Moritz Heimann
Die Tobias-Vase
Moritz Heimann

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4

So war es denn ein Augenblick gänzlichen Versagens aller seiner Gedanken, als er eines Morgens einen Brief von Thornow bekam, in welchem die Vase zurückerbeten wurde.

Er hatte, es war ein sonniger Tag, den Briefträger auf dem Hofe empfangen. Nachdem er gelesen, verblieb er fassungslos eine Weile, ehe er, leidlich ruhig, zu seiner Frau hineinging. Sie saß am Fenster mit einer Näharbeit, und ließ gleich, als er eintrat und leise, als ob er zu stören fürchtete, zum Tische ging, die Hände in den Schoß fallen. Er wollte, daß sie aufmerksam würde und ihn fragte; zugleich aber versuchte es ihn, sich zusammenzunehmen, daß ja nichts ihre Aufmerksamkeit und ihre Frage herausfordere. Das merkte sie, und es war ihr nicht angenehm; doch zwang sie sich und fragte, ob ihm etwas Ärgerliches begegnet sei. Er legte den Brief auf den Tisch, und erst nach einer Pause richtete er seinen Blick auf sie, aber auf ihre Stirn, nicht auf ihre Augen, und sagte: »Ein Brief von Thornow!« »Was gibt es?« – Sie stand auf und legte Garn und Weißzeug auf den Fensterbord.

Er lächelte und gab seine Erklärung mit einer erzwungen verdachtlosen Verwunderung: »Er bittet mich, – ihm die Vase zurückzugeben –« und jetzt sah er ihr in die Augen.

»Warum? Was will er damit?« fragte sie, näher gehend.

»Er will nichts, als sie wieder haben. Er hat, schreibt er, vor, sie anders zu verwerten; ob ich nicht selbst glaubte, daß sie in einem schönen und reichen Museum mehr an ihrem Platze stünde als bei mir.«

»Das versteh' ich nicht«, sagte sie, und er:

»Ich versteh' es auch nicht«, und die Worte kamen vor Gekränktheit fast mit einem Stöhnen aus seinem Mund; jetzt wie er sie nun gesagt hatte, war es ihm, als ob er alles begriffe und alles entschieden wäre. Er verließ das Zimmer, sie hörte ihn durch den Flur auf den Hof gehen; nicht lange, so kam er zurück und wandte sich in die Bibliothek.

Es wäre ihm besser gewesen, wenn er nicht so schnell hätte zusehen und prüfen wollen. Die Bitterkeit in ihm, deren angebotene Lust über jedes Ereignis, das sie aufstöberte, so hinflutete, daß seine eigenen Augen nichts weiter sahen als das empörte Gefühl, und sein Sinn sich an diesem Augenblick nährte, machte ihn, als er vor der Vase stand, zum Opfer einer bösartigen Ungeduld. Er hatte so viel zu fragen und zu sagen, und das blanke Ding stand da und versagte sich allen Sinnen, außer den Augen. Aber die Augen des Pfarrers hatten ihr inneres Licht verloren, und damit war auch aus dem Licht der Sonne das Leben entwichen.

Er versuchte, gegen den Dämon zu kämpfen, der ihm die Maske der Selbstgerechtigkeit vor das Gesicht zwang, und betrachtete aufmerksam die Vase. Aber siehe da, er konnte sich schon nicht mehr helfen, sie gefiel ihm nicht.

Der Raum war, wie das ganze Haus, vor kaum einer Woche gründlich gesäubert worden, und die Gardinen hingen, noch nicht aufgesteckt, die ganzen Fenster verhüllend nieder. Zum erstenmal bemerkte der Pfarrer, daß die Vase die schwere Ruhe des Zimmers beleidigte, und daß, wenn sie fort wäre, er wieder ungestörter die Zwiesprache mit seiner Seele würde halten können.

Als er zu seiner Frau zurückkehrte, legte sie eben hastig den Brief auf den Tisch zurück, sie war errötet, er wagte nicht von seinen schlimmen Zweifeln sogleich zu sprechen.

