Noch mehr Kummer bereitete ihr die Sorge um Oskar, der sich jetzt nach der Berufsarbeit noch mehr abhetzte, statt auszuruhen. Vielleicht kam er gar auf der Suche nach dem Verbrecher in gefährliche Lagen. Aber sie wußte, wie viel ihm daran lag, Klarheit schaffen zu helfen. Darum schwieg sie.

Es war ja auch ihr ein stiller Stolz, daß er ein so großes Ziel verfolgte, und sie wuchs über alle Sorgen der vertrauerten Stunden hinaus, wenn er dann heimkehrte und tiefer Ernst auf seiner Stirne lag.

Über das, was er tat, und darüber, ob er eine Spur gefunden, wurde nie zwischen ihnen gesprochen. Er sagte nichts, und Liesel vermochte sich darin weit mehr als manche andere Frau zu beherrschen, wenn auch ihre Neugierde vielleicht noch brennender war, weil es dabei ja um Oskar ging.

Espel hatte bis jetzt nichts entdecken können. Er kam zu keinem rechten Plan, weil alle Anhaltspunkte fehlten. Und doch ward er nicht müde. Er blieb auf der Wiese stehen, wenn dort Leute über den Mord sprachen, trieb sich in den benachbarten Straßen und Gassen umher oder belauschte an den Türen der bekannten Verbrecherkneipen die Aus- und Eingehenden, ging auch selber hinein und beobachtete vor einem Glas Bier von einem Winkel aus die Gäste.

Obwohl er weder abergläubisch noch geneigt war, an geheime Kräfte zu denken, die den Menschen umgeben und umstricken, trug er doch in sich die Überzeugung, daß es ihm gelingen werde und müsse, den Mörder zu finden. Dabei beseelte ihn kein Haß gegen den Mörder.

Wenn er daran dachte, wie furchtbar den Verbrecher die Reue und die Erinnerung an seine Tat peinigen mußte, dann stieg in Oskars Herzen tiefes Mitleid mit dem Unseligen auf, und ihm graute vor dem Tag, da er ihn der Gerechtigkeit ausliefern müßte. Aber der Aufgabe, die er sich gestellt hatte, konnte er sich nicht entziehen.

Eines Abends schlenderte er wieder durch menschenleere Seitengassen eines äußeren Stadtviertels. Vor einem kleinen Barbiergeschäft blieb er stehen und bemerkte ein blasses, stoppelbärtiges Gesicht. Er selbst war es, den er in dem Friseurspiegel erblickte. Nicht ohne Selbstvorwürfe bemerkte er, daß er sich seit Tagen nicht mehr hatte rasieren lassen. Sein Aussehen verdroß ihn. Was sollte sein Chef denken, wenn er ihm so verwahrlost vor Augen trat. Seine Frau hielt noch mehr als er selbst auf sauberes Aussehen. Sie mochte ihn wohl jetzt nur nicht durch Mahnungen kränken. Rasch drückte er auf die Klinke und trat ein.

Eine große Uhr tickte in dem engen Lädchen. Sonst war alles still. Auch hinter dem ausgewaschenen Vorhang, der den Raum abteilte, vernahm man kein Geräusch. Der Friseur war wohl zum Abendessen gegangen.

Oskar setzte sich in einen der Rasierstühle und schaute vor sich hin. Dann blickte er wieder nach seinem Gesicht hinauf, das er in dem Spiegel sehen konnte, vor dem er saß.

Wie er so aufsah, erschrak er unwillkürlich.

Über seinem eigenen, im Gaslicht doppelt bleichen Gesicht, das durch den schwachen Bartanflug noch fahler schien, sah er ein zweites.

Hinter ihm an der Mauer stand ein langer Mensch mit blassem Gesicht und starrte ihm geistesabwesend in die Augen. Es lag ein sonderbarer Ausdruck in dem fremden Antlitz, ehe der Lange sich der Gegenwart eines zweiten bewußt wurde.

»Wünscht der Herr Rasieren?«

»Ja, bitte!«

Sie sagten das aneinander vorbei, in die Luft hinein, gewohnheitsmäßig.

Keiner von ihnen war noch ganz zugegen.

Oskar wußte nicht, warum, aber er wäre am liebsten wieder aufgestanden und hinausgegangen, wenn er sich nicht gescheut hätte, so wegzulaufen. Der Gedanke, daß der junge, schlottrige Mensch ihn rasieren sollte, war ihm unbehaglich. Es graute ihm davor.

Hundert und aber hundert Male war er beim Friseur im Stuhl gesessen. Noch nie hatte er, wenn ihm wie jetzt eine fremde Hand mit dem Schaumpinsel über die Wangen gefahren, solche mit Ekel gemischte Scheu empfunden.

Seine Nerven mußten doch recht herunter sein. Er setzte sich fester, daß die Finger des Barbiers, die sich durch den Schaum hindurch kalt anfühlten, den Pinsel fallen ließen und unwillkürlich in das Gesicht Oskars griffen.

Espel erschrak sichtlich.

Der Friseur murmelte »Verzeihung!« hob den Pinsel vom Boden und ging hinter den Vorhang, um einen frischen zu holen.

Espel wendete den Kopf und blickte ihm nach.

Aber auch der Barbier blickte, ehe er hinter die Gardine trat, rasch noch einmal um. Es war ein scheuer, seltsamer Blick.

Und wieder sahen die beiden einander an.

Dann kam der junge Mensch mit einem neuen Pinsel, seifte seinen Kunden flott ein und brachte seine Arbeit gut zu Ende.

Inzwischen kehrte der Inhaber des Geschäfts zurück. Ein paar andere Leute kamen. Man plauderte lebhaft durcheinander. Die Stille war gebrochen, und Oskar grollte sich selbst, als er wieder vor dem Laden stand und sich vergegenwärtigte, welche peinlichen Minuten ihm sein überreizter Zustand ohne Anlaß bereitet hatte.

Diesen Abend war er gesprächiger als sonst, und die kleine Liesel fühlte sich durch seine leichte, heiter gestimmte Plauderei glücklich.

»Gott sei Dank!« dachte sie, als sie zu Bett ging. »Vielleicht hat er's überwunden.«

In der Zeitung erschien ja auch nichts Neues mehr über den Mord. Mochte dem Mörder auch die Strafe erspart bleiben, er war gewiß nicht zu beneiden um die Qual in seinem Innern.

In der gleichen Nacht träumte Oskar schwer.

Er stand wie damals am Fenster und sah die zwei Männer unten auf dem Weg über die Wiese gehen und mußte den Mord wieder mit ansehen.

Als der Mörder sein Opfer verließ, floh er diesmal auf Espels Haus zu. Gelähmt vor Schreck konnte er selbst nicht vom Fenster weg; mit stockendem Atem mußte er zuschauen, wie der hagere Mensch sich vom Boden hob und durch die Luft gegen ihn her nach dem Fenster herauf schritt.

Nun stand er unmittelbar vor ihm. In seiner Hand schimmerte das Rasiermesser, und als Oskar jäh emporschaute, sah er – in das blasse Gesicht des fremden Barbiergehilfen.

Angst preßte ihm die Brust zusammen, ein schweres Stöhnen rang sich aus seiner Kehle.

»Oskar! Oskar! Was ist dir denn?« rief Liesel.

»Nichts!« sagte er. »Nichts! Nur schwer geträumt hab' ich.«

Einen Augenblick war ihm wohl im Bewußtsein, zu Hause zu sein und all das bloß geträumt zu haben. Aber als er seine geängstigte Frau einigermaßen beruhigt hatte, fühlte er, daß seine Glieder zitterten.

Er lag lange mit einem dumpfen Gefühl im Kopf und wachen Augen im Bett, bis er gegen früh wieder einschlafen konnte.

Matt und erschöpft stand er auf, verbarg nur mit Mühe vor Liesel seine trübe Stimmung und ging bedrückt nach der Kanzlei.