Aber nachdem jene kalten Betrachtungen ihm einmal überzeugend vorgekommen waren, konnte er ihnen nicht mehr Einhalt tun. Die folgenden Tage verstrickten ihn immer enger in Gedanken, die das Werk des Freundes gering schätzten und herabsetzten. Und er glaubte gar, daß er nur diesen Gedanken zuliebe noch zögerte, die Vase zurückzuschicken und sich mit Thornow zu verständigen. Mit jedem Tag aber, mit jedem halben Tage, mit dem er das hinausschob, verdarb er sich gründlicher die Möglichkeit, der Befangenheit ledig zu werden.

Denn das Schlimme trat ein, daß nicht nur die Vase in seinen Augen ihren Glanz, ihre Schönheit, ihre Wahrheit verlor, sondern daß er mit seinen Zweifeln den Freund selbst anfiel. Wie er nicht mehr das Ganze der Vase empfand, von dem ihre Wahrheit ausging und von dem aus sie einzig zu verstehen war, sondern sie nach Forderungen prüfte, die er selbst willkürlich aufstellte, zum Beispiel des Zweckes, den ein Gerät haben soll, oder des Ernstes, mit dem Gestalten aus der religiösen Welt empfunden sein müssen, – in ähnlicher Weise versündigte er sich an dem Freund. Die Gestalt, die seiner herzlichen Empfindung die klarste und reinste gewesen war, wurde seinem mißtrauischen Verstand bedenklich und, wenn er es sich gestehen wollte, unerkennbar. Hierüber empfand er, über aller Lust an seinen Scheingründen, tiefen Schmerz.

In diesen Tagen sprach er nur wenige, bittere Worte zu seiner Frau. Und sie schwieg und verhehlte ihren Tadel, so lange sie seinen Schmerz aus lebendigen Kämpfen aufwachsen sah. Sobald sie aber bemerkte, daß der Schmerz ihm zu einer Trägheit ausartete und ihm ein Ersatz der Tätigkeit zu werden anfing, hielt sie sich nicht zurück und widersprach ihm, als er sich wieder einmal gehen ließ, mit entschiedenen Worten.

Er erstaunte darüber, und gereizt holte er den Brief aus der Tasche, schlug ihn auf und rief aus: »Was du sagst, damit weiß ich nichts anzufangen, das ist unbestimmtes Zeug. Dieses hier ist eine Tatsache.« Da schwoll ihr im Unmut der Busen so, daß ihr war, als hätte sie einen Gurt zersprengt, der zu lange ihren freien Atem eingeschnürt hatte. Mit Kraft und Kälte blitzten ihre Augen ihn an, und sie sagte: »Thornow ist auch eine Tatsache und eine mir länger bekannte als dieser Brief und als die Vase. Ich werde heute nachmittag zu ihm gehen und ihn fragen.«

»Ja, tu das! Geh hin und frag ihn!«

Und wirklich machte sie sich am Nachmittag, nachdem sie eine Viertelstunde zerstreuten Nachdenkens überwunden hatte, auf den Weg, ein graues, weiches Tuch um die Schultern, Handschuh und Strohhut in den Händen tragend. Zu beiden Seiten des Landwegs, den sie ging, schimmerten die Felder im schönsten, herbstlichen Licht. Der Tag war klar, die Luft, von weißen Sommerfäden durchzogen, hatte einen leichten milchigen Glanz, und das Vorholz der fernen Wälder leuchtete in einem goldenen Nebel. Eine rührende Stille lag über dem Felde, die der wandernden Frau noch verzauberter vorkam, wenn sie auf die Frauen sah, die weit von ihr im Kartoffelacker knieten, oder auf die Pferde, die, noch entfernter, die Eggen durch den silbrig braunen Acker zogen, und dieses ganze arbeitende Leben je nach der Entfernung in abgestufter Langsamkeit erschien und sich nur dem Auge, nicht dem Ohre kundgab.

Sie ging nicht in der Weise nachdenklicher Leute, denn obwohl ihre Gedanken auf mannigfache Weise beschwert waren, konnte sie es nicht verhindern, daß ihr Sinn freudig war, und so schritt sie rüstig aus.