Wohin sollte es mit ihm kommen, wenn er schon jetzt, da kaum eine Woche seit Beginn seiner Bemühungen verstrichen war, auf solche Abwege geriet?

Einbildungen, Phantasien und Träume führten nicht ans Ziel.

Dazu war klarer Verstand nötig, um die Wahrheit zu finden.

An diesem Morgen zweifelte er an seiner Sendung und der Kraft, sie ausführen zu können.

Mit außerordentlicher und doch den Tag über oft versagender Selbstbeherrschung zwang er sich, nicht mehr an den Barbiergehilfen und an seinen Traum zu denken. Er durfte sich nicht von trügerischen Traumbildern hinreißen lassen; der Zufall sollte keine Macht über ihn erlangen. Und nur ein Zufall hatte ihn nach jener entlegenen Gasse in den Friseurladen geführt. So spürte man kein Verbrechen auf.

Er beobachtete tagsüber wiederholt das Gesicht seines Chefs, wenn dieser durch die Kanzlei ging. Was würde der jedes Für und Wider kühl und genau abwägende Jurist dazu gesagt haben, wenn er erfahren hätte, in welch wunderlicher Weise Espel bei seiner Verbrechersuche vorging.

Der Erfolg dieser Selbstvorwürfe war, daß Oskar diesen und die nächsten Abende unmittelbar vom Büro heimging; Liesel glaubte, er habe seinen Plan aufgegeben, und war froh darüber.

 

Da trat ein neues Ereignis ein, das die ganze Stadt und natürlich besonders das Ehepaar Espel bewegte. Man las in der Zeitung, daß ein altes Mütterchen auf der Polizei erschienen war. Die Frau stammte aus einem entlegenen Dorf am anderen Ende des Landes. Dort hatte sie in dem Provinzblättchen zufällig das Bild des Ermordeten gesehen und war auf die Wanderschaft gegangen. Ihr Kind wollte sie suchen.

Seit einer Reihe von Jahren hatte sie nichts mehr von ihrem Sohn gehört, der als blutjunger Mensch in die Welt gezogen war. Nie hatte er ihr geschrieben. Sie wußte nicht, wo er war, und was er trieb.

Als sie das Bild in dem Blättchen gesehen hatte, wurde sie den Gedanken nicht los, daß er es sei, den sie hier vor sich sah. Das Mutterherz ruhte nicht eher, bis sie sich vergewissert hatte.

So kam sie in die Stadt, nachdem sie den Weg halb mit der Eisenbahn zurückgelegt, halb – weil ihr bald das Geld ausgegangen war – zu Fuß gewandert war.

Wie sie auf der Polizei die Photographie der Leiche sah, brach sie ohnmächtig zusammen.

Als sie dann wieder zu sich kam, erfuhr man von ihr, daß sie die Witwe Walburga Moorbruch von Niederwaldbach sei, und daß nach ihrer sicheren Überzeugung der Ermordete ihr Sohn Franz gewesen, der das Sattlerhandwerk gelernt hatte und frühzeitig in die weite Welt gezogen war.

Sie zeigte seinen Geburtschein und seine Schulzeugnisse vor, und nachdem sie sich wieder erholt hatte, gab sie Rede und Antwort über alles, was man von ihr wissen wollte.

Man atmete auf der Polizei und auch im Publikum auf, da durch das Erscheinen der alten Frau wenigstens ein Lichtstrahl in das Dunkel fiel. Aber bald sah man, daß dieser Lichtstrahl den Schatten nur verschärfte, der über dem Verbrechen lag.

Jetzt, da man wußte, daß eine alte, gebrechliche Frau um ihren einzigen Sohn jammerte, daß sie seinetwegen den weiten Weg gekommen war, ja, ihn zum Teil zu Fuß zurückgelegt hatte, da forderte das menschliche Gefühl Sühne des Verbrechens.

Schon wurden Stimmen laut, die öfter von Unfähigkeit der Polizei, von Umständlichkeit und Bürokratie sprachen.

Man schilderte in den Blättern den Jammer der Mutter und verlangte für sie die einzige Genugtuung, die man ihr nach dem Verluste ihres Sohnes noch geben konnte, die Sühne des Mordes.

Trotz aller Ausschreibungen und Erhöhung der Belohnung meldete sich niemand, der den Getöteten gesehen oder etwas von ihm gewußt hätte. Daß man von ihm kein Bild besaß, das nach dem Lebenden aufgenommen war, erschwerte die Nachforschungen.

Die Witwe Moorbruch, die in der großen Stadt keinen Menschen kannte, wurde von einer gutherzigen Familie aufgenommen. Leute kamen, beklagten und beschenkten, begafften und bekrittelten sie, und wenn die Frau einen anderen Gedanken als den an ihren Sohn gehabt hätte, dann wäre ihr vielleicht die kecke Zudringlichkeit der einen und das bedauernde Klagen der andern eines Tages zu viel geworden, und sie wäre wieder, wie sie gekommen, still in ihre Waldheimat verschwunden. So aber dachte sie nur an ihn, saß betrübt in dem behaglichen Stübchen, das man ihr eingeräumt hatte, aß und trank teilnahmlos, was man ihr vorsetzte, und schaute mit leeren Augen auf die Menschen, die zu ihr kamen, wie wenn sie durch alle hindurch in eine weite, graue Ferne blickte, aus der einer wieder zu ihr herwandeln und eines Tages vor sie hintreten müßte – ihr Franz.

Aber der kam nicht mehr.

Oskar Espel war schon oft vor dem Haus gestanden, in dem Walburga Moorbruch lebte. Nicht fragen wollte er sie. Er hätte nie gewagt, ihren Schmerz zu entweihen. Wenn er sie nur einmal sehen könnte! Aber er wagte nicht, in das Haus zu treten. Etwas Hohes, Unantastbares lag für ihn in ihrem Leid und der Trauer um den einzigen, erbarmungslos geraubten Sohn. Keiner, den sie nicht rief, durfte ihr nahen. Und sie rief nur nach dem einen, der nicht mehr hörte.

Da, als er eines Abends wieder längere Zeit dem Haus gegenüber in einem Toreingang gestanden und dann scheu weggeschlichen war, fand er sich plötzlich vor dem matt erleuchteten Ladenfenster jenes Barbiers.

Er wußte nicht, wie er dahin gekommen, und auch nicht, wie lange er schon vor dem Fenster gestanden war, als er darüber zur Besinnung kam.

Er erschrak. Eine Hand legte sich innen auf die Klinke.

Scheu ging er weg. Jemand rief: »Wollen Sie sich rasieren lassen?«

Die Stimme kannte er. Er sah auch, als er unwillkürlich die Augen schloß, den blassen Gehilfen vor sich. Rasch eilte er weiter. Erst am Ende des Gäßchens blieb er wieder stehen. Nun ärgerte er sich wegen des Rückfalls in jene törichte Stimmung, in die er damals geraten war, als er sich da drinnen hatte rasieren lassen.

Da fühlte er eine Hand auf der Schulter.

»Wollen Sie sich rasieren lassen?« fragte der Gehilfe.

Er hatte offenbar schnell den weißen Arbeitsmantel abgelegt und stand nun im Straßenrock und Hut neben ihm.

»Nein!« erwiderte Espel.

Der Fremde sprach weiter: »Warum sind Sie denn dann so lange vor unserem Geschäft gestanden?«

Oskar schaute nach der anderen Seite und wich dem Blick aus, den er auf sich gerichtet fühlte.

»Ich weiß es nicht.«

»Das ist aber komisch.«

Der Gehilfe hielt gleichen Schritt mit ihm.

Als sie in die helle Hauptstraße kamen, die hier nach der Innenstadt führte, blieb er stehen.

»Trinken Sie hier und da ein Glas Bier abends?«

Der Buchhalter fühlte einen merkwürdigen Widerstreit in sich. Es war etwas in ihm, das ihn von dem Menschen fortdrängte, und doch auch etwas, das ihn anzog.