Nur einmal wurde die Stille der Felder unterbrochen, als sie sich drei mächtigen Pappelbäumen näherte, aus deren gelben Kronen es ihr schon von weitem entgegenrauschte, es toste, es klapperte über ihr, toste, und rauschend erstarb es. Dann blieb der Weg wieder gleichförmig, bis sie in den Wald kam: erst in Bauernheide ohne Unterholz mit gefegtem Boden, dann das königliche Gebiet, in dem zwischen den hochgewipfelten Säulen sich Wacholder und Farne drängten.

Wohl zwei Stunden ging sie, dann überschritt sie auf einer alten, halbverfallenen hölzernen Brücke ein kleines Flüßchen, das seine Wiesen in gewundenem Lauf durch den Wald flocht, der noch ein zweites Mal, vom Bahndamm, durchschnitten wurde. Der Wald wurde üppiger und das Unterholz so dicht und hoch, daß der Wandernden der sich krümmende Weg verborgen wurde; als sie die Krümmung erreichte, hatte sie den wie immer überraschenden Blick auf leicht sich senkende Felder und ersah ein Dorf, das war Neuenrode.

Sie begegnete keinem Menschen in der Dorfstraße, auch bemerkte sie gleich, daß es bei Thornows Hof still und offenbar der Brennofen nicht beschickt war. Nur ein paar junge Burschen, fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, verließen gerade das Gehöft, sich nach Schuljungenweise tummelnd und neckend.

Vielleicht weil sie glaubte, daß Thornow nach beendigtem Unterricht vor seine Haustür treten würde, setzte sich die Pfarrerin auf die eine der sandsteinernen Wangen, die, vom rotglühenden wilden Wein überwölbt, zum Hausflur führende Stufen einfaßten. Die Jungen waren verschwunden, nichts bewegte sich in dem wie ausgestorbenen Dorf, nur das ungeheure Orgeln der Dreschmaschinen heulte durch die Luft, kaum daß das Ohr dazwischen den hell klappernden Dreischlag von Dreschflegeln unterschied.

Die Sonne stand nicht mehr sichtbar hinter den Häusern, bald mußte Feierabend sein.

Die Frau saß still da, es bewegte sich nichts an ihr als ihre Wimpern.

Sie wartete, und hatte nicht lange zu warten, bis die Haustür ging und aus dem dunkeln, feuchtatmenden Flur Thornow ins Helle trat. Überrascht und, wer mag es sagen, doch nicht überrascht, hieß er den Gast willkommen, und wie um sich ihrer noch mehr zu versichern, lud er sie und zwang sie fast, während sie sich die Hände schüttelten, ins Haus. Drinnen setzten sie sich einander gegenüber an den Tisch, sie legte Hut und Tuch auf ihre Kniee.

»Sind Sie müde?« fragte er. »Gar nicht«, antwortete sie, »ich habe mich draußen ausgeruht.« »Saßen Sie denn schon lange da?« fragte er verwundert. »Nein«, sagte sie, »aber es hat genügt, mich wieder frisch zu machen. Es ist so schön heut draußen, daß man in einem fort wandern möchte und würde keine Müdigkeit spüren.«

»Ja«, meinte er, »an solchen Tagen ist es mir immer, als ob Besuch kommen müßte. Ich stecke dann aller Augenblicke die Nase vor das Fenster und schaue nach rechts und nach links, ob sich wer blicken läßt. Dabei bin ich gar nicht so sehr für Besuch, und ich glaube, ich meine immer nur Sie, wenn ich auf jemanden warte, und Severin. Wenn Sie heute nicht gekommen wären, hätte ich morgen bei Ihnen vorsprechen müssen.«

»Wegen der Vase?« fragte sie.

Er lachte. »Haben Sie sie mitgebracht?«

Ein Blick in sein Gesicht genügte der Pfarrerin, sie zu überzeugen, daß, was immer hinter jenem Briefe Thornows stecken mochte, Unanständiges nicht dahinter steckte. Und also nicht aus ihrer Seele heraus, sondern gleichsam, als ob sie einen Auftrag ihres Mannes ausführte, prüfte sie ihn scharf, als sie, wie beiläufig, fragte: »Was ist es mit der Vase? Wollen Sie sie wirklich zurück haben, und weshalb?«

Er fragte, ob sie es geglaubt habe.

»Das mußte ich wohl«, erwiderte sie.

»Sie nicht«, meinte er schmunzelnd. »Severin, ja. Ich habe geglaubt, daß er mir wütend ins Haus rennen würde, und das wäre mir lieb gewesen, weil ich einen bedeutenden Ärger auszukrakeelen hatte. Er kam aber nicht, obgleich er doch sonst in solchen persönlichen Kunstdingen schnell genug wild wird.«

»Ja, das tut er«, sagte die Pfarrerin, »und ich wüßte nicht, wie Ihnen irgendwer eine größere Ehre erweisen könnte!«

Thornow stutzte und erwiderte: »Wem sagen Sie das? Ich kenne ihn von meinem zwölften Jahre an, ich habe nie eine so unbedingte Leidenschaft zu den Künsten gesehen, wie bei Severin, der nicht einen geraden Strich zeichnen kann. Und das ehrt uns und schmeichelt uns; – und eben darum müssen wir ein wenig darüber lächeln dürfen und uns am Ende auch einen Scherz machen, wenn die Gelegenheit sich trifft.«

»War das mit der Vase ein Scherz der Art?« fragte sie.

Er wehrte schnell ab: »Nein, beileibe nicht. Ich habe, als ich den Brief schrieb, kaum an eine Wirkung auf Sie beide gedacht. Sie können mich nicht verstehen, ich muß ausführlich erzählen.«

Er erhob sich und ging einmal durch das Zimmer. »Ich bin ja schon wieder in Frieden mit mir«, sagte er halb zu sich, »und Wichtigeres ist dazwischengekommen; aber wie ich nur daran denke, kommt der ganze Unmut zurück.«

Er stand am Tische, setzte sich und begann zu erzählen:

»Hören Sie also! Vor acht Tagen hatte ich Besuch, – hohen Besuch, den Direktor des neuen Kunstgewerbemuseums. Das ist ein kluger, weltmännischer Mann, mit der Kunst auf du und du, gar nicht beamtenhaft. Ich glaube, daß jetzt eine ganz neue Sorte Professoren aufkommt; – aber trauen sollte ihnen unsereins doch nicht. Mir gefiel der Mann, eine kleine, lebendige, durchgeturnte Gestalt, ein Köpfchen, woran ihm der Bart zwei Spannen lang hinunterhing, und Augen, ich will nicht sagen, kluge Augen, – sondern: klügere Augen. Sie wissen, was ich meine. Nun – ich zeigte ihm, was ich hier in meinem Bereich zu zeigen habe, fertige Ware, Modelle, Zeichnungen. Ich nahm ihn auch in die Schulklasse mit, und die Arbeiten der Jungen hatten, jedenfalls im Prinzip, seinen Beifall. Ich muß es sagen, es war ein schöner Tag für mich; denn da der Mann seine Sache versteht, so konnte ich einmal meiner ganzen Leistung, wie ich sie ihm präsentierte, recht genau ins Gesicht sehen. Sein Lob machte mir Freude, und zu tadeln gibt es, hoffe ich, nichts, – dafür sorgt der Schutthaufen auf dem Hofe. Und so wäre alles sehr schön gewesen, wenn nicht nach Feierabend, als wir nun das Ganze noch einmal durchsprachen, der Teufelsfuß herausgekommen wäre. Zuerst ertappte ich ihn auf einer Sentimentalität in betreff der Jungen. Oder vielmehr, daß er mir die albernste Sentimentalität zutraute. Als ob es mir einfallen könnte, meine Sachen zu treiben, mit dem frommen Hintergedanken, dem Volke die Religion oder doch die Tugend zu erhalten. Ich kannte meine Leute, als ich ihnen meinen Plan einredete. Wenn ich den Jungen nichts zahle, schickt mir nicht einmal die lahme Graberten ihren Enkel in die Schule. Ich würde sehr froh sein, wenn sie sich auf die Sache eingelassen hätten, weil sie sich was ›Reelles‹ davon versprechen, das schiene mir durchaus anständig, ich verzichte gern auf das ideale Interesse.