»Ich trinke nie auswärts Bier.«

»Wir könnten aber doch einmal zusammen ein Glas Bier trinken. Ich hätte jetzt grade Lust dazu.«

Schweigend gingen sie nebeneinander. Der Gehilfe schien einem bestimmten Ziele zuzusteuern. Vor einem Bierlokale am Rand der Altstadt blieben sie stehen.

Dann ging der Barbier voraus. Oskar folgte ihm, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben.

In dem großen Saal brandete das Stimmengewirr von Hunderten. Rauch und Brodem lagen wie eine Wolke in der Luft. Messer klapperten, Teller klirrten, Krüge, Gläser klangen.

Der Lange ging auf einen Tisch nahe beim Eingang in einer halbdunklen Ecke zu. Dort setzten sie sich im hintersten Winkel einander gegenüber.

 

Eine der Frauen, die hier bedienten, kam vorüber. Sie trug in beiden Händen volle Krüge und stellte ungerufen zwei vor die neuen Gäste.

Der Friseur hustete verlegen, hob seinen Krug von der Tischplatte und strich mit dem Finger über den Rand.

»Ich heiße Thomas Gloos,« sagte er und schaute Espel lauernd an.

»Oskar Espel,« murmelte der Buchhalter.

Der Hagere stieß mit seinem Krug leicht an den zweiten und trank dann das Bier in langen Zügen hastig hinunter.

Der kalte Trunk reizte seine Kehle. Er hustete; es klang trocken und hohl.

Oskar nahm einen kleinen Schluck und senkte die Hand langsam abwärts.

Es kam ihm alles so unwirklich vor – als träume er wieder. Da begann Gloos: »Sie sind wahrscheinlich Beamter?«

»Ich bin Buchhalter.« Da mußte er an Liesel denken, die auf ihn wartete; in letzter Zeit war er meist pünktlich heimgekommen.

Warum saß er jetzt mit dem Fremden hier? Was wollte der von ihm?

Gloos trank wieder; das Bier und das lebhafte Getriebe schien ihn munter zu stimmen.

»Ich hätte Sie für einen Beamten gehalten. Wo sind Sie denn Buchhalter?«

»Bei einem Anwalt.«

»So! Da könnte man ja gleich einen Verteidiger haben, wenn man einen nötig hätte. Ich brauche aber keinen. Nicht, daß Sie etwa meinen, ich müßte einen haben.«

Espel runzelte die Stirn. Hatte der Mensch etwa seine verrückten Gedanken von neulich erraten und wollte ihn jetzt damit hänseln?

»Warum soll ich meinen, daß Sie einen Verteidiger brauchen?« entgegnete er ernst und blickte den Friseur an.

Der machte mit der Hand eine Halbkreisbewegung in den Saal hinein. »Da herein kommt mancher, der einen Verteidiger braucht.«

Er trank den Krug leer und schob ihn der Kellnerin zu, die eben vorüberging.

»Wissen Sie,« sagte er dann wichtigtuend, »hier kommt allerhand Volk zusammen aus der Stadt und von auswärts. Da drüben ist ja gleich der Bahnhof. Da wird mancherlei ausgemacht und abgekartet, was nicht jeder wissen dürfte.«

Sie schauten beide eine Weile in den Dunst, in dem die Gestalten wie Nebelbilder verschwammen.

»Es ist auch oft verdeckte Polizei da.«

Gloos hatte es vertraulich – halb hinter der Hand – über den Tisch geflüstert.

Er wartete.

Dann schaute er an dem Buchhalter vorbei und zog den wiedergefüllten Krug an sich. »Mich wundert's, daß sie da herin nicht dem Mord nachgehen.«

Oskar sah ihn an. »Welchem Mord?«

»Draußen auf der Wiese hat man doch einen umgebracht.«

»Wer sollte denn hier was von dem Mord wissen?«

»Da herin gibt's allerhand Leut. Solche und andere.«

Der Friseur zwinkerte mit den Augen und senkte die Stimme noch mehr. »Ich kann mir schon vorstellen, daß da herin einer sitzen könnt, der mehr davon weiß als die Polizei.«

Espel beobachtete ein sonderbares Lächeln an dem langen Menschen.

Gloos trank wieder, hustete, wartete einen Augenblick und begann dann geheimnisvoll: »Sehen Sie, wir Friseure hören so allerlei im Geschäft. Da macht man sich dann oft allerhand Gedanken. Wenn keine Kunden da sind, reimt man sich solche Reden zusammen und denkt sich, es könnte so oder so gewesen sein.«

Er nahm wieder einen Zug aus dem Krug und wischte sich den Mund mit dem Handrücken.

Jetzt trank auch Oskar mehrere kleine Schlücke. »Was haben Sie sich über den Fall ausgedacht?«

»Sehen Sie, ich hab' mir das so zusammen gesponnen. Es ist unterhaltlich, wenn man allein ist. Und wenn man Phantasie dazu hat. Die hab' ich.«

Er wendete den Blick nach der Wand.

»Da kommt so ein fremder junger Mensch vom Land herein in die Stadt. Einer, der sich hier noch gar nicht auskennt. Der vielleicht Arbeit suchen will. Oder sonst was. Abend ist's auch schon, wie er ankommt. Da sieht er das beleuchtete Lokal. Und die vielen Menschen, die hinein gehen. Das lockt ihn an, und er geht hinein. Nun setzt er sich her, weil er meint, er hört vielleicht was von einer Arbeit, oder wo er ein billiges Nachtquartier findet. So setzt er sich in einen Winkel, so wie wir jetzt dasitzen. Und weil er nicht weiß, ob er bald Arbeit findet, und was das Leben kostet in der Stadt, zählt er sein Geld. Die Brieftasche nimmt er heraus und zählt sein Geld ...«

Gloos redete sich so in seine Phantasie hinein, daß er mit der linken Hand in die rechte Brusttasche griff, seine Brieftasche herausholte und vor sich auf den Tisch legte.

Dem Buchhalter lief ein geheimes Grauen über den Rücken; es gab also noch mehr Menschen, die sich solche Hirngespinste machten wie er.

Einen Augenblick dachte er: »Wenn das keine Hirngespinste wären? Was dann ...?«

Mit einer jähen Handbewegung scheuchte er den törichten Gedanken von sich.

»Was haben Sie denn?« fragte der Friseur.

»Nichts! Gar nichts.«

Gloos starrt seine Brieftasche an. »Nehmen Sie an, da wären viele Banknoten drin – auch größere – Fünfziger, sagen wir – vielleicht sogar ein paar Hunderter. Er kann sich ja etwas erspart haben. Vielleicht war er auch erst in seiner Heimat und hat sich dort Geld geholt.«

»Nein,« sagt der Buchhalter, »in seiner Heimat war er nicht – schon lange nicht mehr. Das weiß man ja von seiner alten Mutter.«

»Sie haben recht, das weiß man ja von seiner alten Mutter.«

Da senkt der Friseur den Kopf; sein Gesicht verändert sich. »Es muß hart sein für die alte Mutter, die ihren Sohn so verlieren muß.«

Der Buchhalter saß erschüttert da und sah den Menschen verständnislos an.

Der faßte sich wieder und sagte verwirrt: »Ich bin nicht recht gesund. Da hat man hier und da so einen Schwächeanfall. Ich bin nicht fest auf der Brust. Ich muß heim. Es ist Zeit. Wir müssen früh heraus. Adieu!«

Er streckt flüchtig eine eiskalte Hand herüber, greift nach dem Hut und eilt fort.

Unterwegs trifft er auf die Kellnerin, bezahlt sie rasch und geht hinaus.

Jetzt ist der Buchhalter allein. Er stützt den Kopf auf beide Arme und stöhnt unter einer furchtbaren Last, die ihm diese Stunde auf die Seele gelegt hat.

 

Als Espel am nächsten Mittag von der Kanzlei heimkam, traf er die Schwiegermutter in der Wohnung. Beide Frauen saßen in der Küche.

Die Schwiegermutter war sehr gesprächig. »Ah, da sind Sie ja, Sie Oberdetektiv!« begrüßte ihn die Sekretärin und zeigte auf einen kleinen goldgelben Butterballen, der auf dem Tisch lag. »Was sagen Sie dazu?«

Verwundert betrachtete er das Geschenk. »Das ist ja wohl Bauernbutter.«

»Das will ich meinen. Wir haben auch einen solchen Ballen. Es waren zwei. Einen hab' ich euch gebracht, weil Sie gewissermaßen auch daran beteiligt sind, daß die zwei Butterballen zu uns ins Haus gekommen sind.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Sie werden es gleich begreifen.« Frau Wolperts ging an den Herd, schob den Suppentiegel vom Feuer, der nach ihrer Meinung zu stark brodelte, und setzte sich, indes Liesel den Tisch deckte.

Da es herbstlich kühl zu werden begann, blieb man in der Küche.

Die junge Frau stellte auch vor ihre Mutter einen Teller, den diese erst leise wegrückte, dann aber, weil sich ihr Schwiegersohn heute so nett benahm, wieder heranzog.

Sie mußte ja schon bleiben wegen der wichtigen Nachrichten, die sie gehört hatte.

»Ich hab' selber gar nicht mehr daran gedacht,« erzählte sie, während man aß, »daß wir Verwandte in Segeltshausen haben. Das heißt, ich hab' Verwandte dort. Eine Schwester von meiner Großmutter väterlicherseits hat dorthin geheiratet. Und ihr Sohn hat dann auch wieder dort geheiratet. Gloos heißen die Leute.«

»Wie heißen sie?« fragte der Buchhalter erregt und ließ den Löffel fallen. Er fuhr auf und rannte aus dem Zimmer.

Liesel erblaßte über den unerklärlichen Auftritt.

Frau Wolperts hob den Löffel auf, spülte ihn an dem Küchenbrunnen und steckte ihn wieder in die Suppe.

»So!« sagte sie dann zornig. »Jetzt hab' ich aber genug.«

Sie stand auf, schlang die Bänder ihres Hutes unter dem Kinn zu einer Schleife und schaute in den kleinen Küchenspiegel.

Liesel hatte sich erhoben. Ihr zitterten die Knie. Sie wußte nicht, was sie zuerst tun sollte, ob ihrem Mann nacheilen oder ihre Mutter beruhigen, die sie gut genug kannte, um zu wissen, daß jetzt etwas Schlimmes bevorstand.

Da kam Oskar zurück.

Er war in das Wohnzimmer hinübergerannt und hatte dort das Fenster aufgerissen. Die kalte Luft, die hereindrang, brachte ihn zu sich.

»Um Himmels willen, nur jetzt Ruhe!« murmelte er. Sonst wurde auch Liesel mit in das Unheil hineingerissen, und alles war verloren.

So kam er zurück, weiß im Gesicht, aber äußerlich gefaßt.

»Verzeihen Sie, Schwiegermutter!« sagte er. »Ich war so aufgeregt. Ich bin so erschrocken.«

»Was hat Sie denn so aufgeregt? Was denn? Daß ich euch die Butter gebracht habe? Daß die Butter von Segeltshausen ist? Daß ich in Segeltshausen eine Base hab'? Daß diese Base Gloos hierher gekommen ist und mir die Butter gebracht hat?«

Sie ging ein paarmal in der Küche hin und her, blieb vor ihm stehen und sagte ruhig: »Sie sind verrückt!«

»Mutter!« bat Liesel und griff nach ihrem Arm.

Espel stand unbeweglich. Der erste Schreck war vorüber; still und gefaßt erwartete er, was nun noch kam.

»Die vertrackte Mordgeschichte ist schuld daran,« sagte Frau Wolperts. »Andere Mütter wollen eben früher nach ihren Kindern sehen als das arme Weib, dem sie da drunten ihren Sohn umgebracht haben. Die ist zu spät gekommen. Aber meine Base ist eine kluge Frau. Sie sorgt vor. Sie geht, solange sie noch rechtzeitig kommt. Ihr Sohn Thomas, der Friseurgehilfe ist, hat ihr vor ein paar Wochen geschrieben, daß er hierher gekommen ist, um hier Arbeit zu suchen. Seitdem hat sie nichts mehr von ihm gehört. Jetzt, wo sie die Nachricht von dem Mord gelesen hat, ist ihr angst um ihren Thomas geworden. Es wird ihn wohl nicht auch einer umgebracht haben? Aber man kann ja begreifen, wie einer Mutter wird, wenn sie von solchen Dingen hört. Sie möchte wissen, wie es ihm geht. Deshalb ist sie hierher gefahren.«

Sie schwieg und schaute von ihrer Tochter zu Oskar, der sich auf einen Küchenstuhl gesetzt hatte und vor sich bin brütete.

Frau Wolperts redete weiter: »In so einem Fall geht man zu Verwandten, wenn man in eine große Stadt kommt. Besonders, wenn man weiß, daß diese Verwandten jemanden in der Familie haben, der selber so halb und halb vom Gericht ist wie mein Herr Schwiegersohn. Denn mein Mann ist ja zu so was nicht zu brauchen. Der verpulvert seinen ganzen Verstand in seiner Schreibstube. Aber von Ihnen hätte ich doch mehr Vernunft erwartet. Ich hätte geglaubt, daß Sie mir die Bitte nicht abschlagen würden, Sie möchten der Base ihren Sohn suchen helfen. Er soll ein braver, anständiger Bursche sein, nur ein wenig schwach auf der Brust.«

Oskar trat kalter Schweiß auf die Stirn. »Schwiegermutter, ich will gern der Base ihren Sohn suchen helfen, den Friseurgehilfen Thomas Gloos.«

Die Sekretärin sah ihn ruhig an. Er sah so blaß und elend aus, daß ihr Groll sich in Mitleid wandelte. Der arme Kerl mußte wirklich nicht gesund sein.

»Da wäre doch der Spektakel nicht nötig gewesen und Sie hätten besser, statt sich unnötig so aufzuregen, ein Butterbrot gegessen.«

Sie zog den Wecken heran, schnitt drei große Stücke herunter und begann drei Butterbrote zu streichen.

Liesel war so froh, daß sich die Szene wieder friedlich löste; sie nahm ein Butterbrot und reichte es ihrem Mann.

Er nahm es aus ihren Händen und biß ein Stück ab. Aber der Bissen wollte nicht hinunter. Er stand hastig auf und ging hinaus.

»Wenn der so fort macht,« flüsterte Frau Wolperts, »wirst du nicht alt bei ihm werden.«

Wie sie jedoch Liesels tränengefüllte Augen sah, strich sie ihr gutmütig über die Wangen und murmelte: »Nun ja! Gräm' dich nur nicht ab darüber – vielleicht geht's auch bald wieder anders.«

 

Oskar ging früher als sonst fort und kam vor der Zeit ins Büro. Dort traf er den Rechtsanwalt Doktor Müller, der nach einer langen Verhandlung vom Gericht gekommen war. Einen Augenblick drängte es den Buchhalter, ihm alles anzuvertrauen und ihn um Rat zu bitten.

Als er aber den ernsten Ausdruck im Gesicht des Doktors bemerkte, verlor er den Mut. Wenn er nun zu ihm sagen würde: »Ich soll einer Mutter den Sohn suchen und habe einen Mörder gefunden,« dann erhielt er gewiß die Antwort: »Sie müssen den Mörder der Polizei überliefern.«

Was dann? – Mußte er das nicht tun? – Da war das alte Mütterchen, Walburga Moorbruch, das forderte sein Recht.

Die Fremden und seine eigenen Angehörigen wollten von ihm den Sohn, den Vetter, den »braven, anständigen Burschen«.

Einen Augenblick drehte sich das Zimmer um ihn; er griff nach einer Stuhllehne.