Das Schlimmste indessen ist, daß sie meine Sache ergriffen haben, nicht als ein Geschäft, das Geld abwirft, sondern als einen Schwindel. Sie halten das Ganze hier für einen Schwindel. Der Schmied sogar, dessen Glück den Leuten den Kopf verdreht hat, oder muß ich sagen: zurechtgesetzt hat, in seinem Innern glaubt er weder an mich noch an die Augen, die an seiner unfreiwilligen Kunst Gefallen finden. Sie meinen alle, ich lehrte sie eine neue, ungefährliche Art, die Menschen übers Ohr zu hauen. Und das danken sie mir, soweit von Dank die Rede sein kann, und tun mit. Dieses alles setzte ich dem Professor auseinander, da griff er recht geschickt die Gelegenheit an, ich merkte aber nun, daß er mit Plan, Absicht und Auftrag zu mir gekommen war, und wollte mir meine Art, hier zu arbeiten und zu wirken, verleiden, und zu was Ende? Können Sie es erraten?«

Die Pfarrerin schüttelte den Kopf, ohne erst nachzudenken: »Nein, sagen Sie es nur!«

»Nun, man will meine Arbeiten für das Museum kaufen und mich dazu. Ich soll Professor werden und in die Stadt ziehen.«

»Sie haben es abgelehnt?« rief die Pfarrerin, und konnte eine plötzliche, törichte Spannung nicht gleich überwinden, die etwa in diesem Augenblick eingetreten wäre, wenn sie der Entscheidung Thornows nicht schon versichert gewesen wäre.

»Das will ich meinen«, sagte Thornow, »und so deutlich, wie ich höflicher Mann imstande war.«

Die Pfarrerin warf ihm vor, daß er nicht hätte zürnen dürfen, wo man ihm mit soviel Schätzung entgegengekommen sei.

»Mit Überschätzung«, sagte Thornow nachdrücklich, »und wer mich überschätzt, der unterschätzt mich irgendwie. Die Dinge, die ich mache, sind dafür, daß man sie in die Vitrinen eines Museums stelle, zu schlecht und zu gut. Ich will, daß sie für ein angemessenes Geld gekauft werden, daß sie gebraucht, zerschrammt, wenn es sein muß: zerbrochen werden. Meine Ware – und ich auch. Nun, – ich habe dem Professor meinen reinen Wein eingeschenkt, er ist ein moderner Professor und hatte Nachsicht mit meinen Schrullen. Als er weg war, habe ich mir alles noch einmal überlegt; – Sie kennen meine Anschauungen. Einen guten Landgeistlichen an den Dom, einen tüchtigen Landarzt an ein großstädtisches Krankenhaus, einen braven Dorfschulmeister an eine städtische Unterrichtsanstalt von Riesenformat zu bringen, sowie man nur hört, daß sie was taugen, damit tut man etwas Unersprießliches. Es gibt ein Gesetz von der Nichterhaltung der Kraft; ich wollte, daß einer käme, der es uns beschriebe. Wenn eine große Stadt den Regen ihrer ganzen Landschaft auf sich zieht, so dürstet die Landschaft, und die Stadt selbst hat nicht mehr davon als die Durchspülung ihrer Kanäle und je zuweilen einige Kellerüberschwemmungen. Und so weiter! Also das alles habe ich dem Professor gesagt. Als er aber gegangen war, kam mir seine gesamte Museumswirtschaft doppelt kalt und leichenhaft vor; ich dachte an Severin und an das lebendige Leben, worin sein Herz mein bescheidenes Stück Arbeit täglich erhält, und setzte mich hin und schrieb ihm, ob wir nicht die Vase in ein Museum tun wollten: Zuerst wollte ich, daß er beim Lesen lache, dann aber plagte mich doch der Teufel, es etwas geheimnisvoll zu machen, damit er verwirrt würde und herkäme. Warum kam er nicht?«