»Espel,« sagte sein Chef, der ihn beobachtet hatte, und legte ihm gütig die Hand auf die Schulter, »Sie sind heute wieder überarbeitet. Es ist ein schöner, heiterer Herbstnachmittag, die Luft ist köstlich. Den Nerven tut das wohl. Ich habe vorhin in einem Gasthof gegessen und heimtelephoniert, daß ich über Mittag nicht heim komme. Ich bleibe hier. Sie können ruhig weg und einen Spaziergang machen. Kommen Sie morgen früh wieder. Gute Erholung!« Oskar wollte ihm entgegnen.

Aber der Anwalt duldete keinen Widerspruch.

So ging er.

Es war ihm wie ein Wink des Schicksals, daß er ein paar Stunden mit sich allein sein konnte.

Rasch verließ er die Stadt und ging auf einsamen Wegen in den Wäldern am Flusse hin durch raschelndes Laub. Die Höhenforste leuchteten bunt. Tiefgrün mit weißen Wellenkämmen schäumten die Bergwasser stadtwärts; schreiende Möwen kreisten über ihren Wirbeln. Hin und wieder glitt ein Floß an ihm vorüber, auf dem stämmige Gebirgler in weißen Hemdärmeln gemächlich saßen und die Ruder hielten.

Es war ruhig und friedlich hier außen, und Espel fühlte umso stärker die Unruhe in seinem Gewissen. Eine Seelenqual war in ihm, als ob er selber eine Untat begangen hätte. Was hatte er getan?

Sich vermessen, einen Mord aufzuhellen, nach dessen Sühne alle Welt schrie!

Weshalb gab ihm das Schicksal, indem es ihm den Täter auslieferte, den Sohn einer armen Mutter, einen Verwandten, in die Hände, dessen Überführung unendliches Leid über ein Mutterherz, Schande und Zerrüttung in seine eigene Familie, schlimmstes Elend über seine junge Frau brachte? Nie würde ihm seine Schwiegermutter verzeihen können, wenn er das vollbrachte. Und er selbst würde nie mehr darüber zur Ruhe kommen.

Liesel würde daran zugrunde gehen – sein hilfloser Schwiegervater verloren sein im Zusammenleben mit der harten, wenn auch wackeren Frau.

Wohin er sah, Verderben und Schuld. Seine Schuld! Schuld, wenn er den Mörder verschwieg. Schuld, wenn er ihn preisgab.

Er war auf überhängendes Erdreich getreten, unter dem die Wogen brausten.

Wer da hineinsprang, den rissen die Wellen mit sich fort. Es war gewiß bald vorbei mit ihm. Ihn schwindelte. Kein Mensch würde etwas dahinter finden, wenn man ihn an einem Wehr ertrunken auffischte.

Er könnte verunglückt oder auch in augenblicklicher Geistesstörung hineingesprungen sein.

Seine Schwiegermutter würde gutgläubig als erste seine Sinnesverwirrung bestätigen.

Für eine Minute umschmeichelte ihn der Gedanke, riefen ihn die Wasser, lockte ihn die Sehnsucht nach Ruhe, nach Flucht aus diesem unerträglichen Elend.

Eine Stimme im Innern riß ihn zurück von der winkenden Flut, hinaus auf das sichere Land, in das alte Leid.

Müde und verzagt schlich er eine Weile weiter, bis er eine Bank sah, die zwischen Weiden stand; erschöpft setzte er sich nieder.

Dort saß er stundenlang und schaute, an die morsche Lehne gedrückt, den jagenden Wolken zu, in denen der Herbstwind spielerisch Gestalten schuf und verwischte.

Er legte die Hände ineinander und rang nach Klarheit. –

Allmählich gewann er Macht über den Todesgedanken. Sein Leben gehörte ihm nicht. Um Liesels willen mußte er weiter ringen. Dieser Gedanke beruhigte ihn. Aber dann zog ihn die Vorstellung in neue Wirrnis, daß er noch weniger Recht über ein fremdes Leben besaß, über das er sich Gewalt angemaßt hatte – über jenes des Mörders.

Hier lag eine Schuld. Daran war kein Zweifel. Dadurch beschwor er alles Unheil über sich und seine Familie herauf.

Aber war denn nicht der Ruf an ihn ergangen in jener Nacht? –

Er stand auf, breitete beide Arme aus und atmete tief. Der köstliche Herbsthauch wirkte stärkend und belebend auf ihn. Er scheuchte alles Dunkle, das Herübergreifen geheimnisvoller Mächte in das klare Reich der Vernunft von sich und beschloß, nur mehr noch das gelten zu lassen, was wirklich war und sinnfällig, was deutlich vor ihm lag. Er vergegenwärtigte sich noch einmal die Geschehnisse jener schrecklichen Nacht und prüfte jedes Wort, das er dann in dem Barbierladen mit dem Gehilfen gesprochen. Jedes Wort auch, das er von ihm in dem Bierlokal gehört. Mußte ihn das nicht alles annehmen lassen, daß Thomas Gloos der Mörder sei? Und auch das andere stimmte: der Name, der Stand und die Angabe der Base über seinen Gesundheitszustand. Thomas Gloos war der gesuchte Vetter.

Ob er aber auch wirklich der Mörder war? –

Was hätte Espel darum gegeben, wenn Thomas Gloos die Tat nicht begangen hätte!

Er drehte und deutelte an den Worten, die der arme Kerl in dem Gastlokal geredet hatte. Nein, so verdächtig das alles auch gewesen war, einen klaren Beweis boten sie doch nicht. Da war noch vieles unklar.

Da fehlte das Letzte, Entscheidende, Faßbare. Vielleicht hatte er nur erzählt, was er selber von einem anderen gehört.

Gewißheit mußte er sich verschaffen um jeden Preis.

Das war der letzte Gedanke seines langen Grübelns.

Er stand auf und wanderte nach der dämmernden Stadt zurück.

Laternen spiegelten ihr Licht im Fluß. Heimkehrende Arbeiter kamen ihm entgegen.

Er schritt geradeswegs nach dem stillen Seitengäßchen, wo der Friseurladen lag.

Als er dort eintrat, fand er den Gehilfen nicht. Während der Inhaber des Geschäftes andere Kunden bediente, entnahm er aus unwilligen Bemerkungen, die der Barbier dabei äußerte, daß sein Gehilfe am Morgen die Stelle verlassen hatte. Seine Mutter sei schwer erkrankt, er müsse sofort heimreisen, habe er gesagt.

Natürlich konnte er den Burschen nicht zurückhalten. Es sei schade um ihn. Er sei ein ordentlicher Arbeiter gewesen, wenn auch ein etwas absonderlicher Kauz und nicht ganz gesund. Aber wenn die Mutter schwer erkrankt sei, müsse er sie wohl aufsuchen.

Ein Kunde sagte: »Wenn's nur auch wahr ist. Die Leute schwindeln oft. Vielleicht steckt ihm ein Mädel im Kopf.«

Der Friseur widersprach: »Auf Weiber achtete er nicht. Er schaute keine an. Es wird doch wahr gewesen sein.«

»Vielleicht hat er was ausgefressen,« bemerkte ein anderer.

»Das glaub' ich nicht. Er war so ruhig.«

»Ja, das sind oft die Schlimmsten. Stille Wasser – das kennt man.«

Oskar war so unruhig unter dem Rasieren, daß es dem Barbier auffiel. »Sie haben's wohl eilig?« fragte er.

Espel nickte. Als der Barbier fertig war, ging der Buchhalter rasch weg.

Gloos war fort; er war heimgegangen. Er war nicht mehr da.

So rasch er konnte, eilte Espel in die Wohnung seiner Schwiegereltern.

Frau Wolperts öffnete ihm und führte ihn ins Wohnzimmer.

Dort saß der Sekretär unter der Lampe auf dem Sofa und neben ihm ein kleines, verschrumpftes Bauernweib, das aufstand und Espel ansah.

Mutteraugen voll Sorge und Hoffnung schauten zu ihm auf.

»Er ist fort! Heute morgen ist er abgereist, zur erkrankten Mutter heim.«

»Aber du bist ja gar nicht krank!« sagte der Sekretär zur Base.