Die Pfarrerin hörte die Frage nicht, sie nickte nachdenklich: »So also hängt das zusammen. Ich habe viel herumgeraten, und das war alles recht phantastisch. So ist es viel besser, viel natürlicher. Severin wird sich freuen, er hätte sich ungern von seinem Tobias getrennt.«

Thornow schwieg, dann sagte er, indem er sie anblickte: »In lieberen Händen wüßte ich die Vase überhaupt nicht als in den seinen; zumal jetzt. Er hat einen guten Anteil an ihrer Entstehung gehabt; – – und ich möchte, daß auch Sie sich nun meine Sachen ansähen und sich einiges auswählten, was Sie für die Küche gebrauchen können –« und da sie ihn fragend ansah, schloß er mit einem unfreudigen Lächeln: »zum Andenken.«

Sie erschrak und wurde blaß, mit hastigen Händen nahm sie die Kleidungsstücke, die auf ihrem Schoß lagen, und legte sie auf den Tisch. »Sie werden fortgehen?«

»Ja«, antwortete er; und beiden war diese Erklärung so schmerzlich, daß weder sie nach einem Grunde fragte, noch er einen sagte. Aber da doch wieder gesprochen werden mußte, bat sie ihn, ihr Genaues zu sagen; ob das Erlebnis mit dem Professor ihn aufgescheucht habe, bevor noch seine Zeit in Neuenrode ihr natürliches Ende gefunden?

»Es ist das natürliche Ende«, erwiderte er, »was ich hier geschaffen habe, wird für meine Leute bestehen bleiben, ja recht eigentlich ein ernsthaftes Gesicht bekommen, wenn es vom Staat weitergeführt wird, wozu Aussicht vorhanden ist und was ich betreiben werde. Für mich selbst muß es hintanstehen, seitdem ich – es ist gut, daß Severin nicht hier ist, er würde nun gleich auflachen – ich habe nämlich jetzt meinen Auftrag.«

Wieder erst nach einer Weile und ohne daß sie ihm Glück wünschte, fragte sie, welcher Art der Auftrag wäre. Er berichtete, daß ein Verwandter, ein Stiefbruder seines Vaters, im Thüringischen begütert, seiner Dorfgemeinde eine neue Kirche baue, – an dem Bau solle sich Thornow beteiligen und die Kirche ausmalen. Es sei dies nicht so wohl eine Lust des Onkels an der Kunst, als eine Gefälligkeit gegen den müßiggängerischen Neffen, »aber«, fuhr Thornow fort, »alle ungünstigen und wenig prächtigen Umstände beiseite gelassen, es ist die erste Gelegenheit zur vollen Freiheit, und ich will sie mit allen Kräften nutzen.« Als habe er den Sinn über eine persönliche Unruhe hinauszuführen nötig, sprach er weiter von seinem Plan; sie aber verharrte in ihrer Beklommenheit, deren kaltes Licht jeden Gedanken wie jedes Bild, das ihrer Phantasie aufgedrungen wurde, um Reiz und Schimmer betrog. Als er geendigt hatte, wünschte sie ihm Glück und gutes Gelingen, und indem sie die Betrachtung seiner Arbeiten und, auf seine wiederholte Bitte, die Auswahl einiger Stücke aufschob, erklärte sie, gehen zu müssen, wenn sie nicht zu spät nach Hause kommen wolle. Er schaute zur Erde, und das Einverständnis zwischen ihnen war so groß, daß er keine Einwendungen mehr machte.

Sie war schon aufgestanden, nahm ihr Tuch um und schloß es am Hals mit einer Nadel. »Es ist kalt«, sagte sie, »nehmen Sie den Mantel.« Er schüttelte den Kopf: »Ich friere nicht, höchstens an den Händen.« Sie sah zu, wie er die Handschuhe anzog, sie tat das gleiche, und sie verließen das Zimmer.