Frau Wolperts rief: »Man wird ihm eine falsche Nachricht überbracht haben. So was kommt vor. Da ist der gute Mensch gleich heimgefahren.«

Die Alte zappelte um das Sofa herum. Ihre Augen schimmerten feucht.

»Ja, mein Thomas!«

Sie griff zitternd nach verschiedenen Gegenständen, die ihr gehörten, und fragte: »Geht noch ein Zug heut?«

Der Sekretär suchte nach einem Kursbuch.

»Um neun Uhr,« sagte er dann. Ungeduldig war die Alte seinem Finger gefolgt, der durch die Zeilen des Fahrplans strich.

»Eine halbe Stunde Zeit!« erwiderte Frau Wolperts.

»Gott sei Dank!« Die Base ging in die Kammer, wo sie ihre Sachen aufgehoben hatte.

»Sie sind doch ein brauchbarer Mensch, Oskar!« sagte die Schwiegermutter anerkennend und schob dem Buchhalter ein Stück Wurstbrot und ein kleines Glas mit Bier hin.

Er sah sie dankbar an und leerte das Glas. Er war froh, daß die Base nun die Stadt verließ. Es war ihm, als könnte vorher noch immer das Schlimmste geschehen.

Lange brauchte er auf sie nicht zu warten. Nach wenigen Minuten kam sie zurück in Kopftuch und Jacke, den Lederranzen in der einen, den großen Schirm in der anderen Hand.

Dann machten sie sich zu dritt auf den Weg. Der Sekretär blieb daheim. Oskar sollte die Fahrkarte besorgen und der Base einen Platz sichern.

Frau Wolperts ging plaudernd neben der unbeholfen marschierenden und doch vorwärtsdrängenden Base her.

Der Buchhalter eilte voraus. Ihm klopfte das Herz; er spähte in die Nacht, an jedem Eck gewärtig, eine lange, schlotternde Gestalt um das nächste Haus biegen zu sehen.

Auf dein Bahnhof ging es noch lebhaft zu. Späte Reisende kamen. Wandervögel eilten davon. Surren und Summen. Pfiffe schrillten, und dumpfes Brausen der Lokomotiven klang.

Die Sekretärin brachte die Base Gloos in einem matterleuchteten Wagen unter. Die Bäuerin sagte nur mit halber Stimme Adieu und war schon im Geist daheim, wo an der Schwelle des kleinen Bauernhäuschens ihr Thomas sie erwarten würde.

Ein Wink – ein Ruck – der Zug rollte aus der rotglühenden Glashalle hinaus in die Nacht.

Oskar ging still und abgespannt neben seiner Schwiegermutter her, die jetzt auch verstummt war.

An einer Straßenkreuzung trennten sie sich. Er hatte ihr angeboten, sie heimzubegleiten.

»Mich stiehlt niemand,« gab sie ihm lachend zur Antwort, reichte ihm freundlich die Hand und schaute ihm noch einmal nach, während er seiner Wohnung zuschritt.

Sie war heute zufrieden mit ihm, weil er der Base einen guten Dienst getan hatte.

Obwohl es spät geworden war und Liesel gewiß sehnsüchtig wartete, ging Oskar doch langsam weiter. Ihm war so wohl zumute, daß er mit einem gewissen Behagen dahinschlenderte.

Alle Unruhe und Sorge waren vorbei; Friede war um ihn und in ihm.

Liesel, die aus dem Fenster sah, als er kam, hörte freudig seine kurze Mitteilung, daß er den Vetter ausgemittelt habe, daß dieser heimgereist sei, und daß die alte Base ihm sofort nachgefahren wäre.

Sie saßen schweigend noch eine Weile beisammen und gingen dann bald zu Bette.

Ruhig und zufrieden schliefen sie beide diese Nacht.

 

Die Berichte über den Mord waren aus den Spalten der Zeitungen verschwunden. Menschen in der Stadt haben ein kurzes Gedächtnis.

Die alte Witwe Walburga Moorbruch von Niederwaldbach blieb bei den Leuten, die sie aufgenommen; in ihrer Heimat war ja niemand, der sich um sie gekümmert hätte. Hier störte die anspruchslose, stille Frau nicht, die den ganzen Tag in ihrem Stübchen vor sich hin brütete und nur, wenn das Wetter es irgendwie erlaubte, auf den Friedhof zu dem kleinen Hügel ging, unter dem ihr Sohn lag.

Die Familie Espel erlebte nun hellere Tage. Oskar arbeitete eifrig und fand in seiner Tätigkeit Vergessenheit des Gewesenen und die Ermüdung für einen ungestörten Schlaf. Liesel schaffte froh und rührig im Haushalt. Hie und da kam ihre Mutter, tadelte dies und jenes scharfäugig und spitzmäulig und glich, wie das so ihre Art war, die schroffen Bemerkungen durch allerlei kleine Dienste aus.

Sie war seit dem letzten Vorfall besser auf ihren Schwiegersohn zu sprechen und litt es sogar, daß der Sekretär hie und da die jungen Leutchen besuchen durfte.

Eines Mittags, als Oskar heimkam, fand er ein dickes Kuvert. Er war hungrig und beachtete das Päckchen nicht, um schnell zu Tisch zu kommen. Die Suppe dampfte einladend.

Nach dem Essen plauderten beide über dies und das. Denn auch Liesel hatte den Brief vergessen, den ein Junge vormittags abgegeben.

Erst beim Fortgehen sah Espel das Päckchen wieder und steckte es zu sich. Er wollte es unterwegs öffnen.

Als er es auf der Straße aufbrach, kam ein zweites verschlossenes Kuvert zum Vorschein, um das ein beschriebener Zettel gelegt war.

Auf diesem standen in unbeholfener Schrift mit schlechter Tinte die Worte: »Tun Sie damit, was Sie für recht halten. Ich will von allem los sein.«

Unwillkürlich erschrak Espel und brachte es nicht gleich über sich, den zweiten Umschlag zu öffnen.

Er steckte Zettel und Brief wieder in die Manteltasche und betrat unruhig und aus seinem Frieden gestört die Kanzlei.

Dort ging es den ganzen Nachmittag so lebhaft zu, daß er zunächst keine Zeit fand, sich mit den rätselhaften Papieren zu beschäftigen. Aber die Unsicherheit verließ ihn nicht und durchkreuzte alle seine Arbeiten so, daß er sich zusammennehmen mußte, um seine Arbeit nicht fehlerhaft zu machen.

Endlich konnte er sich nicht mehr bemeistern; er nahm die Papierschere und trennte mit einem Schnitt den Rand des Umschlages los.

Mit zitternden Fingern zog er eine Reihe verschiedener Schriften hervor, dazwischen ein drittes kleineres Kuvert, das nicht zugeklebt war.

Unter den Papieren fiel ihm zuerst das Arbeitsbuch des Sattlergehilfen Franz Moorbruch von Niederwaldbach in die Hände; auch die übrigen Schriftstücke waren solche, die offenbar ihm gehört hatten. Er fand da ein paar Ansichtskarten, die Bekannte geschrieben hatten, einige lose Zeugnisse, ein Krankheitsattest und einen alten, sehr zerlesenen und beschmutzten Brief seiner Mutter, in dem eine verblaßte Photographie von ihr lag.

Oskar steckte das Bild wieder in den Brief und griff nach dem dritten kleinen Umschlag. Der enthielt ein paar größere und viele kleine Banknoten; im ganzen vierhundertfünfzig Mark. Das war offenbar dem Ermordeten geraubt worden. Das Geld hatte der Täter möglicherweise erst später wieder auf den ursprünglichen Betrag ergänzt. Dafür sprachen die vielen kleinen Scheine.

Auf der Rückseite des abgegriffenen Briefes der Mutter und an der Vorderseite des Arbeitsbuches, die beide zusammen die äußeren Bestandteile des Päckchens bildeten, sah man deutliche Abdrücke blutbefleckter Finger.

Ein Schauer überlief Espel; er schob alles zusammen mit einer hastigen Bewegung heftig von sich in die dunkelste Ecke seines Schreibtisches unter das darüber angebrachte Büchergestell.

Sein Kopf glühte.

Was da vor ihm lag, war der Inhalt der ausgeplünderten Brieftasche Franz Moorbruchs gewesen.

Der Täter, der sich auffallenderweise nicht früher von den Papieren befreit hatte, schickte ihm nun den gefährlichen und quälenden Besitz. Er wollte offenbar nicht länger Überführungsgegenstände bei sich tragen, die er doch nicht zu vernichten wagte.

»Tun Sie damit, was Sie für recht halten! Ich will von allem los sein.«

Er wollte mit dem Verbrechen nichts mehr zu tun haben und glaubte sich umso leichter von aller Schuld zu befreien, wenn er auch das Geld herausgab und – was er anscheinend getan hatte – davon Verbrauchtes ersetzte.

Er befand sich demnach jetzt wohl in einer Lebenslage, in der er sich bis zu einem gewissen Grade sicher fühlte. Da gab er die Zeugen seiner Tat in andere Hände und schob sie Espel zu.

Also mußte er ihn kennen. Er mußte nach ihrer letzten Zusammenkunft in dem Bierlokal, wo er den Namen des Buchhalters gehört hatte, ihm nachgeforscht und seine Wohnung ermittelt haben.

Oskar zitterte bei dem Gedanken, daß der Mörder vielleicht an seiner Türe gewesen war, daß er beinahe seine Schwelle überschritten und mit Liesel gesprochen hätte.

Warum gab der Unselige gerade ihm all das in die Hand? –

Wenn das erwachte Reuegefühl es dem Mörder unmöglich machte, die Papiere zu vernichten und das Geld zu behalten, warum schickte er dann nicht beides ohne Namen an die Polizei? Es wäre möglich gewesen, ohne jede verräterische Spur, ohne einen Buchstaben von seiner Hand, das Ganze in den Briefkasten irgend einer Polizeistation zu werfen.

Fürchtete der von seiner Tat Verängstigte, dabei beobachtet und festgehalten oder doch später von irgend einem Lauscher wiedererkannt zu werden? –

Nein, die Gefahr lag so ferne, daß sie ihm bei seiner Handlung kaum vorgeschwebt haben könnte. Es mußte etwas anderes sein, das ihn dazu getrieben hatte. Er suchte Vertrauen, wollte einen Menschen haben, der um seine Tat wußte und nun darüber verfügen sollte. Er wollte den einzigen, der sein Verbrechen kannte, zum Mitträger seiner Schuld machen, wollte sich entlasten, indem er einen zweiten mit in sein Geheimnis zog und vielleicht zum Richter über sich aufstellte.

»Tun Sie damit, was Sie für recht halten! Ich will von allem los sein.«

Ganz und gar gab er sich in Oskars Hand. »Du richte über mich! Was ich dir noch in meinen Worten an Lücken über meine Schuld gelassen, die Beweise bannen den letzten Zweifel. Tu du damit, was du für recht hältst! Ich will von allem los sein. Wenn du nichts gegen mich unternimmst – und darauf baue ich – dann bin ich frei. Alle Schuld liegt dann wie eine eigene auf deinem Gewissen. Trage sie! Entscheide! Ich will sie los sein.«

Furchtbar bedrückte diese Erkenntnis Oskars verängstigtes Gemüt. Ihn hatte der Ermordete zum Zeugen, zum Rächer der Tat aufgerufen. Ihn rief nun auch der Mörder. Wie ein Richter stand er zwischen ihnen. Er sollte entscheiden. Und er wußte, daß er sich nicht entscheiden konnte.

Liesel, seine ganze Familie, der Täter, dessen Mutter – alle waren sie in seine Hand gegeben. Er konnte unendliches Unheil verhüten, aber er konnte es auch heraufbeschwören.

Verzweifelt schaute er auf. Da fiel sein Blick durch die offen stehende Türe, die zum Arbeitszimmer seines Chefs führte, auf ein Bild, das dort an der Wand hing. Darauf war die Gerechtigkeit dargestellt, eine aufrechtstehende Frau, in der einen Hand die Wage, in der anderen das Schwert. Vor ihr auf den Knien lag ein Schuldiger und barg das Haupt zu ihren Füßen. Sie trug die Binde vor den Augen und sah sein Flehen nicht, durfte es nicht sehen.

Es gab doch nur einen Weg, dachte Espel. Er mußte zur Polizei gehen oder zur Staatsanwaltschaft. Und was mußte er dort sagen?

»Mein Vetter, der Friseurgehilfe Thomas Gloos von Segeltshausen, hat den Sattler Franz Moorbruch von Niederwaldbach ermordet und beraubt, er hat es mir durch untrügliche Worte und Gebärden so gut wie gestanden. Er hat mir auch Schriftstücke und ein Bild geschickt, alles, was er dem Getöteten genommen hat.«

Wie aber, wenn es nicht Gloos war, der ihm diese Beweise übersandte? –

Liesel hatte nur nebenher erwähnt, ein fremder Junge hätte ein Päckchen abgegeben. Der war offenbar von dem Übersender heraufgeschickt worden, der selbst nicht an die Türe kommen wollte. Vielleicht war es doch ein dritter gewesen.

Warum aber sollte ein dritter ihm die Sachen geschickt haben?

Espel grübelte weiter. Vielleicht deshalb, weil ich der einzige Zeuge gewesen bin und als solcher in der Zeitung genannt war.

Einen Augenblick blendete ihn dieser Gedanke. Aber doch nur vorübergehend. Er hielt bei ruhiger Überlegung nicht stand. Espel erinnerte sich an das Gespräch im Bierlokal. Gloos war der Täter er hatte ihm auch das Päckchen ins Haus geschickt. Gloos, der ihm schon einmal einen Teil seines Geständnisses abgelegt hatte, vollendete es jetzt und wollte haben, daß er die Tat richten solle, daß er sie bewahre und vergebe.

Da kam der Rechtsanwalt aus seinem Zimmer und legte ein Kärtchen auf Espels Tisch. »Vielleicht interessiert Sie das. Ich habe keine Zeit dazu und kenne es auch schon.«

Mit einer raschen Handbewegung hatte Oskar, ehe der Chef seinen Tisch erreichte, den Inhalt des Päckchens in die offene Schublade gebracht.

Nachdem Doktor Müller gegangen war, empfand er dieses Tun beschämend.

Hatte er nicht damit schon geurteilt? – War er nicht zum Hehler geworden?

Das Eigentum Franz Moorbruchs lag in seiner Tischschublade.

Wenn er in diesem Augenblick einem Schlaganfall erlag, und man fand die Papiere in seinem Tisch, stand er dann nicht als Mitwisser des Verbrechens da?

Heiße Blutwellen strömten aus seinem Herzen in sein Gehirn.

Wieder streifte sein Blick das Bild im Zimmer des Rechtsanwalts. Die Gerechtigkeit wählte nicht. Schuld wog vor ihr schwerer als alles andere.

 

Oskar nahm das Kartenblatt auf, das ihm Doktor Müller eben hingelegt hatte.

Es war eine Einladung zu einem Vortrag für heute abend. Professor Dirr sprach über »Schuld und Sühne«.

Espel atmete auf. In schweren Zweifeln ringend, bot sich ihm zufällig die Möglichkeit, einen bedeutenden Mann über eine schwere Frage sprechen zu hören.

Zufall? – War es nicht ein Wink des Schicksals? – Abermals las er die Worte »Schuld und Sühne«.

Er wollte hören, was der Mann ihm zu sagen hatte. Denn für ihn sprach er heute. Kein anderer Hörer würde so mit der flehendsten Inbrunst einer gefolterten Seele jedem Wort lauschen, um vielleicht einen Entschluß zu finden, den er zur Tat machen konnte.

Sein leicht erregbares Wesen empfand es wie einen Wink; er hoffte dort Klarheit zu erlangen über sich selbst.

Rasch entschlossen stieß er das Schubfach zu, sperrte ab und steckte den Schlüssel ein.