Als sie durch das Dorf gingen, kamen ihnen schon die Häuser übergroß und dunkel aus der Dämmerung entgegen, und das Feld, von leichtem Nebel bezogen, hatte keine Grenzen mehr am Himmel und kaum erkennbare an dem erhöhten Walde. Zwischen den Bäumen war es dann fast Nacht, durch den Wald rauschte ein Eisenbahnzug, die Wandernden fühlten sich zueinander gedrängt, als gingen sie in einer Grotte. Ihre Augen gewöhnten sich an die Finsternis, doch verbreitete der Weg sich so ungewiß in den Wald, daß sie, um Stoß und Stolpern zu vermeiden, zwischen den Fahrgeleisen gingen. So schnell verdichtete sich die Nacht, daß die kleine Lichtung, die der Fluß machte, mit ihrer geringen Helle den Wald kaum vom Himmel unterschied. Als die Schritte der beiden, bisher von dem feuchten Sand gedämpft, auf der hölzernen Brücke hallten, flog es mit heftigem Brausen und Knattern aus dem das Ufer umsäumenden Elsengebüsch empor, ein Zug Enten, und strich in silbern ersterbendem Klingen davon. Die Pfarrerin fuhr zusammen und blieb stehen. »Sie sind erschrocken, es ist so dunkel, ich will Sie führen«, sagte er, und schob seinen Arm in den ihren. Sie schloß die Augen, und da er dies nicht gewahren konnte, verstand er den Doppelsinn nicht, als sie sagte: »Ich sehe wirklich nichts mehr.« Ihm aber war es eigen, als er sie führte.

Es war ihm, als seien sie beide von höherem als ihrem natürlichen Wuchse, und als gingen sie nicht enger nebeneinander als sonst, sondern getrennter. Ihre beiden Gesichter, inmitten der neuen, gewaltsamen Empfindung einander nicht zugekehrt, waren in dieselbe Ferne gerichtet; beide kosteten sie, wie nie in ihrem Leben, den gleichen schweren Takt des Einatmens und Ausatmens.

Aber nach einer Weile legte er seine Hand an die ihre, seine Hand umfaßte die ihre, und sie ließ sie ihm und erwiderte den Druck. Und wieder nach einer Weile löste er seine Hand, doch nicht den Arm, und zog vorsichtig, so daß sie es nicht merken konnte, den Handschuh ab. Dann ergriff er wieder ihre Hand, bald fühlte sie die nähere Lebenswärme, und da tat sie wie er.

Und in dem Maße, in dem der Druck ihrer Hände fester und fester wurde, spannte sich ihr Gefühl so hoch, so klingend und so gefährdet, daß beide glaubten, es müsse, wenn ein Wort gesprochen würde, zusammenstürzen. Da schwiegen sie, wie stürmisch es auch aus ihren Herzen aufschwoll. Aber je weiter sie gingen, um so qualvoller wurde das Schweigen, und immer unmöglicher, es zu brechen. Beide wußten, daß sie ihr Schicksal, sich zu trennen, entschieden.

Als sie aus dem Wald heraus waren, war es über dem flachen Land heller. Noch war der Nebel über den Feldern nicht ganz gefallen. Die Kleider der Wanderer waren feucht, Thornows Bart entkräuselte sich und troff. In dem Geräusch der Pappelblätter sprach er ein paar Worte zu ihr, die sie nicht vernahm, sie schritten schneller aus und schwiegen weiter. Beider Augen waren, mit dem gleichen kalten, klaren Ausdruck, weit geöffnet, doch in der Anstrengung dieses Blickes wurden die ihrigen starrer, und seine füllten sich mit Tränen. Ohne sich loszulassen, gingen sie den ganzen Weg bis an die Pforte im Zaun des Pfarrhauses. Hier gaben sie sich noch einmal die Hände und trennten sich.

Als die Pfarrerin ins Haus kam, vernahm sie von der noch wachenden Magd, daß ihr Mann oben in seiner Dachstube sei und die Nacht über dort bleiben werde.


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