Bis morgen sollten die Zeugen einer Schuld in der Lade liegen. Zuvor wollte er hören, wie ein Kundiger sich zu Schuld und Sühne verhielt.

Durch ein Fräulein, das im Büro arbeitete, und das nicht weit von ihm wohnte, ließ er seiner Frau sagen, der Rechtsanwalt habe ihm eine Karte zu einem Vortrag geschenkt, den er hören wolle. Liesel möge ihn deshalb nicht zum Abendessen erwarten. Nach diesem Entschluß wurde er ruhiger und arbeitete bis gegen acht Uhr. Dann suchte er das Gebäude auf, in dem der Vortrag stattfand.

Der Saal war gut besetzt. Espel erkannte eine Reihe von Anwälten; auch Richter und Staatsanwälte; vor allem aber waren viele junge, noch im Studium begriffene Leute da. Professor Dirrs Name hatte in diesen Kreisen einen guten Klang. Er war ein Mann, der seine eigenen Wege ging. Wenn er auch nicht zu denen gehörte, die kritiklos dem Staat das Recht absprachen, mit Urteil und Verfügung über Leben und Tod begangenes Unrecht zu sühnen, so wollte er doch die jeweilige Lage berücksichtigt wissen. Verbrecher, die sich nach Anlage und Tun als unbrauchbare Glieder der Gesellschaft herausgestellt hatten, sollten ihre Strafe finden. Andere aber, die vom Taumel einer Verirrung erfaßt worden waren, wünschte er dem Schaffen zurückgegeben. So gipfelte sein Vortrag in dem Gedanken auf den Segen der Arbeit. Die stellte er über alles; in ihr sollte Entsühnung und Wiedervergeltung gefunden werden. Arbeit galt ihm als Besserungsmittel für Jugendliche überhaupt. Nur rettungslos Vertierte sollten davon ausgenommen sein. Arbeit war ihm das Schild, das auch alle jene Erwachsenen zu decken vermochte, die sie nicht von jeher gemieden hatten.

Seine Ausführungen fanden Beifall. Allerdings hielten ihm dann die Anhänger des undurchbrochenen Strafprinzips entgegen, seine Theorie leide an dem bedenklichen Mangel, daß sie mit der unsicher zu treffenden Unterscheidung zwischen Arbeitswilligen und solchen, die sich vor ihr scheuten, Irrtümern, Fehlgriffen und der Willkür Tür und Tor öffne.

Aber er suchte den Nachweis zu führen, daß es überhaupt keine menschliche Einrichtung ohne Mängel gäbe, und daß man durch Erfahrung und Gewissenhaftigkeit allzu schlimme Mißgriffe fernhalten könne. Jeder, der sich nachträglich noch als arbeitstüchtig erweise, müßte aus dem Gefängnis entlassen werden.

»Und was soll mit dem geschehen, der geköpft worden ist?« rief jemand.

Ein höhnisches Lachen erklang.

Der Vortragende antwortete: »Ich will hier nicht zur Todesstrafe sprechen, über ein Menschenleben darf nur entscheiden, wer es völlig kennt.«

In der dunkelsten Ecke des Saales stand Espel. Licht und Hoffnung fiel aus diesen Worten in seine Qual.

Er wartete nach dem Vortrag lange vor dem Saalgebäude auf den Professor und ging hinter ihm, als er mit ein paar Herren aus dem Gebäude trat.

Ungeduldig folgte ihm Oskar Schritt für Schritt und wartete, ob sich nicht die Begleiter von dem Professor trennen würden.

Endlich bogen die übrigen in Seitenwege ab.

Da trat Espel an Dirr heran.

»Verzeihen Sie, Herr Professor! Würden Sie mir als Besucher Ihres Vortrags eine Unterredung gestatten?«

Dirr blieb stehen und betrachtete den bleichen Menschen aufmerksam.

»Gern. Wollen Sie mit mir kommen?«

Der Buchhalter dachte an seine Frau. Aber dann entschloß er sich. Die Unruhe einer Nacht konnte ihr den Frieden ihres Lebens, der auf dem Spiele stand, sichern. Dankend stimmte er zu.

Es war ein ziemlicher Weg, den sie zurücklegen mußten, bis sie an das Haus des Gelehrten kamen. Professor Dirr schloß auf und führte seinen Gast in ein kleines, bücherumstelltes Zimmer.

Dann trat er an einen Wandschrank, nahm zwei Gläser heraus, füllte sie mit Wein und stellte je eines vor den Besucher und sich.

»Zum Gruß!« sagte er, hob das seine, nahm einen Schluck und wartete, bis ihm Espel Bescheid gab.

»Wollen Sie nun sprechen?« fragte Dirr ermunternd und betrachtete Espel prüfend.

Oskar begann zu erzählen. Er schilderte alles, was er erlebt hatte – von der Mordtat auf dem Wiesenweg bis zur Sichtung des Päckchens.

Nun schwieg er. Der Professor griff nach dem Glas und trank langsam.

»Nun,« begann er dann ernst, »nun tragen wir an der Schuld zu dreien.«

Oskar blickte erschrocken auf.

»Daran dachte ich bei meiner Bitte um Ihren Rat gar nicht.«

»Es soll Sie auch nicht weiter beunruhigen. Ich trage sie mit.«

Er stand auf und ging an das Fenster.

Einige Minuten vergaß er den ungeduldig Wartenden. Dirr erinnerte sich an viele Menschen, die er in Schuld und Leid verstrickt kennengelernt; er war lange als Arzt im Leben gestanden, und war in Gefängnissen, Irrenhäusern, Krankenanstalten tätig gewesen. Dann, als er wirtschaftlich und im Innersten frei geworden war, hatte er sich allgemeinen Menschheitsfragen zugewendet.

Nun trat er wieder an den Tisch zurück.

»Er wird zu Ihnen kommen,« sagte er bestimmt.

Oskar sah erstaunt auf.

»Er wird zu Ihnen kommen,« wiederholte Dirr. »Dann führen Sie ihn zu mir und bringen Sie mit, was er Ihnen gesendet hat. Wir wollen dann die Frage zu lösen suchen.«

Espel ging unbefriedigt fort. Er konnte nicht sagen, was er erwartet hatte, aber er war ebenso unglücklich wie vorher.

Im tiefsten Grunde des Herzens, wenn es ihm auch nicht völlig klar vor Augen stand, hatte er doch gehofft, der Professor würde aller Qual ein Ende bereiten und Schweigen gutheißen. So wies er ihn den Weg zu weiterer Unruhe, Ungewißheit und erneuter Qual.

Woraus folgerte Dirr, daß Gloos zu Oskar kommen würde? – Aus der Angst des schlechten Gewissens, das hinterher den vertrauensvollen Schritt bereute und sich überzeugen wollte, ob ihn der Wissende nun nicht doch auslieferte. Sollte er kommen, um zu erfahren, was Espel mit den verräterischen Papieren getan habe? Oder von dem Gefühl getrieben, das alle zueinander führt, die ein Band bindet, sei es nun Liebe oder Schuld?

Im Innersten unfrei und im Gemüt schwer belastet kam Oskar spät heim und machte seiner Frau, die ihn still, ohne Vorwurf empfing, das Herz bang durch sein übermüdetes Aussehen.

Doch schlief er schnell und tief. Träume quälten ihn in dieser Nacht nicht. Die junge Frau lauschte eine Zeitlang seinen Atemzügen, beruhigte sich dann allmählich und träumte von einem Bergaufstieg. Wenn sie den Gipfel vor sich glaubten, taten sich an einer Biegung Abgründe auf, die erst überquert werden mußten. Oskar, der vor ihr her schritt, blickte nach ihr um. Sie sah sein Auge dicht vor sich. »Oben ist Licht!« sagte er.

Dann senkte der Traumgott mitleidig seine Schleier über die täuschenden Bilder und gab ihr den Schlummer ohne Schauen und Fühlen.

*

Ende des 1. Teils


 << zurück weiter >>